Die Lücken des Lebens
Literatur war für ihn eine Form permanenter Rebellion, die aber keine Zwangsjacken erlaube: Martin Schult erinnert an den peruanischen Schriftsteller Mario Vargas Llosa, der nicht nur den Literaturnobelpreis, sondern 1996 auch den Friedenspreis bekommen hat.
Die Lücken des Lebens
Mario Vargas Llosa ist der einzige unter den lebenden Friedenspreisträgern, dem ich nie persönlich begegnet bin. Vergangenen Sonntag ist der peruanische Schriftsteller nun im Alter von 89 Jahren verstorben. Weil es zu einer schönen wie traurigen Tradition geworden ist, dass ich Nachrufe auf verstorbene Preisträger:innen schreibe, stehe ich nun etwas ratlos da. Wie nähere ich mich einem Menschen, mit dem ich nur einmal telefoniert habe und dessen einzige Worte, die er jemals an mich gerichtet hat, »No puedo oírte!« (»Ich kann Sie nicht hören!«) gewesen sind? Die Verbindung war miserabel. Danach hat er nicht mehr abgehoben.
Zudem habe ich mit Tod in den Anden nur ein Buch von ihm gelesen. Somit wäre es anmaßend, mich in die Liste der Feuilletonist:innen einzureihen, um sein gesamtes literarisches Oeuvre zu beleuchten. Solch einem Text dann auch noch mit einer Überschrift zu versehen, die die Außergewöhnlichkeit dieses Schriftstellers herausstellt – »Der unfreiwillige Dinosaurier«(Tagesspiegel) oder »Das intellektuelle Gewissen Lateinamerikas«(Tagesschau) oder auch »Nur die Welt war ihm groß genug«(FAZ) – spätestens jetzt wäre ich entlarvt.
Jeder würde denken, ich nähme seinen Tod nicht ernst. Dabei ist das Gegenteil der Fall. Ich weiß nur nicht genug über ihn und seine Literatur, um mich ihm auf diese Weise nähern zu können. Super-Mario – so dürfen ihn der Schriftsteller und Freund Marko Martin und FAZ-Feuilletonist Andreas Platthaus nennen, denn sie kennen ihn und/oder sind mit seinem Werk vertraut. Ich wage es noch nicht einmal, Mario Vargas Llosa abzukürzen, weil ich nicht weiß, ob er mit MVL einverstanden gewesen wäre.
Nichts schärft unser Gespür mehr, nichts macht uns so empfänglich für das Erkennen der Wurzeln der Grausamkeit, der Schlechtigkeit und der Gewalt, die der Mensch entfesseln kann, wie gute Literatur.
(Aus der Friedenspreisrede von Mario Vargas Llosa)
Der erhoffte Freifahrtschein
Im Archiv finde ich einen Text, den das Börsenblatt 1996 anlässlich der Friedenspreisverleihung mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags veröffentlicht hat: Die Kunst der Lüge, ohne Angabe des Übersetzers oder der Übersetzerin (aber das ist damals leider üblich gewesen). »Jeder gute Roman sagt die Wahrheit, und jeder schlechte Roman lügt«, lese ich hier, denn ein guter Roman schaffe eine Illusion, die die Lesenden für wahr halten können, ein schlechter aber sei unfähig zu solch einer Simulierung.
Die Stimmung in diesem Essay ist leicht. Fast beschwingt spielt Mario Vargas Llosa mit den Begriffen Dichtung und Wahrheit, und so erfreue ich mich vor allem an einem Satz. »Die Lügen der Romane sind nicht willkürlich: Sie füllen die Lücken des Lebens.« Denn das könnte mir den erhofften Freifahrtschein geben. Ich lasse es mit dem Nachruf sein und schreibe einfach einen Roman über den Friedenspreisträger Mario Vargas Llosa, einen ganz kurzen nur, aber dennoch.
Denn »Romane werden nicht geschrieben, um das Leben zu erzählen, sondern um es zu verwandeln, in dem man ihm etwas hinzufügt.« Hat er doch selbst geschrieben. Und mit dieser Erlaubnis spare ich mir die Beurteilung eines ganzen Lebens, sondern konzentriere mich auf die Frage, warum Mario Vargas Llosa 1996 den Friedenspreis erhalten hat.
Niemand in meiner Umgebung glaubt noch, daß die Literatur zu besonders viel nütze ist, außer dazu, sich im Autobus oder in der Metro nicht allzusehr zu langweilen. Um zu überleben, ist die Literatur light geworden – ein Begriff, der mit leicht falsch übersetzt wäre, denn er bedeutet in Wirklichkeit unverantwortlich und oft stumpfsinnig.
