Der Stiftungsrat hat den Bürgermeister der Stadt Jerusalem Teddy Kollek zum Träger des Friedenspreises 1985 gewählt. Die Verleihung fand während der Frankfurter Buchmesse am Sonntag, 13. Oktober 1985, in der Paulskirche statt. Die Laudatio hielt Manfred Rommel.
Begründung der Jury
Den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verleiht der Börsenverein im Jahre 1985 Teddy Kollek, dem Bürgermeister von Jerusalem, der Stadt im Brennpunkt dreier großer Weltreligionen.
Aus Menschlichkeit und Treue zum eigenen Volk erwächst ihm die Achtung für andere, und so hat er Jerusalem in den zwanzig Jahren seines Wirkens zu einem Beispiel der Toleranz gemacht.
Durch sein engagiertes Eintreten für das Miteinander verschiedener Völker und Religionsgemeinschaften hat er Israelis und Arabern einen Weg in eine gemeinsam zu gestaltende Zukunft gewiesen. Damit setzt Teddy Kollek sichtbare Zeichen irdischer Friedenshoffnung.
Reden
Günther Christiansen
Grußwort des Vorstehers
Das Außergewöhnliche der Politik Bürgermeister Kolleks in Jerusalem ist, daß sie aus einer Fülle vertrauensbildender Maßnahmen besteht, aus dem nachhaltigen Einsatz für die wirklichen Interessen des Bürgers, gleich ob Jude, Araber oder Christ und daß dieses Engagement offensichtlich nicht durch ein langfristiges politisches Kalkül motiviert ist, sondern daß es auf der Grundüberzeugung des Jerusalemer Bürgermeisters beruht, wie man mit Menschen umgehen sollte.
Manfred Rommel - Laudatio auf Teddy Kollek
Manfred Rommel
Auf den Friedenspreisträger 1985
Laudatio auf Teddy Kollek
Ich beglückwünsche Sie, Herr Bürgermeister Kollek, zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels und ich beglückwünsche den Börsenverein, weil er den Friedenspreis 1985 an Bürgermeister Kollek verliehen hat. Diese Entscheidung ist mutig. Denn die Auszeichnung beinhaltet das Bekenntnis zu einem Politiker, also zu einer Persönlichkeit, die, in konkreter Verantwortung stehend, nicht nur an Worten, sondern auch an Taten gemessen werden kann.
Es entspricht einer in Deutschland weitverbreiteten Praxis, daß ein Redner sich dafür, daß er redet, entschuldigt. Ich will mich auch an diese Praxis halten und darauf hinweisen, daß mich der Preisträger als Laudator ausgewählt hat. Da Sie sich, verehrter Herr Kollek, immer etwas denken, haben Sie sich selbstverständlich auch hierbei etwas gedacht. Eine besondere Sachkunde, was Jerusalem anbetrifft, konnten Sie bei mir nicht unterstellen, denn ich war erst zweimal dort und jeweils sehr kurze Zeit. Zwar beauftragen die Redaktionen mancher unserer Medien offensichtlich um so lieber einen Journalisten, über ein Thema zu schreiben, je weniger jener von diesem etwas versteht. Dies verleiht der Darstellung jeweils eine gewisse Frische und Anschaulichkeit, die herzustellen einem Sachkundigen unmöglich wäre. Das war aber sicher nicht Ihr Grund, mich für das Laudatorenamt vorzuschlagen; ich nehme an, daß Sie hören wollten, was ein kommunalpolitischer Praktiker zu sagen hat. Freilich lassen sich die Probleme der kommunalen Selbstverwaltung m der Bundesrepublik mit denen der kommunalen Selbstverwaltung in Israel nicht vergleichen. Ihre Probleme sind schwieriger, gewichtiger, politisch bedeutsamer als unsere. Das gilt insbesondere für Ihre Stadt Jerusalem.
Allen Stadtverwaltungen gemeinsam ist die tägliche Konfrontation mit der Wirklichkeit, mit den wahren Menschen mit ihren Widersprüchen, ihren wirklichen Sorgen, mit ihren tatsächlichen Gedanken, mit ihren echten Problemen. Diese ständige Konfrontation mit der Wirklichkeit ermöglicht es, die Welt klarer zu sehen, freilich wird sie dadurch aber auch komplizierter, als sie auf höheren politischen Ebenen erscheint.
Die Welt ist eben meist nicht so, wie sie die politische Theorie darstellt. Es ist nur einfacher, sie so darzustellen, wie sie nicht ist, als so, wie sie ist. Vor allem versucht die Theorie, ein Bild der anzustrebenden Welt zu zeichnen, das vernünftig und widerspruchsfrei ist. Die Menschen, die die Welt ausmachen, sind aber weder vernünftig noch widerspruchsfrei und keineswegs von dem Bestreben erfüllt, zur Herstellung einer in sich schlüssigen und durch und durch konsequenten Weltordnung unter Zurückstellung ihrer persönlichen Interessen praktische Beiträge zu leisten. Es ist ein Fehler, die Menschen nicht so zu sehen, wie sie sind, sondern so, wie man wünschte, daß sie wären, meistens ohne selber so zu sein. Dieses Wegträumen von Tatsachen findet besonders häufig bei uns in Deutschland statt. Schopenhauer, der lange Jahre hier in Frankfurt gelebt hat, bezeichnet es als den eigentümlichen Fehler der Deutschen, daß sie das, was vor ihren Füßen hegt, in den Wolken suchen.
Und es ist wahr, die Guten bleiben gerne dadurch fromm, daß sie sich von den Tatsachen abheben und in eine abstrakte Traumwelt flüchten, in der die Ungereimtheiten des wirklichen Lebens weggedacht sind und der Wunsch zum Vater des Gedankens gemacht worden ist. Natürlich sei nichts gegen Wünsche und Ziele vorgetragen. Richtungsbestimmungen sind notwendig, aber entscheidend ist, daß sie erstens einigermaßen richtig, also auch realistisch sind, und zweitens, daß auf dem Boden der Tatsachen eine Bewegung in ihre Richtung stattfindet.
Was hat dies mit dem Frieden zu tun und mit dem Friedenspreis? Sehr viel, denn Friede kommt nicht durch Bekenntnisse schöner Seelen zustande, deren ätherischer Zustand nur solange andauert, wie sie nicht mit den Tatsachen in Berührung kommen, sondern Friede kommt dadurch zustande, daß die Tatsachen in Richtung auf mehr Frieden geändert werden. Zu den Tatsachen gehören aber auch die Gesinnungen der Menschen.
Das Wesen der Welt ist nicht Harmonie, sondern Disharmonie. Friede wird auch nur selten dadurch geschaffen, daß Konflikte durch Einigung auf gemeinsame Überzeugungen beseitigt werden - die meisten Konflikte sind so, daß es keine Lösungen gibt, weil es sich um Interessengegensätze handelt -, sondern Friede entsteht dadurch, daß Kompromisse gefunden werden und daß alle Beteiligten lernen, mit dem ungelösten Problem zu leben. So mancher meint, es diene dem Frieden, wenn man sich darüber aufregt, daß kein Frieden herrscht. Aber die Größe des Engagements eines Menschen für eine Sache ergibt sich nicht daraus, wie sehr er sich aufregt, sondern mit welcher Intensität er die Sache durchdenkt und dazu beiträgt, daß ihre Mängel gemildert werden.
Diese praktische Friedensarbeit wird in vorbildlicher Weise von Bürgermeister Kollek geleistet. Präsident Sadat hat ihn als den besten Bürgermeister der Welt bezeichnet und - was genauso viel wiegt - der politisch in einem anderen Lager befindliche frühere Ministerpräsident Begin als einen guten Bürgermeister.
Bürgermeister Teddy Kollek hat an Bildung, Aufbau und Ausbau seines Landes, des Staates Israel, entscheidend mitgewirkt. Am 27. Mai 1911 in Wien geboren, wanderte er 1934 nach Palästina aus. Er war 1937 Mitbegründer eines Kibbuz. Ab 1938 war er in verschiedenen Funktionen tätig, um verfolgte Juden zu retten und in Mittel- und Osteuropa jüdische Untergrundtätigkeit aufzubauen. 1948 wurde er nach Ausrufung des Staates Israel in die Nordamerika-Abteilung des Israelischen Außenministeriums berufen. 1950 wurde er Gesandter des Staates Israel in den Vereinigten Staaten. 1952 wurde er von Ministerpräsident Ben Gurion zum Generaldirektor des Büros des Ministerpräsidenten ernannt, ein Amt, das er 12 Jahre lang innehatte. Seit 1965 ist Teddy Kollek Bürgermeister von Jerusalem. Er wurde in diesem Amt durch Volkswahl immer wieder bestätigt, zuletzt im Jahre 1983 mit 63 Prozent aller Stimmen.
