Annemarie Schimmel
Friedenspreisträgerin 1995
Dankesrede
Ich bin zu zutiefst dankbar für Ihre wegweisende Rede, durch die Sie mich geehrt haben und in der Sie die Wichtigkeit der Toleranz und des Verständnisses fremder Kulturen für unsere Politik so stark betont haben! Als ich mit größter Überraschung und Freude erfuhr, daß mir der Friedenspreis zugesprochen wurde, ahnte wohl niemand, daß sich in den darauffolgenden Monaten eine Kampagne von solcher Heftigkeit entwickelte, daß mir mein Lebenswerk, das ich der Verständigung zwischen Ost und West geweiht hatte, zerstört schien. Doch ich habe nicht auf den Preis verzichtet, weil ich mich den Orientalisten, die sich um den stillen Dialog bemühen, verpflichtet fühle, ebenso wie allen Menschen guten Willens in der islamischen Welt, und dem Werk der Verständigung, für das ich ein halbes Jahrhundert gelebt habe. Ich hoffe, daß diejenigen, die mich angegriffen haben, ohne mich oder mein Werk zu kennen, nie ähnliche Seelenqual zu durchleben haben.
Ich habe dies gelernt: Die Methoden von Wissenschaft und Dichtung sind eines, die des Journalismus und der Politik ein anderes. Doch beide Seiten sind sich einig, welch zentrale Rolle dem Wort, dem freien Wort in unserer Gesellschaft, in unserem Leben zukommt. Ich glaube, ich habe in den letzten Monaten oft genug gesagt, daß ich die unheilvolle Fatwa gegen Salman Rushdie ablehne und auf meine Art helfen werde, für die Freiheit des Wortes einzustehen, des Wortes, über dessen befreiende Rolle mein pakistanischer Dichterfreund Faiz in den fünfziger Jahren aus dem Gefängnis schrieb:
»Sprich: denn frei ist deine Lippe noch!
Sprich: denn dein ist deine Zunge noch!
Dir gehören Knochen noch und Leib.
Sprich: denn dein ist deine Seele noch!
Sieh der Schmiede Flammen lodern!
Wie das Eisen röter wird, wie der Schlösser
Maul
sich öffnet, jeder Kettenring erklirrt...
Sprich! Denn wenig Zeit bedeutet viel vor des Körpers und der Zungen Tod! Sprich! Die Wahrheit ist lebendig noch! Sprich, was sie zu sprechen dir gebot!«
Und das führt mich zum eigentlichen Thema meiner Rede.
Manchmal dachte ich, wenn Friedrich Rückert heute lebte, hätte er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verdient. Denn er, dessen Motto war: »Weltpoesie allein ist Weltversöhnung«, und der in seinem Leben Tausende von meisterhaften poetischen Übertragungen aus Dutzenden von Sprachen verfaßte, wußte, daß die Poesie, jene »Muttersprache des Menschengeschlechtes« die Völker verbindet als Bestandteil aller Kulturen.
Die Zeit aber, da Rückert von der Poesie als Medium der Weltversöhnung, und das heißt auch des Friedens, sprach, hatte ein ganz anderes Verhältnis zur nicht-abendländischen Welt als wir. Mit Erstaunen und Entsetzen hatte das Abendland im achten und neunten Jahrhundert die Eroberungen der Muslime im Mittelmeerraum verfolgt, hatte aber auch die Grundlagen der heutigen Naturwissenschaft von den Arabern über das jahrhundertelang von ihnen beherrschte Andalusien übernommen. Medizinische Werke wie die von Rhazes und Avicenna galten bis zum Beginn der Neuzeit in Europa als Standardwerke; die Schriften des Averroes befruchteten theologische Diskussionen und wiesen den Weg zur Aufklärung. Vor allem die Übersetzer von Toledo, wo Juden, Christen und Muslime friedlich zusammenlebten, ließen arabische Wissenschaft zum Besitz des Abendlandes werden. Und der Katalane Ramon Lull lehrte den Respekt der Religionen voreinander, der über Diskussionen hinaus zur Erfüllung einer gemeinsamen Aufgabe, des Friedenschaffens, führen soll.
Der Belagerung Wiens durch die Türken 1529 folgten blutrünstige Türkendramen.
