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Im Bergwerk der Erinnerungen

© Renate Graf

Trümmer sind für ihn nicht nur Ende, sondern auch Anfang: Der Künstler Anselm Kiefer, 2008 mit dem Friedenspreis ausgezeichnet, wird am 8. März 2025 80 Jahre alt. Martin Schult gratuliert.

Ein Künstler – wann hat es das schon mal gegeben?

Als der Börsenverein im Jahr 2008 bekannt gibt, dass Anselm Kiefer den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält, ist das mediale Interesse groß. Ein Künstler erhält den Friedenspreis – wann hat es das schon mal gegeben? Schnell wird Yehudi Menuhin als Referenz aus der Geschichte des Preises hervorgeholt, doch der in New York geborene Musiker, Preisträger von 1979, lässt sich – außer, dass beide keine Literaten oder Wissenschaftler sind – nur schwer als Vergleich heranziehen.

Auch die Begründung des Stiftungsrats gibt mehr Rätsel auf, als dass sie Antworten bietet. Der erste Teil enthält Sätze wie »der Künstler agiert als genialer, bewusster Eroberer, der die Mittel einer texturreichen, expressiven Malerei an sich reißt und wie Beutestücke in die eigene Bildwelt transferiert«, oder »im Mittelpunkt steht eine von Vergangenheit zerfressene, zerstörte Gegenwart, die mit äußerst verknappter Rhetorik, mit Sprachlosigkeit präsentiert wird«.

Der zweite Teil des Begründungstextes scheint zugänglicher. Hier ist die Rede von Anselm Kiefers Bildsprache, die den Betrachter zu einem Leser macht, von seiner Nähe zur Literatur und Poesie, die in seine Kunst eindringt, und von seinen monumentalen Folianten aus Blei (»Zweistromland«), die dem Buch und dem Lesen als Schutzschild gegen den Defätismus dienen, der ihnen eine Zukunft abspricht.

Aber reichen diese Begründungen wirklich aus, um Anselm Kiefer im Kreis derer zu sehen, denen er folgte – Saul Friedländer (2007) mit seinen so wichtigen Studien zur Verfolgung und Vernichtung der Juden und Jüdinnen im Dritten Reich, Orhan Pamuk (2005), der mit seiner Literatur den historischen Spuren des Westens im Osten und des Ostens im Westen nachgeht, oder Susan Sontag (2003), die »in einer Welt der gefälschten Bilder und der verstümmelten Wahrheiten für die Würde des freien Denkens« eintritt?

Verstrickt in eine kollektive Vergangenheit

Die ersten zehn Jahre des neuen Jahrtausends stehen ganz im Zeichen der Globalisierung, einer rasanten technologischen Entwicklung und einer weltweiten Wirtschaftskrise. Die Anschläge vom 11. September 2001 gegen die Machtzentren in den USA verdeutlichen, dass Gewalt alle Grenzen überschreitet. Religion und Politik werden auf gefährliche Weise miteinander vermischt, zudem entsteht eine neue Realität in einer virtuellen Welt, in der es keine physikalischen Grenzen mehr gibt.

Wie passt hier ein Friedenspreisträger hinein, der in seiner oftmals überdimensionierten, Grenzen ignorierenden Kunst in der Gegenwart dem Vergangenen nachspürt, sich von Poesie und Literatur beeinflussen lässt und die Mythologie in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung gleichberechtigt neben die Wissenschaft stellt? Ist die Entscheidung, ihm den Friedenspreis zu verleihen, etwa aus der Zeit gefallen?

Die Laudatio von Werner Spies auf Anselm Kiefer ist vornehmlich kunsthistorisch motiviert, indem sie seinem kreativen Werdegang folgt und seine Kunst als durchdrungen von der Geschichte darstellt, wie es die reale Gegenwart schließlich auch sei. Die »Provokation« sieht Spies als Hauptmotiv des Künstlers, der mit seinen Werken seit den 1960er Jahren immer wieder Tagesgespräch ist:

»Kiefer hat, indem er diese unkomfortable Position bezogen hat, sicherlich mehr als manch anderer für den Frieden getan. Der Künstler brachte dabei immer wieder zum Ausdruck, wie sehr er sich in jeder Weise in eine kollektive Vergangenheit verstrickt fühlte.«

Das ist alles richtig, und doch noch nicht weitgehend genug, denn das Faszinierende an der Kunst, an der Literatur oder an der Musik ist ja neben dem zeithistorischen Kontext ihrer Entstehung auch ihre Zeitlosigkeit, ihre Bedeutung für die Gegenwart und ihr Strahlen in die Zukunft. Ob das auch auf Anselm Kiefers Kunst zutrifft? Dafür lohnt sich ein Blick in seine Dankesrede bei der Friedenspreisverleihung.

