Podcast über die Bücherverbrennung 1933
Bei der „Aktion wider den undeutschen Geist“ der Deutschen Studentenschaft wurden am 10. Mai 1933 in Berlin und in weiteren deutschen Städten Bücher von Schriftstellerinnen und Schriftstellern verbrannt, die entweder jüdischer Herkunft waren oder nicht zu der neuen Auffassung einer reinen deutschen Kultur passten. Mit Blick auf die jüdische Lyrikerin Nelly Sachs und dem Journalisten und Schriftsteller Erich Kästner geht die Sendung der Frage nach, auf welche Weise der Börsenverein des Deutschen Buchhandels sich den unmenschlichen Absichten der Nationalsozialisten untergeordnet hat und welche Konsequenzen er nach dem Zweiten Weltkrieg daraus zog: die Verleihung des Friedenspreises und das Eintreten für Meinungsfreiheit.
Bücherverbrennung
„Mit Lippen am Stein des Gebets küsse ich lebenslang Tod“
Skript zur Radiosendung
Mit Lippen am Stein des Gebets küsse ich lebenslang Tod
Die Bücherverbrennung 1933 ... - ... und ihre Folgen
Die Bücherverbrennung 1933 ...
"Mit Lippen am Stein des Gebets küsse ich lebenslang Tod"
... und ihre Folgen
Bei der „Aktion wider den undeutschen Geist“ der Deutschen Studentenschaft wurden am 10. Mai 1933 in Berlin und in weiteren deutschen Städten Bücher von Schriftstellerinnen und Schriftstellern verbrannt, die entweder jüdischer Herkunft waren oder nicht zu der neuen Auffassung einer reinen deutschen Kultur passten. Mit Blick auf die jüdische Lyrikerin Nelly Sachs und dem Journalisten und Schriftsteller Erich Kästner geht die Sendung der Frage nach, auf welche Weise der Börsenverein des Deutschen Buchhandels sich den unmenschlichen Absichten der Nationalsozialisten untergeordnet hat und welche Konsequenzen er nach dem Zweiten Weltkrieg daraus zog: die Verleihung des Friedenspreises und das Eintreten für Meinungsfreiheit.
Intro
Mit Lippen am Stein des Gebets
küsse ich lebenslang Tod,
bis der singende Samen aus Gold
den Fels der Trennung zerbricht.
(Nelly Sachs)
Sprecher: Diese Verse stammen aus einem Gedicht der Lyrikerin Nelly Sachs, vorgetragen in ihrer Dankesrede für den Friedenspreis, den der Börsenverein des Deutschen Buchhandels seit 1950 alljährlich verleiht. An diesem Tag, am 17. Oktober 1965, als Nelly Sachs in der Frankfurter Paulskirche am Rednerpult stand, hat dank ihrer und den weiteren, zu diesem Anlass gehaltenen Reden etwas wieder zusammengefunden, das im Jahr 1933, kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, auseinander gebrochen war.
Damals hat die Buchbranche im Deutschen Reich, und darunter auch der Börsenverein, geschwiegen, als zahlreiche Schriftstellerinnen und Schriftsteller in ihrer Arbeit behindert wurden, als ihre Bücher auf den Index gesetzt wurden, als sie verfolgt, verbannt, ins Exil getrieben wurden.
Bücherverbrennung
Sprecher: Die Flucht aus Deutschland war für viele der einzige Ausweg, um dem zu entkommen, was am 30. Januar 1933 mit Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler seinen Anfang nahm und bald darauf für die Literatur ersten traurigen Höhepunkt erreichte – neben vielen weiteren gewaltsamen Aktivitäten, die sich vor allem gegen die jüdische Bevölkerung richteten. Ende April 1933 kündigte die Deutsche Studentenschaft unter dem Titel Aktion wider den undeutschen Geist für den Abend des 10. Mai die öffentliche Verbrennung von Büchern an, die fortan nicht mehr gelesen werden sollten.
Der Schriftsteller Erich Kästner, bekannt durch Kinderbücher wie Emil und die Detektive oder Romane wie Fabian: Die Geschichte eines Moralisten, stand mit einigen seiner Werke ebenfalls auf der Liste der Bücher, die die Deutschen in die Flammen werfen wollte. 1947 hat er in einem Text für Die Neue Zeitung beschrieben, was er an diesem Tag erlebt hat.
Gegen Abend fuhren Hans Wilhelm und ich mit der Stadtbahn bis zum Lehrter Bahnhof. Dann liefen wir über die große eiserne Brücke und hielten nach den Marschkolonnen Ausschau: Hinter dem Lessingtheater kamen sie – links, zwei, drei, vier, links, zwei, drei, vier – angetrottet.
Studenten in SA-Uniform zogen als Prätorianergarde voraus. An der Spitze, wo die Fahne oder der Schellenbaum hingehören, trug einer den von einer Bronzebüste heruntergeschlagenen Kopf Magnus Hirschfelds hoch auf einer Stange. Er schwenkte ihn, vor der geistigen Elite des Dritten Reichs marschierend, wie eine Kampftrophäe; und das Bild hätte nicht scheußlicher sein können, wenn Hirschfelds wirklicher, blutiger Kopf aufgespießt durch Berlin geschleppt worden wäre.
Mit Büchern vollgeladene Lastwagen schwankten zwischen den Kolonnen. Es war ein trüber, regnerischer Tag. Und trübe war, trotz Gesang und Uniform, die Stimmung der Studenten. Die Methoden der neuen Herren waren im Grunde noch nicht ganz die ihren. Dass man Bücher nicht nur lieben kann, wussten sie. Dass man Bücher auf Kommando öffentlich verbrennt, mussten sie noch lernen. […]
Am Opernplatz formierten die Kolonnen ein großes Karree. Hans Wilhelm und ich standen an der braunen Studentenmauer, die sich auf dem Fahrdamm, parallel zur Universitätsfassade, gebildet hatte. Für den Höhepunkt der Veranstaltung aufbewahrte Pechfackeln wurden angezündet. Drüben vor den Bankpalästen, rechts von der Oper, war der Scheiterhaufen errichtet worden. Er flammte auf. Die Lastwagen rollten heran wie an eine Verladerampe. Tausende von Büchern wurden ausgekippt und von fleißigen Händen hoch ins Feuer geworfen.