Zur gleichen Zeit aber lernte man, durch objektive Berichte von Kaufleuten und Reisenden, eine andere Seite des Orients kennen. Die erste französische Übersetzung der Märchen aus 1001 Nacht zu Beginn des 18. Jahrhunderts gaukelte Europa einen Orient der Feen, Dschinnen und sinnlicher Verlockungen vor, aus dem Generationen von Dichtern, Malern und Musikern ihre Inspiration schöpften. Gleichzeitig verhalf die Aufklärung der Arabistik und Islamkunde ebenso wie der Indologie zu einer selbständigen Stellung in der Wissenschaftsgeschichte; erste wissenschaftliche Arbeiten und Übersetzungen gaben den Anstoß zur orientalisierenden Dichtung im Deutschen, an deren Spitze Goethe steht, dessen »West-Östlicher Divan« mit seinen »Noten und Abhandlungen« eine bis heute unübertroffene Analyse islamischer Kultur darstellt.
Aber als Rückert 1820, ein Jahr nach der Veröffentlichung des »Divans«, seine ersten von persischer Poesie inspirierten Gedichte veröffentlichte, war es noch immer so, daß die Bürger sich gemütlich anhörten,
»wenn weit hinten in der Türkei die Völker aufeinander schlagen ...«
Wir aber werden täglich durch die Massenmedien nicht nur unterrichtet, sondern unausweichlich eingebunden in ein Bild der Welt, das uns oftmals mit Schrecken, immer aber mit Sorgen erfüllt. Können wir überhaupt noch ein positives Verhältnis zu der islamischen Kultur haben, der wir so viel verdanken, die aber den meisten Europäern fremd erscheint und der immer wieder vorgehalten wird, sie habe keine Reformation, keine Aufklärung gehabt und sei deshalb, wie Jacob Burckhardt vor einem Jahrhundert mit vernichtender Ablehnung sagte, »unfähig zur Wandlung«? Vergessen aber dabei die meisten nicht, daß die islamische Welt zwischen Westafrika und Indonesien höchst verschiedene kulturelle Ausdrucksformen hat, wenn sie auch im festen Glauben an Gott, den Einen und Einzigen, und in der Anerkennung Muhammads als des letzten Propheten eine gemeinsame Grundlage besitzt?
Doch in einer Zeit der Informationsflut, in der Nachrichten uns plakativ überströmen, scheint es fast unmöglich, feiner zu differenzieren und die zarteren Zwischentöne, die positiven Aspekte des gelebten Islam zu erkennen.
»Der Mensch ist der Feind dessen, was er nicht kennt!« heißt es nicht nur im griechischen, sondern auch im arabischen Sprichwort. Maulana Rumi, der große mystische Dichter des 13. Jahrhunderts, erzählt in seinem persischen Prosawerk, wie ein kleiner Junge seiner Mutter klagt, daß ihm immer wieder eine schwarze Gestalt erscheine und ihn erschrecke; die Mutter rät ihm schließlich, das furchterregende Wesen anzureden; durch die Art, wie es antworte, könne man seinen Charakter erkennen und sich entsprechend verhalten. Denn es ist das Wort, das, wie die persischen Dichter immer wiederholen, durch seinen »Duft« den Charakter des Sprechenden verrät, so wie ein mit Knoblauch gefüllter Mandelkuchen seinen Inhalt verrät, selbst wenn er äußerlich appetitlich aussieht.
»Ein gutes Wort ist wie ein guter Baum«, heißt es im Koran (Sura 14,24), und in den meisten Religionen gilt das Wort als schöpferische Macht und ist Träger der Offenbarung - sei es als fleischgewordenes Wort Gottes im Christentum, sei es als buchgewordenes Wort Gottes im Islam. Das Wort ist das dem Menschen anvertraute Gut, das er hüten soll und das er nicht, wie es so oft geschieht, abschwächen, verfälschen, zu Tode reden darf: denn es besitzt Kräfte, die wir nicht abschätzen können. In dieser Macht des Wortes liegt auch die außerordentliche Verantwortung des Dichters und, vielleicht noch mehr, des Übersetzers, der durch eine einzige falsche Nuance zu gefährlichen Mißverständnissen Anlaß geben kann.