"Ich sehe das Schwarz-Violett der Nelly Sachs"

»Ich denke in Bildern. Dabei helfen mir Gedichte. Sie sind wie Bojen im Meer. Ich schwimme zu ihnen, von einer zur anderen; dazwischen, ohne sie, bin ich verloren. Sie sind die Haltepunkte, wo sich in der unendlichen Weite etwas zusammenballt aus dem interstellaren Staub, ein bisschen Materie im Abgrund der Antimaterie. Manchmal verdichten sich die Trümmer von Gewesenem zu neuen Worten und Zusammenhängen.«

Vergangenheit, Mythologie, Literatur und letztlich Kunst – gleich im ersten Teil seiner Rede fasst Anselm Kiefer zusammen, was er als Voraussetzung für sein kreatives Schaffen sieht. Zur Kunst – was jede Kuratorin und jeder Kurator bestätigen wird – gehört aber auch der Raum, in dem sie wirkt. In diesem Fall, der Friedenspreisrede, ist es die Frankfurter Paulskirche.

»Wir sind hier in einem leeren Raum. Was einmal eine Kirche war, mit den Wänden einer Kirche, dem Gestühl, dem Altar, der Kanzel, hat nur dieses Podium hinterlassen, mit den drei Stufen. Dieser Raum hier, die Paulskirche, ein Zylinder, der in die Tiefe geht – ich empfinde ihn wie den Einstieg in ein Bergwerk. Ich sehe die Farben der Sedimente, das Schwarz-Violett der Nelly Sachs, die hier im Jahr 1965 stand, das Ultraviolett von Ernst Bloch, vor nunmehr 41 Jahren.«

Dieses »Bergwerk« der Erinnerungen an den Friedenspreis und seine Preisträger:innen ist aber bei Kiefer nicht erst jetzt, sondern schon viel früher entstanden: in dem leeren Raum, in dem er aufgewachsen ist – das kleine Dorf ohne Kino, ohne Theater, ohne Fernseher.

»In diesen leeren Raum fielen die Worte, die noch nicht verbrauchten Sätze der Dichter und Philosophen, Stimmen aus der Paulskirche; durch das Radio konnte ich sie hören, auch wenn ich ihren Sinn anfangs nicht verstand. Noch im Gehör ist mir die zerbrechliche Stimme der Nelly Sachs, die eindringliche Stimme Martin Bubers.

In diesen leeren Raum fielen die Stimmen wie die Tropfen in einer Tropfsteinhöhle, bildeten die Stalaktiten, aus denen ich heute bestehe. Niemand schafft allein, und schon gar nicht ex nihilo. Das Werk entsteht am Schnittpunkt verschiedener Linien. Ich fühle mich diesem besonderen Raum, der Paulskirche, zugehörig, ja ich bestehe aus ihm, bin aus den darin enthaltenen Gedanken gemacht.«

In diesem Sinne kann der leere Raum nicht leer sein. Er ist weder der Nasenstüber des Engels (durch den nach Martin Buber jedes Kind wie eine scheinbar leere Hülle auf die Welt kommt, die sich nun neu füllen kann) noch die Stunde Null, wie das Ende eines Krieges (wie auch das des Zweiten Weltkriegs) gerne beschrieben wird.

Denn Trümmer sind laut Kiefer nicht nur Ende, sondern auch Anfang. Deckt man sie jedoch schamhaft zu, anstatt sie zu versorgen, können die entstandenen Wunden nicht heilen. Diesen Reflex, die Geschichte zu verstecken, anstatt sich mit ihr auseinanderzusetzen, hat Kiefer auch bei der Wiedervereinigung beobachtet.