Bürgermeister Kollek ist der Überzeugung, daß Israel militärisch stark sein muß, wenn das Land überleben und der Frieden im Nahen Osten erhalten werden soll. Wer wollte dem widersprechen. Es ist ebenso leichtfertig wie peinlich, wenn gelegentlich aus der Bundesrepublik den israelischen Politikern Belehrungen über Friedenspolitik im Nahen Osten zuteil werden. Die Juden haben während der nationalsozialistischen Zeit grausam erfahren müssen, daß Wehrlosigkeit nicht Sicherheit, sondern Unsicherheit schafft, nicht Güte, sondern Haß auslösen kann und nicht Frieden, sondern Entrechtung, Demütigung und Tod zu bringen vermag. Wir sollten unsere Neigung, Bewältigung der Vergangenheit so mißzuverstehen, daß wir uns zum Praeceptor mundi ernannt wähnen, mindestens, was Israel anbetrifft, etwas zügeln, damit nicht dem Schrecklichen das Peinliche folge.
Peinlich und fragwürdig. Fragwürdig wie das fast zwanghafte Bedürfnis, ein Theaterstück aufzuführen, das von jüdischen Mitbürgern als Kränkung empfunden wird. Muß das sein? Hier findet wohl, ausgelöst durch den Zweifel, ob man sich traue, so etwas wie eine Mutprobe statt. Aber manchmal gehört mehr Mut dazu, sich nicht zu trauen, als sich zu trauen.
Das Außergewöhnliche der Politik Bürgermeister Kolleks in Jerusalem ist, daß sie aus einer Fülle vertrauensbildender Maßnahmen besteht, aus dem nachhaltigen Einsatz für die wirklichen Interessen des Bürgers, gleich ob Jude, Araber oder Christ und daß dieses Engagement offensichtlich nicht durch ein langfristiges politisches Kalkül motiviert ist, sondern daß es auf der Grundüberzeugung des Jerusalemer Bürgermeisters beruht, wie man mit Menschen umgehen sollte.
Toleranz ist eine primäre Tugend, wie die Wahrheitsliebe oder die Nächstenliebe. Primäre Tugenden können nicht im Dienste anderer Ziele stehen, sondern müssen aus sich selbst heraus wirken. Und Tugenden müssen gelebt, das heißt praktiziert werden. Denn nur dann sind sie glaubhaft und nur dann wirken sie ein auf die Herzen anderer. Über das Verhältnis von Frieden und Freiheit ist viel philosophiert worden. Es gibt eine sehr tiefe Definition der Freiheit von Rosa Luxemburg, nämlich: Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenk enden. Eintreten für die Freiheit der Andersdenkenden, das aber ist auch Toleranz.
Bürgermeister Kollek bemüht sich darum, daß Araber und Christen die gleichen Rechte haben wie die Juden, die in Jerusalem seit über 100 Jahren in der Mehrheit sind. Es gibt in Jerusalem eine freie arabische Presse, rund 50000 Araber kommen jedes Jahr aus Jordanien, Ägypten, Kuwait, Libyen und anderen Ländern, um die heiligen Stätten zu besuchen, Das Schulwesen wurde ausgebaut. Neben dem offiziellen israelischen Lehrplan für arabische Schulen wird an den Oberschulen wahlweise noch ein arabisches Curriculum angeboten, das dem früheren jordanischen mit der Maßgabe entspricht, daß zusätzlich Hebräisch gelernt werden muß; der Abschluß berechtigt zum Studium an arabischen Universitäten.
Die Sozialeinrichtungen für die Gesamtbevölkerung, auch für die arabische, wurden grundlegend verbessert, ebenso wie die kulturellen - zu einem erheblichen Teil durch Spenden, die Bürgermeister Kollek selbst gesammelt hat -. Als Bürgermeister einer finanzschwachen Stadt befindet er sich nicht in der glücklichen Lage, mit Hilfe des Steueraufkommens Wohltaten verteilen zu können, sondern er muß einen beachtlichen Teil des Geldes, das die Stadt braucht, von Spendern beschaffen. Es gereicht den deutschen Verlegern im übrigen zur Ehre, daß einige von ihnen namhafte Spenden geleistet haben. Ich nenne hier Herrn Springer und Familie von Holtzbrinck.
Bürgermeister Kollek und seine Verwaltung, darunter auch arabische Mitarbeiter, bemühen sich nachhaltig um die arabische Wirtschaft. Sie bemühen sich aber auch darum, das große kulturelle Erbe der Araber zu wahren und zu pflegen, höchst wichtige Bemühungen, denn oft genug beruhen die Unvereinbarkeiten zwischen Völkern mit hohem und solchen mit niedrigerem Technikniveau darauf, daß die bedeutende, manchmal auch bedeutendere Kulturleistung des Volkes mit geringerem technischen Fortschritt nicht erkannt und anerkannt wird.
Teddy Kollek ist ein Pragmatiker, ein Pragmatiker des guten Willens. Er will eine gute Zukunft für Araber in Jerusalem sichern. Aber er schreibt: »Wenn ich Araber in Oberjerusalem wäre, würde ich mich wahrscheinlich auch von mir unterdrückt fühlen.« Unter den Unterdrückern - Türken, Briten und dem König in Amman - seien die Juden jedoch die besten Unterdrücker, weil die schlechtesten. »Das Bessere ist der Feind des Guten«, ist seine Devise. Er schreibt: »Es ist unmöglich, eine Lösung zu finden, die voll befriedigend für jeden wäre. Aber wir können für uns wenigstens in Anspruch nehmen, daß mehr Probleme für mehr Menschen gelöst worden sind als unter allen früheren Verwaltungen.« Und damit hat er gewiß recht, was deutlich wird, wenn man das Jerusalem von heute mit dem Jerusalem von früher vergleicht.
Daß er gegen eine Teilung Jerusalems ist oder auch gegen eine Internationalisierung, oder wie auch immer der Begriff heißen mag, den man verwendet, wenn man nicht weiß, was eigentlich geschehen soll, das ist für einen Bürgermeister von Jerusalem selbstverständlich. Man kann sich in der Tat nicht vorstellen, daß irgend etwas Gutes für Jerusalem und für die Welt durch Teilung bewirkt werden könnte. Gerade wir Deutschen, für die das geteilte Berlin ein schmerzlicher Stachel ist, sollten Verständnis dafür haben, wenn eine solche unnatürliche und willkürliche Lösung vom Jerusalemer Bürgermeister und auch vom überwiegenden Teil der Jerusalemer Bevölkerung als undenkbar abgelehnt wird. Eine Stadt hat Anspruch darauf, daß man sie als Ganzes behandelt.
Der Sohn der Stadt Frankfurt, Johann Wolfgang von Goethe, sagte im Gespräch mit Eckermann, es sei eine große Torheit, zu verlangen, daß die Menschen zu uns harmonieren sollen. Er hätte das nie getan. Der Bürgermeister von Jerusalem, unser Preisträger, denkt ähnlich. Er erhebt nicht den Anspruch, von den Arabern geliebt zu werden. Er will auch keine Integration - im Deutschen im übrigen einer jener Begriffe, die man um so lieber verwendet, je weniger man weiß, was sie bedeuten -. Er will keinen Schmelztiegel, in dem Juden, Araber und Christen zu einem Jerusalemer Durchschnittsbürger aufgehen, sein Ziel ist ein Mosaik, ein Ganzes, das durch Vielfalt gebildet wird, nämlich, wie er schreibt, »die Koexistenz von differenzierten Gemeinschaften, die jeweils ihrer eigenen Kultur treu bleiben, innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft«.
