Der Stiftungsrat für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wählt den Religionsphilosophen Romano Guardini zum Träger des Friedenspreises 1952. Die Verleihung findet am Sonntag, 24. September 1952, in der Paulskirche statt. Die Laudatio hält der Bürgermeister West-Berlins, Ernst Reuter.
Begründung der Jury
Im Namen der deutschen Verleger und Buchhändler verleihen wir Herrn Professor Romano Guardini den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Dem Menschen und Schriftsteller Romano Guardini bezeugen wir damit unseren Dank und unsere Achtung dafür, daß er in einem reichen Leben ein Werk geschaffen hat, das der Wahrheitsforschung und der Formung des Menschen diente. Damit hat er die friedliche Gesinnung einer echten humanitas über alle Spaltung der Nationen, Konfessionen und Klassen hinaus gefördert. Unbeirrt klingt seine Stimme durch die geschichtlichen Wirren unserer Zeit denen, die hören wollen. Sein Werk hat stets dem Frieden, der Verständigung unter den Menschen und ihrer Versöhnung gedient.
Auch mit dieser Verleihung des Friedenspreises bekundet der deutsche Buchhandel seinen festen Willen, mit allen Kräften an der Erhaltung des Friedens und der Freiheit aller Völker der Welt mitzuarbeiten.
Reden
Romano Guardinis heiteres und ernstes Antlitz ist von diesem Frieden geprägt, vom Frieden des Gesprächs mit den Menschen, in dem es um die Wahrheit geht.
Josef Knecht - Grußwort des Vorstehers
Josef Knecht
Die Wahrheit und der Friede
Grußwort des Vorstehers
Namens des Börsenvereins Deutscher Verleger- und Buchhändler-Verbände heiße ich Sie herzlich willkommen. Ich habe ein Wort des Dankes zu sagen: zunächst dem Herrn Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt, Herrn Dr. Kolb. Was der deutsche Buchhandel in Frankfurt a. M. geschaffen hat und was er noch schaffen wird, wäre nicht möglich ohne diese sorgende, ich möchte beinahe liebende Obhut sagen, die uns die Stadt Frankfurt gibt, und ich weiß aus vielen Unterredungen mit Herrn Dr. Kolb, daß wir in ihm unseren besten Freund in Frankfurt haben. Ich möchte also eingangs dieser Kundgebung ihm danken, daß er uns nicht nur diesen schönen Raum, sondern daß er uns auch in Frankfurt unsere Heimat für den westdeutschen und Westberliner Buchhandel gegeben hat. Der zweite herzliche Dank und der Willkommensgruß gilt dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Herrn Prof. Dr. Reuter.
Sehen Sie, Herr Prof. Reuter, das sind die Herzen, die nicht nur aus dieser Versammlung, sondern die aus dem ganzen westdeutschen Land Berlin zuschlagen, die entgegenschlagen; und wir haben ja etwas gespürt im April, als der Buchhandel zusammen mit den deutschen Schriftstellerverbänden damals diese Kundgebung für die Freiheit des deutschen Geistes in Berlin veranstaltete. Wir haben es gespürt, daß da ein Band geflochten ist, das sich in dieser Stunde neu knüpft, neu knüpfen möge, und das fest ist.
Es gilt mein Gruß allen den Kämpfern für die Freiheit in Westberlin, denen wir im Herzen zugetan sind, und ich bedanke mich herzlich, daß Sie zu uns gekommen sind und daß Sie die Synthese zwischen Berlin und Westdeutschland, daß Sie die Ehrung des Mannes, der ein langes Leben in Berlin gewirkt hat, vornehmen. Dafür möchte ich mich wirklich herzlich bedanken. Und der besondere Gruß gilt naturgemäß Herrn Prof. Dr. Romano Guardini. Ich werde versuchen, mit den schwachen Kräften, die ich habe, das Bild zu zeigen und die Frage zu beantworten, warum wir Herrn Professor Guardini den Friedenspreis zuerkannt haben. Es entspricht der historischen Gerechtigkeit, es entspricht aber auch der Stimme meines Gefühls und unserer aller Stimme, die wir im deutschen Verlag und Buchhandel arbeiten, wenn ich nun auch dem ersten Friedenspreisträger, Herrn Dr. Max Tau, der aus Oslo heute zu uns gekommen ist, einen herzlichen Willkommensgruß und einen Dankesgruß entbiete. Als im Jahre 1950, unter der geistigen Führung von Herrn Hans Schwarz, Verleger und Buchhändler sich zusammenfanden und damals Herrn Dr. Tau den ersten Friedenspreis verliehen haben, war das der Auftakt der folgenden: der Verleihung des Friedenspreises an Herrn Prof. Schweitzer und unserer heutigen Stunde. Ich sage Ihnen also, Herr Dr. Tau, herzlichen Dank und einen herzlichen Willkommensgruß.
Warum verleihen wir den Friedenspreis des deutschen Buchhandels in dieser Stunde an Professor Dr. Romano Guardini?
Darf ich, bevor ich auf diese Frage antworte, Ihnen in Erinnerung an die für die deutsche Öffentlichkeit und insbesondere für die deutschen Verleger und Buchhändler denkwürdige Stunde, da wir fast genau vor einem Jahr Herrn Prof. Dr. Albert Schweitzer mit dem Friedenspreis ehren durften, noch einmal ein kurzes Wort über den Sinn dieses Preises sagen. Ich tue es vielleicht am besten, wenn ich die Worte wiedergebe, die nunmehr in der Stiftungssatzung den Sinn und Zweck unseres Preises festhalten.
Da heißt es:
»Der Zweck der Stiftung ist die Förderung des Gedankens des Friedens und der Völkerversöhnung in der Welt. Der Friedenspreis soll in der Regel jährlich an einen Repräsentanten des geistigen Lebens verliehen werden, der in hervorragendem Maße durch persönliche Leistung und schriftstellerische Arbeit zur Verwirklichung dieses Gedankens beigetragen hat. Der Preis wird ohne Unterschied der Nation, der Rasse und des Bekenntnisses verliehen.« Er besteht in einer Urkunde in künstlerischer Ausfertigung und in einer Geldsumme, die, wie im Vorjahr, auch 1952 10 000 DM beträgt.
Es ist ein Akt echter Solidarität und eines wachen Verstehens dieser unserer Zielsetzungen, daß der deutsche Buchhandel in seltener Einmütigkeit auf meinen Appell, die Summe durch Stiftungen und Einzelzeichnungen zusammenzubringen, rasch und ohne Zaudern antwortete, so daß in kurzer Zeit der in Aussicht genommene Betrag bereit war. Ich darf allen Kollegen, den Verlegern und Sortimentern, den herzlichen Dank für diese Haltung ausdrücken.
Der Vorstand des Börsenvereins, der in diesem wie im letzten Jahr die Verantwortung für die Wahl des Preisträgers auf sich nahm, – von nun an wird diese Aufgabe dem Kuratorium der neu begründeten Stiftung dieses Preises zufallen – war sich der hohen Verpflichtung bewußt, die ihm durch den Namen und Rang des letztjährigen Preisträgers Albert Schweitzer auferlegt wurde. Im Bewußtsein dieser Verpflichtung haben wir unsere Wahl getroffen. Sie fiel auf den heute in München lebenden und dort an der Universität lehrenden
PROF. DR. ROMANO GUARDINI.
Und ich freue mich, Ihnen nun in dieser festlichen Stunde darlegen zu dürfen, warum wir ihm den Friedenspreis des deutschen Buchhandels zugedacht haben.
