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Der Leuchtende

Gemeinsam mit seiner Frau Aleida hat Jan Assmann 2018 den Friedenspreis erhalten. Am 19. Februar 2024 ist er nach langer Krankheit verstorben. Ein Nachruf von Martin Schult.

Da ist dieses Lächeln – aber nicht nur mit Lippen und Augen. Wenn sich Jan Assmann mir zuwendet, lächeln auch der weiße Henriquatre-Bart und die Augenbrauen. Ja, eigentlich lächelt der ganze Mensch.

Es scheint, als habe er alle Zeit der Welt, um sich mit mir zu unterhalten, was im Grunde nicht sein kann, kenne ich doch die ellenlange Liste von Veröffentlichungen und weiß, dass er Mitglied in mindestens einem Dutzend von Akademien, Instituten, Kuratorien und Beiräten ist. Mit Aleida, seiner Frau, hat er fünf Kinder (Vincent, David, Marlene, Valerie und Corinna) und jede Menge Enkel. Daher sollte ich für jede Minute, die er mir schenkt, dankbar sein.

Also gebe ich mir Mühe, damit das, was ich sage, nicht wohlfeil, sondern wohlüberlegt klingt. Doch bald merke ich, dass das gar nicht nötig ist, denn Jan Assmann vereint so viel Gutes in sich: Sanftheit, Zugewandtheit, Weisheit, Humor und viele weitere positive menschliche Eigenschaften. Er hört mir zu, egal was ich und auf welche Weise ich es sage, aber vor allem nimmt er sich Zeit.

Nun ist er verstorben und hinterlässt eine traurige Leere. Doch sie wird sich bald, wie bei vielen anderen Menschen, die auf einmal nicht mehr da sind, wieder füllen – mit Erinnerungen an ihn, mit klugen Dingen, die er gesagt hat, und vor allem: mit seinem Lächeln.

*

Jemandem nur positive Eigenschaften zuzuschreiben, mag ihn scherenschnittartig oder gar blass erscheinen lassen. Dass Jan Assmann so ein Mensch nicht war, sondern auch Dinge riskierte und provozierte, bemerkt man an der Art, wie er mit seinem Wissen umgegangen ist.

Hans Ulrich Gumbrecht hat in seiner Friedenspreis-Laudatio ein aus vier Sätzen bestehendes Zitat aus Assmanns Essay »Todesbilder und Totenriten im Alten Ägypten« (2000) verwendet, aus dem sich vieles über den Friedenspreisträger erfahren lässt.

»Der Mensch, durch ein Zuviel an Wissen
aus den Ordnungen der Natur herausgefallen,
hat sich eine künstliche Welt erschaffen,
in der er leben kann.«

Da hört man zunächst schon einmal den Rhythmus, den der von klassischer Musik begeisterte Sohn eines Architekten verwendet. Der Mensch steht am Anfang dieses ersten Assmann-Satzes, ihm folgt unmittelbar durch einen eingeschobenen Nebensatz die Beschreibung seines Schicksals, woraufhin er handelt, um etwas zu erreichen, damit er überhaupt leben kann.

»Das ist die Kultur.«

Unsicher, ob es auch alle verstehen würden, könnte Assmann beim Schreiben dieses zweiten Satzes kurz aufgeblickt haben. Doch er braucht ihn, um Herz und Verstand der Lesenden für die folgende Ungeheuerlichkeit zu öffnen.

»Die Kultur entspringt dem Wissen
um den Tod und die Sterblichkeit.«

Gumbrecht nennt diese Schlussfolgerung eine »atemberaubende Provokation«, denn vor Jan Assmann habe noch niemand eine These in die Welt gesetzt, die besagt, dass sich die Kultur aus dem Wissen um den eigenen Tod entfaltet.

»Sie stellt den Versuch dar,
einen Raum und eine Zeit zu schaffen,
in der der Mensch über seinen begrenzten
Lebenshorizont hinausdenken und die
Linien seines Handelns, Erfahrens und
Planens ausziehen kann.«

Vom Schluss aus betrachtet, verrät dieser vierte und letzte Satz des Zitats etwas, das für Jan Assmann bei der Beschäftigung mit dem Alten Ägypten eine Voraussetzung ist, um diese Jahrtausende alte und über Jahrtausende währende Kultur überhaupt zu verstehen. Als Antwort auf die menschliche Endlichkeit haben sich die Ägypter eine Gegenwart geschaffen, die sich »ohne Anfang oder Ende in die Vergangenheit und in die Zukunft dehnt«.

So gelingt es dem Menschen, über sein begrenztes Leben hinaus zu denken, sei es nach vorne oder zurück. Kultur wird zu Raum und Zeit, sie ist nicht festgeschrieben, sondern erfährt sowohl Erweiterung als auch Reduzierung, je nachdem, was die Menschen, die in ihr leben, als wichtig ansehen. Erst dadurch wird der ägyptische Totenkult mit seinen bis heute existierenden Symbolen – die Pyramiden, das Tal der Könige, die Mumifizierung der Pharaonen – erklärbar.