Teddy Kollek arbeitet 16 Stunden am Tag, von morgens um 6.30 Uhr bis spät in die Nacht, kümmert sich um viele Details, richtet sich nach dem 11. Gebot, das er selber aufgestellt hat und das lautet: »Du sollst nicht geduldig sein«, sorgt dafür, daß die vielen kleinen Schritte, von denen er spricht, auch gegangen werden, und zwar in die richtige Richtung, und streitet sich gelegentlich auf das Heftigste mit der Regierung. Bernhard Heinrich hat in der »Frankfurter Allgemeine Zeitung« ausgeführt, das Ergebnis seiner Arbeit sei der Frieden in Jerusalem, und der wiederum sei einer der Teile, aus denen der Weltfriede gemacht ist.
Nach dem Kriege von 1967 erteilte er die Erlaubnis, ein Mahnmal zum Gedächtnis von 200 arabischen Gefallenen in der Nähe eines arabischen Friedhofs bei der Altstadtmauer aufzustellen. Dies führte zu erregten Debatten im Stadtrat und in der Öffentlichkeit, wo die Befürchtung geäußert wurde, das Mahnmal werde zu einer Brutstätte der Rebellion gegen Israel und zu einem Symbol des Aufruhrs. Er hat sich durchgesetzt und er schreibt: »Auch heute noch, nach so vielen Jahren, bin ich stolz darauf, daß wir genug Taktgefühl und Mut aufbrachten, um auf der Durchführung unseres Beschlusses zu bestehen.«
Wir in der Bundesrepublik neigen dazu, unsere Probleme für größer zu halten, als sie es tatsächlich sind. Der Blick über die Grenzen kann die Maßstäbe wieder zurechtrücken. Mir ist, als ich das letzte Mal von Israel und Jerusalem in die Bundesrepublik zurückkam, das Bibelwort eingefallen: »Wenn du schon im Lande, wo keine Gefahr ist, Sicherheit suchst, was willst du tun im Dickicht des Jordan?« - Jeremia 12,5.
Wenn der europäische Wirtschaftsraum immer enger zusammenwächst, wenn die Freizügigkeit noch größer wird, dann wird ein besseres Europa in den großen Städten geistig entstehen müssen dadurch, daß Angehörige verschiedener Nationen und verschiedener Religionen lernen, friedlich miteinander zu leben und Meinungsvielfalt nicht als Unheil zu betrachten, sondern als einen Vorzug. Nach allen Prognosen wird die deutsche Bevölkerung in den meisten großen Städten in den nächsten Jahrzehnten dramatisch zurückgehen. Es ist nicht auszuschließen, daß, den Arbeitsplätzen folgend, ausländische Bevölkerung nachwandert. Angesichts einer solchen Situation durch Toleranz Vielfältigkeit zu bewahren und doch Gemeinsamkeit in den wesentlichen Fragen zu erreichen und allen eine Heimat zu schaffen, kann eine der großen Zukunftsaufgaben sein. Hier kann das Beispiel Jerusalem als Ermutigung und Ansporn dienen.
Toleranz läßt sich nicht nur gegenüber Toleranten üben, genauso wenig wie Wahrheitsliebe nicht nur gegenüber jenen geübt werden darf, die auch die Wahrheit schätzen. Und die Liebe nur für die, die uns auch lieben, ist auch keine große Tugend. Gewiß sind auch Toleranzgrenzen gezogen, aber diese Grenzen liegen weiter entfernt, als man gewöhnlich denkt. Toleranz wird oft mit Meinungslosigkeit verwechselt. Aber nicht der Meinungslose ist tolerant, sondern der, der eine Meinung hat, aber es anderen zubilligt, eine abweichende Meinung zu haben und diese auch zu sagen. Freilich wird am meisten Kritik an denen geübt, die Kritik tolerieren, denn diese Kritik ist mit keinerlei Risiko verbunden.
Aber genauso wie eine Bank am liebsten dort Kredite gibt, wo sie nicht gebraucht werden, ist der Mensch am ehesten dort mutig, wo kein Mut notwendig ist. Mark Twain, der Jerusalem 1867 besucht und allerhand Lästerliches über die dortigen Sehenswürdigkeiten geschrieben hat, bemerkte insoweit zutreffend: »Es geht ungerecht zu in dieser Welt. Ein Schurke darf sich jede Anständigkeit herausnehmen, ein anständiger Mensch aber nicht die kleinste Schurkerei.« Das ist die schwere Last des guten Rufes. Nun ist Jerusalem eine Stadt, in der es auf einen guten Ruf besonders ankommt. Es ist eine für die Juden, die Christen und die Mohammedaner gleichermaßen heilige Stadt: Der Ort des jüdischen Tempels, der Ort, an dem Jesus gekreuzigt wurde und der Ort, von dem aus Mohammed zum Himmel aufgestiegen ist. Hier berühren sich drei große Religionen. In allen dieser drei großen Religionen heißt nun einmal fromm sein, den eigenen Glauben für richtig, konsequenterweise andere Glaubensvorstellungen für falsch zu halten. Vom Frommen wird erwartet, daß er seine Zweifel überwindet. Die Fragen, um die es hier geht, entziehen sich der Beweisführung durch menschliche Vernunft, denn was man mit menschlicher Vernunft beweisen kann, das braucht man nicht zu glauben.
Deshalb kommt es im Verhältnis der Religionen zueinander allein auf gegenseitige Duldsamkeit an, allein auf die Beachtung des allen Moralvorstellungen gemeinsamen Prinzips »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg' auch keinem ändern zu«. Es ist ein besonderes Verdienst Teddy Kolleks, daß er sich um religiöse Duldsamkeit so nachhaltig bemüht und daß in seiner Kommunalpolitik der Respekt vor den verschiedenartigen religiösen Überzeugungen einen so hohen Stellenwert hat. Vielleicht kann von Jerusalem neues Heil ausgehen dadurch, daß diese Stadt, an manche gute Tradition anknüpfend, auch ein Symbol wird für religiöse Duldsamkeit. In der Geschichte waren die Christen weniger duldsam als Juden und Mohammedaner; es gibt also bei uns Christen einen Nachholbedarf.
Die umfassenden Initiativen des Preisträgers auf kulturellem Gebiet, die Museen - das Israel-Museum, das Jerusalemer Museum der islamischen Kunst -, die Bibliotheken, die großen Konzerte, aber auch die Buchmesse, die zweitgrößte nach Frankfurt, bei deren Gelegenheit die Jerusalemer Stadtverwaltung einen Preis für Literatur, Philosophie und Forschung vergibt im Rahmen des Themas: »Freiheit des Individuums in der Gesellschaft«, und schließlich die Ausgrabungen, all dies fördert das Bewußtsein dafür, daß es geistige Besitztümer gibt, die heute allen Nationen gemeinsam gehören. Dieses Bewußtsein bildet Vertrauen und dient dadurch dem Frieden.
Ich will bei diesem Anlaß auch etwas über das Judentum und über die Deutschen sagen. Daß die jüdische und die deutsche Kultur aufs engste zusammenhängen, daran besteht kein Zweifel. Es besteht aber auch kein Zweifel daran, daß den Juden durch Deutsche das Schlimmste zugefügt wurde, was ihnen in ihrer vieltausendjährigen Geschichte widerfahren ist, und dies war nicht wenig Unheil und Unglück.
Nietzsche, der schon am Ende des 19. Jahrhunderts die Ausweisung der antisemitischen Schreihälse gefordert und gegen die verlogene Rassen-Selbstbewunderung und Unzucht Stellung bezogen hatte, führte aus, daß überall, wo die Juden zu Einfluß gekommen sind, sie feiner zu scheiden, schärfer zu folgern, besser und sauberer zu schreiben gelehrt hätten.
Ihre Aufgabe sei immer gewesen, ein Volk zur Räson zu bringen. Das gelingt nicht immer, wie die Geschichte zeigt. Das Vorurteil wehrt sich gegen das Urteil, der Tagtraum gegen die Wirklichkeit, die Erregung erklärt sich für moralisch, und der Haß verwechselt sich mit Gerechtigkeit.
Nietzsche schreibt auch, daß es mitunter schwerer sei, eine Sache zuzugeben, als sie einzusehen, und er bemerkt in »Jenseits von Gut und Böse«: »Das habe ich getan, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht getan haben, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich gibt das Gedächtnis nach.« Aber wir sind nicht mehr jenseits von Gut und Böse. Wir wissen von dem millionenfachen Mord an den Juden, und wir müssen auch eingestehen, daß in aller Öffentlichkeit jüdischen Menschen himmelschreiendes Unrecht geschehen ist, ohne daß dies einen in die Breite gehenden Widerstand ausgelöst hätte.