(Aus der Friedenspreisrede von Mario Vargas Llosa)
Eine grobe Entzauberung
Mario Vargas Llosa wird zwei Mal geboren – das erste Mal am 28. März 1936 im äußersten Süden Perus im Hause seiner Großeltern väterlicherseits. Ein Jahr später folgt der Umzug nach Bolivien, wo sein Großvater mütterlicherseits Präfekt der Provinz Piura wird. Wohl behütet wächst der Junge in einer heilen Welt auf, die nur dadurch getrübt ist, keinen Vater zu haben. Dieser lebe beim lieben Gott im Himmel, versichern ihm alle.
Anfang 1947 folgt der Schock. Der tot geglaubte Vater lebt, die Eltern versöhnen sich und ziehen mit dem Sohn nach Lima. Der Vater, der zuvor nur in der Fotografie eines gutaussehenden, sympathischen Mannes existiert hat, offenbart sich als grausamer Mensch. Der naiven Sicht auf die Welt, die Mario Vargas Llosa durch die Fürsorglichkeit der Mutter und ihrer Verwandten entwickelt hat, wird nun eine angstvolle und gewalttätige Realität zur Seite gestellt.
»Es ist wahrscheinlich«, so Mario Vargas Llosa später, »daß ich ohne die Verachtung meines Erzeugers für die Literatur niemals so hartnäckig an etwas festgehalten hätte, das damals ein Spiel war.« Durch diese grobe Entzauberung einer zehn Jahre andauernden gut gemeinten Lüge kommt er also zum zweiten Mal auf die Welt: als Schriftsteller, der fortan mit Lügen, die Gutes wollen, und Wahrheiten, die grausam sind, wird umgehen müssen – ein erster Schritt Richtung Friedenspreis, den auch die Preisjury verstanden hat:
»Sein Lebenswerk ist das Plädoyer für eine Kultur der Freiheit und für wahre Gerechtigkeit als unerlässliche Grundlage für das Leben des Individuums wie der Gesellschaft.«
Illusionen, die aus Worten gemacht sind, erfordern eine aktive Beteiligung des Lesers, eine Anstrengung der Vorstellungskraft und bisweilen, wenn es sich um moderne Literatur handelt, komplizierte Operationen, die ein gutes Gedächtnis und assoziative und kreative Fähigkeiten verlangen, etwas, was die Bilder des Kinos und des Fernsehens den Zuschauern ersparen.
(Aus der Friedenspreisrede von Mario Vargas Llosa)
Die Macht des geschriebenen Wortes
13jährig wird Mario Vargas Llosa auf eine Kadettenschule geschickt, in der er eine Welt erlebt, die er später in seinem Debütroman verarbeitet. Hier und anschließend auf dem Gymnasium reift die Liebe zur Literatur – verschlingt er doch jedes Buch, das ihm in die Hände kommt –, und er lernt die Macht des geschriebenen Wortes kennen – erst in Form von Liebesbriefen, die er für seine Mitschüler verfasst, dann durch erotische Romane, die er ihnen vorliest und verkauft.
In den Schulferien arbeitet er als Polizeireporter, später wird er Kolumnist bei Lokalzeitungen, schreibt und führt ein Theaterstück auf. Er geht zum Studium der Geistes- und Rechtswissenschaften erst nach Lima, dann nach Paris und Madrid, wird hauptberuflicher Journalist, lernt Schriftsteller wie Borges und Fuentes kennen und begeistert sich für Fidel Castros Kuba.
1963 erscheint Die Stadt und die Hunde. Der Roman macht ihn, der zuvor bereits eine Sammlung von Erzählungen veröffentlicht hat, mit einem Schlag bekannt. Zusammen mit Das Grüne Haus (1966) und Gespräch in der Kathedrale (1971) entsteht ein literarisches Wurzelgeflecht, auf dem sein folgendes Werk wachsen kann. Die von Wolfgang Alexander Luchting ins Deutsche übersetzten Romane »reflektieren die Facetten seines Grundthemas, durchleuchten die verschiedenartigen Ausdrucksformen und Mechanismen der Gewalt, letztlich der Angst«, so die Journalistin Rosemarie Bollinger.