Die Ägyptologie verdankt ihm viel: die Entdeckung einer Grabkammer nahe des Tals der Könige, wichtiges zur Übersetzung von Keilschriften und Hieroglyphen, vor allem aber die Fähigkeit, das Alte wieder lebendig zu machen. Dabei entwickelte er Sichtweisen, die auch zur Bewältigung heutiger Probleme genutzt werden können. Seine nicht unumstrittenen Aussagen zur Entstehung des israelitischen Monotheismus könnten zum Beispiel den heutigen Kirchenreligionen, die sich auf den einen Gott berufen, helfen, aus ihren Krisen herauszukommen.

Zudem formulierte er mit ihnen eine provozierende These für die Diskussion über Krieg und Gewaltbereitschaft, da durch den Monotheismus seiner Meinung nach erst die Unterscheidung zwischen Freund und Feind in die Welt gekommen sei – was er später relativierte, da nicht jede monotheistische Gesellschaft zwangsläufig auch gewaltbereit sein müsse. Und doch wurde er nach dem Terroranschlag am 11. September 2001 zu einem vielgefragten Gesprächspartner darüber, warum religiöser Fanatismus zwangsläufig zu Gewalt führt.

Wer lächelt, erntet auch ein Lächeln, mal ein emphatisches, mal ein kollegiales und oft, so wie bei mir, wenn ich seinem Gedankengang nicht folgen kann, auch ein fragendes. Jan Assmann ist ein Meister des Erzählens und des Erklärens, nur findet er manchmal kein Ende. Dann taucht ein nachsichtiges, hin und wieder ungeduldiges Lächeln auf den Lippen seiner Frau Aleida auf.

Bin ich mit beiden zusammen, spüre ich diese enge, seit Jahrzehnten bestehende Verbindung. Jeder Text, den eine, einer von beiden schreibt, wird ausgiebig diskutiert, und sicherlich wird sich auch bei familiären Angelegenheiten rege ausgetauscht. Höre oder lese ich ein Interview mit ihnen, kommt es fast immer vor, dass sie einander ergänzen. »Was Jan eigentlich noch sagen wollte …« oder »Aleida meint damit, dass …«

Der Stiftungsrat hat sie 2018 gemeinsam ausgezeichnet, nicht nur, weil sie sich so unsagbar gut ergänzen, sondern voneinander profitieren. Dennoch ist es kein geteilter Preis, sondern vielmehr ein doppelter … 

… denn unsere Gesellschaft verdankt Jan und Aleida, dass sie mit dem Konzept des kulturellen Gedächtnisses eine Theorie entwickelt haben, die auf dem Konzept des kollektiven Gedächtnisses von Maurice Halbwachs beruht, aber weit in die Vergangenheit weist, da Kultur mündlich, schriftlich, normativ und narrativ über viele Generationen hinweg weitergegeben wird.

Die Vorstellung von Kultur, wie sie Jan Assmann in seinem Zitat über das Alte Ägypten formuliert hat, in unsere heutige Zeit zu übertragen und somit auch der Erinnerung eine essentielle Voraussetzung für unser Zusammenleben zuzuschreiben, ist für uns aber auch teilweise schmerzhaft, gehört ja nicht nur das Schöne und Gute dazu, sondern natürlich auch die Krise, die Gewalt, der Tod. Besonders hervorzuheben ist dabei der Beitrag, den Aleida und Jan Assmann zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus und des Holocaust geleistet haben.

Die Fernsehserie »Holocaust – die Geschichte der Familie Weiss« Ende der 1970er Jahre, die Rede des damaligen Bundespräsidenten Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs, der zeitlich folgende Historikerstreit mit dem Versuch, die Shoah zu relativieren, und die Friedenspreisrede von Martin Walser aus dem Jahr 1998 waren Stationen auf dem Weg, den das Ehepaar Assmann beschritten hat, um der Erinnerung an dieses ungeheure Verbrechen ihren Platz im kulturellen Gedächtnis zu sichern. Dabei sind sie nicht präskriptiv, sondern diagnostisch vorgegangen, gehört zur Erinnerungskultur doch auch immer das Vergessen, selbst wenn man es nicht gutheißt.

Was uns verbindet und was uns trennt, wurde somit auch zum Thema der Friedenspreisrede, die die beiden 2018 gemeinsam gehalten haben. Wichtig war ihnen dabei die Suche nach einem gemeinsamen Diskussions- und Erfahrungsraum, einem Res publica litteraria – ein grenzenloses und lokal nicht zu verortendes »Land«, in dem über Staaten, Nationen, Völker und Gemeinschaften hinweg Ideen miteinander ausgetauscht werden, um trotz aller realer Grenzen und Unterschiede eine Basis für Gemeinsamkeiten zu schaffen und für Frieden und Verständigung zu sorgen.