Wir verstehen deshalb, daß viele Juden nach wie vor uns Deutschen mit erheblicher Reserve begegnen und daß manche ihnen überhaupt nicht begegnen wollen.
Daß wir über diese dunkelsten Vorgänge in der deutschen Geschichte beschämt sind, macht niemanden mehr lebendig.
Aber wir sind dankbar, wenn uns von jüdischer Seite die Hand gereicht wird. Sie, verehrter Herr Kollek, haben dies sehr frühzeitig getan und als einer der ersten israelischen Politiker Konrad Adenauer empfangen, als er Israel besuchte. Das bleibt unvergessen.
In Lessings Nathan der Weise, diesem der Toleranz und der Versöhnung unter den Religionen gewidmeten Stück, heißt die letzte Bemerkung:» Unter stummer Wiederholung allseitiger Umarmungen fällt der Vorhang.«
So weit sind wir gewiß nicht. Es muß noch viel geschehen, damit diese Welt besser wird und damit die Wunden sich schließen, die in der Vergangenheit geschlagen wurden. Vergangenheit bewältigt man nicht dadurch, daß man sie vergißt, sondern dadurch, daß man die Zukunft besser macht.
Hier hatte und hat Jerusalem und sein Bürgermeister große Bedeutung. Die von Ihnen erwähnten kleinen Schritte sind von großer Wichtigkeit. Es kommt in dieser Welt nicht nur darauf an, daß die großen Ideen immer wieder neu verflochten, verknüpft und dargestellt werden, sondern daß das Bestehende durch Besseres verdrängt wird.
Von Lessing stammt auch das Wort: »Einige Leute sind berühmt und andere verdienten, es zu sein.« Sie kennt und schätzt man in der Welt, und Sie verdienen es auch. Meine herzlichen Glückwünsche zum Friedenspreis. Ich schließe mit dem 122. Psalm, Vers 6: »Wünschet Jerusalem Glück! Es möge wohlgehen jenen, die dich lieben.«
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Manfred Rommel
Laudatio
Der Glaube an die Werte des Humanismus muß in einer Zeit wachsender Anarchie auf der Welt mehr denn je gefestigt werden. ›Liebe deinen Nächsten als deinesgleichen‹ – und der Nächste ist jeder Mensch, ungeachtet seiner Rasse, Hautfarbe, Religion oder Volkszugehörigkeit. Die Menschlichkeit ist nach dem Glauben des Judentums nicht teilbar.
Teddy Kollek - Dankesrede
Teddy Kollek
Friedenspreisträger 1985
Dankesrede
Bevor ich mich ausführlich bedanke, möchte ich Ihnen, Herr Oberbürgermeister Rommel, für Ihre wunderschöne Laudatio danken.
Während Ihrer zwei kurzen Besuche in Jerusalem haben Sie so viel über unsere Stadt gelernt, daß ich mich vor unseren Zuhörern hier entschuldigen muß, wenn ich einiges wiederholen werde.
Aber lassen Sie mich erklären, warum ich Sie als Laudator vorgeschlagen habe. Sie brachten mir nach Jerusalem als Geschenk Photographien, die Ihr Onkel im Jahre 1917 von einem Flugzeug aus von Jerusalem aufgenommen hat. Er war dort mit einer deutschen Jagdstaffel, um den Türken im Ersten Weltkrieg zu helfen.
Das sind, glaube ich, die ersten Luftaufnahmen von Jerusalem. Sie haben jetzt einen wichtigen Platz in unserem Stadtarchiv.
Ich erinnerte mich an diese kleine Episode, und das hat mich natürlich auch an 1942 erinnert, als wir uns vor El Alamein gegen die große Gefahr der deutschen Armee unter Generalfeldmarschall Rommel in unserem Teil der Welt vorbereitet haben.
Das Schicksal der jüdischen Bevölkerung Palästinas schien tödlich gefährdet. Wer konnte sich damals vorstellen, daß der Sohn des Generalfeldmarschalls und ich uns vierzig Jahre
später in dem friedlichen Beruf der Bürgermeister treffen werden. Ist das nicht ein Symbol für den Prozeß des Friedens, der hier unser Thema ist?
Sehr geehrter Herr Bundespräsident, Sie und Ihre Familie sind eben erst von einem kurzen, sehr intensiven Besuch in Israel zurückgekommen. Dieser Besuch war ein sehr wichtiger Schritt, um die Beziehungen zwischen unseren Völkern zu verstärken. Nicht nur, was Sie gesagt haben - bei früheren Gelegenheiten und jetzt -, sondern auch wie Sie es gesagt haben, war ausschlaggebend, und ich möchte Ihnen im Namen aller dafür danken.
Sie, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Wallmann., haben viel über Städte gesprochen. Man muß das Prestige von Städten ein wenig erhöhen, vor allem, wenn man in der Anwesenheit von Regierungsvertretern spricht, denn die sind doch immer gegen uns.
Vor dreitausend Jahren zog König David in Jerusalem ein. Sein Sohn Salomon baute auf dem Berg Moriah das Heiligtum. Seit Davids Zeiten ist Jerusalem die Hauptstadt des jüdischen Volkes, sie blieb es auch, als sie in Trümmern lag und das Volk im Exil weilte. Die räumliche Entfernung änderte nichts an der geistig-religiösen Nähe. Während zweitausend Jahren haben sich Juden, wo immer sie waren, beim Gebet nach Jerusalem und zum Tempel gewendet.
Und weil Sie, Herr Rommel, schon mit Psalmen begonnen haben, lassen Sie mich fortsetzen mit Psalm 137:
»Wenn ich dein vergesse, Jerusalem
so möge meine rechte Hand verdorren
möge meine Zunge am Gaumen kleben
wenn ich deiner nicht gedenke ...«
Jerusalem - Zentrum des jüdischen Volkes - ist der Kopf und das Herz, ist das Symbol einstiger Größe und zugleich heutiger Wiedergeburt. Seit 1948, der Geburtsstunde der israelischen Demokratie, ist Jerusalem auch die Hauptstadt des neuerstandenen Staates Israel. Im Jahre 1967 wurde die geteilte Stadt wieder vereinigt, und damit erst war Jerusalem wieder vollständig. Wiedervereinigt, darf Jerusalem nicht mehr geteilt werden. Auch die Internationalisierung, die vielleicht im Jahre 1948 sinnvoll scheinen konnte, ist unter den heutigen Umständen weder annehmbar noch ausführbar. Die Probleme der Heiligen Stätten des Christentums und des Islams können in einer vereinigten Stadt zwar nicht leicht, aber doch würdevoll und gerecht gelöst werden, so wie dies heute pragmatisch erfolgt. Gerade in einer ungeteilten Stadt können alle religiösen Werte geachtet werden.
Heute haben alle Menschen freien Zutritt zu ihren Heiligen Stätten; auch Araber, die aus Ländern kommen, die sich bisher weigerten, mit uns Frieden zu schließen. Und jedes Jahr kommen tatsächlich 100000 bis 150000 Besucher aus diesen arabischen Ländern.
Im Gegensatz dazu: Während Jerusalem geteilt war, konnten Juden nicht an die Klagemauer, und Mohammedaner und Christen aus Israel konnten nicht ihre Heiligen Stätten besuchen.
Die drei monotheistischen Religionen haben eine innige Beziehung zu Jerusalem. Christen haben hier zahlreiche Heilige Stätten - Ölberg, Via Dolorosa, Grabeskirche und andere. Sie haben großes Interesse an diesen Stätten, aber nicht an der Stadt als solcher. Für die Mohammedaner ist sie die Stadt, von der aus Mohammed zu seiner nächtlichen Himmelfahrt aufstieg - die wichtigste nach Mekka und Medina.
Den Juden ist die Stadt heilig. Zweitausendjahre haben sie Jerusalem in ihr Gebet eingeschlossen, als Ausdruck der Sehnsucht eines verfolgten und zerstreuten Volkes, in die alte Heimat zurückzukehren.