Die alten Araber glaubten, daß Dichterworte gleich Pfeilen wirkten, und noch während des Golfkrieges benutzte der irakische Diktator Saddam Hussein Dichter, um seinen Siegeswillen zu verkünden. Die Rolle gebundener Rede ist bis heute in der islamischen Kultur unendlich viel größer als bei uns; werden wir von Musik angerührt, so der Muslim viel eher vom Klang der Sprache.
Ich habe Istanbul Winkel um Winkel durch die Gedichte kennengelernt, die türkische Dichter seit fünf Jahrhunderten über diese zauberhafte Stadt geschrieben haben; habe die Kultur Pakistans durch die Verse lieben gelernt, die dort in allen Provinzen widerhallten, und als einem meiner Harvard-Studenten das Unglück widerfuhr, zu den amerikanischen Geiseln in Teheran zu gehören, änderte sich die Haltung seiner Wächter, als er persische Gedichte (Rumi, Hafis, Iqbal) rezitierte; hier gab es plötzlich - zunächst für einen Moment - eine gemeinsame Sprache, die auch ideologische Gegensätze zu überbrücken half.
Ich neige dazu, Herders Worten beizustimmen: »Aus der Poesie lernen wir Zeiten und Nationen gewiß tiefer kennen als aus dem täuschenden trostlosen Wege der politischen und Kriegsgeschichte.«
Die langen Klageballaden, die im Indien des 19. Jahrhunderts von Urdu-Dichtern zur Erinnerung an das Martyrium des Prophetenenkels Husain gesungen wurden, dienten auch dazu, in verschlüsselter Form die britische Kolonialherrschaft zu kritisieren, in Worten freilich, die wir erst dekodieren müssen, um ihre politische Brisanz zu begreifen. Durch die Jahrhunderte haben Dichter über Exil und Kerker geklagt, und bis heute bildet die Dichtung eine Nische, in die sich die Menschen unter autoritären Regierungen zurückziehen können, um in Stille an der Veränderung des kulturellen Klimas zu wirken.
Hermann Hesse, dessen »Morgenlandfahrt« uns allen vertraut ist, sagte in seiner Rede zum Friedenspreis 1955: »Sache des Dichters ist es ja nicht, sich irgendeiner aktuellen Wirklichkeit anzupassen und sie zu verherrlichen, sondern über sie hinweg die Möglichkeit des Schönen, der Liebe und des Friedens zu zeigen.«
Meinte nicht der libanesische Dichter Adonis das gleiche, als er inmitten der Schrecken des Bürgerkrieges schrieb:
»Nimm eine Rose, breite sie aus als Kissen
über ein Kleines
wird dich die Schwäche verzehren
in düsterem Schmutz
nehmen dich Bomben die schweren in ihren
Besitz
über ein Kleines
Nimm eine Rose und nenne sie Lieder
und singe sie für die Welt.«
Die spätere Poesie der islamischen Völker ist weitgehend geprägt von der Mystik. Aber man sollte nicht, wie es so oft geschieht. Mystik gleichsetzen mit Obskurantismus, mit Flucht vor einer gewissen »Realität« oder als etwas, was für uns, die wir durch die Aufklärung gegangen sind, keinerlei Sinn und Wert mehr hat. Viele der großen mystischen Denker und Dichter waren Rebellen gegen das, was sie als Unrecht empfanden, gegen einen korrupten Staat, gegen haarspaltende Rechtsgelehrte, die, wie der große Denker al-Ghazzali im elften Jahrhundert in seiner Autobiographie schreibt, »zwar alle Einzelheiten des Scheidungsrechtes kannten, aber nichts von der lebendigen Gegenwart Gottes wußten«. Eine solche Haltung von Mystikern ist aus allen religiösen Traditionen bezeugt: für christliche Mystiker und Mystikerinnen ebenso wie für die ostjüdischen Chassidim, wie Martin Buber gezeigt hat. Diese Menschen gelangten gerade durch die Betonung der inneren Werte zu einer oft schneidenden Kritik der Gesellschaft und wurden zu Vorkämpfern für soziale Gerechtigkeit.
