Suche
Zur Übersicht

"Merkt Herr Biedermann nicht, was die Brandstifter uns antun?"

© Friedenspreis-Archiv

Friedrich Schorlemmer, 1993 mit dem Friedenspreis ausgezeichnet, ist nach langer Krankheit im Alter von 80 Jahren gestorben. Die Dankesrede, die der Theologe und Bürgerrechtler damals in der Paulskirche gehalten hat, war eine Herkulesaufgabe - und ist bis heute hochaktuell.

»The Day After wurde bei uns der 10. Oktober 1989. Da fiel in der Angst-Nacht keine Bombe, da fiel kein Schuss - da begann ein bankrottes Gewaltsystem sich gewaltlos zu verabschieden. Weil in jener Nacht Gewalt ausblieb, war der Weg zur Demokratie frei.« (aus der Dankesrede von Friedrich Schorlemmer)

1989 war das Jahr des großen Umbruchs. In der Frankfurter Paulskirche wurde Václav Havel geehrt, auch wenn der Prager Schriftsteller nicht kommen konnte, um den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels persönlich entgegenzunehmen. Er hätte anschließend nicht wieder zurück in sein Land kehren dürfen. Fünf Wochen später wurde er zum Staatspräsidenten gewählt und führte die Tschechoslowakei in die Demokratie.

1990 wurde Karl Dedecius ausgezeichnet. Seine Faszination und sein Engagement für die polnische Literatur, die er als Wehrmachtssoldat in der Kriegsgefangenschaft kennengelernt hatte, war wichtig für eine kulturelle Annäherung von Deutschen und Polen.

1991 erhielt György Konrád den Friedenspreis. Der ungarische Schriftsteller, dessen Bücher erst nach 1989 wieder in seinem Land verkauft werden durften, setzte sich – auch als damaliger PEN-Präsident – für ein friedliches Mitteleuropa als gleichberechtigter Teil eines gesamten Europas ein.

1992 wendete der Stiftungsrat seinen Blick Richtung Israel und wählte Amos Oz zum Preisträger. Diese Entscheidung war wichtig, um den von Jitzchak Rabin und Shimon Peres angestrengten Friedensprozess zu unterstützen, und mehr als verdienstvoll, da der israelische Schriftsteller ein Vorreiter für die Verständigung zwischen Israelis und Palästinensern war.

Etwas aber fehlte in diesen vier Jahren Friedenspreis: der Blick hinein ins eigene Land auf eines der folgenreichsten Ereignisse der letzten Jahrzehnte. Die friedliche Revolution in der DDR mit der ein Jahr später folgenden Wiedervereinigung wurde zwar in den Grußworten erwähnt, aber noch nicht explizit zum Thema gemacht. Vielleicht war das auch ein Grund, warum der Stiftungsrat entschied, den Friedenspreis 1993 dem Theologen und Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer zuzusprechen.

***

Ob die Ehrung eines DDR-Bürgers, der sich wie viele andere erfolgreich für eine Demokratisierung des Landes einsetzte, ein paar Jahre zu spät kam, sei dahingestellt. Für Friedrich Schorlemmer wurde es jedoch zu einer Herkulesaufgabe, eine Rede zu halten, die sich nicht vor allem auf die friedliche Revolution mit all den damit verbundenen Hoffnungen und Sorgen bezogen hätte, sondern eine, die noch viel mehr zu berücksichtigen hatte:

Die Jahre der Wende mit all ihren politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen und vor allem sozialen Auswirkungen, die Ausschreitungen in Hoyerswerda und Rockstock-Lichtenhagen, aber auch die rechtsextremen Mordanschläge in Solingen und Mölln, die Verfassungskrise in Russland mit der Ausrufung des Notstands, aber auch der Jugoslawien-Krieg, verbunden mit der Frage, ob oder wieviel militärisches Engagement ein geeintes Deutschland überhaupt haben dürfe.

»Wir erleben es – und ich sage das sehr zögernd, ohne den Richtfinger – wie auch Moslems so werden können wie die Serben, die wie Kroaten von damals wurden. Wir lassen uns polarisieren. Wir sagen zu leicht: DIE Serben, DIE Kroaten, DIE Moslems. Wir teilen ein, verstärken die Fronten durch Einteilungen, die tödlich werden.« (aus der Dankesrede von Friedrich Schorlemmer)

Der Bürgerrechtler aus dem einem Teil des Landes musste zu einem Mahner für das gesamte, langsam zusammenwachsende Land werden, dem es zudem wichtig war, Erklärungen für das Verhalten seiner Mitbürger*innen in der DDR-Zeit zu finden, die sich immer wieder entscheiden mussten, ob sie lieber der im Bauch eines Walfischs lebende Jona oder die warnende Kassandra sein wollten:

»Wir hatten teil an Irrtümern, litten an Selbstüberschätzung und hausgemachtem Unfrieden. Wir aßen stets mit Judas. Wir verbissen uns in unsere Feinde. Wir lebten im täglichen, gegenseitig nadelstichigen Kleinkampf mit dem übermächtigen Apparat.« (aus der Dankesrede von Friedrich Schorlemmer)

Friedrich Schorlemmer hätte mit dieser Rede – nach Ernst Bloch (1967) zweitlängste Friedenspreisrede aller Zeiten – auch scheitern können. Doch der von vielen als außergewöhnlicher Redner bezeichnete Theologe machte in der säkularisierten Frankfurter Paulskirche das, was er am besten konnte: Er predigte.