Meine Damen und Herren, vor Ihnen steht der Bürgermeister des ungeteilten, nie wieder zu teilenden Jerusalems, der Hauptstadt des wiedergeborenen Staates Israel. Sie haben ihm den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. Es ist für mich, der ich seit zwanzig Jahren Bürgermeister dieser Stadt sein darf, eine hohe Ehre, diesen Preis entgegenzunehmen, zumal ich weiß, daß zu seinen Trägern Dichter, Staatsmänner, Philosophen, Künstler zählen, die durch ihr Schaffen zur Idee des Friedens und der Völkerverständigung in hervorragender Weise beigetragen haben. Ein Bürgermeister gehört vielleicht in eine andere Kategorie.
Wir sehen heute Spannungen in Städten in der ganzen Welt, die man früher nicht kannte. In heterogenen Städten kommt das noch häufiger vor und ist auch gefährlicher.
Große Ideen, wie sie viele Ihrer Preisträger ausgedrückt haben, sind - was immer geschieht - von langfristigem Wert.
Eines Bürgermeisters Aufgabe ist es, den tagtäglichen Frieden zu bewahren. Der Friede in einer Stadt kann jeden Tag gestört werden. Aber jeder Tag des Friedens, der dazu kommt, ist den Bürgern weit über den Kreis der Stadt hinaus wichtig. Und das ist sicher so in Bezug auf Jerusalem.
Erlauben Sie mir ein Bekenntnis: ich habe mir die Frage gestellt, ob ein Jude und ein Israeli - nach allem, was in Deutschland geschehen ist - diesen Preis entgegennehmen kann, doch dann habe ich mich dazu entschlossen.
Ich bin früh für die Normalisierung der israelisch-deutschen Beziehungen eingetreten, für das Treffen zwischen Adenauer und Ben Gurion. Altbundeskanzler Adenauer wurde im Jerusalemer Rathaus mit Herzlichkeit begrüßt. Als der vor kurzem verstorbene Axel Springer, der ein großer Freund Israels war, im Nationalmuseum eine Bibliothek für Kunst und Archäologie einrichten, die Spende jedoch anonym ausstellen wollte, bestand ich auf der Nennung seines Namens. Man sollte erfahren, daß Deutsche zu Israel und zu Jerusalem stehen. Die Spende eines Deutschen durfte nicht verschwiegen werden, selbst wenn sie damals vor zwanzig Jahren auf Widerstand gestoßen sein mochte. Ich weiß, daß Springers Persönlichkeit und seine Ideen in Deutschland sehr umstritten sind, aber er war der treueste Freund, den man haben konnte.
In vielen Lebenslagen gibt es neben der gefühlsmäßigen eine verstandesmäßige Haltung. Sie ist nicht minder wichtig, vor allem etwa, wenn es um das Verhältnis von Juden und Deutschen geht, das auf einer neuen Basis festgelegt werden soll. Die schlimme Vergangenheit darf niemand verschweigen, doch desgleichen muß das Bemühen vieler Deutscher um Versöhnung mit Israel gesehen werden. Meine engere Familie und ich selbst wurden vom Holocaust kaum betroffen. Vielleicht kann ich deshalb etwas unbefangener mit Menschen aus Deutschland in Kontakt kommen. Ich habe im Laufe der Jahre manches erlebt, das mich tief beeindruckt und mir gezeigt hat, wie sehr Deutsche ihre Vergangenheit nicht zu verdrängen und die Geschehnisse des Grauens nicht zu vertuschen suchen. Ich nenne ein Beispiel: Vor kurzem verstarb Heinrich Böll, auch er eine umstrittene Persönlichkeit. Er hat 1972 Jerusalem besucht. Bei uns hat er übrigens von seiner Ernennung zum Nobelpreisträger für Literatur erfahren. Böll erzählte mir eines Abends, sein Sohn habe viele Monate lang im Rahmen eines Projektes der Aktion Sühnezeichen beim Jerusa-lemer Blindeninstitut Fußböden gewaschen. Niemand hatte zuvor davon Kenntnis, und wir waren tief beeindruckt.
Wer wissen will, wie führende Menschen heute in Deutschland denken, wie sehr sie mit der Vergangenheit ringen, sollte die eindrucksvolle Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker vom 8. Mai dieses Jahres lesen. Sein Besuch in der letzten Woche war ein großer Schritt vorwärts auf diesem langen Weg. Vierzig Jahre nach dem Zusammenbruch der Naziherrschaft hat sich Vieles und Wesentliches geändert. Unter anderem besitzt die Bundesrepublik in Tel Aviv eine Botschaft. Israel ist in Bonn diplomatisch vertreten. Man darf diese Fakten nicht aus den Augen verlieren.
Und doch habe ich einen kleinen Augenblick gezögert, die heutige Ehrung anzunehmen. Sie sehen indessen, daß ich hier bin und die hohe Auszeichnung entgegennehme. Aber ich sehe erst jetzt, wie groß und wie bedeutend sie ist. Haben Sie herzlichen Dank!
Bevor ich auf Jerusalem zu sprechen komme, ein kurzes Wort über Bücher, die Juden und Frankfurt:
Als das Volk des Buches haben Juden, der Geschichte nach, schon 1535 die Frankfurter Buchmesse besucht, als Drucker und als Händler, und zu dieser Zeit, als es etwa 1800 Juden in Frankfurt gab, waren schon über 2000 hebräische Bücher erschienen.
Frankfurts Stadtbibliothek besitzt die größte Judaica-Sammlung in Deutschland.
Martin Buber war ein Mann tiefster Frömmigkeit und unermeßlichen Intellekts, dessen Leben ein Muster der Menschlichkeit war. Er las an der Frankfurter Universität und begann gemeinsam mit Franz Rosenzweig »Die Verdeutschung der Schrift«, die er später in Jerusalem vollendete. Buber war einer der ersten Juden, die nach dem Holocaust wieder Kontakt mit den Deutschen suchten. Und immer ist er für den Ausgleich zwischen Juden und Arabern in Israel eingetreten, seinen Ideen folgend, daß die Gedanken des Zusammenlebens und der Lösung von Problemen durch Dialog und nicht durch Trennung realisierbar sind. Buber war der vierte Träger des Friedenspreises, der ihm 1953 verliehen wurde. Einer seiner Nachfolger zu sein, ist für mich eine besondere Ehre.
Erlauben Sie mir, Ihnen von Jerusalem zu erzählen: Im Jahre 1967 wurde, infolge des Sechs-Tage-Krieges Jerusalem, nach neunzehn Jahren der Teilung in einen jüdischen und einen arabischen Distrikt, wiedervereinigt. Neunzehn Jahre sind eine sehr kurze Zeit in einer viertausendjährigen Geschichte, aber sie hat sich den Jerusalemern und der Welt tief eingeprägt, weit über die Anzahl der Jahre hinaus. Juden hatten wieder Zugang zu der Klagemauer, der Westmauer des Tempels, ein Recht, das sie nach den Waffenstillstandsbestimmungen im Jahr 1948 zwischen Israel und Jordanien theoretisch besessen hatten, jedoch nicht wahrnehmen konnten. Angesichts der vielen Ressentiments auf beiden Seiten der Bevölkerung des nunmehr ungeteilten Jerusalem, wußte ich vom ersten Augenblick an, daß wir die vielen Probleme des neuen Zusammenlebens mit viel Fingerspitzengefühl und klug anzugehen hatten.
An eine Internationalisierung Jerusalems glauben wir nicht. Sie wäre vielleicht 1948, als die UNO nur aus wenigen Mitgliedern bestand, von denen die meisten eine enge Beziehung zum Monotheismus und zu Jerusalem hatten, denkbar gewesen. Heute ist sie nicht mehr möglich. Aber an die Universalität Jerusalems glauben wir nach wie vor und auch an das Interesse der Menschheit an dieser Heiligen Stadt. Wir sind uns der Verantwortung gegenüber Hunderten von Millionen Menschen bewußt, die eine Verbindung zu Jerusalem haben und deren Vorväter dorthin Wallfahrten gemacht haben, häufig unter größter Gefahr.
Wir respektieren nicht nur die besondere Beziehung der christlichen Welt, sondern auch die Beziehung der Mohammedaner zu Jerusalem.
Wie schon erwähnt, können auch Araber aus Ländern, die nicht bereit sind, mit uns Frieden zu schließen, die Moscheen auf dem Tempelberg besuchen und bei der Gelegenheit auch frei das ganze Land sehen.
