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"Danke, aber dennoch!"

© Ursula Assmus

Sein Leben lang hat Alfred Grosser die Bundesrepublik Deutschland wohlwollend kritisch begleitet und großen Anteil an der deutsch-französischen Aussöhnung gehabt. Am 7. Februar 2024 ist er kurz nach seinem 99. Geburtstag in Paris verstorben. Ein Nachruf von Martin Schult auf den Friedenspreisträger von 1975, der manchmal mit Freude gelobt, öfter aber noch mit spitzen Kommentaren und bissigen Bemerkungen dem Friedenspreis, dem Stiftungsrat und den Preisträger:innen die Leviten gelesen hat.

Um nicht ins kalte Wasser geworfen zu werden, darf ich gemeinsam mit meiner Vorgängerin Marlott Linka Fenner den Friedenspreis des Jahres 2004 organisieren. Péter Esterházy heißt der Preisträger, Michael Naumann der Laudator. Beide sind beeindruckende Persönlichkeiten, bei deren Betreuung mir schnell klar wird, dass meine Aufgabe über die bloße Organisation einer jährlich stattfindenden Preisverleihung hinausgeht. Dem Staffelstab, den mir Frau Fenner Ende Oktober 2004 schließlich übergibt, ist ein Brief beigelegt, über den sie mit süffisantem Lächeln sagt: "Das ist jetzt Ihre Aufgabe."

Der Absender heißt Alfred Grosser. "Mit verärgertem Gruß" ist der Brief unterschrieben, und ihm ist ein Artikel aus der FAZ vom 23. Oktober 2004 beigelegt, in dem der Friedenspreisträger von 1975 der Behauptung des aktuellen Friedenspreisträgers widerspricht, dass der "Hass gegen die Deutschen Europas Fundament in der Nachkriegszeit" sei. Zudem, fügt Grosser in seinem Brief hinzu, sei dieser ungarische Schriftsteller mit keinem einzigen Satz auf den Frieden eingegangen. Ein Skandal!

Ich lege den Brief zur Seite und lese mir noch einmal Péter Esterházys Dankesrede durch. Den zitierten Satz in Grossers Artikel hat er tatsächlich gesagt, doch im Kontext seiner Rede verstehe ich ihn als Kritik an den anderen Staaten Europas. Zudem hat er sich mit dem Frieden doch auseinandergesetzt, zumindest mit seiner eigenen Wahrnehmung über ihn: "Das Entsetzen des Krieges kenne ich nicht, ich kenne nur das Entsetzen des Friedens. Ich bin ein Kind des Friedens, ein Nachkriegsmensch, der noch nie etwas aktiv für den Frieden getan hat. Der von Zeit zu Zeit, was auch eine Frage des Glücks ist, über die Diktatur lachte."

Über Tage formuliere ich einen Antwortbrief, dem ich eine Kopie von Esterházys Rede beilege, und erhalte umgehend eine E-Mail. Grosser findet meine Argumentation bezüglich des Hass-Zitats bedenkenswert, dennoch sei er nicht damit einverstanden. Die Rede habe er in der taz gelesen, in der nur eine verkürzte Version abgedruckt gewesen sei, das Friedens-Zitat habe gefehlt. "Danke dafür", so schließt die E-Mail, "danke, aber dennoch!"

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Das "dennoch" und das angefügte Ausrufezeichen begleiten uns die folgenden Jahre. Alfred Grosser, geboren am 1. Februar 1925 in Frankfurt am Main, versteht sich als Nestor des Friedenspreises, der die Aufgabe hat, das, was der Stiftungsrat entscheidet und was der oder die Friedenspreisträger*in sagt, kritisch zu beäugen. Die Wahl von Claudio Magris findet er langweilig, die von Anselm Kiefer einen Skandal, Navid Kermani sei großartig, und von Swetlana Alexijewitsch ("Nach China – Liao Yiwu – nun Putin, ausgezeichnet!") ist er begeistert. Für sein Lob bedanke ich mich, seiner Kritik begegne ich mit Widerspruch und Erläuterungen. "Danke, aber dennoch!"