(Ausschnitt aus Erich Kästners Erinnerungen an seinen Besuch der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 auf dem Opernplatz in Berlin)
Sprecher: „Gegen Klassenkampf und Materialismus, für Volksgemeinschaft und idealistische Lebenshaltung. Ich übergebe der Flamme die Schriften von Marx und Kautsky.“ – das war der erste Feuerspruch eines Studenten bei dieser Aktion, weitere sollten folgen. Über Stunden warfen die Studenten tausende von Büchern in die Flammen. Der Höhepunkt des Abends war der Auftritt von Dr. Joseph Goebbels, Reichminister für Volksaufklärung und Propaganda. Filmaufnahmen zeigen, wie er im Schein des Feuers zu den Studenten und den SA-Männern spricht.
Das Zeitalter eines überspitzten jüdischen Intellektualismus ist nun zu Ende und der Durchbruch der deutschen Revolution hat auf dem deutschen Weg wieder die Gasse freigemacht. Und der kommende deutsche Mensch wird nicht nur ein Mensch des Buches, sondern auch ein Mensch des Charakters sein. Und dazu wollen wir euch erziehen.
Jung schon den Mut zu haben, dem Leben der erbarmungslosen Augen hineinzuschauen, die Furcht vor dem Tode zu verlernen, um vor dem Tode wieder Ehrfurcht zu bekommen, das ist die Aufgabe dieses jungen Geschlechts. Und deshalb tun wir gut daran, um diese mitternächtliche Stunde den Ungeist der Vergangenheit den Flammen anzuvertrauen, das ist eine starke, große und symbolische Handlung, eine Handlung, die vor aller Welt dokumentieren soll: Hier sinkt die geistige Grundlage der Novemberrepublik zu Boden, aber auf diesen Trümmern wird sich siegreich erheben der Phoenix eines neuen Geistes.
(Joseph Goebbels am 10. Mai 1933 auf dem Opernplatz in Berlin)
Sprecher: Mit dem Feuerspruch – „Gegen Dekadenz und moralischem Verfall, für Zucht und Sitte in Familie und Staat.“ – wurden schließlich auch die Romane von Erich Kästner ins Feuer geworfen.
Unsere Absicht, dem apokalyptischen Volksfest als gründliche Chronisten bis zum Schluss beizuwohnen, wurde durch eine unvorhergesehene Episode vereitelt.
„Dort steht ja Kästner!“, rief plötzlich eine junge Frau, die mit ihrem Freund vorüberkam. Ihre Überraschung, mich sozusagen bei meinem eigenen Begräbnis unter den Leidtragendenden zu entdecken, war so groß, dass sie auch noch mit der Hand auf mich zeigte. Das war mir, muss ich bekennen, nicht angenehm. Denn kurz zuvor hatte schon jemand anders meinen Namen laut gerufen – eben jener [Joseph Goebbels] auf seiner von Mikrofonen belagerten Estrade.
Hans Wilhelm und ich musterten die SA-Studenten ringsum. Sie blickten unverwandt zu dem lodernden Flammenstoß hinüber. Trotzdem beschlossen wir zu gehen. Nach ein paar Minuten, die wir, quasi anstandshalber, noch blieben, machten wir uns auf den Heimweg.
Wir saßen dann noch im Vorgarten eines Lokals im Westen und schwiegen uns an. Was hätten wir sagen können? Der Abend hatte uns die Kehlen zugeschnürt. So einfach war es, eine Literatur auszulöschen? Mit so plumpen, gemeinen Maßnahmen konnten Bosheit und Dummheit triumphieren? So rasch gab der Geist seinen Geist auf?
(Ausschnitt aus Erich Kästners Erinnerungen an seinen Besuch der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 auf dem Opernplatz in Berlin)
Sprecher: Die „Bewegung“, wie sich NSDAP gerne selbst bezeichnete, hatte viele Fürsprecher. Doch mindestens genauso viele Menschen standen ihr auch nach der Machtübernahme und nach den Reichstagswahlen vom März 1933 skeptisch gegenüber. Die Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung und die Verhaftungen von Kommunisten und Sozialdemokraten waren klare Zeichen ihres Antisemitismus und ihrer Gewaltbereitschaft gegenüber Andersdenkenden.
Eine organisierte Bevormundung und Unterdrückung der gesamten Bevölkerung aber war – noch – nicht umgesetzt. Deswegen kamen den Nationalsozialisten Unterstützungen und Treuebekundungen sehr entgegen. Initiativen, das kulturelle Leben gemäß der neuen Ideologie gewaltsam umzugestalten, gingen dabei nicht nur von den universitären Kreisen aus, sondern beispielsweise auch von etablierten Kulturinstitutionen.
So wurde Heinrich Mann gleich im Februar 1933 von seinen Kollegen gezwungen, aus der Preußischen Akademie der Künste auszutreten. Einen Monat später erhielten die Akademiemitglieder ein von dem Dichter Gottfried Benn verfasstes Schreiben, das diese mit „Ja“ oder „Nein“ beantworten sollten.
Vertraulich! Sind Sie bereit, unter Anerkennung der veränderten geschichtlichen Lage weiter ihre Person der Preußischen Akademie der Künste zur Verfügung zu stellen? Eine Bejahung dieser Frage schließt die öffentliche politische Betätigung gegen die Regierung aus und verpflichtet sie zu einer loyalen Mitarbeit an den satzungsgemäß der Akademie zufallenden nationalen kulturellen Aufgaben im Sinne der veränderten politischen Lage.
(Brief von Gottfried Benn an die Mitglieder der Preußischen Akademie der Künste, verfasst im März 1933)
Sprecher: Ricarda Huch, Thomas Mann und weitere Künstlerinnen und Künstler erklärten daraufhin ihren Austritt, andere weigerten sich, zu antworten und wurden ausgeschlossen. 163 Mitglieder verblieben in dem Kulturinstitut. Ohne direkten Einfluss der Nationalsozialisten hatte sich die Akademie also selbst vom kritischen Geist befreit.
Im Hintergrund übten die Nationalsozialisten jedoch starken Einfluss aus. So erhielt die Aktion wider den undeutschen Geist, die die Deutsche Studentenschaft schon im April ankündigte, direkte Unterstützung aus der NSDAP. Auch gehörten viele Studenten selbst NS-Organisationen an. Mit Hilfe von NSDAP-Mitgliedern wurde eine sogenannte Schwarze Liste erstellt, auf deren Grundlage die Bücher ausgesucht wurden, die verbrannt werden sollten.
Der Literaturkritiker Volker Weidermann hat sich 2009 in seinem Buch der verbrannten Bücher mit dem 10. Mai und seiner Vorgeschichte beschäftigt und dabei aufgezeigt, wie es zu dieser Schwarzen Liste gekommen ist.
Weidermann: Im Grunde war es, wie vieles in dieser Anfangszeit der nationalsozialistischen Macht, ein großer Zufall. Denn die Studenten hat das alles unglaublich akribisch vororganisiert, das Feuer und wie sie das übertragen wollen und so etwas, aber sie haben eine Kleinigkeit vergessen. Nämlich welche Bücher eigentlich verbrannt werden sollen.
