»Und dann werden wir schreiben, singen, tanzen.«
Serhij Zhadan, Friedenspreisträger von 2022, feiert am 23. August 2024 seinen 50. Geburtstag. Ein Gruß von Martin Schult
»Die wütenden und fröhlichen Kinder in den Kellern von Charkiw.
Kinder, die in den Tiefen der U-Bahn leben.
Die Welt, die das alles gesehen hat, ist grau und alt geworden.
Aber Liebe heißt auch Arbeit, und die müssen wir jeden Tag tun.«
So lautet der Refrain des von Serhij Zhadan im Frühjahr 2022 komponierten Liedes »Metro« (Метро (youtube.com). Seitdem singt er es mit seiner Band »Zhadan y Sobaki« auf zahlreichen Konzerten, sowohl in der Ukraine, als auch – wenn die Musiker ausreisen dürfen –für seine Landsleute in anderen europäischen Städten, in die sie wegen der russischen Invasion haben fliehen müssen.
Wer eines seiner Konzerte besucht und hört, wie alle mitsingen, der spürt, dass dieses Lied – auch wenn man den Text nicht versteht – nicht einfach nur ein Lied ist, auf das man tanzen und bei dem man mitbrüllen kann. Es ist eine zur Musik gewordene ukrainische Version der »Zeitenwende«, wie Olaf Scholz den Einmarsch der russischen Truppen nannte: »Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.«
Zweieinhalb Jahre später wissen wir immer noch nicht, wie diese Welt – vor allem in der Ukraine – aussehen wird. Während dieser Zeit sahen wir die Bilder der zerstörten Städte und Dörfer. Und wir schauten in die Gesichter von traurigen, entsetzten, aber auch stolzen Menschen, die einige Zeit brauchten, um das, was ihnen passiert ist, wieder in Worte fassen zu können. Menschen wie Serhij Zhadan.
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Krieg lässt sich mit Statistiken beschreiben. Man kann auf Landkarten nachstellen, was für Gebietsgewinne oder -verluste es gibt. Dabei vergisst man aber mitunter, dass jeder Krieg – auch der in der Ukraine – auf den Rücken der dort lebenden Menschen ausgetragen wird.
Bei der Verleihung des Friedenspreises 2022 erklärte Serhij Zhadan, was das mit ihm und seinen Landsleuten gemacht hat: »Genau dieses Gefühl ist es, das dich vom ersten Tag des großen Krieges an begleitet – das Gefühl der gebrochenen Zeit, des Fehlens von Dauer, das Gefühl der zusammengepressten Luft, du kannst kaum atmen, weil die Wirklichkeit auf dir lastet und versucht, dich auf die andere Seite des Lebens, auf die andere Seite des Sichtbaren abzudrängen.«
In seiner Dankesrede ging er zudem darauf ein, wie schwer es sei, die richtige Sprache dafür zu finden. »Aber diese Unfähigkeit, sich der vertrauten Mittel zu bedienen, genauer gesagt, die Unfähigkeit, mit den früheren – aus friedlichen Vorkriegszeiten stammenden – Konstruktionen deinen Zustand zu beschreiben, deine Wut, deinen Schmerz und deine Hoffnung zu erklären – ist besonders schmerzhaft und unerträglich.«
Krieg sei nicht für Literatur gemacht, zitierte ihn Sasha Marianna Salzmann in einem Text für die Münchener Kammerspiele. Ihn »als literarisches Material zu nutzen zu versuchen, ist das Schlimmste, was ein Schriftsteller tun kann. […] Und doch ist es unmöglich, nicht über den Krieg zu schreiben. Über den Krieg muss geschrieben werden. Der Krieg braucht keine Ästhetisierung, aber er braucht Fixierung. Er braucht Zeugen …«
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Zu Beginn der von den Russen bezeichneten »Spezial-Operation« konnte Serhij Zhadan nicht mehr schreiben – hin und wieder noch ein Liedtext, mal auch ein Gedicht. Der Suhrkamp Verlag veröffentlichte mit »Himmel über Charkiw« seine Facebook-Einträge. Losgelöst vom Zeitpunkt des Postings offenbaren sie den Widerspruch zwischen gerade erlebter Gewalt und einer darauf nachfolgenden Reflektion – dies sei eigentlich keine Literatur, sagte Zhadan selbst.
