Die Stimme der Opfer
Saul Friedländer, der am 11. Oktober 2022 neunzig Jahre alt geworden ist, hat eine neue Form der Geschichtsschreibung geprägt. Martin Schult vom Börsenverein über einen Friedenspreisträger, bei dem sich Empathie und Wissenschaft verbinden.
"Zu dem Deportationstransport Nr. 40, der am 3. November 1942 meine Eltern von Drancy nach Auschwitz brachte, gehörten 468 Männer, 514 Frauen und 18 Personen, deren Geschlecht nicht angegeben war, insgesamt 1000 Juden, unter denen sich 200 Kinder befanden. Der Transport traf am 6. November in Auschwitz ein. Von denen, die die Reise überlebt hatten, wurden 639 gleich nach ihrer Ankunft vergast. Keine der Frauen und nur vier der Männer waren bei Kriegsende noch am Leben. Auf den Lagerlisten ist als Todesdatum meines Vaters der 1. Dezember 1942 angegeben. Der Name meiner Mutter wird nicht genannt; das Datum und die Umstände ihres Todes sind unbekannt."
Es sind ungewöhnliche Worte, die die Gäste bei der Friedenspreisverleihung 2007 zu hören bekommen. Statt eine Rede auf Grundlage seiner historischen Forschung zu halten, entscheidet sich der am 11. Oktober 1932 in Prag geborene Preisträger, die letzten Briefe seiner Eltern und einiger Verwandter vorzulesen, bevor sie in den Gaskammern der Nazis ermordet wurden.
"Meine Ansprache verlangte eine Stellungnahme zur Shoah, die bedeutsam zu sein hatte und öffentlichen Widerhall finden sollte", schreibt er über diese Entscheidung, mit der ihm zudem etwas Außergewöhnliches gelingt: Die Zuhörenden sind betroffen und spüren, anstatt sich angeklagt zu fühlen, eine tiefe Verbundenheit mit ihm und seiner Familie.
Dabei sollte es bei Friedländer, der in einem katholischen Kloster überlebt hat, noch Jahre dauern, bevor er seine Erinnerungen an die Kindheit und den Verlust der Eltern aufschreiben kann. Doch nach der Suche nach dem Ort, an dem 1942 der Fluchtversuch seiner Eltern scheitert, entschließt er sich zu diesem Schritt (Wenn die Erinnerung kommt, C.H. Beck 1979). "Ich hatte die Geschichte der Shoah zum Gegenstand meiner Forschung gemacht", schreibt Friedländer im zweiten Band seiner Erinnerungen (Wohin die Erinnerung führt, C.H. Beck 2016), "diese 'unbeteiligte' Beschäftigung mit dem kollektiven Schicksal war wahrscheinlich für mich ein Weg geworden, eine allzu große Nähe zu meinen persönlichen Erinnerungen zu vermeiden."
Die Zuhörenden sind betroffen und spüren, anstatt sich angeklagt zu fühlen, eine tiefe Verbundenheit mit ihm und seiner Familie. (Martin Schult)
Nach dieser Auseinandersetzung mit dem eigenen Überleben und einer anschließenden Debatte mit Martin Broszat darüber, ob die "mythische Erinnerung" der Opfer überhaupt Teil einer rationaleren deutschen Historiografie sein könne, erinnert er sich an eine Idee, die er ein paar Jahre zuvor formuliert hat: eine umfassende Darstellung der Verfolgung und Vernichtung der Juden unter der Berücksichtigung der Reaktionen und Haltungen der jüdischen Bevölkerung in Deutschland und Europa.
Den Wechsel 1988 zur UCLA in Los Angeles, wo er den Lehrstuhl für die Geschichte des Holocaust übernimmt, empfindet Friedländer als "erlösende Entlastung, gerade weil die erinnerte Vergangenheit in meiner Umwelt und im Alltag meist abwesend war". Hier beginnt er, sein Vorhaben umzusetzen, das 1997 in der Veröffentlichung des ersten Bandes von Das Dritte Reich und die Juden über die Jahre der Verfolgung 1933–1939 mündet, wofür er unter anderem mit Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet wird. Knapp zehn Jahre später folgt der zweite Band, in der er "die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung stärker herauszuarbeiten vermochte als jeder noch so 'objektiv' und 'sachlich' sich gebende historiografische Text zuvor." (Karolin Machtans)
Erhebt euch gegen das Unrecht, gegen willkürliche Verfolgung, gegen die Weigerung, das Menschsein und die Rechte der anderen anzuerkennen. (Saul Friedländer)
Besonders für dieses Werk erhält er 2007 den Friedenspreis. Friedländer damalige Vermutung, dass der Stiftungsrat ihn vielleicht auch deswegen gewählt habe, um ein indirektes "Gegengewicht" zu Martin Walsers "Moralkeulen"-Rede von 1998 zu setzen, ist jedoch nicht zutreffend. Man ist schlichtweg überwältigt von seinem Ansatz, die Stimmen der Opfer einzusetzen, um mit ihren Schreien und Flüstern "den normalisierenden Gang des historischen Erzählens gewissermaßen ins Stolpern [zu] bringen und jenes distanzierte intellektuelle Verstehen [zu] erschüttern, das historische Darstellung notwendigerweise bewirkt", wie er es selbst beschreibt. Dabei ist er sich bewusst, dass man nur eine Lehre aus der Shoah ziehen kann. "Erhebt euch gegen das Unrecht, gegen willkürliche Verfolgung, gegen die Weigerung, das Menschsein und die Rechte der anderen anzuerkennen", antwortet er jedes Mal, wenn versucht wird, "die Shoah als Vorwand für harsche anti-palästinensische Maßnahmen" zu verwenden.
Lässt man sich auf diese Haltung ein, empfindet man Friedländers Ansatz, den realen Geschehnissen die Stimmen der Opfer hinzuzufügen, nicht als Anklage, sondern als Verpflichtung, ihr Schicksal in unsere Geschichte aufzunehmen. Die damit einhergehende Empathie könnte sogar in der aktuellen Antisemitismusdebatte helfen: Wenn wir den Holocaust und jeden ermordeten jüdischen Menschen nicht mehr als Vorwurf, sondern als Bestandteil unserer Geschichte begreifen, können wir bewusster Verantwortung übernehmen. Besonders hierfür möchte ich Saul Friedländer anlässlich seines 90. Geburtstags herzlich danken.