Und da haben sie wie zufällig auf die Liste eines Bibliothekars zurückgegriffen, Wolfgang Herrmann hieß der, war in Stettin und in verschiedenen Bibliotheken rausgeflogen wegen etwas zu übereifriger nationalsozialistischer Überzeugung.
Er war jetzt, in den ersten Monaten des Regimes damit beschäftigt, Listen zu erstellen mit „nicht-ausleihwürdigen Büchern“ aus den Bibliotheken. Und auf diese Liste von dem Bibliothekar haben die Studenten dann zurück gegriffen und aufgrund dieser Liste dann die öffentlichen Bibliotheken ausgeräumt und zur Feuerstelle gebracht.
Sprecher: Auf dieser Liste standen mit Heinrich Mann, Alfred Döblin, Bertolt Brecht, Franz Werfel oder Erich Maria Remarque zahlreiche Autoren, deren Bücher und Theaterstücke bis in die heutige Zeit gelesen oder gespielt werden.
Viele andere aber sind in Vergessenheit geraten. Ihre Lebenswege nachzuzeichnen, um sie wieder ins Licht der Öffentlichkeit zu bringen, war eines der zentralen Anliegen für Volker Weidermann.
Weidermann: Das war verrückt für mich als ich zum ersten Mal diese Liste sah und bestimmt die Hälfte der Namen, die darauf verzeichnet waren, noch nie zuvor gehört hatte. Und da dachte ich, ist es den Nazis wirklich gelungen einige Werke wirklich für immer auszulöschen, so wie sie es wollten. Und einige heldenhafte Beispiele waren Maria Leitner, eine fantastische Reporterin.
Aber besonders in Erinnerung ist mir Armin T. Wegner geblieben, der Reportagen auf der ganzen Welt geschrieben hatte. Ein unglaublich offener, weltkundiger und neugieriger Mann, der auf der Liste stand, wegen zu offenem Geist, würde ich mal sagen, zu revolutionären Schriften. Und der in Deutschland blieb, um zu beobachten, zuzuschauen. Er hat einen offenen Brief an Adolf Hitler geschrieben, einen unglaublichen, rhetorisch meisterhaften Brief, in dem er eben nicht nur darauf hinwies, dass übrigens auch Juden Deutschland lieben, genau wie er und akribisch genau all das Unheil, das Deutschland drohen wird, wenn die Juden wirklich vernichtet und aus dem Land getrieben werden, all das hat er akribisch aufgeschrieben und in einem offenen Brief an Adolf Hitler geschickt.
Er wurde daraufhin verraten. Er kam in ein Konzentrationslager, wurde gefoltert. Ihm ist auf abenteuerliche Weise die Flucht aus Deutschland gelungen. Er hat überlebt die Kriegszeit, aber wie viele andere, die die Schreckenszeit außerhalb Deutschlands überlebt haben, wurde er auch nach dem Krieg nicht zurückgerufen nach Deutschland. Er hat ein Leben als eine Art Gespenst in Italien geführt, unbekannt, unerinnert von der Öffentlichkeit. Bis ihn in den 1970er Jahren ganz kurz vor seinem Tod, Jürgen Serke, der Reporter des Stern besucht und die Geschichte aufgeschrieben hat. Da begann kurz vor seinem Tod eine kleine, winzig kleine Wiedergutmachung. Und dieser Armin T. Wegner steht für mich für viele, viele andere Helden aus dieser Zeit, die überlebt haben, aber nicht mehr wahrgenommen wurden und deren Bücher wir heute unbedingt wieder entdecken müssen.
Sprecher: Wolfgang Herrmanns Liste wurde später auch im „Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel“ veröffentlicht, einer täglich erscheinenden Zeitschrift mit Informationen für die Buchhandlungen und Verlage, die im damaligen Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig Mitglied waren.
Der Börsenverein hatte nicht nur die Namensliste abgedruckt. Er hatte schon zuvor versucht, sich den Nationalsozialisten anzudienen, wie Alexander Skipis, der Hauptgeschäftsführer des heutigen Börsenvereins erläutert.
Skipis: Die Situation nach der Machtübernahme im Januar 1933 wurde für diejenigen, die nicht stramm den Nationalsozialisten hinterherliefen oder zu ihren Gegnern erklärt wurden, schwierig: Plünderungen, offener Antisemitismus, Judenboykott, Berufsverbote, Inhaftierungen – das galt auch für manche Mitgliedsunternehmen des Verbands. Jüdische Mitarbeiter in Führungspositionen wurden entlassen, die Schaufenster jüdischer Buchhandlungen gingen zu Bruch. Und trotzdem entschied sich der Vorstand des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels aus wirtschaftlichen Gründen dafür, einen Pakt mit dem Teufel einzugehen.
Sprecher: Der Börsenverein strebte nach den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 und im Zuge des Herrschafts-Ausbaus der NSDAP ein enges Bündnis mit den neuen Machthabern an und beschloss noch im April ein entsprechendes „Sofortprogramm“.
Mit dieser Erklärung, das zeigt schon die Kurzfassung, wollte sich der Verband neu aufstellen. Dabei entsprach das Programm nur in einem – wenn auch entscheidenden – Punkt direkt den Interessen der neuen Regierung.
Der Vorstand hat in seiner Sitzung vom 11. und 12. April 1933 folgende Programmpunkte und Forderungen aufgestellt:
Der Börsenverein der Deutschen Buchhändler soll zur Zwangsorganisation für alle Buchhändler gemacht werden.
Der Vorstand des Börsenvereins tritt entsprechend seiner hundertjährigen Tradition für den festen Ladenpreis ein.
Der Vorstand des Börsenvereins fordert Abbau der Buchgemeinschaften aller Art.
Der Vorstand des Börsenvereins fordert die sofortige und restlose Beseitigung des Bücherverlags und -vertriebs von Warenhäusern jeder Art.
Der Vorstand des Börsenvereins fordert Maßnahmen gegen die ungesunde und volksschädigende Ausbreitung der sogenannten modernen Leihbibliotheken.
In der Judenfrage vertraut sich der Vorstand der Führung der Reichsregierung an. Ihre Anordnungen wird er für seinen Einflussbereich ohne Vorbehalt durchführen.
(Sofortprogramm des Börsenvereins, veröffentlicht im Börsenblatt vom 3. Mai 1933)
Skipis: Mit Versendung dieser Liste lud man Joseph Goebbels, den Minister des neu geschaffenen Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda, ein, auf der Hauptversammlung im Mai 1933 eine Rede zu halten. Vorab veröffentlichte der Börsenverein dienstbeflissen eine Liste mit Schriftstellern, die Mitglieder nicht mehr in den Handel bringen sollten.