Inwiefern ist Prof. Guardini ein Mann, der durch sein Werk und durch seine Person dem Frieden gedient hat und von dem wir gewiß sind, daß er immer dem Frieden, der Verständigung und der Versöhnung dienen wird ? Überblicke ich mit Ihnen die lange Reihe der von ihm veröffentlichten Bücher – es sind wohl 68 an der Zahl – so finde ich keines, das nicht dem Frieden diente oder dient: Nicht als ob er viel über den Begriff oder den Sinn oder den politischen Gehalt des Friedens, seine Verwirklichung im politischen Raum des Volkes und der Völker geschrieben hätte. Als ob er als Mahner zu einer Friedensgesinnung und -verwirklichung aufgetreten wäre; als ob er den Frieden gepredigt hätte. Nein, wer ihn kennt, weiß, daß er kein solcher Prediger ist. Selbst nicht in seinen pädagogischen Schriften. Ich meine bei ihm gibt es keine Überredung zu etwas, vielmehr nimmt er allenfalls den Leser bei der Hand und führt ihn behutsam einer Erkenntnis entgegen, in eine Erkenntnis hinein und das will sagen in die Wahrheit hinein. Der wesentliche Inhalt dieses reichen Lebens und Forschens und Führens ist die Suche nach der Wahrheit für sich und für die, die sich ihm auf diesem Weg der Wahrheitsfindung anvertrauen – alle seine Schriften sind Bemühungen zur Wahrheit, Schritte der Wahrheit entgegen. Sein Dienst an der Wahrheit ist ein Beitrag am Dienst am Frieden.
Sie kennen das Wort: »Die Wahrheit wird Euch frei machen«; in dieser Freiheit liegt aber auch der Friede eingeschlossen, da der wirklich die Wahrheit Suchende selbstlos wird und so sich erst mit dem anderen verbindet, der gleich ihm auf der Suche der Wahrheit sich befindet. Romano Guardinis heiteres und ernstes Antlitz ist von diesem Frieden geprägt, vom Frieden des Gesprächs mit den Menschen, in dem es um die Wahrheit geht. – Ich werde versuchen, in einem kurzen Aufriß des Werkes von Guardini meine Auffassung zu vertiefen und Ihnen zu belegen.
Aber ich will Ihnen zunächst ein Wort über sein Leben sagen.
Romano Guardini ist in Verona von italienischen Eltern in Italien geboren, 1885. Aber er ist in Deutschland aufgewachsen und gebildet, in der Vorschule und im Gymnasium in Mainz und dann an den deutschen Universitäten in Tübingen, München, Berlin und Freiburg im Breisgau. Hat das nun einen Zwiespalt in sein Wesen gebracht? War er Italiener, war er Deutscher? 1911, im Alter von z6 Jahren entschied er sich: Guardini wurde durch bewußte Wahl, was er dem Geiste nach war: ein Deutscher, ein deutscher Erzieher und später ein deutscher Schriftsteller. Aber diese Wahl bedeutete für ihn keinen Widerspruch. Sie erzeugte keine Antithese und kein Ressentiment in ihm. Er schnitt das Band zur ersten Heimat nicht durch und als das deutsche Publikum auf diesen Schriftsteller mit dem italienischen Namen aufmerksam wurde, stellte man bald fest, daß er die Harmonie des romanischen Formgefühls mit dem Geiste der deutschen Innerlichkeit vereinigt hatte. Dieses Band zwischen Form und Geist wird gerade in seinem Stil, in seinem Deutsch sichtbar. Es ist ein genaues, vornehmes, elastisches Deutsch, vom Lichte des Geistes durchleuchtet.
Es mag mit diesem Friedensschluß Guardinis zwischen italienischem Erbe und seiner deutschen Wahl zusammenhängen, daß seine erste philosophische, 1917 erschienene Schrift über den Gegensatz handelt. Sie wurde 1935 wesentlich vertieft und bereichert herausgegeben mit dem sehr kennzeichnenden Untertitel »Versuche zu einer Philosophie des Lebendig-Konkreten«.
Wir sollten gerade in dieser Stunde an dieses fachphilosophische Werk erinnern. Der »Gegensatz«, so sonderbar es klingen mag, ist ja eine Erscheinungsweise des Friedens. Das Lebendig-Konkrete lebt als ein vielfältiges Gefüge von Gegensätzen. In den Erscheinungsformen des Lebens, in den Gemeinschaften der Menschen, in Familie, Staat, Volk und Völkern ist der Friede nicht eine Harmonie der Gegensatzlosigkeit, sondern nichts anderes als ein lebendiges Gefüge von Gegensätzen, aber bewältigt und geordnet durch den sittlichen Willen der Menschen.
Übrigens finden wir in der literarischen Methode Guardinis diese Lehre vom Gegensatz immer wieder unauffällig angewandt: in der Art, wie er einen Gegenstand aus seinen Gegensätzen entwickelt, wie er die Argumente setzt, wie er die lebendige Wahrheit erforscht. Seine. Arbeiten strahlen Leben und Ruhe aus, sie machen lebendig, unruhig und still. Der Lesende wird wacher und friedlicher.
Darf ich nun weiterschreitend jene großen, geistesgeschichtlichen Studien erwähnen, die seinen Namen bekannt gemacht haben weit über den Kreis seiner Fachgenossen, seiner Glaubensgenossen, ja über die Grenzen des christlichen Glaubens hinaus. Mit Dostojewskijs Werk fing es an; ich erinnere mich noch deutlich an ein Gespräch im Jahre 1928 – damals begegnete ich Herrn Prof. Guardini zum erstenmal – auf der Burg Rothenfels, in dem wir diesen Buchplan überlegten. 1932 erschien es mit dem Titel »Der Mensch und der Glaube«, 1939 erschien es neu unter dem Titel »Religiöse Gestalten in Dostojewskijs Werk«. Guardini nimmt die Welt Dostojewskijs, seine Figuren und Helden ernst, er liest aus dieser erdichteten Wirklichkeit Erkenntnisse zur religiösen Existenz ab.
1935 folgen unter dem Stichwort »Christliches Bewußtsein« Versuche über Pascal.
Guardini fügte seinen Erkenntnissen über den »Gegensatz« nun die Erkenntnisse der Unterscheidung im Christlichen zu. Unterscheidung des Glaubens an den Gott der Offenbarung von jeder Menschenweisheit, von jedem Idealismus, von jeder Weltfrömmigkeit. Hierhin gehört seine Auslegung der 2., 8. und 9. Duineser Elegie in dem Buch »Zu Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins«. Diese abgrenzenden Klärungen haben nicht dem Geiste der Trennungen und Spaltungen gedient, sondern dem Gespräch und dem Frieden.
Ich nenne hier noch die großen Arbeiten über den Tod des Sokrates, deutlich ist mir der Trost, den mir dieses großartige Buch in der Verlassenheit der letzten Kriegsmonate gab, über die Bekehrung des hl. Aurelius Augustinus, über den »Engel in Dantes Göttlicher Komödie« und über Hölderlins Weltbild und Frömmigkeit. Der Grieche Sokrates, der afrikanische Römer Augustinus, der Italiener Dante, der Franzose Pascal, der Russe Dostojewskij, der Schwabe Hölderlin, der Österreicher Rilke, wie klar und weit wird diese Summe des Geistes umspannt und in verbindender Kraft gemessen.
Ist dieses Offensein der Philosophie, der Kultur, der Dichtung, der ganzen geistigen Welt der anderen Völker gegenüber nicht ein schönes Zeichen der Friedenshaltung, die ja immer auch das Ideal der testen deutschen Autoren, Verleger und Buchhändler war?