Doch glaube ich, darf nicht vergessen werden, daß das brennende Interesse in der arabischen Welt für Jerusalem erst Ausdruck gefunden hat, nachdem die Stadt wieder vereinigt wurde. Bis dahin war es eine sehr vernachlässigte Stadt, um die man sich kaum gekümmert hat und die man kaum besuchte.
Für die Lösung der verschiedenen Aufgaben in Jerusalem haben wir nach 1967 zwei Institutionen geschaffen, wovon eine das »Jerusalem Komitee« ist. Etwa achtzig Persönlichkeiten aus der ganzen Welt, Städteplaner, Architekten, Geistliche, Soziologen, Schriftsteller, Künstler und Philosophen, wurden eingeladen, sich daran zu beteiligen.
Das Jerusalem Komitee steht uns seit seiner Gründung beratend, ohne gesetzliche Handhabe, zur Seite. Es trifft sich ungefähr alle zwei Jahre in Jerusalem, um sich sowohl das Stadtbild, unsere urbanen, wie auch unsere kulturellen Pläne anzuschauen und zu sehen, was wir tun, um Menschen einander näherzubringen. Eine der größten, schönsten und wichtigsten Ideen, die das Komitee uns vorgeschlagen hat, vielleicht sogar eine der wichtigsten Ideen vom städtebaulichen Standpunkt aus überhaupt war, einen Grüngürtel um die Altstadt anzulegen, damit die moderne Stadt nicht die Altstadt erdrücke.
Wir haben uns in einer Zeit rasend steigender Bodenpreise, in der man nirgendwo mehr einen Bois de Boulogne, einen Hyde Park oder einen Central Park schaffen würde - sie sind alle vor 150 oder 250 Jahren angelegt worden - darauf konzentriert, einen Park von fast 2,5 Millionen Quadratmetern um die Altstadt anzulegen, der heute schon langsam sichtbar wird. Und so wird dieses Juwel - das Alte Jerusalem - beschützt und hervorgehoben.
Wer es auch gesehen hat, kann bestätigen, wie wichtig, wie schön der neue Park bereits ist, und wir sind natürlich stolz darauf. Ohne die Empfehlung des Jerusalem Komitees, um nur dieses eine Beispiel zu geben, hätten wir es nie dazu gebracht.
Die zweite Institution, die wir geschaffen haben, ist die »Jerusalem Foundation«, die mit Hilfe von Freunden aus der ganzen Welt die Restaurierung von historischen Stätten ermöglicht und die darüber hinaus - und vielleicht noch wichtiger für den Ausgleich sozialer Bedingungen zwischen Juden und Arabern - das friedliche Zusammenleben erleichtern. Da es schon Unterschiede in Religion, Sprache, kulturellen und nationalen Auffassungen und verschiedenen Patriotismen gibt, sollten nicht noch soziale Spannungen dazukommen.
Während all dieser Jahre haben wir uns aufs äußerste bemüht, die arabischen Einwohner als gleichberechtigte Bürger anzusehen. Das war nicht immer leicht. Nicht nur wegen der Unterschiede im Lebensstandard und Lebensstil, sondern auch wegen der psychologischen Hürden. Zwei Drittel der jüdischen Bevölkerung Jerusalems sind Flüchtlinge, die aus islamischen Ländern vertrieben wurden, wo sie zweit-und drittrangige Bürger waren, und ein Großteil von ihnen ist der Überzeugung, Araber verstünden nur eine Politik der Kraft. Zum anderen sind wir in den Äugender Araber Besatzer. Sie sind mißtrauisch und haben oft Angst.
Nach dem Ende des Sechs-Tage-Krieges haben wir zunächst die arabischen Bewohner Ostjerusalems mit Brot und Milch versorgt, ein spontaner Ausdruck unseres Willens zur friedlichen Koexistenz. Dann begann die Planung der Zukunft. Wir sorgten für fließendes Wasser im arabischen Stadtteil, wo bis dahin 90 Prozent der Bevölkerung zum Brunnen ging, für die Renovierung der Kanalisation, die in manchen Fällen zweitausend Jahre alt war oder meist ganz fehlte, für Schulräume, Spielplätze, Bibliotheken und die kulturelle Infrastruktur.
Was haben wir bis heute getan, um Arabern das Leben in Jerusalem leichter zu machen? Erstens haben wir ihnen im Jahre 1967 die Wahl gelassen, Jordanier zu bleiben oder Israelis zu werden. 99 Prozent blieben Jordanier, vor allem aus politischen Gründen und weil sie Verwandte in Jordanien haben und frei über die Brücken des Jordans dorthin fahren wollen. (Das ist zum Beispiel ein Recht, das ich nicht habe.) Trotzdem können sie sich als Bürger der Stadt Jerusalem unserem Gesetz nach an den Gemeindewahlen beteiligen.
Zweitens gelang es uns nach langer Diskussion mit der israelischen Regierung, durchzusetzen, daß der Lehrplan in den arabischen Schulen (und ich möchte betonen, daß es außer unseren hebräischen Schulen arabische, armenische, griechische und kirchliche Schulen gibt) derselbe ist wie heute in allen arabischen Ländern. Der Abschluß an einer Jerusalemer arabischen, städtischen Mittelschule wird in arabischen Ländern anerkannt. Die Schüler, die hier ihr Abitur gemacht haben, können arabische Universitäten besuchen, und sie tun das in großer Zahl. Darüber hinaus haben wir alle arabischen Zeugnisse anerkannt. Die Ärzte, die in Jerusalemer Spitälern arbeiten, sind an arabischen Universitäten ausgebildet worden.
Am allerwichtigsten aber ist: Wir haben die Situation am Tempelberg nicht geändert. Der Tempelberg steht unter arabisch-islamischer Administration. Trotz unerhört starken Drucks einiger israelischer Kreise gelang es uns, den Jahrhunderte alten Status quo auf dem Tempelberg zu erhalten. Es gibt Fundamentalisten, die glauben, daß wir, wenn wir den Tempel nicht in unserer Zeit bauen werden, das Kommen oder die Rückkehr des Messias aufhalten. Aber man kann den Tempel nur bauen, wenn man die Moscheen abreißt. Die Tatsache allein, daß wir es den Mohammedanern ermöglichen, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es wollen, und, besonders, ihnen den Tempelberg überlassen, ist einer der Gründe für die Ruhe, die in Jerusalem herrscht und die wir und andere so sehr in unserer Stadt schätzen. Davon bin ich überzeugt.
Wenn die verschiedenen christlichen Kirchen, besonders diejenigen, die Heilige Plätze seit Jahrhunderten betreuen, zu einem Einvernehmen kämen, könnte man auch in Jerusalem zu einem Konkordat kommen wie im Jahre 1927 in Rom. Wir von unserer Seite wären sicherlich bereit dazu.
Jerusalem ist die einzige Stadt im Nahen Osten mit einer freien arabischen Presse. Vier Tageszeitungen, die vom Ausland finanziert werden, können jeden Tag frei ihre Meinung äußern, selbst, daß der Staat Israel verschwinden soll.
Die arabische Bevölkerung von Jerusalem hat sich in den letzten achtzehn Jahren verdoppelt, nachdem sie in den neunzehn Jahren jordanischer Herrschaft überhaupt nicht gewachsen war. Es gab damals keine wirtschaftlichen Möglichkeiten, und viele wanderten aus. Jetzt gibt es eine arabische Hochkonjunktur im Bauwesen. Jeden Monat werden so viele Baulizenzen an Araber erteilt wie im ganzen Jahr 1966.
Obwohl sich sehr viele Araber in israelischen Krankenhäusern behandeln lassen, auch Patienten aus arabischen Ländern, wollten wir doch eine Institution ins Leben rufen, die ausschließlich für arabische Patienten da ist.
So entstand eines der wichtigsten Projekte der »Jerusalem Foundation«: das Arabische Gesundheitszentrum in Shekh Jerrach. Es ist eine hochmoderne Poliklinik, die dem internationalen medizinischen Standard entspricht. Dieses im Ostteil Jerusalems gelegene Gesundheitszentrum konnte vor zweieinhalb Jahren eröffnet werden. Zu seinem Bau haben Institutionen und Persönlichkeiten aus aller Welt - größtenteils aus der Bundesrepublik - beigetragen. Nach anfänglichem Zögern und Anlaufschwierigkeiten hat das Zentrum die Sympathie der arabischen Bevölkerung gewonnen. Täglich werden rund 600 Patienten behandelt. Wir sind stolz und glücklich über dieses wichtige Projekt, das ausgezeichnet funktioniert. Männliche Patienten werden - arabischer Tradition entsprechend - von Pflegern, weibliche von Krankenschwestern betreut. Der Direktor des Zentrums ist ein arabischer Arzt aus Jerusalem, der in Ägypten studiert hat. Die Angehörigen dürfen den Kranken begleiten und umsorgen. Das Essen wird auf arabische Weise zubereitet.