Mit Entsetzen und Sprachlosigkeit kann man dieses Dokument heute nur zur Kenntnis nehmen. Der Vorstand verkaufte damit elementare Menschenrechte und hat selbst damit die Weichen nicht nur für die Bücherverbrennung am 10. Mai 1933, sondern für die Ächtung, Verfolgung und Verurteilung und für dieses Elend zahlreicher Autorinnen und Autoren gestellt. Damit hat er unermessliche Schuld auf sich und die gesamte Buchbranche geladen. Ein erbärmliches Verhalten, für das ich mich heute nur schämen kann.
Der Vorstand des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler ist sich mit der Reichsleitung des Kampfbundes für deutsche Kultur und der Zentralstelle für das deutsche Bibliothekswesen darin einig geworden, dass die zwölf Schriftsteller Leon Feuchtwanger, Ernst Glaeser, Arthur Holitscher, Alfred Kerr, Egon Erwin Kisch, Emil Ludwig, Heinrich Mann, Ernst Ottwalt, Theodor Plievier, Erich Maria Remarque, Kurt Tucholsky und Arnold Zweig für das deutsche Ansehen als schädigend zu erachten sind.
Der Vorstand erwartet, dass der Buchhandel die Werke dieser Schriftsteller nicht weiter verbreitet.
(Erklärung des Börsenvereins vom 11. Mai 1933, veröffentlicht im Börsenblatt am 13. Mai 1933)
Sprecher: Diese zwölf Autoren standen natürlich auch auf der sogenannten „Schwarzen Liste“ von Wolfgang Herrmann. Auf der sogenannten Kantate-Sitzung am 14. Mai 1933 – also vier Tage nach der Bücherverbrennung – wurden bei einem vom Börsenverein organisierten Abendessen mit etwa 1000 anwesenden Mitgliedern Treuebekenntnisse für die neuen Machthaber abgegeben.
Mehrmals stimmten die Teilnehmenden die Nationalhymne und das Horst-Wessel-Lied an. Und Joseph Goebbels wurde, wie dem im Börsenblatt veröffentlichten Sitzungsprotokoll zu entnehmen ist, mit großer Begeisterung empfangen. Dazu noch einmal Alexander Skipis.
Skipis: Heute eine gespenstische Vorstellung. Joseph Goebbels nahm diese Begeisterung mit Wohlwollen auf. Kritische Worte in Bezug auf die Bücherverbrennung drei Tage zuvor und die Schwarzen Listen gab es keine.
Es bleibt einfach unbegreiflich und es macht mich fassungslos wie eine Branche, die sich mit geistigen Inhalten, mit der Frage nach dem Warum, nach dem Wohin, mit der Frage nach Gerechtigkeit, sich mit der Frage nach dem Sein des Menschen und seinem Ort in der Ordnung der Welt beschäftigt, wie eine solche Branche ihre Werte so schnell verrät und Menschen zu Objekten ihrer wirtschaftlichen Interessen degradiert. Offensichtlich scheinen diese Werte nur eine dünne Firnis über den massiven wirtschaftlichen Interessen gepaart mit kaltschnäuziger Skrupellosigkeit gewesen zu sein.
Sprecher: Für die Nationalsozialisten, allen voran Joseph Goebbels, spielten die wirtschaftlichen Vorteile, die sich der Börsenverein von dem Machtwechsel erhoffte, jedoch nur eine untergeordnete Rolle, wie der Ausschnitt aus Goebbels Rede vor den versammelten Buchhändlern und Verlegern bezeugt.
Das deutsche Buch ist nicht nur eine materielle Angelegenheit. Es ist nicht nur eine Sache des Geschäfts. Sie sind zwar die geschäftlichen Verwalter des deutschen Buches, aber es wäre verhängnisvoll, wenn Sie auch nur einen Augenblick dabei vergessen wollten, dass Sie zugleich die Verwalter eines unabmessbaren Kulturgutes des deutschen Volkes sind.
Und wenn sich im Allgemeinen gerade in Zeiten der Not die Seele zu dem Geist zurückflüchtet, so werden Sie umso mehr sich dieser großen nationalen Pflicht bewusst werden müssen.
(Joseph Goebbels auf der Kantate-Sitzung des Börsenvereins am 13. Mai 1933, veröffentlicht im Börsenblatt vom 16. Mai 1933)
Skipis: Den Nationalsozialisten war vor allem die Kontrolle über den Inhalt wichtig. Wie jedem totalitären Regime, das nichts mehr fürchtet als eine Vielfalt von Meinungen. Deshalb ist auch die Meinungs- und Publikationsfreiheit das erste, das Despoten und Tyrannen einschränken oder abschaffen wollen. Das können wir auch heute leider weltweit in vielen Ländern noch sehen.
In einer weiteren Anbiederung an das Regime ließ der Börsenverein nichts unversucht, seine Rolle als Branchenvertretung beizubehalten und wählte 1934 mit dem 29jährigen Willhelm Baur einen ausgewiesenen Nationalsozialisten zum neuen Vorsteher. Dieser Plan ging nicht auf. In der im September 1933 gegründeten Reichskulturkammer mit Joseph Goebbels an der Spitze wurde der Börsenverein gleichgeschaltet.
Verbotene Bücher
Sprecher: Die Bücherverbrennungen zogen sich das gesamte Jahr 1933 hindurch. Insgesamt geht man von 93 Orten aus, an denen die Aktionen „wider den undeutschen Geist“ stattgefunden haben. Spätestens zu diesem Zeitpunkt musste es den Menschen in Deutschland klar gewesen sein, was die Absicht der Nationalsozialisten war. Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki sagte am 2. Dezember 1984 in einem Interview mit dem ZDF dazu:
Was die Nazis wollten, konnte man im Frühjahr ‘33 sehen, da musste man doch nicht bis zur Kristallnacht warten. Das ist ja unsinniges Gerede. Nämlich im Frühjahr ‘33 fand der Boykott statt, da standen vor den jüdischen Warenhäusern, den jüdischen Läden, die SA-Männer, erlaubten niemandem mehr, den Laden zu betreten, die Fensterscheiben waren zertrümmert – in ganz Berlin konnte man das sehen.
Und dann die Bücherverbrennung, ebenfalls im Frühjahr ‘33, nicht irgendwo in einem Vorort, in einem Hof, sondern in Berlin zwischen der Staatsoper und der Hedwigs-Kathedrale – unter den Linden – da wurden die Bücher verbrannt und die Bücher großer deutscher Schriftsteller.