Hierfür kann er in seiner Heimat Peru mit ihren vielen unglaublichen Geschichten und Überlieferungen aus dem Vollen schöpfen. »In lateinamerikanischen Staaten kann man sich auf nichts verlassen«, ist ein beliebtes Zitat von ihm, »das ist wunderbarer Stoff für Romane, ganz im Gegensatz zu sozial stabilen Staaten, die perfekt in eine vorgegebene Richtung marschieren.« Damit meint Mario Vargas Llosa Staaten wie die Schweiz und Schweden, die zwar wunderbar seien, aber kaum Romanstoff böten.
Obwohl es von der Jury des Friedenspreises nicht explizit erwähnt wird, ist das mit Sicherheit ein weiterer Grund für seine Wahl. Die Kuriositäten, die die Welt bietet, gesellschaftskritisch aufzugreifen und die Moral an der Realität zu reiben, das macht doch einen Friedenspreisträger aus!
Es ist ein durchaus lehrreiches Paradox: Während die Literatur sich in den als besonders gebildet geltenden Ländern, die zugleich die freiesten und demokratischsten sind, nach allgemeiner Auffassung in einen bedeutungslosen Zeitvertreib verwandelt, wird die Literatur in Ländern, in denen die Freiheit eingeschränkt ist und tagtäglich gegen die Menschenrechte verstoßen wird, als gefährlich betrachtet, als ein Element, das subversive Ideen verbreitet und Unzufriedenheit und Rebellion zu schüren vermag.
(Aus der Friedenspreisrede von Mario Vargas Llosa)
Das Trugbild eines homogenen Kontinents
Es folgen zwei Jahrzehnte mit weiteren Veröffentlichungen, mit Auszeichnungen, Lehrtätigkeiten, Kolumnen und Reisen durch die weite Welt – mit seiner zweiten Frau Patricia und den drei Kindern Àlvaro, Gonzalo und Morgana.
Als Schriftsteller ist Mario Vargas Llosa nun weltweit bekannt und wird verehrt, doch auch als Journalist und Kolumnist macht er sich einen Namen und lässt seine Leserschaft unter anderem daran teilhaben, wie er sich von seiner Begeisterung für sozialistische Ideen abwendet, auch ausgelöst durch die Inhaftierung des kubanischen Dichters Heberto Padilla, was 1971 zahlreiche Intellektuelle dazu bewegt, von Fidel Castro Abstand zu nehmen. Hierdurch kommt es auch zum Bruch mit seinem Freund Gabriel Garcia Márquez, der weiterhin den Marxismus als die Lösung für die Probleme Lateinamerikas sieht.
Kurios wird es 1976 auf der Frankfurter Buchmesse. Lateinamerika ist Themenschwerpunkt in diesem Jahr, und ausgerechnet Mario Vargas Llosa wird als Redner eingeladen. Freundlich und mit einem Augenzwinkern stellt er klar, wie wichtig es sei, »unseren deutschen und europäischen Freunden zu zeigen, wie reich und vielfältig diese [lateinamerikanische] Wirklichkeit ist; das heißt, die Vereinfachungen, die hartnäckig bei der Betrachtung Lateinamerikas immer noch auftreten, auszuräumen«.
Um dieses Trugbild eines homogenen Kontinents zu zerstören, dabei könnten gerade die Lyrik und Erzählkunst dieser Länder helfen, denn »in ihren Werken drücken sich Millionen Lateinamerikaner, die durch Unterdrückung und Armut zum Schweigen verurteilt sind, unverfälschter aus als in den Worten der Persönlichkeiten, die in den internationalen Organisationen, den Präsidentenpalästen, den Gerichtshöfen und den Kasernen in ihrem Namen zu sprechen pflegen.«
»Er hat Gleichheit und Gerechtigkeit als Bedingung des Friedens in das Zentrum seines erzählerischen und essayistischen Schaffens gestellt«, fasst die Preisjury diesen Aspekt zusammen. Wir kommen der Friedenspreiswürdigkeit also noch ein Stück näher.
Die Freiheit ist ein wertvolles Gut, aber kein Land, kein Mensch kann sich ihrer sicher sein, wenn er nicht in der Lage ist, sie sich zu eigen zu machen, sie auszuüben und sie zu verteidigen. Die Literatur, die dank ihrer atmet und lebt, die ohne sie erstickt, kann begreiflich machen, daß die Freiheit nicht ein Geschenk des Himmels ist, sondern eine Wahl.