»Nach dem Zusammenfall der beiden deutschen Staaten kam es zur Wiederholung des Zuschüttens, des Verstopfens von leerem Raum: wieder eine Stunde Null für alles, was sich vierzig Jahre im anderen Teil Deutschlands ereignet hatte. Ich habe damals geschrieben, man solle jetzt alles so lassen, als Museum: die ehemalige DDR als Museum, der real existierende Sozialismus, der an Wochenenden zu besichtigen wäre, mit Verhören an der Grenze, ein Erlebnisurlaub. Der Vorschlag war natürlich nicht programmatisch gemeint, sondern als Aktion, als Spiel mit der Grenze.«

Damit meint Kiefer das in der Gegenwart sichtbare Vergangene, oder die »Provokation«, wie Werner Spies es in seiner Laudatio beschrieben hat. Wir tragen unsere Geschichte in uns, es hilft nichts, sie »schamhaft verdecken« oder verschwinden lassen zu wollen Wir müssen sie immer auch an dem messen, was ist und was sein wird. Dabei helfe die Grenze, die Anselm Kiefer, aufgewachsen am Rhein, bereits als Kind kennengelernt hat.

»Das am anderen Ufer gelegene Land war nicht ein Land unter anderen, es war für das Kind, das da nicht hinüber konnte, ein Versprechen in die Zukunft, eine Hoffnung, es war das Gelobte Land. Heute daran denkend, sind es Wurzeln, die sich an der Schwelle zum unbetretbaren Raum verlieren, dem Raum, der auf wunderbare Weise immer leer ist wegen der Inkongruenz zwischen Wunsch und Erfüllung.«

Diese Erfahrung als ein »Versprechen in die Zukunft« zu begreifen, ist der wahre Kern von Kiefers Kunst. Deswegen nutzt er auch die Vergänglichkeit der von ihm verwendeten Materialien wie Stoff, Erde, verwelkte Blumen in Kombination mit Blei, Glas, Asche, selbst Stacheldraht – Leben und Tod, im Gestern wie im Heute und auch wie im Morgen.

»Es gibt eine besondere Grenze, die Grenze zwischen Kunst und Leben, eine Grenze, die sich oft irrlichternd verschiebt. Aber ohne diese Grenze gibt es keine Kunst. Im Verlauf der Herstellung leiht sich die Kunst das Material vom Leben; und noch im vollendeten Kunstwerk scheinen die Spuren von Leben durch.

Die Distanz zum Leben ist aber zugleich das Wesentliche, die Substanz der Kunst. Dennoch hat das Leben seine Spuren hinterlassen. Und das Kunstwerk ist umso interessanter, je mehr es gezeichnet ist vom Kampf um die Grenze zwischen Kunst und Leben.«

Alles was war, wird wiederkommen

Somit ist Anselm Kiefer tatsächlich aus der Zeit gefallen, aber nur, um immer wieder aufs Neue in ihr aufzutauchen. So gut wie jedes seiner Kunstwerke weckt Emotionen, es lässt den Blick in Vergangenes zu, aber seine Wirkung lässt sich auf die Zukunft projizieren. Es mag provozieren, aber gleichzeitig auch mahnen, denn alles, was ist und was war, wird wiederkommen, durch Raum und Zeit verändert, aber nicht weniger relevant.

Seine Kunst führt uns nicht aus dem Labyrinth heraus, so der Vorsteher des Börsenvereins Gottfried Honnefelder in seinem Grußwort bei der Preisverleihung 2008, sondern in das eigene Labyrinth hinein und schenkt uns jene Einsichten, ohne die die Fähigkeit zum Frieden nicht zu haben ist.

Anlässlich des 80. Geburtstags des am 8. März 1945 in Donaueschingen geborenen Künstlers, zu dem ich ihm mit diesem Text herzlich gratulieren möchte, werden Anselm Kiefers Kunstwerke in Amsterdam im Stedelijk Museum und im Van Gogh Museum ausgestellt. Hier oder in Wim Wenders Dokumentation »Anselm – das Rauschen der Zeit« lässt sich nachspüren, wie vergänglich und gleichzeitig aktuell seine Kunst ist.