Also bitte, die Bücherverbrennung haben wenigstens die Intellektuellen kapieren sollen, hätten kapieren sollen, aber Boykott, das ist doch sichtbar für alle gewesen, und das Gerede, man musste warten bis zur Kristallnacht, ist ja ein Versuch, die ganze Zeit von ‘33 bis ‘38 ein bisschen zu beschönigen, zu mildern, ins Idyllische zu treiben. Nein, man konnte das alles schon sehen.
(Marcel Reich-Ranicki am2. Dezember 1984 im ZDF)
Sprecher: Einige der auf der „Schwarzen Liste“ verzeichneten Schriftstellerinnen und Schriftsteller blieben in Deutschland und versuchten, einen Weg zu finden, sich in irgendeiner Weise mit der Situation zu arrangieren. Die Entscheidung zu bleiben, erklärte etwa Erich Kästner später damit, dass er als Chronist dieser Zeit fungieren wollte. Auch wollte er seine Mutter nicht allein lassen, die sich weigerte, Deutschland zu verlassen.
Zudem waren die Bedrohungen, Beschränkungen und Publikationsverbote nicht gleich von Anfang genau definiert. Kästners Romane wie Fabian wurden 1933 zwar auf die „Schwarze Liste“ gesetzt, seine Kinder- und Jugendbücher wie Emil und die Detektive oder Das fliegende Klassenzimmer jedoch nicht. In einem Brief an seine Mutter wird die Arbeitssituation des Schriftstellers in den ersten Jahren des NS-Staats deutlich:
Mein liebes, gutes Muttchen Du!
Heute kamen Belege der „3 Männer“ vom 14. und 15. Tausend. Schön, was? Die Verhandlungen zwischen Deva und dem neuen Verlag wegen des „Fliegenden Klassenzimmers“ sind noch nicht ganz in Ordnung. Kilpper verlangt vorläufig noch zuviel. Emil-Korrekturen steht noch ein Teil aus. Wird wohl morgen kommen. Aber es klappt alles ganz hübsch.
(Brief von Erich Kästner an seine Mutter, Berlin, 8.10.1935)
Sprecher: Der großen Beliebtheit von Erich Kästner und seinen Büchern und Theaterstücken standen auch die Nationalsozialisten nicht völlig gleichgültig gegenüber. Dem Schriftsteller wurde sogar vorgeschlagen, sich unter einem Pseudonym zu bewähren, was er aber nicht zu ihrer Zufriedenheit tat, sodass Ende 1935 schließlich alle Bücher von Erich Kästner verboten wurden.
Auf der nun erstellten „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“, die ab 1935 von der „Reichsschrifttumskammer“ regelmäßig herausgegeben wurde, finden sich über 12.000 Titel und das Gesamtwerk von 149 Autorinnen und Autoren. Grundlage für ein Verbot bildeten zwölf Kriterien:
1. Die Werke von Landesverrätern, Emigranten und von Autoren fremder Völker, die glauben, das neue Deutschland bekämpfen und herabsetzen zu können.
2. Die Literatur des Marxismus, Kommunismus, Bolschewismus.
3. Die pazifistische Literatur.
4. Die liberalistisch-demokratische Tendenz- und Gesinnungsliteratur und die Propagandisten des Weimarer Staates.
[…]
9. Die dekadente, zersetzende, volksschädliche Literatur der „Asphalt- und Zivilisationsliteraten“.
10. Die Literatur jüdischer Autoren, gleichviel welcher Gebiete.
11. Die Gesellschafts- und Unterhaltungsliteratur, in der das Leben und die Lebensziele auf dem Grunde einer bürgerlichen oder feudalen Lebensauffassung in oberflächlicher, unwahrer und süßlicher Weise dargestellt werden.
12. Der nationalistische, patriotische Kitsch in der Literatur.
(Liste 1 des schädlichen und unerwünschten Schrifttums, Reichsschrifttumskammer, AV 429, vertraulich veröffentlicht im Oktober 1936)
Sprecher: Erich Kästner erhielt daraufhin Berufsverbot. Dennoch war seine Kunst gefragt, sodass er unter wechselnden Namen und in der Regel unerkannt weiterhin veröffentlichte. Er schrieb an zahlreichen Drehbüchern mit und erhielt 1942 für die Mitarbeit an „Münchhausen“ sogar eine „Sondergenehmigung zur Berufsausübung“. Der groß angelegte Farbfilm der Ufa wurde zum größten Kassenschlager der damaligen Zeit. Nach der Ausstrahlung 1943 belegten die Nationalsozialisten Kästner dann mit einem endgültigen Berufsverbot, das ihm auch das Publizieren im Ausland nicht mehr erlaubte.
Nelly Sachs
Sprecher: Das zehnte Kriterium „Die Literatur jüdischer Autoren, gleichviel welcher Gebiete“ galt auch für die Schriftstellerin Nelly Sachs. Ein Verbot, das sich allein durch die Rassenideologie der Nationalsozialisten begründete, denn eine in irgendeiner Form politische Haltung lässt sich in Texten von Nelly Sachs, die sie in den 1920er und 1930er Jahren geschrieben hatte, nicht erkennen.
Meron Mendel, der Leiter der in Frankfurt am Main ansässigen Anne Frank Bildungsstätte, hat sich näher mit dem Leben der Dichterin beschäftigt.
Mendel: Leonie Sachs, genannt „Nelly“, wurde 1891 in Berlin-Schönberg geboren. Sie stammte aus einem großbürgerlichen, jüdisch-assimilierten Elternaus. Mit dem Judentum setzte sie sich in ihrer Kindheit und Jugend nicht intensiver auseinander. Vielmehr entdeckte sie die Welt der Literatur für sich und war vor allem von den romantischen Heldenromanen der schwedischen Schriftstellerin Selma Lagerlöf fasziniert.
Sprecher: Die frühen Gedichte von Nelly Sachs, die sie mit 17 Jahren zu schreiben begann, waren stark von dem Werk der schwedischen Autorin beeinflusst und in einem neoromantischen Stil gehalten. 1929 konnten erste Gedichte von Nelly Sachs in der „Vossischen Zeitung“ erscheinen. Zuvor war 1921 ihr Prosaband Legenden und Erzählungen veröffentlicht worden.