Die Geschichte des Islams kennt zahlreiche Namen solcher Mystiker, deren Leben sich in der Verwirklichung ihrer Gottes- und Menschenliebe erfüllte. Der größte unter ihnen ist al-Halladsch, der teils wegen seiner kühnen religiösen Aussprüche, teils aber wegen seiner politischen Aktivität 922 in Bagdad hingerichtet wurde. Bis heute ist er für die Muslime eine Symbolfigur, gehaßt von der traditionellen Orthodoxie, bewundert von denen, die in ihm den Repräsentanten reiner Gottesliebe sehen, aber auch den Vorkämpfer gegen das, was wir heute das Establishment nennen. Es war seine Parabel vom Falter, der sich in die Flamme stürzt, um dort im »Stirb und werde« neues Leben zu finden, die Goethe zu seinem Gedicht »Selige Sehnsucht« inspirierte. Die Apotheose des »Märtyrers der Gottesliebe«, dessen Name in der progressiven Dichtung der islamischen Länder immer wieder beschworen wird, ist die Szene in Iqbals persischem Epos »Dschavidname« von 1932, in der der Märtyrer ihn warnt:
» Was ich getan, tust du auch - hüte dich!
Trägst Auferstehn zu Toten - hüte dich!«
Auferstehung nämlich aus einer verkrusteten Welt der Gesetzlichkeit, nicht durch Leugnung der menschlichen Verantwortung, sondern als Erfüllung der wahren Rolle des Menschen, von dem es im Koran heißt, daß Gott ihn geehrt (Sura 17,72) und ihm ein kostbares Gut anvertraut habe (Sura 33,72). Iqbal, der geistige Vater Pakistans, ist vielleicht das beste Beispiel für eine moderne Interpretation des Islams durch seine Poesie, die in Indien in den dreißiger Jahren in aller Munde war; denn nur durch das leicht zu memorierende dichterische Wort konnte man die weithin illiteraten Massen erreichen. Unter dem Einfluß Goethes und Rumis hat Iqbal - dessen Werke übrigens in Saudi-Arabien verboten sind - einen dynamischen Islam zu postulieren versucht. Er wußte, daß der Mensch berufen ist, die Erde Gottes im Zusammenwirken mit dem Schöpfer zu verbessern und daß er die niemals endenden Möglichkeiten, den Koran zu interpretieren, ausschöpfen müsse, um im Wechsel der Zeiten zu bestehen. Aber er lehrte auch, daß man sich bei aller Bewunderung für den und der selbstverständlichen Teilnahme am technologischen Fortschritt niemals einseitig auf den Intellekt verlassen dürfe. In einem zentralen Gedicht seiner »Botschaft des Ostens« (seiner Antwort auf Goethes »Divan«) sagt er, daß »Wissenschaft und Liebe«, kritische Analyse und liebende Synthese, zusammenwirken müssen, um positive Werte für die Zukunft zu schaffen.
Damit berühren wir einen Punkt, der mir immer wichtiger erscheint, nämlich das Problem des liebevollen Verstehens fremder Kulturen, wenngleich das Wort »Verstehen« heute mit dem Makel behaftet zu sein scheint, daß es einem kritiklosen Verzeihen gleichgesetzt wird. Echtes Verstehen erwächst aber aus der Kenntnis historischer Tatsachen und Entwicklungen; doch solche Kenntnis fehlt heute vielen.
Von Augustinus stammt das Wort »Res tantum cognoscitur quantum diligitur« (»Man versteht etwas nur so weit, wie man es liebt«). Und unsere mittelalterlichen Theologen wußten, daß »Liebe das Auge des Intellektes« ist. Nun kann leicht gesagt werden, daß solche Liebe blind macht. Aber ich glaube, daß tiefe Liebe zugleich die Augen öffnet; man sieht nämlich die Fehler, die Sünden, die ein geliebtes Wesen begeht, mit tieferem Kummer als die eines Unbekannten. Wenn wir, die wir unser Leben damit verbracht haben, die Welt des Islams in ihrer Vielfalt zu erforschen und ihre positiven Seiten einer Öffentlichkeit vorzustellen, die kaum Ahnung von dieser Welt hat, dann ist es für uns ein um so größerer Schock, die Entwicklungen zu sehen, die sich während der letzten Jahrzehnte in Teilen der islamischen Welt vollzogen haben.