»Die Menschheit gibt es im Singular, aber Kulturen, Sprachen, Religionen nur im Plural. […] Die Gesellschaft braucht ein Gedächtnis, wie der Einzelne eins braucht: um zu wissen, wer wir sind und was wir erwarten können, um uns zu orientieren und zu entwickeln.« 

Dieses Gemeinsame haben die beiden auch in der Realität gelebt, zusammen mit ihrer vielköpfigen Familie. Wer gesehen hat, wie sich der »Assmann-Clan« nach der Friedenspreisverleihung für ein Foto zusammengefunden haben, der hat eine Ahnung davon bekommen, was für eine Bedeutung die Familie im Leben von Jan Assmann gespielt hat. Dass er nun nicht mehr da ist, wird die anderen Assmanns unfassbar schmerzen. Und trotzdem ist es gut, wenn das körperliche Leiden irgendwann einmal ein Ende hat.

*

Die Augen von Jan Assmann können nicht nur lächeln, sondern auch leuchten. Als ich mit ihm und Aleida nach der Friedenspreisverleihung zur traditionsreichen Veranstaltung nach Leipzig fahre, haben wir einen Text im Gepäck, zu dem der Komponist Stefan Litwin ein Lied geschrieben hat.

Er stammt von einer zerbrochenen Tafel aus dem Jahr 1800 vor Christus und ist leider nicht vollständig. Geschrieben hat ihn ein Mann namens Chacheperreseneb, frei übersetzt wurde er von Jan Assmann, der ihm auch den Titel gegeben hat: »Über die Dinge im Land.« Dieser fast viertausend Jahre alte Text klingt an manchen Stellen, als wäre er für die heutige Zeit geschrieben.

An dem Abend in Leipzig gibt Jan Assmann zu, dass man nicht viel über die Umstände weiß, in denen er verfasst wurde. Ob es eine Staatskrise gab, einen Krieg oder eine Hungersnot, all das lässt sich nur vermuten. Doch dann beginnen seine Augen zu leuchten, als ein befreundeter Ägyptologe nach der Veranstaltung erzählt, dass man den anderen Teil der Tafel gefunden habe. Leider weiß ich nicht, ob er ihn noch zu sehen bekommen hat, um das Rätsel zu lösen.

Besonders mit diesem Text von Chacheperreseneb wird er mir im Gedächtnis bleiben, als ein junggebliebener weiser Mann, der mit seinem ganzen Körper lächelt, wenn ich mal wieder vergeblich versuche, den Namen des altägyptischen Chronisten auszusprechen, und anschließend zu leuchten beginnt, sobald er merkt, wie sehr mich dieses Artefakt aus längst vergangenen Zeiten fasziniert. Ruhe wohl, Jan.

Über die Dinge im Land

Ich will meine Rede freilassen
Worte sammeln
Sprüche pflücken
Ausdrücke suchen
Auf dass mein Herz mir antworte

Hätt’ ich doch
Unbekannte Ausdrücke
Fremdartige Aussprüche
Neue Worte
Frei von Wiederholungen

O wüsst’ ich doch nur
Was andere nicht wissen
Was noch nicht gesagt wurde

Schweigen soll, wer gesprochen hat
Sprechen soll, wer Neues spricht
Nacherzählung und Weissagung
Sind verlorene Müh
Sind Lüge

Ich denke nach über die Dinge im Land
Wandlungen geschehen
Nichts ist wie im Vorjahr
Ein Jahr lastet schwerer als das vorige

Die Welt ist voller Unheil
Klage überall
Wehgeschrei
Totenklage
Das Gesicht schreckt zurück vor dem was geschieht

Die Gerechtigkeit ist hinausgeworfen
Das Unrecht sitzt im Ratssaal
Die Feindseligkeit wird auch morgen nicht vergangen sein
Niemand ist frei von Verbrechen
Alle begehen es

Und alle Welt schweigt darüber
Ich will darüber reden

Das Land ist in schlimmem Zustand
Der Elende hat keine Kraft sich zu schützen
Es ist vergeblich einen Unwissenden zu überzeugen
Gegenrede schafft Feindschaft
Man nimmt die Wahrheit nicht an

Weit und schwer ist das Leiden
Sieh, Herr und Diener sind in derselben Lage

Ich spreche zu dir, mein Herz
Auf dass du mir antwortest
Denn es schmerzt zu schweigen
Viel ist, was auf dir lastet

O wüsst’ ich doch
Was noch nicht gesagt wurde
Hätt’ ich doch nur
Unbekannte Ausdrücke
Fremdartige Aussprüche
Neue Worte

Text: Chacheperreseneb, Übersetzung: Jan Assmann

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