Inzwischen war Guardini aus dem Kreis der Studier- und Schreibstube herausgetreten, er war durch seine Berliner Vorlesungen, auch durch viele Vorträge einem immer wachsenden Kreis von Menschen bekannt geworden. Alle meine Kollegen vom deutschen Verlag und Sortiment wissen, was es für den Schriftsteller und seine Wirkung bedeutet, wenn er nicht nur schreiben kann, sondern des Wortes mächtig ist. Guardini war seit 1922 Dozent, seit 1923 Professor, aber er war kein akademischer Lehrer im hergebrachten Sinne. Er trägt vor, was er erarbeitet, läßt den Hörer an den Phasen seines Denkprozesses Anteil nehmen – insofern hält er echte »Vorlesungen«, aber nicht nur vor den Studenten, sondern vor allem vor dem wachen Bürger der Welt des Geistes. Er spricht ohne Pathos, ohne Willen zum Effekt, nur mit dem Willen, die Wahrheit zu erforschen und wirken zu lassen. Und ist es nicht ein gutes Zeichen der Zeit, daß er bald der größten Hörsäle bedarf, und sie sind überfüllt. Wer sind seine Zuhörer, wie ist der Kreis seiner Leser und der Kreis der Menschen, mit denen er umgeht; es sind immer die herkömmlichen Schranken der Fakultäten und der Lebensbereiche durchbrochen: Deutsche und Ausländer, Christen und Agnostiker, Katholiken und Juden, Evangelische und Freireligiöse.
Sie stoßen sich nicht an dem Kernwerk dieses Mannes, ja, sie versuchen auch dieses sich zu erschließen. Denn man würde dem Manne, den wir heute ehren, nicht gerecht, wenn man nicht auch in aller Kürze sein theologisches und religiös pädagogisches Werk würdigte. Da ist eine Fülle von Schriften, die unter die Stichworte »Christliche und kirchliche Erneuerung, Religiöse Besinnung, Formung der Liturgie und des Gebetes, Exegese der Schrift und der Väter« fallen. Welche Kraft der kirchlichen Erneuerung ging von dem Werke: »Vom Geiste der Liturgie« aus, das 1917, ich glaube als erste Schrift Guardinis, erschien, und welch weiter Bogen wölbt sich von da bis zu dem theologischen Werk, das als Darstellung des Lebens und der Botschaft Jesu unter dem Titel »Der Herr« weltbekannt geworden ist und, wie viele andere Bücher Guardinis, in viele Sprachen übersetzt wurde und jetzt auch in der japanischen Sprache erscheint. Es ist wahr geworden, daß er auch außerhalb seiner Kirche gehört wird, auch wenn er innerkirchlich schreibt. Er ist eben keiner Nebenabsicht verdächtig, er denkt und schreibt in souveräner Unbefangenheit und vor ihm kommt niemand auf die Meinung, hier stelle jemand mit allzu großer Selbstsicherheit und Gerechtigkeit eine christliche Superiorität zur Schau. Aus einer Äußerung, die mir zuging, als ich zur Zeichnung für diese Friedenspreisstiftung für Prof. Guardini aufrief, hat mich besonders die eines Berufsfreundes beeindruckt, der mir sagte, eine Hauptwirkung Guardinis beruhe im Ausgleich der Gegensätze im christlichen Lager, also zwischen Protestantismus und Katholizismus, und ich glaube, das ist auch ein guter Dienst am Frieden in unserem Volk und in der Welt. War es nicht auch ein schönes Zeichen, daß die Anregung, Prof. Guardini den Friedenspreis zu verleihen, nicht aus katholischen, sondern aus evangelischen Kreisen kam? Es zeigt sich auch hier: Wenn einer auf menschlich redliche Weise nur der Wahrheit zu dienen sucht, dann findet er Zugang zu Menschen außerhalb der herkömmlich abgesteckten Grenzen.
Darf ich zum Schluß dieses Bild, das ich mich zu zeigen bemühe, noch um zwei Züge ergänzen. Wer das Wirken von Prof. Guardini seit 30 Jahren miterlebte, weiß, was er für einen großen Teil der aktiven deutschen Jugend bedeutete und bedeutet. Er wurde früh zum Freund der deutschen Jugend. Um ihn und seinen Freund Karl Neundörfer sammelte sich in Mainz eine Gruppe von höheren Schülern, von denen eine ganze Reihe für ihr ganzes Leben von dieser Begegnung geprägt wurde. 1920 stieß er in Rothenfels zum Quickborn, 1927 übernahm er die Leitung der Burg Rothenfels. Jugendführung in echtem Sinne ist nur möglich, wenn man jungen Menschen mit Achtung vor ihrer Person und ihrer Freiheit begegnet. Prof. Guardini nahm die jungen Menschen ernst. Niemals hat er sie geistig zu vergewaltigen versucht; in lebendigem Gespräch, nicht nach einem am Schreibtisch entworfenen Programm, entwickelte sich in Rothenfels eine Bildungsarbeit, die zu ihrer Zeit einzigartig war. Guardini hat auch jungen Menschen Vertrauen gezeigt. Ich erinnere mich, daß er mir, als ich in Frankfurt am Main einen Kulturschriftleiter für die Rhein-Mainische Volkszeitung suchte, im Jahre 1923 den damals 21jährigen Walter Dirks empfahl; ich brauche denen, die den journalistischen Aufstieg von Walter Dirks verfolgten, nichts zu sagen über den Weitblick und das Vertrauen, aus dem damals Prof. Guardini diese Empfehlung gab. Herrn Walter Dirks danke ich für viele Anregungen, die er mir nicht nur in einer langen Lebensarbeit, sondern auch zu dieser meiner Darstellung gegeben hat.
In den letzten Jahren hat Guardini durch zwei politische Bücher überrascht. Ich meine das »Ende der Neuzeit« und »Die Macht«. Wer seine Werke genau verfolgt hatte, fand Ansätze dazu schon in den frühesten Schriften, so in den »Briefen vom Comersee« oder in seinem Werkbrief »Der Staat in uns«. Wer die beiden erwähnten neuen Schriften liest, erfährt, daß Guardini als junger Student naturwissenschaftliche und staatswissenschaftliche Vorlesungen gehört hat. Die Auseinandersetzung mit dem Weltbild der Naturwissenschaften, mit dem Überlieferten und dem Gegenwärtigen, kehrt in seinen Schriften immer wieder. Das Politische aber hat Guardini stets brennend interessiert, so zurückhaltend er auch in seinen Äußerungen darüber war – nicht aus Verachtung des politischen Tuns oder aus Feigheit – er hat im Dritten Reich niemals eine Konzession gemacht –, sondern aus Redlichkeit, weil er es nicht für seine Sache hielt, sich einzumischen. Wenn er gelegentlich Stellung nahm, so in seiner Rede auf die Opfer der Münchener Studenten, die Geschwister Scholl und ihre Freunde – oder jüngst in seinem Vortrag über unsere Verantwortung vor dem jüdischen Problem, dann geschah es mutig und offen –, auch hier im Dienste der Wahrheit. In jenen beiden Schriften aber geht es um mehr. Um die Auseinandersetzung mit der modernen Massengesellschaft. Wäre ein Mann, der über Sokrates, Hölderlin, Rilke schreibt, nicht in der Gefahr einer intellektuellen Abneigung gegen diese neue Existenzweise des Menschen? Könnte er nicht der Gefahr des »odi profanum vulgus et arceo« erliegen? Aber dem ist nicht so. Guardini erkennt klar, daß der geschichtliche Weg zur Massengesellschaft nicht zurückgegangen werden kann. Er sieht eine menschliche Chance, wenn wir uns nicht umwenden, sondern wenn wir ja zum Ende der Neuzeit sagen, wenn wir die Welt der Masse und das gefährliche Phänomen der Macht ernst und in unsere Verantwortung nehmen: kurz, wenn wir die Tatsachen annehmen und ihnen den Frieden geben.