Trotz alledem haben viele Araber das Gefühl, unter einer Besatzungsmacht zu leben, und die Tatsache, daß viele Israelis sehr oft für die Rechte der Araber einstehen, daß vor den Schranken der israelischen Gerichte alle dieselben Rechte besitzen und daß ein Großteil der Presse die Interessen der arabischen Bevölkerung vertritt, reicht offenbar nicht aus, dieses Gefühl zu beseitigen. Jerusalem hätte ein Belfast werden können. Wir wissen, daß wir in Jerusalem, um den Frieden und die Gerechtigkeit zu erhalten, jenseits konventioneller Formeln der nationalen Souveränität, jenseits der Ängste und der Vorurteile, die Völker in Kriege treiben, nach neuen Formen der Freizügigkeit und der politischen Organisation suchen müssen.
Das emotionale Moment ist nicht selten stärker und dominierender als das verstandesmäßige. Wie wäre es sonst zu erklären, daß es weder 1948 beim kompromißreichen UNO-Teilungsplan für Palästina, noch 1967 nach dem Sechs-Tage-Krieg zu einem arabischen Friedenskonzept gekommen ist?
Es gibt nur eine Erklärung für diesen betrüblichen Tatbestand: Fehlender Wille auf der arabischen Seite, Israels Existenz anzuerkennen. Mit Ausnahme Ägyptens hat sich bis heute kein arabischer Staat zu dieser Anerkennung bereit gefunden.
In Israel wiederum ist es nicht leicht, Verständnis für den arabischen Standpunkt zu finden, nicht nur der vielen Kriege wegen, sondern hauptsächlich wegen des Terrors arabischer Kommandos, der sich gegen Zivilisten, nicht gegen militärische Ziele richtet. Wir werden solchen Terror nie als legitimes politisches Machtmittel anerkennen.
Ob sich die arabischen Terroristen wohl als die Nachfahren der frühmittelalterlichen Assassine sehen? Vom »Perfido Assassino« spricht Dante im 19. Gesang seines »Inferno«. Wir hatten in der Vergangenheit unseren eigenen Terror. Aber die überwältigende Mehrheit bei uns hat ihn offen und klar bekämpft.
Der Terror ist heute der vielleicht größte Feind unserer Kultur, möglicherweise von noch unmittelbarerer Bedrohung als die Atomwaffe.
Gegen den arabischen Terror gibt es keine nennenswerte arabische Opposition. Gewiß billigen nicht alle Araber die Gewaltakte gegen Zivilisten. Sie fürchten sich jedoch, ihre Meinung in der Öffentlichkeit zu äußern und ernsthafte Schritte dagegen zu unternehmen.
Wenn es unlängst - als Reaktion auf die vielen arabischen Terrorverbrechen - auch wieder zu einem jüdischen Terror gekommen ist, so ist dies zutiefst traurig und für unseren Staat und unsere Gesellschaft gefährlich. Wir erkennen das, und die Öffentlichkeit, vor allem aber die Gerichte reagieren darauf aufs schärfste. Ich möchte an das Wort von Golda Meir erinnern, die 1969, bei einer Pressekonferenz in London gesagt hat: »Wenn der Frieden kommt, werden wir vielleicht mit der Zeit den Arabern verzeihen, daß sie unsere Söhne getötet haben, aber es wird uns viel schwerer fallen, ihnen zu verzeihen, daß sie uns gezwungen haben, ihre Söhne zu töten!«
Soll die Kette von Gewalt und Gegengewalt abbrechen, so hilft nur die Einsicht, daß Juden und Araber in Frieden zusammen leben müssen. Es gibt keine Alternative zum Frieden. Das versuchen wir in Jerusalem zu zeigen.
Leicht ist es nicht, zwanzig Jahre Bürgermeister von Jerusalem zu sein. Jerusalem ist kein Schmelztiegel, hier soll jeder seine Tradition, seine Bräuche, seine Lebensweise behalten können.
Zum menschlichen Mosaik dieser einzigartigen Stadt gehören Juden, die aus 100 Ländern und Kulturkreisen zurückgewandert sind, orthodoxe und freidenkende, aus Westen und Osten. Hier leben islamische und christliche Araber, Griechen, Armenier, Äthiopier und viele andere sowie gegen vierzig christliche Denominationen.
Zwanzig Jahre sind nur ein kurzer Augenblick in einer Stadt mit einer viertausendjährigen Geschichte.
Das Amt des Bürgermeisters ist nicht nur ein Beruf sondern eine Berufung, die man erfüllen sollte, solange man es kann und solange es die Bürger wollen. Eine der wichtigsten Aufgaben heute ist nicht nur, für die Stadt zu sorgen, sondern auch gegen Fanatismus und Intoleranz zu kämpfen. Das sind Merkmale unserer Zeit. In unserem Falle muß man tief an ein humanistisches Judentum glauben, um die Kraft zu haben, für eine bessere Zukunft zu arbeiten. Aus diesem Glauben heraus versuchen wir allen auf die gleiche Weise zu dienen und mit dem gleichen Respekt zu begegnen.
Das wird nicht immer anerkannt, vor allem nicht von jenen Gruppen, die nur an sich selbst denken und die Interessen der anderen wissentlich übersehen. Es kann uns nichts daran hindern, unsere Pflicht zu tun, für alle Jerusalemer Einwohner da zu sein, im Sinne der verankerten Grundlehre, Drittes Buch Moses, Kapitel 19, Vers 18: »Liebe deinen Nächsten als deinesgleichen«.
Der Glaube an die Werte des Humanismus muß in einer Zeit wachsender Anarchie auf der Welt mehr denn je gefestigt werden. »Liebe deinen Nächsten als deinesgleichen« - und der Nächste ist jeder Mensch, ungeachtet seiner Rasse, Hautfarbe, Religion oder Volkszugehörigkeit. Die Menschlichkeit ist nach dem Glauben des Judentums nicht teilbar.
Um des Friedens willen sind Risiken einzugehen. Meine schwerste Stunde im Jerusalemer Gemeinderat war damals, als wir eine Nacht hindurch über ein Denkmal für die 1967 im Kampf um Jerusalem getöteten Araber debattierten. Auf Wunsch der arabischen Bevölkerung hatte ich die notwendige Baulizenz erteilt.
Es war vielleicht die schwierigste Diskussion in unserem Gemeinderat in diesen zwanzig Jahren, aber es war eine Diskussion über Toleranz und Intoleranz.
Ich habe immer geglaubt, daß Jerusalem nicht ein unüberwindliches Hindernis zum Frieden ist. Im Gegenteil, ich fühle, daß man in einer vereinten Stadt unter israelischer Souveränität leichter die Lösungen vieler Probleme finden kann - besonders derjenigen, die die Beziehungen zwischen Juden, Christen und Moslems betreffen - als in einer geteilten Stadt, auch wenn der Weg schwer ist.
Deswegen habe ich mich besonders gefreut, als König Hussein in seiner mutigen Rede vor der UNO Anfang Oktober sagte: »Man hat viel darüber gesprochen, daß die Heilige Stadt Jerusalem ein unüberwindliches Hindernis zum Frieden darstellt. Ich sage Euch, daß Jerusalem eher der Schlüssel zum Frieden ist, das Tor, durch welches die warmen Strahlen des Friedens alle Menschen der Region umhüllen werden.
Geburtsstätte der monotheistischen Religionen kann Jerusalem nur eine vereinigende Kraft für die nobelsten menschlichen Strebungen sein, für die Sehnsucht nach dem endgültigen Frieden.«
Mir tat es nur leid, daß Seine Majestät vor 1967, als alle Heiligen Stätten unter seiner Souveränität waren, nicht dieselbe Rede gehalten und nicht nach diesen Prinzipien gehandelt hat. Aber vielleicht ist seine Rede ein gutes Zeichen, daß wir jetzt dazu kommen können.
