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"Das Thema Armut, Geschlecht und Klasse ist universal."

© Mateusz Żaboklicki

Tsitsi Dangarembga, die Friedenspreisträgerin 2021, schreibt Romane, dreht Filme und tritt dort in Aktion, wo die Politik ihres Landes versagt. Im Interview mit Börsenblatt Online spricht sie über ihre Erfahrungen als Künstlerin in Deutschland und Simbabwe, über koloniale Strukturen und über eine Zukunft ihres Kontinents, die nur unter Gleichen ausgehandelt werden kann. Ein Interview von Michael Roesler-Graichen.

Was bedeutet der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für Sie?

Der Friedenspreis ist eine große Ehre für mich. Mich beeindruckt es sehr, dass der Deutsche Buchhandel so einen Preis hat, das gefällt mir. Es zeigt, dass der Buchhandel sich sehr der Wirkung bewusst ist, die das Schreiben und Geschichtenerzählen auf die Gesellschaft und ihre Transformation ausüben. Gleichzeitig wirft es eine Perspektive auf mein Land und die Welt, was Anerkennung verdient.

Sie haben mehr als ein Jahrzehnt in Deutschland gelebt. Was empfinden Sie, wenn Sie über das Land und die Zeit in ihm nachdenken?

Deutschland ist ein sehr beeindruckendes Land, das Räume schafft, in denen Menschen sein können, gerade heute. Ein Land, in dem Transformation erreicht werden kann. Als ich nach Deutschland ging, ließ ich ein Land hinter mir, das aus dem Kolonialismus herauskam. Ich hatte auch meine Erfahrungen mit England, als ich in Cambridge studierte – aber in Deutschland fand ich einen Ort, der den Anspruch hat, nicht kolonialistisch zu sein. Ich lebte in Berlin, was für mich sehr wichtig war. Ohne die deutsche Erfahrung wäre ich nicht die Person und Künstlerin geworden, die ich heute bin. Die transformative Kraft ist ein Teil der deutschen DNA, und es ist auch wunderbar zu sehen, dass die Chancen für meine Kinder als "Persons of Color" gestiegen sind. Als Filmemacherin muss ich zugeben, dass diese Transformation in der sehr konservativen Filmindustrie noch nicht so weit vorangeschritten ist. Ich bin eine Filmemacherin mit Substanz und würde gern mehr Möglichkeiten haben, meine Filme zu machen.

Warum haben Sie Deutschland im Jahr 2000 verlassen? Gab es Vorfälle, die den Traum eines sicheren und friedvollen Lebens in einer pluralen Gesellschaft zerstört haben?

Deutschland hat bestimmt die Absicht, eine pluralistische Gesellschaft zu sein und bemüht sich sehr darum. Ich habe mich in Deutschland sicher gefühlt, zusammen mit meiner Familie. Es ist jedoch schwierig, friedlich zu leben, wenn man sieht, dass die eigenen Möglichkeiten durch die eigene Herkunft eingeschränkt sind; wenn die eigene Erfahrung vom Mainstream abweicht, und wenn dieser Unterschied einen als Außenseiter brandmarkt, der deshalb weniger begehrt und kompetent ist. Ich denke, dass dies für mich als Frau im Bereich des Films in besonderem Maße zutrifft. Einer der Gründe, weshalb ich nach Simbabwe zurückging, war der Versuch, meine Karriere im Film aufzubauen. Ich wollte in Simbabwe mehr machen können als in Deutschland, musste aber feststellen, dass die Situation in Simbabwe auch nicht zufriedenstellend ist. Es ist eine seltsame Situation. Aber im Großen und Ganzen würde ich nicht sagen, dass meine eigene Existenz und die meiner Familie von Rassismus bestimmt war. – Es gab weitere Gründe, zurück nach Simbabwe zu ziehen: Meine Kinder sollten die Möglichkeit haben, mein Erbe und mein Land kennenzulernen. Zu dieser Zeit mussten mein Mann und ich auch die Entscheidung treffen, wo unsere Kinder zur Schule gehen. Unsere Absicht war es, ihnen in Simbabwe eine bessere Ausbildung zu bieten. Ich war auch generell besorgt über die Situation in Simbabwe und wollte dort sein.

Ihr erster Roman, “Nervous Conditions“ („Aufbrechen“) schildert den schwierigen Prozess der Emanzipation, den ein Mädchen aus einer kleinen Stadt in Rhodesien erlebt. Könnte diese Geschichte auch in anderen Teilen der Welt erzählt werden, wo Frauen unterdrückt und von Bildung abgeschnitten werden?

Ja, das könnte auch in anderen Teilen der Welt erzählt werden, ganz bestimmt in Teilen Asiens oder in Lateinamerika. Mein Buch ist zum Beispiel in Brasilien sehr populär. Das Thema Armut, Geschlecht und Klasse ist universal, und man kann es überall in den unteren arbeitenden Klassen finden. Der Zugang zu höherer Bildung ist das Problem.