Soll ich noch ein Wort sagen: daß Prof. Guardini ein Mann des Buches ist, der uns Verlegern und Buchhändlern zugehört; er ist der Autor vieler und gut verkäuflicher Bücher, und es ist beinahe eine Fügung, daß am Ende der Titelliste seiner Werke ein kleines, schmales, 1952 in Basel erschienenes Buch steht, das den Titel trägt »Lob des Buches«.
Ich hoffe, daß ich nicht nur ein Bild der Persönlichkeit und des literarischen Werkes von Prof. Guardini gezeichnet habe, sondern daß ich vor Ihnen und vor der deutschen Öffentlichkeit auch den Entschluß des Vorstandes begründet habe, ihm im Jahre 1952 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels zu verleihen.
Mann und Werk bezeugen den Dienst am Frieden. Guardinis Friedenswerk ist ein großartiger Mittlerdienst. Nie im Sinne eines Kompromisses, der auf Kosten der Wahrheit geschlossen wurde, sondern stets im Sinne des Mittlers, der nicht die Wahrheit abschwächt, sondern gerade die Wahrheit herausarbeitet, um aus ihr zur Einheit und Einigkeit zu kommen.
Dieser Dienst erfordert Kraft, Anstrengung, hohe Konzentration und Sammlung, Selbstlosigkeit und Opfer. Sie, verehrter Herr Professor Guardini, werden sich vielleicht wehren, wenn ich Ihnen das sage, und Sie werden Ihr Lebenswerk als selbstverständliches Zurücktreten Ihrer Person hinter die Aufgabe der Wahrheitsforschung bezeichnen. Aber verwehren Sie uns nicht, Ihnen im Namen Ihrer Leser, der deutschen geistigen Öffentlichkeit, der deutschen Verleger und Buchhändler zu danken und Ihnen den Respekt und die Achtung vor Ihrem Werk und Ihrer Person zu bezeugen. Wir tun es, indem wir nun Herrn Prof. Reuter bitten, Ihnen den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1952 zu überreichen.
Bevor ich Ihnen aber, sehr verehrter Herr Prof. Reuter, das Wort gebe, ist es mir eine angenehme Pflicht, zwei Glückwünsche zum Ausdruck zu bringen, die mir, der eine durch ein Telegramm, der andere durch einen Brief, zugekommen sind. Herr Prof. Albert Schweitzer hatte mir geschrieben, daß er gerne in dieser Stunde bei uns wäre, und er hat zum Ausdruck gebracht, wie sehr er sich darüber freut, daß wir Herrn Prof. Guardini als Preisträger gewählt haben. In dem Augenblick, in dem ich diesen Raum betrat, wurde mir das Telegramm übergeben: »Wie gerne wäre ich mit Ihnen. Herzliche Wünsche dem Träger des Friedenspreises.« Und Herr Prof. Heuss, der Bundespräsident, der ursprünglich die Absicht hatte, den Preis selbst zu überreichen und der nur durch den Trauerfall, der ihn betroffen hat, daran verhindert war, hat mir am 4. September einen Brief geschrieben, dessen Schlußsatz ich Ihnen vorlesen möchte. »Aber bevor ich mich nun für ein paar Wochen in die Stille zurückziehe, darf ich Sie mit diesen Zeilen bitten, Romano Guardini meinen aufrichtigen Glückwunsch auszusprechen. Ich weiß kaum jemanden, der so wie er als Symbol gelten könnte für die Gesinnungen, aus denen heraus der Friedenspreis des deutschen Buchhandels gestiftet wurde, und der Glückwunsch soll von ihm gleichzeitig angenommen werden als eine Huldigung für das literarisch-geistige Vermögen, für das menschliche So-Sein.«
In diesem Sinne, wie das Albert Schweitzer bestätigt und Herr Prof. Heuss ausgedrückt hat, bitte ich nun Herrn Prof. Reuter, den Friedenspreis des deutschen Buchhandels Herrn Prof. Guardini zu überreichen.
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Josef Knecht
Grußwort des Vorstehers
Wer für den Frieden kämpft, muß in dieser Welt, in der wir leben, den Realitäten ins Auge sehen. Das Medusenhaupt unserer Zeit wird uns entgegengehalten. Aber dieses todbringende Antlitz darf uns nicht lähmen, darf uns nicht versteinern, darf uns nicht zu hoffnungsloser Passivität oder verderblicher Verzweiflung führen.
Ernst Reuter - Laudatio auf Romano Guardini
Ernst Reuter
Auf den Preisträger 1952
Laudatio auf Romano Guardini
Mir ist die ehrenvolle Aufgabe zugefallen, den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels im Namen der deutschen Verleger und Buchhändler Ihnen, sehr verehrter Herr Professor Guardini, zu überreichen. Es ist ein Friedenspreis, den ich Ihnen überreichen soll. Ich übergebe Ihnen diesen Preis hier in der Paulskirche, einer Stätte, die jedem Deutschen in Erinnerung an die tragische Geschichte des deutschen Volkes im 19. Jahrhundert besonders heilig ist, und ich komme zu dieser festlichen Stunde der Überreichung aus Berlin, aus der Stadt, deren tägliches Erleben das Schicksal unseres Volkes in diesen friedlosen Nachkriegsjahren widerspiegelt, die wie eine schwere Last auf uns allen liegen, weil der Krieg zwar äußerlich beendet ist, in Wirklichkeit aber aus ihm kein neuer Friede entstanden ist.
Als die deutschen Buchhändler und Verleger einen Friedenspreis schufen, wollten sie damit zum Ausdruck bringen, daß zwischen der geistigen Arbeit der Schriftsteller, Denker, Dichter, ihrer Verleger und der Buchhändler und der tiefen Friedenssehnsucht eines Volkes, das durch ein entsetzliches Inferno hindurchgegangen ist, die lebendigste innere Verbindung besteht; sie glaubten wohl auch, als sie mich baten, Ihnen diesen Friedenspreis zu überreichen, daß der Bürgermeister Berlins diese Friedenssehnsucht unseres Volkes, die die Friedenssehnsucht der ganzen Welt ist, am tiefsten begreifen und empfinden wird. Ob es mir gegeben sein wird, ihr den Ausdruck zu verleihen, der der Tiefe dieser Empfindung entspricht, das ist eine andere Frage; aber ich empfinde mit der ganzen inneren Leidenschaft, ohne die die Führung des Berliner Freiheitskampfes niemals möglich sein würde, die tiefe Bedeutung dieses Kampfes als eines Kampfes um den Frieden.
Es scheint ein Widerspruch in dem Wort zu liegen, daß wir um den Frieden einen Kampf führen. Es scheint ein Widerspruch darin zu liegen - aber es ist kein Widerspruch. Der Friede ist, wie die Freiheit, wie alle hohen Güter, für die zu leben und sich einzusetzen die unverbrüchliche Pflicht eines jeden von uns ist, kein Geschenk des Himmels, das ohne unser Zutun, ohne unsere Hingabe, ohne unsere Opferbereitschaft, ohne unser tägliches und stündliches Kämpfen uns von den Göttern, die das Schicksal der Welt in den Händen haben, geschenkt wird. Der Friede ist - so empfinden wir es heute - das hohe, das höchste Gut der Menschheit und unseres gequälten Volkes, und dieses Gut wird uns nur zuteil werden, wenn wir selber all unsere Kraft einsetzen, um dieses Ziel zu erreichen.