Mendel: Am Beispiel dieses ersten Buches mit seinen acht Prosastücken lässt sich der Bruch in Nelly Sachs‘ Werkbiografie sehr gut aufzeigen. Später wurde es von den Nazis auf die sogenannte „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ gesetzt. Die frühen Texte spielen unteranderem mit märchenhaften, naturalistischen und religiösen Elementen. Sie knüpfen an eine mittelalterliche und romantische Erzähltradition an. Sachs lässt in den Erzählungen ganz bewusst christliche Heiligenlegenden anklingen. Man könnte das als Paradox sehen, das gerade diese Texte später von den Nazis als „undeutsch“ klassifiziert wurden.
Sprecher: Die junge Nelly Sachs, die sich mit Blick auf ihr Frühwerk als „Romantikerin“ charakterisiert hatte, schrieb „Legenden und Erzählungen“ auch aus dem Empfinden einer deutschen Identität heraus. Das verdeutlicht die Widmung, mit der die damals Dreißigjährige das Buch versah, das sie der von ihr bewunderten Selma Lagerlöf schickte. In der Widmung heißt es:
Dieses Buch soll Selma Lagerlöf zu ihrem Geburtstag einen innigen Gruß aus Deutschland bringen! Es ist geschrieben von einer jungen Deutschen, die in der großen schwedischen Dichterin ihr leuchtendes Vorbild verehrt.
Berlin im November 1921, Siegmundshof 16, Nelly Sachs.
(Widmung von Nelly Sachs für Selma Lagerlöf
Sprecher: Später distanzierte sich Nelly Sachs von ihrem Frühwerk. Sie wollte nicht, dass ihr Band Legenden und Erzählungen sowie ihre frühen Gedichte neu aufgelegt oder in Sammelbände aufgenommen werden. Ihr eigentliches Werk beginnt – so sah es Nelly Sachs – erst nach 1940, nach ihrer Flucht aus Deutschland.
Mendel: Nach dem Tod des Vaters 1930 lebte Nelly Sachs alleine mit ihrer Mutter in Berlin. Mit der Machtübernahme 1933 verschlechterte sich ihre Situation zunehmend. Unter ihren Freunden und Verwandten kam es zu Verhaftungen, viele gingen ins Exil. Nelly Sachs durfte ihre Texte nur noch in jüdischen Zeitungen veröffentlichen, was dazu führte, dass sie in die Gesellschaft jüdischer Künstler geriet. Sie begann sich mehr mit der jüdischen Religion und Tradition zu beschäftigen.
Ihre von Verfolgung und Ausgrenzung geprägte Zeit in Deutschland hat Nelly Sachs rückblickend in einem Prosatext als „Leben unter Bedrohung“ bezeichnet. Sie schrieb einen Satz, der mir persönlich unter die Haut geht. Sie sagt; „Höchster Wunsch auf Erden: Sterben ohne gemordet zu werden“.
Sie entschloss sich sehr spät, fast schon zu spät zur Flucht aus Deutschland. Es war Selma Lagerlöf die sich kurz vor ihrem Tod für die Einreisegenehmigung nach Schweden für Nelly Sachs eingesetzt hat. Die beide hatten durch einen jahrzehntelangen Briefwechsel Freundschaft geschlossen. 1940 reisten Sachs und ihre Mutter nach Schweden ein. An dem Tag, an dem sie das Visum erhielten, traf auch der Befehl zur Deportation ein.
Sprecher: Nelly Sachs war 48 Jahre alt, als sie nach Schweden, in ein ihr fremdes Land mit fremder Sprache emigrierte. Durch die Unterstützung der jüdischen Gemeinde konnte die mittellose Nelly Sachs 1941 gemeinsam mit ihrer Mutter nach längerer Suche eine Einzimmerwohnung in Stockholm beziehen. Sie finanzierte sich zeitweise durch die Arbeit als Wäscherin, lernte Schwedisch und begann, schwedische Dichtung, insbesondere die junge Lyrik, die Dichter der Moderne ins Deutsche zu übersetzen.
Mendel: Dies hatte auch Einfluss auf ihr eigenes Schreiben und führte zu einem Wandel ihrer lyrischen Ausdruckskraft. Zugleich entdeckte sie in ihrem Schreiben das Judentum und fand hier eine ganz eigene Bildsprache. Kernthemen ihrer Gedichte von den 1940er Jahren ist Shoah die Vernichtung des europäischen Judentums, sowohl in ihrer kollektiven Dimension als auch das Leid jedes Einzelnen und das persönliche Lebenstrauma. Ihr erster Gedichtband, 1947 im ostdeutschen Aufbau-Verlag erschienen, trägt den Titel „In den Wohnungen des Todes“. Ihm ist eine Widmung vorangestellt: „Meinen toten Brüdern und Schwestern“.
Sprecher: Erst Ende der 1950er Jahre wurde das Werk von Nelly Sachs in Deutschland in seiner Größe wahrgenommen und entdeckt. Der Band „Flucht und Verwandlung“ von 1959 gilt als das Buch, mit dem die Dichterin als herausragende Vertreterin der deutschsprachigen Literatur sichtbar wurde.
Sie erhielt mehrere Auszeichnungen, darunter 1960 den „Meersburger-Droste-Preis“. Erstmals nach 20 Jahren kehrte sie für die Preisverleihung nach Deutschland zurück, erlitt aufgrund von posttraumatischen Störungen in der Folge einen Zusammenbruch und musste drei Jahre in einer Klinik behandelt werden.
Doch als sie am 17. Oktober 1965 als erste Frau und erste Lyrikerin mit dem „Friedenspreis des Deutschen Buchhandels“ ausgezeichnet wurde, trat sie abermals die mit großer Angst besetzte Reise nach Deutschland an. Als sie am Rednerpult in der Frankfurter Paulskirche zu sprechen begann, waren es Worte der Versöhnung, die sie an die Zuhörerinnen und Zuhörer richtete:
Wenn ich heute, nach langer Krankheit, meine Scheu überwunden habe, um nach Deutschland zu kommen, so nicht nur, um dem deutschen Buchhandel zu danken, der mir die Ehre erwiesen hat, mir den Friedenspreis zu verleihen, sondern auch den neuen deutschen Generationen zu sagen, daß ich an sie glaube.
Über alles Entsetzliche hinweg, was geschah, glaube ich an sie. Viele Begegnungen mit einzelnen deutschen Menschen sind mir unvergeßlich geworden und zeigten mir, wie auf einer Sternenkarte, das Entstehen eines neuen Zeichens, daraus Hoffnung und Frieden sich wieder entwickeln können.
(Aus der Friedenspreisrede 1965 von Nelly Sachs)
Sprecher: In Schweden, wo man die Preisverleihung auch beobachtete, erschien am 25. Oktober 1965 in der Zeitung „Dagens Nyheter“ ein Kommentar, der zeigt, wie die Ehrung von Nelly Sachs von außen wahrgenommen wurde. Wie zu dieser Zeit üblich wurde von der Dichterin im „generische maskulinum“ gesprochen.