Mit Gedichten und Liedzeilen gelang es ihm, die verschiedenen Aspekte zu verbinden, was als Lektüre bereits beeindruckend ist. Ihn aber noch einmal zu hören, wie man es auf der Webseite des Friedenspreises kann, vermittelt noch einmal das Gefühl, mit welcher Verve und welchem Selbstbewusstsein er die Revolution in der DDR begleitete, wenn nicht sogar manchmal anführte.

»Obwohl wir in mancher Hinsicht inzwischen vereint sind, sind wir Ostdeutschen in einer etwas schwierigeren Demokratieübung, weil sich vertikales Denken – nach langer deutscher Tradition – nun noch in zwei Diktaturen nacheinander verfestigt hat. Da meint man, dass alles Gute wie alles Böse »von oben« kommen muß.« (aus der Dankesrede von Friedrich Schorlemmer)

Auch wenn es in vielen Teilen eine durchaus von Optimismus geprägte Rede war, sind zahlreiche seiner vor mehr als dreißig Jahren gemachten Aussagen auf bedrückende Weise noch immer hochaktuell und zeigen in der Rückschau, wie schnell sich die Technologie ändert, wie langsam aber der Mensch. Das merkt man vor allem in seinen Bemerkungen zum Fremdenhass, der in West- wie in Ostdeutschland in Gewalt umgeschlagen war und dennoch von vielen verharmlost wurde. 

»Dabei ist die Würde des Menschen, jedes Menschen, unantastbar. Wo ein Haus mit Menschen angezündet wird, brennt auch unser Grundgesetz, verbrennt die Würde. Merkt Herr Biedermann nicht, was die Brandstifter uns antun? - Wo doch auch die anderen Öfen noch zu besichtigen sind!« (aus der Dankesrede von Friedrich Schorlemmer)

***

Knapp vier Monate nach seinem achtzigsten Geburtstag ist Fredrich Schorlemmer nun am 9. September verstorben. Stolz sei er gewesen, sagt sein Weggefährte Wolfgang Thierse in einem Radiointerview. Was sich im ersten Moment wie eine leise Kritik anhört (und mitunter in Form von Eitelkeit auch so gemeint ist), verwandelt sich bei näherer Betrachtung ins Gegenteil.

Seit den 1980er Jahren von der Staatssicherheit der DDR observiert, ließ Schorlemmer 1983 mit seiner Friedensgruppe ein Schwert zu einer Pflugschar umschmieden. 1988 legte er auf dem Evangelischen Kirchentag in Halle die regimekritischen »20 Wittenberger Thesen« vor. Im September 1989 trat die von ihm mitbegründete Bürgerbewegung »Demokratischer Aufbruch« an die Öffentlichkeit, die zusammen mit dem »Neuen Forum« die Basis für die friedliche Revolution 1989 in der DDR legte.

Konsequent setzte sich der evangelische Pfarrer und Kritiker der SED-Regierung dafür ein, Freiheit und Demokratie für alle zu fordern. »Regierende und Regierte, lasset den Geist aufeinanderprallen«, rief er mit den Worten Luthers auf der Demonstration am 9. Oktober 1989 in Leipzig den Menschen zu, »aber die Fäuste haltet stille.«

Allein in diesen wenigen Worten finden sich drei wichtige Merkmale seines Wirkens: die Infragestellung eines politischen Systems, das die Demokratie nur simuliert, die unbedingte Gewaltlosigkeit, wodurch das Gespräch erst möglich wird, sowie die religiöse Menschwerdung, wie es seinem großen Vorbild Martin Luther vorschwebte.

»Aufgewachsen bin ich in einer Religiosität, in der wir »Beten und das Tun des Gerechten unter den Menschen« zu verbinden suchten, wo das Beten nicht das Tun ersetzte, wo Beten vielmehr selber ein Tun wird, das durch kein anderes Tun ersetzt werden kann.« (aus der Dankesrede von Friedrich Schorlemmer)

Wie schwierig es jedoch war, ein Bürgerrechtler fürs gesamte Deutschland zu werden, lässt sich an der Kritik ablesen, als er gleich nach der Wiedervereinigung eine Rehabilitierung der PDS als SED-Nachfolgepartei forderte. Vor allem aber war man von seiner Forderung irritiert, die Stasi-Akten zu verbrennen. Er sah darin die Möglichkeit eines Neuanfangs, worauf der damalige Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen Joachim Gauck entgegnete, dass die Opfer der DDR-Staatssicherheit dadurch erneut entmündigt würden. 

Bis Ende der 2010er Jahre ist Friedrich Schorlemmer mit Auftritten und Buchveröffentlichungen sehr aktiv gewesen. In den letzten Jahren ist es jedoch still um ihn geworden. Demenz und Parkinson haben dazu geführt, dass er sich aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen hat. Dennoch kann man sich sicher sich, dass für ihn sein Fazit am Ende seiner Friedenspreisrede auch nach seinem Tod Gültigkeit besitzt:

»Ich möchte für ein Deutschland einstehen, das sich mit ziviler Courage nach innen eine lebendige Demokratie erhält und für ein Land, das mit zivilem Engagement seine wirtschaftliche Kraft für einen gerechten Frieden einsetzt. Wenn Schwerter Pflugscharen werden sollen, dann meint das, dass Frieden Brot bringt.«