Der Krieg ging vor sieben Jahren zu Ende. Die Zeit, die seitdem verflossen ist, scheint uns endlos. Als er zu Ende ging, waren, wie immer beim Abschluß eines großen, die Völker verzehrenden Ringens, die Menschen von der Hoffnung erfüllt, daß dieser Krieg, der alles in den Schatten stellte, was wir je erlebt haben, das Ende gewaltsamer Zusammenstöße bedeuten möge. Die Soldaten kehrten heim, und die Waffen wurden buchstäblich in die Ecke gestellt. Nicht nur unser Volk sollte nach dem Willen der Völker entwaffnet werden. Heute sind wir von dem neubeginnenden Rüsten der ganzen Welt umgeben, die sich anschickt, sich in ein Waffenarsenal zu verwandeln. An allen Ecken und Enden der für den Tatendrang der Großen zu klein gewordenen Erde werden neue Waffen geschmiedet, und inmitten eines trügerischen Waffenstillstandes züngeln schon die Flammen eines beginnenden kriegerischen Zusammenstoßes im fernen Asien. Mit Grausen und Schrecken denken wir alle an die Möglichkeit, daß diese Flammen unter Umständen wie ein alles verzehrender Steppenbrand sich über die ganze Erde verbreiten könnten.
Der Geschichtsschreiber, der heute beginnen würde, die Geschichte unseres 20. Jahrhunderts zu schreiben, müßte das Gefühl haben, daß es ihm wie Thukydides gehen könnte, der seine große Geschichte des Krieges zwischen Sparta und Athen in der trügerischen Periode des Zwischenfriedens begann, der doch in Wirklichkeit auch nur ein Waffenstillstand war. Er mußte die Feder neu in die Hand nehmen, als der Krieg von neuem begonnen hatte, der mit dem Fall der stolzen geistigen Hauptstadt Griechenlands endete. Aber in dem Fall dieser Hauptstadt bereitete sich auch schon der Untergang des alten Griechenlands vor. Ein Geschichtsschreiber, der heute beginnen würde, das gleiche zu tun, würde mindestens heute nicht wissen, ob er wirklich die Geschichte der kriegerischen Auseinandersetzung schon zu Ende führen kann, denn er weiß heute noch nicht, ob der Waffenstillstand unserer Tage in einen Frieden verwandelt werden kann oder ob er nur ein Übergang ist, aus dem sich eine größere Katastrophe vorbereitet.
Wir Deutschen sind seit langem zu sehr geneigt, uns nur als Objekt der geschichtlich waltenden Kräfte zu empfinden. Die tragische Geschichte unseres Volkes hat uns wenig Gelegenheit gegeben, die Ansätze zu einer echten, schöpferischen, lebendigen und politisch gestaltenden Freiheit ihrem natürlichen Ziele der echten Herrschaft des Volkes über sein eigenes Geschick zuzuführen. Wir sind in die beiden großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts ohne unser eigenes Zutun, aber nicht ohne unser eigenes Verschulden hineingeraten. Mehr denn je empfinden alle denkenden und politisch handelnden Menschen, die sich der Verantwortung für das Schicksal dieses Volkes bewußt sind, die Notwendigkeit, die großen gestaltenden und schöpferischen Kräfte unseres Volkes aufzurufen, daß sie an der Lösung der Schicksale unserer Zeit aktiven Anteil nehmen, daß sie nicht die Hände in den Schoß legen, daß sie sich nicht mit philosophischer Betrachtung begnügen, sondern daß sie in tätiger Mitarbeit den historisch bedingten, aber - wie wir meinen - keineswegs unvermeidlichen Gegensatz zwischen Tüchtigkeit, Vitalität, ökonomischer und technischer Leistungsfähigkeit unseres Volkes und seinem spürbaren Mangel an politisch gestaltender Kraft überwinden helfen.
Wie immer, so sind wir auch heute von den sogenannten Realisten, den Menschenverächtern, umgeben, die der Überzeugung sind, daß der Mensch nun einmal zum Bösen bestimmt und zum Bösen verdammt sei und daß das Schicksal unabänderlich seinen Lauf nehmen müsse. Wir sind umgeben von den Defaitisten, die die lebendigen Kräfte unseres Volkes niemals gekannt haben und niemals kennen werden und darum meinen, es habe doch alles keinen Sinn, das Verhängnis werde sowieso seinen Lauf nehmen, uns sei nur das eine übriggeblieben, uns in den Marsch der Bataillone einzufügen. Wir sind auch umgeben von den mit Zahlen, mit Kanonen, mit Divisionen, mit Bomben rechnenden Kräften, die alle ernstlich glauben, daß seelenlose Waffen allein das Schicksal der Welt entscheiden werden.
Sicher ist das eine: Wer für den Frieden kämpft, muß in dieser Welt, in der wir leben, den Realitäten ins Auge sehen. Das Medusenhaupt unserer Zeit wird uns entgegengehalten. Aber dieses todbringende Antlitz darf uns nicht lähmen, darf uns nicht versteinern, darf uns nicht zu hoffnungsloser Passivität oder verderblicher Verzweiflung führen. Die kleine Insel, von der ich zu Ihnen komme, ist auf der großen Karte des Weltgeschehens nur ein bedeutungsloser Punkt. Die gut zwei Millionen Menschen, die dort ausharren und deren heroischer Widerstand die Achtung der Welt gewonnen hat, können nicht glauben, daß sie imstande wären oder stark genug seien, das Weltgeschehen aus ihrer eigenen Kraft heraus allein zu gestalten. Aber doch glaube ich, daß die Kraft dieser Stadt, ihr belebendes, anfeuerndes, mahnendes und hoffnungsvoll in die Zukunft weisendes Beispiel uns allen etwas sagen kann.
Es ist ein Kampf um die Freiheit und um den Frieden, ein Kampf, der mit friedlichen Mitteln unter Einsetzung der ganzen Existenz geführt worden ist, ein Kampf, der gezeigt hat, was man gewinnen, was man erobern, was man erreichen kann, wenn die moralischen Kräfte lebendig sind und wenn sie die Hilfe der Welt finden, weil den, der sich selbst nicht aufgeben will, andere am Ende auch nicht im Stich lassen können.
Es hat für uns Deutsche und es hat am wenigsten für uns Berliner Sinn, über die Fehler und über den Mangel an vorausschauender Weisheit der Sieger zu klagen. Was für eine tragische, ja grauenvolle Verkennung der wirklichen Realitäten der europäischen Zukunft hat dazu geführt, daß man dieses Land, das Herzstück Europas, in zwei Teile zerfallen ließ, daß man ein System, das uns allen fremd ist, und das niemals, ich wiederhole niemals, imstande sein wird, von den Deutschen Besitz zu ergreifen, in die Lage versetzte, weit über Weimar und Wittenberg hinaus mitten hinein nach Deutschland vorzustoßen und seine uns alle bedrohende Macht bis vor die Tore unserer ältesten Kulturzentren vorzuschieben. Wir konnten darüber nicht klagen und jammern; wir mußten uns die Frage vorlegen, ob wir uns mit diesen angeblichen Tatsachen abfinden wollten oder nicht. Wir haben uns nicht mit ihnen abgefunden! Wir haben uns dazu bekannt, daß wir frei bleiben wollen! Wir haben erkannt, daß nur freie Menschen wirklich die Wohltat des Friedens werden genießen können! Die Freiheit ist für uns wirklich der Odem unseres Lebens, und ohne sie wären wir nichts als armselige Sklavengeschöpfe, die in der Fron der Knechtschaft vergehen würden.