In einer Kultur, deren traditioneller Gruß salam »Frieden« heißt (wie das hebräische schalom), findet zur Zeit eine erschreckende Verengung und Verhärtung dogmatischer und legalistischer Positionen statt. Mochte man anfangs noch glauben, daß es sich dabei um Versuche handelte, sich gegen den wachsenden Einfluß des Westens abzuschotten, um sicher zu sein, daß man dem vom Propheten Muhammad vorgezeichneten Weg so getreulich wie möglich folgte, so sieht es jetzt anders aus. Wir stehen weithin einem Ausdruck reiner Machtpolitik gegenüber. Ideologien, die sich des Islams als eines Schlagwortes bedienen und mit seinen religiösen Grundlagen kaum noch etwas gemein haben.
Ich jedenfalls habe weder im Koran noch in der Tradition irgend etwas gefunden, was Terrorismus oder Geiselnahme befehle oder auch nur gestatte. Die Goldene Regel ist ein wichtiger Bestandteil islamischer Ethik. Kein denkender Mensch wird terroristische Akte, in welchem Winkel der Erde und aus welcher Weltanschauung sie geschehen, gutheißen. Und niemand - so glaube ich - wäre glücklicher als wir Orientalisten, wenn Todesurteile oder Gefängnisstrafen für Personen abweichender Meinung, für Kritiker abgeschafft würden, damit wir endlich wieder zu einem Dialog kommen könnten. Viele der radikalen Fundamentalisten scheinen zu vergessen, daß der Koran mahnt »la ikraha fi'd-din«, »Kein Zwang im Glauben« (Sura 2,257) und daß der Prophet davor warnte, jemanden zum kafir, zum »Ungläubigen«, zu erklären. Sie versuchen, in der entwurzelten, unter Arbeitslosigkeit leidenden Jugend Anhänger zu finden, die, mit wenigen schlagwortartigen Formeln ausgerüstet, allzu leicht manipuliert werden können. Aber solch ein politisch mißbrauchter Islam ist etwas ganz anderes als gelebter Islam: Er ist, wie Taher Ben Jalloun schreibt, eine Karikatur des echten Islam, »denn er steht für eine politische Doktrin, die es in der arabisch-islamischen Welt bisher nicht gab«.
Aber auch das Bild des Westens in den Medien der verschiedenen islamischen Staaten ist oft verzerrt, und auf beiden Seiten tut Aufklärung not. Merkwürdigerweise ist auch die Kenntnis der eigenen Geschichte und der Leistungen, die Muslime in anderen Teilen der islamischen Welt geschaffen haben, selbst bei liberalen Gebildeten gering, und sie sind überaus dankbar, wenn man sie behutsam an die großen Traditionen ihrer Kultur erinnert, die unter einer Kruste jahrhundertelanger Entwicklungen oft erstarrt oder vergessen zu sein scheinen, die ihnen aber - wie ich glaube - den Weg in eine moderne Zukunft weisen könnten, die ganz die ihre ist. Behutsam, sage ich, und nicht mit erhobenem Zeigefinger, was sogleich eine negative Reaktion auf vermuteten »kulturellen Kolonialismus« entzünden könnte. Ich spreche aus Erfahrungen, die ich bei meinen ungezählten Vorträgen in den verschiedenen Ländern des Orients während der letzten vierzig Jahre gemacht habe. Und in den Jahren, da ich als junge nicht-muslimische Frau an der neugegründeten Islamisch-Theologischen Fakultät in Ankara einen Lehrstuhl für Religionsgeschichte hatte (zu einer Zeit, da es kaum Lehrstühle für Frauen in Deutschland gab), hatte ich auch Kirchen- und Dogmengeschichte zu lehren. Ein wichtiges Fach, denn wir vergessen meist, welch große Rolle Jesus, der »Geist Gottes«, und seine jungfräuliche Mutter im Koran und in der Frömmigkeit spielen. Wir sollten uns gelegentlich an das Wort erinnern, das Novalis in seinem 1801 veröffentlichten Roman »Heinrich von Ofterdingen« der gefangenen Muslimin Zulima in Jerusalem in den Mund legt: »Unsere Fürsten ehrten andachtsvoll das Grab eures Heiligen, den auch wir für einen göttlichen Propheten halten, und wie schön hätte sein heiliges Grab die Wiege eines glücklichen Einverständnisses, der Anlaß ewiger wohltätiger Bündnisse werden können...«
Judentum, Christentum und Islam kennen das Bild vom eschatologischen Frieden, wenn unter gerechter Herrschaft der Löwe bei dem Lamme liegt. Aber Frieden ist nichts Statisches.