Als wir uns zwei Monate vor der Preisverleihung in Kiew trafen, erzählte er mir von seinem Alltag – Leben retten, Nahrungsmittel und Medikamente besorgen, über die Sozialen Medien den Menschen Mut machen. Wenn es möglich sei, mache er Konzerte und Lesungen, aber schreiben – richtig schreiben – das könne er nicht mehr.
»Dann schreib deine Dankesrede doch darüber«, schlug ich ihm vor. »Nicht über den Krieg an sich, sondern was er den Menschen und ihrer Sprache antut.« Er tat es und gab dem Text den Titel »Lass es einen Text sein, aber nicht über den Krieg«. Es wäre schön, wenn ihm das ein wenig dabei geholfen hat, die eigene Sprache wiederzufinden.
Im November 2024 erscheint der Gedichtband »Chronik des eigenen Atems« (übersetzt von Claudia Dathe), der 2023 im Original mit dem Titel »Skrypnykivka« (die Bezeichnung für die 1928 verabschiedete ukrainische Rechtschreibung) veröffentlicht wurde. Es ist »eine private, zerrissene Chronik der letzten zwei Jahre – gefüllt mit Schnee, Gesang, Rechtschreibung und Liebe«, wie sein ukrainischer Verlag Meridian Czernowitz schreibt. Die gestalterische Trennung zwischen den Gedichten, die er vor oder nach dem Einmarsch geschrieben hat, soll verdeutlichen, wie der Krieg die Sprache verändert hat.
In der Ukraine trägt Serhij Zhadan sie auf Lesungen vor, er rezitiert sie in den Pausen bei seinen Konzerten oder postet sie in den Sozialen Medien. So stellt er eine Nähe zwischen sich und seinen Leser*innen her, die ihnen hilft, ebenfalls die Sprache wiederzufinden. Wie schön wäre es also, wenn er zur Präsentation des Gedichtbands nach Deutschland kommen könnte, um das zu erklären. Doch das wird wohl Wunschdenken bleiben.
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Denn im Frühjahr dieses Jahres wurde Serhij Zhadan Soldat. »Meine Freunde und ich haben beschlossen, die ukrainische Armee zu unterstützen«, erzählte er in einem Interview dem ZDF. »Ich liebe meine Arbeit, der Krieg aber bremst mich. Wenn ich die Gelegenheit habe, schreibe ich. Aber jetzt diene ich, ich habe nicht so viel Zeit. Das ist jetzt nicht so wichtig. Es ist wichtiger, unser Land gegen den Aggressor zu verteidigen. Und dann werden wir schreiben, singen, tanzen.«
Nach der Grundausbildung gehört er nun dem Chartia-Bataillon der ukrainischen Nationalgarde an, das er zuvor schon logistisch unterstützt hat. Menschen, die ihn kennen, sind zwischen Verständnis und Fassungslosigkeit hin- und hergerissen. Kritische Stimmen sehen es hingegen als Bestätigung, dass er nie Interesse an einer friedlichen Lösung gezeigt habe – was sich aber wie die Quadratur des Kreises anhört. Kann man jemandem, dessen Land angegriffen wird und der alltäglich den Tod vor Augen hat, wirklich den Vorwurf machen, dass er kein Verständnis für die andere Seite zeigt?
Serhij Zhadan werden diese Vorhaltungen egal sein. »Für mich ist Frieden das, was die Ukrainer heute am meisten wollen. Aber die Ukrainer wollen nicht kapitulieren, die Ukrainer wollen sich nicht verlieren. Deshalb kämpfen wir für unseren Frieden, für den ukrainischen Frieden.«
Seit der Unabhängigkeit probiert er mit konsequenter Hingabe all das aus, was ihm wichtig ist. Er studierte, arbeitete als Radiomoderator und wurde Schriftsteller und Musiker. Nachdem 2014 russlandtreue Milizen den Donbass besetzten, reiste er unermüdlich dorthin, um zu helfen, um zu verstehen, um darüber zu schreiben.
Nun hat er also einen weiteren, für ihn konsequenten Schritt gemacht. Mit dieser Entscheidung setzt er sein Leben ein. Dass er es verlieren könnte, ist wahrscheinlicher geworden. Das macht unendlich traurig, aber es hilft auch, den Blick auf das, was geschehen ist und noch immer passiert, zu schärfen.
Herzlichen Glückwunsch zu deinem 50. Geburtstag, lieber Serhij. Es wird ein besonderer sein, wo immer du ihn auch feiern wirst.