Aus dieser wirklichen und tiefen Erkenntnis, aus dem Glauben an uns selbst und aus dem unzerstörbaren Willen zur Selbstbehauptung heraus haben wir den Mut gefunden, unser Haupt zum Himmel zu erheben und uns gegen alle Warnungen, gegen alle guten Ratschläge der »Realpolitiker«, der »Realisten«, der Skeptiker und Defaitisten, von denen wir gewiß auch umgeben waren, zu behaupten. Es ist die geistige Lebenskraft unseres Volkes gewesen, die uns in diesen Jahren die Möglichkeit gab, über uns selbst uns zu erheben und Freiheit und Frieden für uns zu behaupten.
Ein Nestor der deutschen politischen Wissenschaft hat das einmal bei einem Besuch in Berlin so formuliert, daß er sagte: »Sie haben das Unmögliche möglich gemacht.« - Wenn wir heute bei der Übergabe eines Friedenspreises an einen angesehenen deutschen Gelehrten uns zum Frieden bekennen, denken wir daran, daß dieser Mann ein so schönes und beredt zu uns sprechendes Buch wie das Buch »Der Tod des Sokrates« geschrieben hat. Die Vergänglichkeit, die Relativität aller irdischen Güter gegenüber den wahren Werten, ohne die es kein Leben gibt, ist uns so sehr bewußt geworden, daß auch der Wiederbeginn eines neuen Lebens, die Rückkehr zu scheinbar normalen Bedingungen unserer täglichen materiellen Existenz, die natürliche menschliche Freude an dieser Rückkehr, der verständliche Wille, wieder aufzubauen, wiederherzustellen und auch im Äußeren wieder ein menschenwürdiges Leben zu führen, diese in tiefer Not gewonnene Erfahrung niemals wird überdecken können. Je näher man räumlich der tödlichen Bedrohung unserer geistigen und moralischen Existenz gegenübersteht, um so stärker, um so lebendiger, um so gegenwärtiger wird dieses Bewußtsein bleiben. Es mag sein, daß mit der räumlichen Entfernung die Intensität der Erinnerung an diese einmal gewonnene lebendige Erkenntnis abnimmt. Im Grunde aber überschattet sie das Leben aller denkenden Menschen bei allen Völkern. Überall wissen wir, daß, soviel wir uns auch täglich mühen, arbeiten und schaffen mögen, all unser Mühen umsonst sein wird, wenn es nicht gelingt, die uns gegenwärtig immer stärker bedrohende Gefahr zu überwinden. Wir haben den Frieden noch nicht gewonnen - wir müssen ihn erst gewinnen!
Wir sind durch die jüngste Entwicklung unserer nationalen Geschichte heute ein waffenloses Volk. Es hieße die Größenordnung unserer Möglichkeiten verkennen, wenn wir uns nicht stets dessen bewußt sein würden, daß die siegreichen Mächte all das heilen müssen, was aus ihrem Siege an Wunden und für uns an unlösbaren Problemen übriggeblieben ist. Aber wir müssen zu der, wie ich schon sagte, besonders in Berlin gewonnenen Einsicht immer wieder zurückkehren, die uns lehrt, daß wir auch als Volk ohne Waffen nicht nur Objekt dieser Mächte sind und daß wir uns nicht damit begnügen können, andere zu schelten und selbst die Hände in den Schoß zu legen.
Den Frieden gewinnen setzt gewiß voraus, daß uns die Hilfe der Welt zuteil wird und daß die Welt den Frieden herstellt, der verlorengegangen ist. Aber ohne uns, ohne unsere tätige Mitwirkung, ohne unseren aus politischen, geistigen und aus moralischen Kräften Nahrung ziehenden Willen wird es auch der Welt nicht gelingen, den Frieden herzustellen, denn in diesem kommenden Frieden müßten wir selbst mitwirkende Garanten eines solchen Friedens werden.
Es ist betrüblich zu sehen, mit welchem immer wieder zu beobachtenden Mangel an Phantasie die Menschen, leider auch nicht nur in Deutschland, geneigt sind, das, was heute ist, als beständig anzusehen. So, wie es 1945 Menschen gab, die - um Berlin nur als Beispiel zu nennen - in dieser Stadt nur einen toten, für immer erledigten Trümmerhaufen sahen, so gibt es auch heute Menschen, die der Meinung sind, daß der jetzige Zustand der Spaltung Deutschlands, der Zerstörung unserer Einheit, der Zerreißung der Grundlagen unserer Freiheit ein dauernder Zustand sein müsse, daß es keine Möglichkeit gebe, ihn zu ändern. Diesen Zweiflern, die damit im Grunde genommen die Arbeit für den Frieden aufgeben und sich nur ihrem eigenen materiellen täglichen Wohlergehen widmen, müssen wir zweierlei entgegenhalten: In den sieben Jahren, die seit der Beendigung des Krieges vergangen sind, hat sich die Welt und hat sich auch die geschichtliche Lage unseres Volkes entscheidend geändert. Seitdem zum erstenmal sich an dem Widerstand unseres Volkes in Berlin die Lebenskraft und der Lebenswille der Deutschen unter Inkaufnahme größter Entbehrungen und unter furchtloser Hinnähme größter Gefahren durchgesetzt haben, ist die Erkenntnis in der ganzen Welt vertieft worden, daß es ohne dieses Volk, ohne seine Einheit und ohne seine friedliche Existenzmöglichkeit einen Frieden in der Welt niemals geben wird. Und wir müssen den Zweiflern, den »Realisten« und den Menschenverächtern, denen die wirklich bewegenden Kräfte der Welt niemals klarwerden, auch entgegenhalten, daß diese Kraft, die wir damals aufgerufen und geformt haben, auch heute noch lebendig ist, daß es unsere Aufgabe ist, sie immer wieder zum Leben zu erwecken und sie in dem großen Ringen der Welt um ihre Neugestaltung einzusetzen. Wir können, wir dürfen nicht dabei bleiben, daß wir uns hier an dieser für uns so bedeutsamen Stätte, daß wir uns in Süd-, in West- und Norddeutschland westlich der Elbe zusammenfinden und diesen Teil Deutschlands aufbauen, wir müssen die ganze, große und bei einer rechten Führung zu viel größeren Leistungen fähige geistige Kraft unseres Volkes zusammenfassen, um sie über die Elbe hinauszutragen. Das, was wir teils aus eigener Kraft, aber zu einem großen Teil auch mit der Unterstützung der Welt hier geschaffen haben, muß zur Auswirkung in den Osten gebracht werden. Diese Energien müssen in Berlin lebendig in Erscheinung treten, nicht in der sicher wertvollen, aber im Grunde doch falsch gesehenen Form der Hilfe, sondern in der ganz anderen Form des festen Willens, für das Recht unseres Volkes einzutreten, unsere Forderung auf Wiederherstellung unserer Einheit durch tägliche Gegenwart zu manifestieren, unseren Brüdern und Schwestern, die von uns nicht durch unseren Willen, sondern durch fremde Willkürakte äußerlich getrennt werden, zu zeigen, daß wir bei ihnen und mit ihnen sind, daß wir dieses als die große Aufgabe unserer gegenwärtigen nationalen Politik anerkennen und daß wir in das Vakuum der geistigen und moralischen Leere die Kräfte des Guten, die Kräfte des Aufbaues, die Kräfte der in die Zukunft weisenden gestaltenden Idee der Freiheit einströmen lassen wollen. Es ist diese meine Forderung gewiß eine Forderung auf der politischen