Auch die Unesco-Erklärung über »The Role of Religion in the Promotion of a Culture of Peace« (Dezember 1994) sagt: »Peace is a journey, a never ending process.« Frieden ist ein Prozeß des lebendigen Wachsens, der in jedem von uns beginnt. Für die islamischen Mystiker war die Läuterung des Selbst in ständigem Kampf gegen ihre niederen Eigenschaften der eigentliche dschihad, der »größere Kampf auf dem Wege Gottes«, und wenn ihre Seele endlich Frieden gefunden hatte, waren sie fähig, für den Frieden in der Welt zu wirken.
Man mag meinen, das Bild, das ich vom Islam zeichne, sei zu idealistisch, fern von den harten Realitäten der Politik. Aber als Religionswissenschaftlerin habe ich gelernt, daß man Ideal mit Ideal vergleichen muß. Der schwedische lutherische Bischof Tor Andrae, ein führender Islamwissenschaftler, schrieb in seiner Biographie Muhammads: »Ein religiöser Glaube hat dasselbe Recht wie jede andere ideelle Bewegung, nach dem beurteilt zu werden, was er wirklich will, nicht danach, wie menschliche Schwäche und Erbärmlichkeit das Ideal verfälscht haben.«
Mein Bild vom Islam ist entstanden nicht nur durch jahrzehntelange Beschäftigung mit den Erzeugnissen islamischer Literatur und Kunst, sondern mehr noch durch den Umgang mit muslimischen Freunden in aller Welt und aus allen Bevölkerungsschichten, die mich liebevoll in ihre Familien aufnahmen und mich mit ihrer Kultur vertraut machten. Meine Dankesschuld ihnen allen gegenüber ist groß, und ich möchte heute einen kleinen Teil davon öffentlich abstatten. Für mich sind es Menschen wie die Solinger Türkin Mevlude Gene, die trotz der schrecklichen Morde an ihrer Familie keinen Haß auf die Deutschen empfindet. Sie sind es, welche jenen toleranten Islam verkörpern, den ich jahrzehntelang kennengelernt habe. Dank gilt auch meinen Eltern, die mich in einer Atmosphäre religiöser Freiheit und Toleranz, durchdrungen von Poesie, erzogen, sowie meinen Lehrern, Kollegen und Schülern, deren jeder auf seine oder ihre Art meinen Horizont erweitert hat.
Großen Dank schulde ich dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels, der den Mut hatte, mich in den illustren Kreis der Friedenspreisträger zu wählen, wenn auch Ibn Chaldun, der große nordafrikanische Geschichtsphilosoph des 14. Jahrhunderts, in einer Kapitelüberschrift seines Werkes den Gelehrten denjenigen nennt, »der unter allen Menschen am wenigsten vertraut ist mit den Wegen der Tagespolitik«. Seine Aufgabe ist, Kulturen sich und anderen verständlich zu machen. Martin Buber hat 1953 an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß die Akzeptanz des Gegenübers die Grundlage des Dialogs sei. Das gilt auch im Verhältnis des Westens zur islamischen Welt - sosehr auch nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes der Islam zum neuen Feindbild zu werden droht. Aber mit Buber glaube ich trotz allem, daß die Völker in ein echtes Gespräch kommen können, in dem beide Partner sich respektieren, wodurch der Gegensatz zwar nicht aus der Welt geschafft, aber menschlich ausgetragen und der Überwindung zugeführt werden kann.
Mein Weg ist nicht der Weg der öffentlichen Deklaration, er ist unspektakulär, aber ich vertraue darauf,
daß das weiche Wasser in Bewegung
mit der Zeit den harten Stein besiegt.
Die Worte, die der Herr Bundespräsident in seiner Laudatio gefunden hat, werden mich auf diesem Weg stärken.
Und mit der Bitte um Kraft, zum Frieden beizutragen, danke ich zuerst und zuletzt dem, von dem Goethe im »West-Östlichen Divan« sagt:
»Gottes ist der Orient,
Gottes ist der Okzident,
Nord und südliches Gelände
liegt im Frieden seiner Hände.
Er, der einzige Gerechte,
will für jedermann das Rechte,
Sei von seinen hundert Namen
dieser hochgelobet. Amen.«
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