(Aus der Friedenspreisrede von Mario Vargas Llosa)
An der Spitze der Bewegung
Die folgenden Zeilen hat der Journalist Werner Thomas am 24. August 1987 für Die Welt geschrieben:
»›Das ist ein Schneeball, der wächst und wächst, bis er schließlich die peruanische Demokratie zerstört‹, ruft der Redner erregt ins Mikrophon. Die Menge reagiert mit tosendem Applaus. Aus den Kehlen von mehr als 300 000 Menschen schallt es zurück: ›Freiheit, Freiheit, Freiheit.‹ Es ist eine denkwürdige Kundgebung, eine der größten in der Geschichte der peruanischen Nation. Die Massen drängen sich nicht nur auf den Platz San Martin im Herzen der Hauptstadt Lima, sie füllen auch die Seitenstraßen. Sie lauschen an diesem frühen Abend einem berühmten Landsmann, der ein rhetorisches Feuerwerk abbrennt, das ihnen und der sozialdemokratischen Regierung noch lange in Erinnerung bleiben wird.«
Zu diesem Zeitpunkt ist Mario Vargas Llosa, der »eloquente Buchautor mit der äußeren Erscheinung eines Filmstars«, noch kein Politiker. Aber er marschiert an der Spitze einer immer größer werdenden Bewegung, die gegen die Verstaatlichung privater Banken und Versicherungsgesellschaftern protestiert.
Dem deutschen Journalisten versichert er, dass er keine politischen Ambitionen habe, tritt zwei Jahre später aber doch als Kandidat mit neoliberalem Programm bei den Präsidentschaftswahlen 1990 gegen Alan García Pérez an und verliert – allerdings nicht gegen seinen einstigen Freund, sondern gegen den Außenseiter Alberto Fujimori, der bald drauf das Parlament auflöst, eine Scheindemokratie aufbaut und mit allerlei politischen Tricksereien eine dritte Amtszeit für sich herausschlägt, bis er kurz darauf grandios scheitert. Die Regierungsjahre Fujimoris werden von Mario Vargas Llosa kritisch begleitet, ohne selbst den Anspruch zu erheben, noch einmal politisch aktiv zu werden.
»Als ich die Wahlen dann verlor, war das wie eine große Befreiung«, erzählt er. »Endlich konnte ich wieder schreiben, voller Freude zu meinem Beruf – Schriftsteller zu sein – zurückkehren. Und so begann ich die Arbeit an dem Roman Tod in den Anden.«
Ohne seine politischen Erfahrungen hätte er den von Elke Wehr übersetzten Roman aber nicht auf diese Weise schreiben können. Auf den Wahlkampfreisen, die ihn in die entlegensten Gebiete Perus führen, lernt er enorm viel über die unglaubliche Komplexität der peruanischen Gesellschaft. »Dabei habe ich festgestellt, dass eine der Hauptschwierigkeiten die mangelnde Kommunikation ist, und so wurde dies auch ein zentrales Thema im Roman. Die Menschen sprechen weder die gleiche Sprache, noch haben sie die gleichen Erfahrungen. Welten leben da nebeneinander.«
Ob er auch als Präsident Perus den Friedenspreis erhalten hätte, sei dahingestellt. Doch mit diesem politischen Engagement für sein Land, das nicht – wie er und andere glaubhaft versichern – Ausdruck einer persönlichen Eitelkeit gewesen ist, erfüllt er nun ein weiteres Kriteriums für die Preisjury: »Vargas Llosa ist ein Mann ungewöhnlicher Zivilcourage, der für seine Überzeugung kämpft, dass Politik von Moral nicht getrennt werden darf.«
Niemand, der zufrieden ist, ist fähig zu schreiben, niemand, der mit der Wirklichkeit einverstanden, mit ihr versöhnt ist, würde sich zu der ehrgeizigen Ungereimtheit versteigen, sprachliche Wirklichkeiten zu erfinden. Die literarische Berufung entsteht aus der fehlenden Übereinstimmung eines Menschen mit der Welt ... die Literatur ist eine Form permanenter Rebellion und erlaubt keine Zwangsjacken.