Ebene und auch eine Forderung an die für die politische Führung unseres Volkes Verantwortlichen. Es ist aber viel mehr noch eine Forderung an die geistig schaffenden Kräfte, die heute hier in diesem Raum versammelt sind. Nicht die selbstgenügsame Zufriedenheit mit geistigen, wissenschaftlichen und künstlerischen Leistungen wird den Acheron in Bewegung bringen. Auch die Politik eines Volkes muß auf die Dauer beeinflußt, gesteuert und gelenkt werden durch die geistigen Kräfte, die über tägliche Not, über vorübergehende Interessenkämpfe und Auseinandersetzungen hinaus sich zu dem großen Ziel bekennen, das hier mit der Formulierung umrissen wird, den Frieden für Deutschland, den Frieden für die Welt dadurch zu schaffen, daß die Einheit Deutschlands wiederhergestellt wird und daß die Unabänderlichkeit des Willens unseres Volkes, zu seiner Einheit zu kommen und diesen Willen jeden Tag zu manifestieren, von der Welt zur Kenntnis genommen werden muß als eine moralisch berechtigte Forderung an sie, die so lange gestellt werden wird, bis ihr Genüge getan ist. Wer unbefangen und aufrichtig die gegenwärtige Lage unseres Landes und unseres geistigen Lebens und auch die gesamte Haltung aller in Frage kommenden Kräfte prüft, wird ehrlich zugeben müssen, daß es uns immer noch an dem Elan fehlt, der notwendig wäre, um dieses Ziel zu erreichen. Auch in der Welt draußen ist die Phantasielosigkeit, die den gegenwärtigen provisorischen Zustand unausgesprochen als einen dauernden hinnimmt, manchmal noch so groß wie bei uns selbst. Die Welt bewundert und respektiert das, worauf wir Deutsche gelegentlich mit Stolz verweisen: unsere sogenannte Tüchtigkeit. Aber die Welt fragt sich: Was wird aus dieser Tüchtigkeit entstehen, welche Ziele, geheimen, heute vielleicht nicht ausgesprochenen Ziele verfolgt dieses Volk, wenn es so wenig diese natürliche Zielsetzung in den Mittelpunkt seiner Erwägung zu stellen scheint? Die Welt neigt dazu, an die Vergangenheit zu denken und die Vorgänge und die Entwicklungstendenzen der Vergangenheit schematisch auf eine deutsche Zukunft zu projizieren, die nicht heute und morgen, aber übermorgen Wirklichkeit werden könnte. Der innere Heilungsprozeß eines großen Volkes, die Überwindung des Erbes seiner Vergangenheit, die Überwindung seiner mannigfachen Minderwertigkeitskomplexe kann nur erfolgen, wenn ein solches Volk sich seiner großen Aufgabe ganz zuwendet und wenn es ihm gelingt, diese Aufgabe mit der Hilfe der freien Welt zu lösen. Die Spaltung Deutschlands ist die tödlichste Gefahr, der nicht nur wir, sondern auch alle anderen ausgesetzt sind. Sie ist der stärkste Trumpf jener finsteren Mächte, die immer noch nicht die Hoffnung aufgegeben haben, uns und mit uns ganz Europa ihrer Tyrannei zu unterwerfen.
In den Härten des Berliner Kampfes haben wir uns immer von jeder nationalistischen Entgleisung ferngehalten. Wir möchten niemals in den Fehler verfallen, der in der Vergangenheit der freien Welt so viel Schaden angerichtet hat, ein Volk mit seinem Regime zu verwechseln. Die Freiheit, für die wir kämpfen, ist die Freiheit aller Völker, nicht nur die unseres eigenen. Aus dieser Freiheit heraus muß auch die friedliche Verständigung entstehen, die aus gegenseitiger Achtung und aus gegenseitigem Respekt erwachsen wird. Gewiß sind all diese Dinge eingebettet in das Hin und Her der politischen Kämpfe und Auseinandersetzungen; aber in der großen Linie dieser politischen Auseinandersetzungen sind es allein einfache, klare und unabänderliche Grundgedanken, mit denen die heilende Lösung gefunden werden kann.
Sie, verehrter Herr Professor Guardini, sind ein Mann, der durch sein Lebenswerk und durch seine Arbeit gezeigt hat, daß dieses tägliche Ringen um den Frieden der Welt vom einzelnen beginnend über das Volk bis zur Menschheit die Grundaufgabe im Leben eines jeden einzelnen von uns ist.
Indem ich die Ehre habe, Ihnen den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zu überreichen, möchte ich der Hoffnung Ausdruck geben, daß aus der gemeinsamen Arbeit aller geistig Schaffenden und für die Freiheit wirkenden Deutschen der Friede für unser Land und der Friede für die Welt kommen möge in der festen Überzeugung, daß diese unsere gemeinsame Arbeit ihre höchste Anerkennung dadurch erhält, daß wir sie als Arbeit für den Frieden anerkennen.
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Ernst Reuter
Laudatio
Es ist also – und damit kehren wir zu unserer Sache zurück – mit dem Reden, Schreiben und Zeigen allein nicht getan, sondern wir stehen hier vor neuen Problemen und Aufgaben. Sie beschränken sich nicht auf die Sorge, Gutes zu schaffen, sondern fordern eine Erziehung zum rechten Aufnehmen des Guten, damit der Mensch nicht am Guten selbst zu Schaden komme.
Romano Guardini - Dankesrede
Romano Guardini
Der Friede und der Dialog
Dankesrede
I
Ich habe vor allem die mir sehr am Herzen liegende Pflicht des Dankes zu erfüllen.
Dieser Dank richtet sich an Sie, hochverehrter Herr Dr. Kolb, für das Wohlwollen, mit dem Sie von meiner Arbeit gesprochen haben. Ich bin in Mainz großgeworden und fühle in der Tatsache, daß diese Feier hier in Frankfurt stattfindet, altvertraute Nachbarschaft anklingen. Der Dank richtet sich an Sie, hochverehrter Herr Professor Reuter, für die Güte, die Sie veranlaßt hat, den Preis zu übergeben. Ich habe durch zwanzig Jahre zuerst in Potsdam, dann in Berlin gelebt, und eine Fülle menschlicher und beruflicher Erinnerungen verbindet mich dorthin. So berührt es mich tief, daß durch Sie diese Stunde mit jenem Anfang meiner Universitätstätigkeit verbunden wird.
Angelegentlichen Dank sage ich dem Börsenverein Deutscher Verleger- und Buchhändler-Verbände für die Wertschätzung, die er mir bezeigt hat, als er mir seinen Friedenspreis zuerkannte - und seinem Vorsitzenden, Herrn Dr. Knecht, für die so sehr freundlichen Worte, die er meinen Bemühungen geschenkt hat.
Endlich scheint mir diese Feier auch eine schöne Gelegenheit, noch einen letzten Dank auszusprechen, nämlich den Lesern meiner Schriften. Letztere sind fast alle aus dem lebendigen Wort entstanden und werden daher selbst erst wirklich lebendig, wenn ihre Leser mit ihnen ins Gespräch treten - daß sie das in so reichem Maße getan haben, ist für ihren Autor beglückend und ermutigend.
Erlauben Sie mir zu sagen, daß die Zuerkennung des Friedenspreises mich zuerst überraschte, denn ich habe, außer bei einzelnen Gelegenheiten, über das Problem des Friedens nichts geschrieben. Dann aber fühlte ich doch durch diese Verleihung ein Motiv berührt, das meine Arbeit bestimmt hat.