Die, die zu ihr vom Podium sprachen, nannten sie ‚jüdischer Dichter in deutscher Sprache‘. […] Sie war ein geehrter Fremder, und man war glücklich über ihren Besuch. Aber in dieser Szene gab es etwas, was nicht stimmte.
Nelly Sachs ist in einem jüdischen Heim geboren worden, das ist wahr. Aber das Jüdische bedeutet in ihrer Jugend wenig für sie. Zutiefst zu Hause fühlte sie sich in der deutschen Romantik und in christlicher Mystik mit Böhme als Zentralgestalt. […]
Nelly Sachs stand also auf dem Podium in Frankfurt am Main nicht in erster Linie als Repräsentant des jüdischen Volkes. Ihre Visionen sind in deutscher Sprache gestaltet worden. Sie war kein Fremder. Sie war zu Hause.
(Dagens Nyheter vom 25. Oktober 1965)
Skipis: Einer der Gründe für den Schriftsteller Hans Schwarz, den Friedenspreis 1950 ins Leben zu rufen, war der Gedanke, den Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die durch den Krieg in eine Art Isolation geraten sind, wieder die Möglichkeit zum Austausch zu geben. Und mit der Übernahme des Friedenspreises durch den Börsenverein des Deutschen Buchhandels sollte auch ein sichtbares Zeichen für den Willen einer Branche gesetzt werden, dem Frieden zu dienen.
Max Tau, der erste Friedenspreisträger im Jahr 1950, wollte eine Friedensbibliothek gründen, um den Menschen ein literarisches „Hilfspaket“ zur Hand zu geben. Jüdische Preisträger wie Martin Buber und Victor Gollancz nutzen ihre Friedenspreisreden dazu, den Deutschen einen differenzierten Umgang mit der Schuldfrage vorzuschlagen, um das in den 1950er Jahren so auffällige Schweigen über die zwölf Jahre Naziherrschaft zu brechen.
Diese drei hatten wie viele andere Preisträger dieser Zeit die Fähigkeit, Reden zu halten und den öffentlichen Disput zu führen. Nelly Sachs, die erste Preisträgerin des Friedenspreises, war anders. Bei ihr stand das geschriebene Wort in seiner besonderen verdichteten Form im Vordergrund. Und daher – und auch, um sich selbst Sicherheit zu geben – hat sie ihre Dankesrede dafür genutzt, Gedichte vorzutragen. Ein Bild, dass ich immer noch beeindruckend finde: Vor einem Publikum, das vor allem aus hunderten von großen Männern in schwarzen Anzügen bestand, trug diese zarte Frau ihre besondere Lyrik vor.
DA DU
unter dem Fuß dir
das staubbeflügelte Sternbild der Flucht gebarst
warf eine Hand Feuer in deinen Mund.
O eingeschlossenes Liebeswort
du brennende Sonne
im Rad der Nacht –
O meine Sonne
ich töpfre dich herein
in meiner Liebe Sternfallverlies
ins Asyl meiner Atemzüge
dieser leisesten Selbstmörderschar.
Beize mein Licht
mit der Ozeane unbehüteten Salzflucht,
ziehe Windkundschaft ein
aus der knospenden Landschaft der Seele.
Mit Lippen am Stein des Gebets
küsse ich lebenslang Tod,
bis der singende Samen aus Gold
den Fels der Trennung zerbricht.
(Aus der Friedenspreisrede 1965 von Nelly Sachs)
Mendel: „… bis der singende Samen aus Gold / den Fels der Trennung zerbricht. Wenn man sich Fotografien von der Preisverleihung anschaut, sieht man Nelly Sachs trotz der für sie sicherlich angespannten Situation die ganze Zeit lächeln. Ein paar Jahre zuvor hatte sie im Anschluss an ihre erste Rückkehr nach Deutschland einen psychischen Zusammenbruch erlitten.
Blickt man heute auf die Friedenspreisverleihung an Nelly Sachs zurück, könnte man auf die Idee kommen, dass hier wirklich etwas wieder zusammengekommen ist, was lange Zeit zerbrochen war – und das 1965, in dem Jahr, in dem die Bundesrepublik und Israel ihre diplomatischen Beziehungen aufgenommen haben.“
Meinungsfreiheit
Sprecher: Nelly Sachs und Erich Kästner sind nur zwei von vielen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die aufgrund ihrer Religion, ihrer Haltung oder ihrer Kunst verfolgt und verboten wurden. In ihren Biographien spiegelt sich das wider, was das Dritte Reich ihnen angetan hat. Die Diktatur hatte starken Einfluss auf ihr Leben und ihre Literatur.
Nelly Sachs hat – wie sie es auch in ihrer Dankesrede beim Friedenspreis formulierte – eine Art von Versöhnung gefunden. Ein Jahr später wurde sie mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Ihre Traumata und psychischen Probleme haben sie aber bis zu ihrem Tod am 12. Mai 1970 begleitet.
Erich Kästner hat den Friedenspreis des Deutschen Buch-handels nie erhalten, war aber des Öfteren im Gespräch. Seine Verbindung zum Börsenverein ist der Vorlesewettbewerb, den man 1959 gemeinsam mit ihm ins Leben rief. Seitdem nehmen jedes Jahr hunderttausende von Kindern an diesem Wettbewerb teil. Als Konsequenz aus seiner Unentschlossenheit während des Dritten Reichs hat Erich Kästner als Präsident des westdeutschen P.E.N.-Zentrums immer wieder auf die Verbrechen der Nationalsozialisten hingewiesen und sich für die Meinungsfreiheit eingesetzt.
Seit ein paar Jahren tritt auch der Börsenverein verstärkt für die Meinungsfreiheit ein. Hauptgeschäftsführer Alexander Skipis sieht gerade in der deutschen Vergangenheit eine Verpflichtung, immer wieder darauf aufmerksam zu machen, wenn Menschenrechte wie die Meinungsfreiheit eingeschränkt werden.
Skipis: Nie wieder darf in unserer Gesellschaft so etwas aufkommen wie das Dritte Reich mit all seinen Menschenrechtsverletzungen, den Gräueltaten und den Verbrechen gegen die Menschheit. Ja, es ist unsere deutsche Vergangenheit und die der deutschen Buchbranche im Besonderen, die uns veranlasst, gerade für das Menschenrecht der Meinungsfreiheit einzutreten. Die Lage der Meinungsfreiheit verschlechtert sich weltweit und auch in Deutschland.