Ich will keinen falschen Eindruck erwecken. Die Stadt Jerusalem wird die Hauptstadt Israels bleiben. Der menschliche Körper kann ohne ein Bein oder ohne einen Arm leben, er kann nicht ohne sein Herz oder seine Seele leben. Jerusalem ist die Seele Israels. Und das jüdische Volk kann nicht ohne Jerusalem leben.
Durch die moderne Kommunikation sind wir eine große Telefamilie geworden. Ich glaube, daß Sie hier und die anderen westlichen europäischen Länder einen größeren Einfluß auf den Frieden haben könnten, als Sie ausüben. Wir haben manchmal - vielleicht haben wir nicht recht, aber so sehen wir es - den Eindruck, als ob Sie eigentlich nur Forderungen für den Frieden an uns stellen und nicht an die andere Seite. Das bringt uns den Frieden nicht näher, das entfernt ihn.
Für Jerusalem gilt die Verheißung des Psalmendichters im 122. Kapitel (das ich in der Buber-Rosenzweig-Übersetzung zitiere): «Erwünschet den Frieden Jerusalem: Die dich lieben, seien befriedigt! Friede sei in deiner Umwallung, Zufriedenheit in deinen Palästen!« Für die Welt gilt die Verheißung Jesajas, die vom umfassenden Völkerfrieden kündet: »Sie (die Völker) werden ihre Schwerter umschmieden in Pflüge, ihre Speere in Rebmesser. Kein Volk wird gegen das andere mehr das Schwert erheben, keines mehr das Kriegshandwerk erlernen.« Weder das Wort des Friedens für Jerusalem noch jenes für die Menschheit ist bis heute erfüllt. Ich glaube, daß wir auf dem richtigen Weg sind: Man darf manchmal kleine Schritte nicht verachten. Friedensverträge kann man nicht immer schließen, und sie sind auch nicht immer wirksam. Allen Schwierigkeiten und Rückschlägen zum Trotz: nicht die Feindschaft, nicht der Krieg, dürfen das letzte Wort behalten, sondern die Aussöhnung und der Frieden.
Um dieser meiner tiefen Überzeugung treu zu bleiben, habe ich mich entschlossen, den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels der »Jerusalem Foundation« zu spenden.
Dieser Preis soll dazu dienen, einen Fonds zu gründen, der die Begegnung zwischen der arabischen und jüdischen Jugend von Jerusalem fördert, denn nur durch gegenseitiges Kennenlernen wird die Grundlage für künftige Toleranz geschaffen.
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Teddy Kollek
Dankesrede des Preisträgers
Chronik des Jahres 1985
+++ Das Jahr 1985 beginnt in der Bundesrepublik mit dem Start des ersten privaten Fernsehprogramms »sat 1«, das sich ausschließlich aus Werbung finanziert. Am Ende des Jahres beginnt die TV-Serie Lindenstraße, die heute (nach mehr als 1240 Sendungen) noch immer läuft. +++ Der Iran greift im März die irakische Provinzhauptstadt Basra an, worauf der Irak mit dem Beschuss iranischer Städte beginnt: Der Erste Golfkrieg verschärft sich. +++ Im gleichen Monat entscheidet sich das ZK der KPdSU für den 54-jährigen Michail Gorbatschow als neuen Generalsekretär. Der als Reformer geltende Gorbatschow kündigt in seiner Antrittsrede tiefgreifende Wirtschaftsreformen an. +++
In Stuttgart-Stammheim werden Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt im April wegen ihrer Mitgliedschaft in der RAF und ihrer Beteiligung an mehreren Morden und Mordversuchen zu lebenslanger Haft verurteilt. +++ Der Bundestag billigt das Gesetz gegen die sogenannte Auschwitz-Lüge, wonach die Leugnung von NS-Gewalttaten künftig von Amts wegen als Beleidigung verfolgt wird. +++ Bundespräsident Richard von Weizsäcker hält im Mai eine auch international viel beachtete Gedenkrede anlässlich des 40. Jahrestags der deutschen Kapitulation. +++ Beim Endspiel des Fußball-Europacups zwischen FC Liverpool und Juventus Turin kommen Ende Mai 39 Menschen ums Leben, als randalierende englische Hooligans eine Massenpanik auslösen. +++ Im Juli wird im neuseeländischen Hafen Auckland ein Schiff der Umweltorganisation Greenpeace versenkt, das sich auf dem Weg zum Mururoa-Atoll befand, um gegen französische Atombomben-versuche zu demonstrieren. Ein Fotograf kommt dabei ums Leben. +++ Nach mehrwöchigen Koalitionsverhandlungen kommt es im Oktober in Hessen zu einer Einigung zwischen SPD und Grünen. Joschka Fischer wird – in Turnschuhen – als hessischer Minister für Umwelt und Energie vereidigt. +++ Im November gibt der Intendant der Städtischen Bühnen in Frankfurt am Main dem Druck der Öffentlichkeit nach und setzt das Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod" von Rainer Werner Fassbinder wegen des Vorwurfs des Antisemitismus ab. +++
Biographie Teddy Kollek
Teddy Kollek, geboren am 27. Mai 1911 in Nagyvaszony / Ungarn und in Wien aufgewachsen, engagiert sich schon als Elfjähriger in der zionistischen Jugendbewegung »T’Khelet-Lavan«. Durch eine landwirtschaftliche Ausbildung bereitet er sich früh auf die Auswanderung nach Palästina vor, für die die Familie 1935 die notwendigen Papiere erhält.
Ab 1938 arbeitet Kollek in der Organisation »He-Haluz« und organisiert von London aus Rettungsaktionen für Juden in Europa. 1939 gelingt es ihm, bei Adolf Eichmann die Freilassung von 3000 Juden zu erwirken.
1940 wird Kollek Mitarbeiter in der politischen Abteilung der Jewish Agency und zehn Jahre später Botschafter Israels in den USA. 1952 wird er zum Generaldirektor (Staatssekretär) des israelischen Premierministers Ben Gurion ernannt.
1965 lässt er sich als Kandidat der »RAFI«-Partei zur Bürgermeisterwahl in Jerusalem aufstellen und gewinnt überraschend die Abstimmung. Kollek meistert das schwierige Amt mit viel Fingerspitzengefühl und Pragmatismus, er vertritt eine Politik der Mäßigung gegenüber den Arabern und sucht stets den Dialog. 1993 verliert er sein Bürgermeisteramt an den »Likud«-Kandidaten Ehud Olmert, seitdem widmet sich Kollek verstärkt der von ihm gegründeten »Jerusalem Foundation«.
Teddy Kollek stirbt am 2. Januar 2007 im Alter von 95 Jahren.
Auszeichnungen
2001 Ernennung zum Ehrenbürger der Stadt Wien
1998 Großes Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband der Bundesrepublik Deutschland
1997 Toleranzpreis der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Salzburg
1996 Toleranzpreis der Stadt Münster
1996 B’nai B’rith Goldmedaille
1995 Associate Knight of the Order of St. John
1994 Variety-Humanitäts-Preis
1994 UN Menschenrechte Auszeichnung (UN Human Rights Award)
1993 Bayerischer Verdienstorden
1991 Ehrenring der Stadt Wien
1990 S.C. Davis Preis, Ethics and Public Center, Washington D.C.
1990 Moses-Mendelssohn-Preis, Berliner Senat
1990 Ben-Gurion-Preis
1989 Jabotinsky-Preis, New York
1989 Die amerikanische Freiheits-Medaille, Amerikanisches Jüdisches Komitee
1989 Bambi, Deutschland
1988 Israel-Preis
1988 Four Freedoms Award, in der Kategorie Religionsfreiheit, Roosevelt Stichting, Niederlande
1987 Umweltschutz Preis der Knesset
1987 Alon Preis, Midrasha L´Moreshet Alon
1986 Joseph Preis der „Anti-Defamation“-Liga
1986 Albert-Einstein-„Torch of Hope“-Friedenspreis
1985 Rothschild Medaille
1985 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
1976 Romano-Guardini-Preis, Katholische Akademie München
1974 Henrietta Szold Preis, Hadassah-Organisation
1971 Bublick Preis, Hebräische Universität
Bibliographie
Jerusalem und ich. Memoiren
Mit Dov Goldstein. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1998, ISBN 3-596-13864-7
Ein Leben für Jerusalem
Mit Amos Kollek. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1992, ISBN 3-596-11269-9