In den beiden späteren Romanen muss Ihre Heldin, Tambu, erfahren, dass Gleichheit in einem rassistischen Umfeld nur damit erkauft werden kann, dass man seine eigenen Wurzeln verliert. Wie würden Sie die Situation in Simbabwe heute beschreiben?

Wir leben in einer von Schwarzen regierten Nation, aber nach wie vor in einer globalisierten Welt, in der Normen und Standards des Kolonialismus immer noch existieren. Meine Regierung behauptet, dass die Krise in Simbabwe durch die Sanktionen hervorgerufen wird, aber mit oder ohne Sanktionen glaube ich, dass die Regierung etwas Besseres für die Nation und das Volk tun könnte. Mein Standpunkt ist: Selbst in diesem Kontext machen wir nicht das Beste daraus, wir erwarten nicht genug von uns als Simbabwer. Wir haben eine herausfordernde Struktur in unserem Land: eine gierige, repressive und verantwortungslose Regierung auf der einen und eine elende, entmachtete Bevölkerung auf der anderen Seite. Gemeinsam führen sie einen sehr grotesken Tanz auf.

Ihre Filmographie weist eine beeindruckende Fülle an Filmen, Drehbüchern und Produktionen aus. Welches Publikum wollen sie mit Ihren Filmen ansprechen?

Geschichten erzählen ist eine globale Aktivität, es sollte daher möglich sein, dass jeder meine Filme versteht, nicht anders als meine Romane. Meine Filme sind auf großen Festivals weltweit gezeigt worden. Das Problem für Filmemacher wie mich in Afrika ist, dass viel Geld von außen kommt, und oft wissen die Leute, die solche Mittel verwalten, nicht, womit sie es zu tun haben, oder sie haben ihre eigenen Perspektiven. Wir brauchen auch wohlhabende Afrikaner, die sich auf dem gesamten Kontinent im Filmsektor engagieren.

Ihr politisches Engagement – Sie wurden von der Polizei inhaftiert, weil Sie gegen Korruption in Simbabwe protestiert hatten – ist ein anderer wichtiger Teil Ihres Lebens. Bilden Schreiben, Filmemachen und politischer Aktivismus eine Einheit in Ihrem Leben?

In gewisser Weise ja. Ich kam zum Schreiben, weil ich mich selbst in der Literatur nicht repräsentiert sah. Als ich in den frühen 80er Jahren studierte, las ich ein Buch über ein schwarzes Mädchen in den USA, mit dem ich mich zum ersten Mal in meinem Leben identifizieren konnte. Ich sah, wie wichtig die Repräsentation in der Literatur und Kunst ist, und ich begann zu schreiben. Aber ich erlebte eine Menge Widerstand, meine Veröffentlichung wurde verzögert, und ich konnte keine Schriftstellerkarriere machen. Deshalb ging ich auf die Filmschule. Dort habe ich angefangen, Filme zu machen, aber es ist sehr schwer, in Simbabwe Zuschüsse für Dreharbeiten zu bekommen. Das Geld, das für die Kunst zur Verfügung steht, ist politisch gebunden, egal ob es von innerhalb des Landes oder von außerhalb kommt. Und die Situation in unserem Land wurde immer schlimmer - mit einer kollabierenden Wirtschaft, dem Fehlen von Alltagsfunktionen und einer Regierung, die gegen das eigene Volk vorgeht. Ich konnte nicht mehr als kreative Künstlerin arbeiten. Ich hatte nichts außer meinem Körper, mit dem ich auf die Straße gehen konnte, um auszudrücken, wie schlimm die Dinge waren. So sind die drei Aspekte meines Lebens in ein Gleichgewicht gekommen. Aber was ich betonen möchte: Ich sehe mich nicht als Politikerin. Ich gehe überall dort in Aktion, wo Aktion gefragt ist. Und die Brutalität und Gewalt, die in diesem Land existiert, war schon die DNA der Geburt Rhodesiens im Jahr 1890. Der Werdegang Simbabwes und der ZANUPF-Partei wurde durch die Gewalt bestimmt, die das koloniale Rhodesien begründete. Die Menschen hatten kaum eine Chance, etwas anderes zu lernen.

Welche wirtschaftliche und politische Entwicklung braucht Afrika in seiner Vielfalt, und welche Rolle könnte Europa dabei spielen?

Afrika braucht eine gute Regierungsführung. Wir brauchen Respekt für die Würde des Individuums. Im Allgemeinen sind die afrikanischen Regierungen keine Freunde des afrikanischen Volkes. Aber diese Regierungen, die keine Freunde der Menschen sind, sind diejenigen, die die Politik auf internationaler Ebene aushandeln. Einer der wichtigen Punkte ist, auf welcher Ebene ein Engagement stattfinden kann, wenn die Regierungsebene die Menschen vor Ort oft nicht angemessen repräsentiert. Es muss einen Weg geben, die Stimmen und Bewegungen der Menschen in den Dialog auf hoher Ebene einzubeziehen. Viele Menschen in Simbabwe sind dieser Meinung. Die Konzeption für Afrikas Zukunft muss unter Gleichen und unter allen Beteiligten erfolgen.

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