Deshalb hat der Börsenverein des Deutschen Buchhandels die Initiative ergriffen, um Verantwortung in der Gesellschaft zu übernehmen. Verantwortung für ein Menschrecht, die Meinungsfreiheit. Mit vielen Partnern quer durch die ganze Gesellschaft richten wir in diesem Jahr erstmalig die Woche der Meinungsfreiheit aus. Sie findet vom 3. Mai, dem Tag der Pressefreiheit bis zum 10. Mai, dem Tag der Bücherverbrennung statt und soll jedes Jahr fortgesetzt werden. In diesem Jahr zunächst in Deutschland, in den nächsten Jahren in Europa und dann auch international.
Inhaltliches Fundament dieser Woche ist die Charta der Meinungsfreiheit, die wir gemeinsam formuliert haben. Wir fordern alle auf, sei es Privatpersonen, Institutionen oder Unternehmen, diese Charta zu unterschreiben und damit ein sichtbares Zeichen für ein Menschenrecht zu setzen, das weltweit gilt. Und je mehr Menschen, diese Charta unterschreiben, umso stärker ist das Zeichen, auf das sich Verfolgte in der ganzen Welt berufen können.
Sprecher: Eine Aktion, die große Aufmerksamkeit erfahren hat, war die Forderung des Börsenvereins an die türkische Regierung, die Schriftstellerin Aslı Erdoğan aus dem Gefängnis zu entlassen. Am 16. August 2016 war sie im Rahmen der sogenannten „Säuberung“ nach dem gescheiterten Militärputscht inhaftiert worden.
Skipis: Diese Inhaftierung war eine Farce. Da schreibt eine Person ihre Meinung und setzt sich mit der Feder für die in der Türkei lebenden Kurden ein – und wird dafür eingesperrt. Wir sind damals hingefahren und haben vor dem Gefängnis in Silivri bei Istanbul demonstriert, in dem sie inhaftiert war. Die Situation war äußerst beklemmend.
Da standen wir, ein kleines Häufchen vor den dicken Mauern des Gefängnisses, wohlwissend das dahinter eine Frau drangsaliert und schikaniert wird, die nichts anderes getan hat, als ihre Meinung zu äußern. Offensichtlich wurde der öffentliche Druck auch aus anderen Ländern schließlich so groß, dass man Aslı Erdoğan freigelassen hat. Seit 2017 lebt sie in Deutschland.
Aber es ist nicht allein die Verpflichtung aus unserer eigenen Vergangenheit, die unseren Einsatz erklärt. Es gehört schlichtweg zu den Grundwerten des Menschseins: Die eigene Meinung äußern zu dürfen und zugleich dafür einzutreten, dass auch andere es tun dürfen, selbst wenn man ihre Meinung nicht teilt. Es rechtzeitig zu tun, ist dabei – wie die Entwicklungen in der Türkei, aber auch in vielen anderen Ländern zeigen – immens wichtig. Vor ein paar Wochen wurde Ahmed Altan aus dem Gefängnis entlassen, aber es gibt noch immer viele, die weltweit hinter Gittern sitzen, obwohl sie eigentlich „nur“ ihre Meinung gesagt haben.
Sprecher: Anlässlich des 25. Jahrestags der Bücherverbrennung hat auch Erich Kästner noch einmal in einer Rede verdeutlicht, dass die Machtübernahme 1933 nicht der Anfang des Dritten Reichs gewesen sei. Es habe schon früher begonnen, spätestens 1928, als die demokratischen Kräfte in der Weimarer Republik dem Aufstieg der NSDAP nichts mehr entgegenzusetzen hatten.
Skipis: Das ist eine zentrale Lehre aus der Geschichte, die sich auch in der sehr bekannten Forderung „Wehrt den Anfängen“ wiederfindet. Wir wollen und wir müssen rechtzeitig den Finger in die Wunde legen, sobald sich zeigt, dass Menschenrechte und im Besonderen die Meinungsfreiheit bedroht werden. Das ist die Aufgabe der Zivilgesellschaft, der wir uns stellen müssen.
Sprecher: In seiner Rede von 1958 ist Erich Kästner auch noch einmal auf seine Teilnahme an der Bücherverbrennung und seine eigene passive Rolle zu sprechen gekommen. Er wollte verdeutlichen, wie wichtig rechtzeitiges Handeln ist.
Warum habe ich auf dem Opernplatz nicht widersprochen? Hätte ich nicht zurückschreien sollen? Zurückschreien, als sie meinen Namen brüllten. Ich stand da, mir war unbehaglich, und es geschah nichts.
Ich hatte mich nur geekelt. Ich war passiv geblieben. Ich hatte angesichts des Scheiterhaufens nicht aufgeschrien. Ich hatte nicht mit der Faust gedroht. Ich hatte sie nur in der Tasche geballt.
Warum erzähle ich das? Warum mische ich mich unter die Bekenner? Weil, immer wenn von der Vergangenheit gesprochen wird, auch von der Zukunft die Rede ist. Weil keiner unter uns und überhaupt niemand die Mutfrage beantworten kann, bevor die Zumutung an ihn herantritt.
Keiner weiß, ob er aus dem Stoffe gemacht ist, aus dem der entscheidende Augenblick Helden formt. Kein Volk und keine Elite darf die Hände in den Schoß legen und darauf hoffen, dass im Ernstfall, im ernstesten Falle genügend Helden zur Stelle sein würden.
(Erich Kästner: Ausschnitt aus der Rede zum 25. Jahrestag der Bücherverbrennung am 10. Mai 1958)
Dieser Text ist eine Abschrift der Radiosendung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels und des Hessischen Rundfunks vom 9. Mai 2021 im Rahmen des Projekts Im Fokus – die jüdischen Friedenspreisträger*innen in Zusammenarbeit mit dem Verein „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland e.V.“, gefördert vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat.
Mit Beiträgen von Erich Kästner, Meron Mendel, Yehudi Menuhin, Marcel Reich-Ranicki, Nelly Sachs, Alexander Skipis und Volker Weidermann
Redaktion: Katrin von Boltenstern und Martin Schult
© Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V.
Eine Sendung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels und des Hessischen Rundfunks im Rahmen des Projekts Im Fokus – die jüdischen Friedenspreisträger*innen in Zusammenarbeit mit dem Verein „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland e.V.“, gefördert vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat.
Es sprechen Julia Schmalbrock, Martin Feifel und Niels Beintker
Mit Beiträgen von Erich Kästner, Meron Mendel, Yehudi Menuhin, Marcel Reich-Ranicki, Nelly Sachs, Alexander Skipis und Volker Weidermann
Redaktion: Katrin von Boltenstern und Martin Schult
Technik: Gudrun Greger und Niklas Vogel