Als David Grossman 2010 zum Friedenspreisträger gewählt wird – "Was für eine schöne Nachricht!" –, entscheidet er sich, erstmals nach Jahren seines durch Esterházys Rede ausgelösten Boykotts an der Preisverleihung teilzunehmen. Geholfen hat dabei sicher auch ein langes Interview, das Niels Beintker und ich 2009 mit ihm führen, um es in dem Band "Widerreden. 60 Jahre Friedenspreis des Deutschen Buchhandels" zu veröffentlichen. Hierin geht es um seine eigene Friedenspreisverleihung, die deutsch-französische Aussöhnung, seine Kritik an Israel in Bezug auf die Palästinenser*innen und sein unbedingter Wunsch, man möge bitte alle ernst gemeinten Meinungen anhören, selbst wenn man sie nicht teilt. Deswegen besteht er auch darauf, dass das Interview nur mit dem folgenden Absatz veröffentlicht werden darf:

"Seit zwei, drei Jahren schlage ich Daniel Barenboim vor. Hätte dieser oder ein anderer Mutiger den diesjährigen Preis erhalten, so würde ich in der Paulskirche sitzen. […] Einmal hatte ich übrigens schon Glück mit einem Vorschlag: bei Yehudi Menuhin, der 1979 mit dem Friedenspreis geehrt wurde. Menuhin hat sich nach 1945 für die Vertriebenen eingesetzt. Ebenso für die gerechte Verteidigung von Wilhelm Furtwängler und für vieles andere mehr. In einem Artikel in der Zeit stand dann, dass 'ein Fiedler' den Preis bekommen habe. Das hat mich sehr empört."

*

Ein paar Wochen vor der Friedenspreisverleihung 2018 an Aleida und Jan Assmann schreibt er mir: "Nach Sturz und Krankenhaus bin ich noch müde, aber bis Oktober wieder fit (obwohl es zwei Gekrönte gibt!)." Sensibilisiert durch die zahllosen Briefe, E-Mails, Telefonate und Gespräche nehme ich den Klammersatz ernster, als er gemeint ist.

"War doch nur ein Witz", entgegnet er auf Nachfrage, als er tatsächlich gemeinsam mit seiner Frau Annie nach Frankfurt kommt. Noch gezeichnet vom Unfall und früheren Operationen, genießt er die Aufmerksamkeit, die ihm, dem damals 93jährigen, an dem Tag zuteilwird, und lässt sich von mir nach der Verleihung zum Taxi bringen. Es sei das letzte Mal gewesen, sagt er und fasst mich am Arm. "Von jetzt an müssen Sie ohne mich auskommen."

Ich lache, doch tatsächlich habe ich danach nie wieder eine E-Mail oder einen Brief bekommen. Dabei hätte ich gerne gewusst, was er über Sebastião SalgadoAmartya SenTsitsi DangarembgaSerhij Zhadan oder Salman Rushdie zu sagen gehabt hätte. Haben sie es gut gemacht? Hat der Stiftungsrat richtig entschieden? Wahrscheinlich hätte er mich jedes Mal auf das fehlende Wort Frieden hingewiesen (was nicht passiert wäre, denn seit 2004 achte ich darauf) oder irgendeine andere Bemerkung gemacht.

Nun ist er gestorben. Ich werde seine bissigen Kommentare genauso vermissen wie sein spitzbübisches Lachen – ein Kichern, das immer dann seinem Mund entweicht, wenn er merkt, dass sein Gegenüber ihn entweder zu ernst nimmt oder diesem ein Licht aufgeht.

"Es ist eine Freude, zu leben!", sagt er bei unserem Interviewtermin 2009. "Aber der Tod – für mich mein völliges, endgültiges Ende – wäre völlig normal. Wenn ich eines Tages sterbe, dann ist das keine Katastrophe."

Nachrufe über seine große und wichtige Bedeutung für Deutschland und Frankreich sollen andere schreiben. Für mich bleibt er der Nestor des Friedenspreises, wohlwollend und besorgt.

Danke, Alfred, danke, aber dennoch!