(Mario Vargas Llosa)
Literatur als permanente Rebellion
Mit diesem Zitat von Mario Vargas Llosa leitet Jorge Semprún in der Frankfurter Paulskirche jenen Teil seiner Laudatio ein, mit der er den Kern des Denkens des Preisträgers vorstellt – die permanente Suche nach der Wahrheit, verbunden mit einer unbändigen Fantasielust und einem Streben nach Gerechtigkeit, die für Peru so wichtig ist, aber auch universelle Gültigkeit besitzt. Dieses Streben, so Semprún, erkläre die vielen Brüche im Leben des Peruaners und die verlorenen Freundschaften nicht als Verrat, sondern als Treue zu sich selbst und als Quelle seiner Literatur. »In dieser peruanischen Wirklichkeit entzündet sich also das leidenschaftliche und luzide Feuer der Romankunst von Vargas Llosa. Diese Wirklichkeit ist es, die seine glühende Prosa entflammt, die subtil gewebt ist, erfinderisch und dicht, voller Emotionen und Ideen.«
Der Laudatio folgt tosender Applaus, Gerhard Kurtze verliest als Vorsteher des Börsenvereins die Urkunde, dann tritt mein Romanheld ans Rednerpult. Bundespräsident Roman Herzog, Bundesarbeitsminister Norbert Blüm, Ministerpräsident Hans Eichel und die weiteren 1000 Gäste, darunter fünf ehemalige Friedenspreisträger:innen sowie die Frauen der Ehrengäste, die damals noch in der zweiten Reihe hinter ihren Männern sitzen müssen, warten nun gespannt auf das, was Mario Vargas Llosa ihnen – auf Spanisch – erzählen wird.
Er sei aus verschiedensten Gründen bewegt, den Friedenspreis der deutschen Buchhändler und Verleger zu erhalten, erklärt er anfangs, »doch der wichtigste Grund ist, für mich, sein hartnäckiger Anachronismus, sein beharrliches Bemühen, die literarische Arbeit als eine Verantwortung zu begreifen, die sich nicht im Künstlerischen erschöpft und notwendig mit einem moralischen Anliegen und einer gesellschaftlichen Wirkung verbunden ist.«
Es folgt – wie die eingefügten Zitate in diesem Text belegen – eine Auseinandersetzung mit der Rolle der Literatur, die in der modernen Zeit vielleicht als Dinosaurier erscheine, aber so viel tiefer in die Wahrheiten und Lügen von Gesellschaften eindringe, als es zum Beispiel Film und Fernsehen vermögen.
Es erweise sich »als nachgerade ermutigend, den Blick auf die Verbrecherbande zu lenken, die Nigeria regiert und Ken Saro-Wiwa umbrachte, auf die Verfolger von Taslima Nasrin in Bangladesch, auf die iranischen Rechtsgelehrten, die die Fatwa diktierten und Salman Rushdie zum Tode verurteilten, auf die islamischen Integristen, die Dutzenden von Journalisten, Dichtern und Dramatikern in Algerien die Kehle durchschnitten, auf diejenigen, die in Kairo den Dolch führten, der Nagib Mahfuz fast das Leben gekostet hätte, und auf Regime wie die Nordkoreas, Kubas, Chinas, Vientianes, Birmas und so vieler anderer Länder mit ihren Zensursystemen und ihren ins Gefängnis gesperrten oder exilierten Schriftstellern.«
Wenn aber die Gegenwart unwirklich, die wirkliche Geschichte in Fiktion verwandelt wird, dann wird dem Bürger das Motiv zum Handeln genommen, dann fühlt er sich aus der staatsbürgerlichen Verantwortung entlassen, dann glaubt er, er habe nicht die Möglichkeit, in eine Geschichte einzugreifen, deren Drehbuch bereits irreversibel geschrieben, durchgespielt und verfilmt ist.
(Aus der Friedenspreisrede von Mario Vargas Llosa)
Ein anderer Roman
Im Jahr 2010, also vierzehn Jahre nach der Friedenspreisverleihung, erhält Mario Vargas Llosa den Literaturnobelpreis – in einem »sozial stabilen« Land, das ihm nicht das hätte geben können, was er in Lateinamerika vorgefunden hat. Wieder etwa vierzehn Jahre später stirbt er am 13. April 2025 in der peruanischen Hauptstadt Lima. Was bleibt, sind seine Literatur und die Erinnerungen an einen Mann, der die Stimme erhebt, wenn er glaubt, Ungerechtigkeiten zu erkennen. Und von dem man irgendwann sagt, er wäre milder, in seinem Urteil manchmal aber auch exzentrischer geworden.
Doch das ist ein Roman, den nicht ich, sondern ein anderer schreiben muss, um die Lücken in einem Leben – nach der Verleihung des Friedenspreises – zu schließen. Wäre der Ort, an dem er jetzt ist, ein zweites Lateinamerika, könnten sich die, die sich dort mit ihm befinden, auf einiges gefasst machen. Aber auch das ist ein anderer Roman.
Leben Sie wohl, Mario Vargas Llosa. Ich wünschte, Sie hätten mich damals am Telefon hören können.