Immer hat mich nämlich das Problem beschäftigt, wie derart verschiedenartige Stellungnahmen der Menschen zu den Fragen des Daseins entstehen können - und ob es nicht möglich sei, dieser Verschiedenheit eine aufbauende Kraft abzugewinnen. Aus solchen Überlegungen ist seinerzeit mein Buch über den »Gegensatz« hervorgegangen, und sie sind auch für meine übrigen Schriften wichtig geworden.
So ist es mir eine große Freude, dieses Anliegen bestätigt zu sehen.
Daß ich im Empfang dieser Ehrung Albert Schweitzer nachfolgen darf, macht sie mir besonders wert. Auch er ist ein Mann, der um Unterschiede und Gegensätze weiß; und auch er ist bemüht, Brücken zu schlagen. Die Brücke ist ja ein Symbol für Kräfte, ohne die wir das Dasein nicht meistern könnten. Daß da zwei Ufer einander gegenüberstehen und zwischen ihnen das Element strömt, welches den Schritt des Menschen nicht trägt, dann aber der Bogen gebaut wird und nun hinüber und herüber Begegnung und Austausch stattfinden kann - das ist ein Bild voll Verheißung. In seinem Geiste möchte ich Albert Schweitzer meine Verehrung aussprechen.
II
Und nun darf ich wohl einen Gedanken wieder kurz aufnehmen, der im Gesagten bereits berührt worden ist.
Wir fühlen, wie sehr das Problem von Krieg und Frieden uns ans Leben dringt. Und nicht nur als eines offenen Ausbruchs von Gewalt; sondern die Wurzeln des Krieges gehen ja viel tiefer hinab. Der äußere Krieg kann nur entstehen, weil der innere da ist. Worin besteht aber dieser?
Darin, daß in einem begrenzten Bereich verschiedene Initiativen wirksam sind; und nicht nur verschiedene, sondern einander widersprechende. Wie kann aber dergleichen sein? Bleiben wir bei dem Gebiet, das den Philosophen besonders angeht, beim Erkennen - wie ist es möglich, daß Menschen über die Dinge des gemeinsamen Daseins wider einander denken? Es ist doch die gleiche Wirklichkeit, über die sie denken; ihr Geist ist letztlich von der gleichen Logik regiert, und in ihnen - das ist allerdings zögernder gesagt - lebt doch der gleiche Wille zur Wahrheit!
Vielleicht klingt die Frage töricht. Gegenwart wie Vergangenheit sind so tief vom Kampf bestimmt, daß unser Gefühl sich darin eingerichtet hat und ihn als normal empfindet. Es ist aber gut, hin und wieder den Schein des Normalen abzustreifen; dann zeigen sich die Dinge in ihrer Erstaunlichkeit.
Wie kann also das Denken des einen dem des anderen zuwiderlaufen? Der Grund ist der gleiche, aus dem auch die Größe des Verhältnisses hervorgeht: nämlich die Freiheit.
Der Naturalismus findet den Zustand selbstverständlich. Es sei der gleiche, der überall in der Natur herrsche: der Kampf aller gegen alle. Aber unter den Tieren herrscht durchaus nicht der Kampf aller gegen alle, sondern da bestehen genaue Zu-Ordnungen. Sobald diese nicht wirksam werden, laufen die Tiere in den Gefügen ihrer Lebensvorgänge und stören einander nicht. Die Möglichkeit eines frei waltenden, man möchte fast sagen, absoluten Kampfes öffnet sich erst beim Menschen; und es ist ein Zeichen großer Phänomenblindheit, ihn mit dem zu verwechseln, was im Tierreich vor sich geht.
Der Mensch steht unter Beeinflussungen verschiedenster Art und Mächtigkeit; es gehört aber zu seinem Wesen, daß er aus den naturhaften Zusammenhängen heraustreten, Distanz nehmen und von da aus den Gegenstand - das Ding wie auch sich selbst - betrachten, verstehen, beurteilen kann.
Diese Tatsache gibt dem Kampf des Menschen einen durchaus anderen Charakter, als der des Tieres ihn hat: Sie öffnet den Raum, in dem es Entscheidung und damit Verantwortung gibt.
Vielleicht erwidert man: Was soll das in den Dingen der Erkenntnis bedeuten? Was kann Entscheidung heißen, wenn es um Wahrheit geht? Ihr gegenüber gibt es doch weder ein Rechts noch ein Links, sondern nur das Ja zu ihrem Sinn!
Das ist richtig - und doch wieder nicht; denn die Wahrheit ist selbst auf die Freiheit bezogen. Wahrheit gibt es nur in dem Raum, den die Freiheit schafft; und das Gefühl für sie verdirbt in dem gleichen Maße, wie das für die Freiheit verlorengeht. Was die Erkenntnis sucht, ist die Sinngestalt eines Dings oder eines Geschehens. Diese hat über den Geist eine große Macht; es ist aber die Macht eben des Sinnes, nicht die der Gewalt. Sie leuchtet auf; sie trifft in jener bedingungslosen Weise, die jeder kennt, der sein geistiges Leben nicht zerstört hat; aber sie zwingt nicht. Der Geist muß sich ihr öffnen. Er muß ihr erlauben, daß sie in ihm zur Geltung komme. Das kann er tun - er kann es aber auch verweigern. Um ein Wort Nietzsches abzuwandeln: Es kann durchaus geschehen, daß der Verstand sagt: »so ist es«; der Wille aber antwortet: »so darf es nicht sein«, und der Verstand nachgibt. Dann hat sich etwas vollzogen, was wie Erkenntnis aussieht; in Wahrheit hat nur ein Wille sich selbst bestätigt.
Hinter dem scheinbar rein objektiven Verfahren des Verstandes wirken Motive, die alles andere als objektiv sind: Wünsche und Befürchtungen, Zu- und Abneigungen, Absichten in allen Graden der Offenheit und Entschiedenheit. So ist das Feld der Denkvorgänge, die sich den Anschein geben, nichts als Feststellung und Durchdringung von Tatsachen zu sein, zugleich ein Schlachtfeld, auf welchem Initiativen einander gegenübertreten.
III
Ist das so, dann wäre aber auch im Geistigen der Kampf unvermeidlich - sagen wir genauer: der Kampf der Gewalt. So wäre es, wenn es nicht eben das gäbe, was diese ganze Situation möglich macht, nämlich die Freiheit.
Sobald Raub- und Beutetier aufeinandertreffen, muß der Gewaltkampf entstehen - der Mensch kann den Zusammenstoß der Motive auf eine höhere Ebene heben und schöpferisch werden lassen. Das heißt: Er vermag ins Gespräch zu treten.
Gespräch zu führen ist etwas, was wir immerfort tun oder doch zu tun glauben. Aber die Dinge des Alltags sind durch eben ihre Alltäglichkeit verhüllt; so lohnt es sich, über sie nachzudenken. Das Gespräch ruht auf dem Wort, dem erstaunlichen Akt, durch den der Mensch das innerlich Erkannte in das äußere Gebilde aus Lauten hineingibt und es dem anderen zusendet, wodurch für einen kurzen Augenblick sein Inneres im Raum zwischen beiden offensteht. Dann verklingt das Wort, lebt aber nun lautlos im Innern dessen, der es gehört hat. Der bildet an ihm das Gegen-Wort und sendet es zurück. Wieder wird es im personalen Raum offen, und so baut sich, über die Grenze der beiden Innerlichkeiten hinweg, die Brücke des Gesprächs, reiner Ausdruck des Menschseins.
Damit es aber zustande komme, müssen die Sprechenden in einem Einvernehmen stehen. Jeder der beiden muß überzeugt sein, daß es eine Wahrheit gibt, die gilt. Jeder muß den anderen achten, weil auch er auf diese Wahrheit bezogen ist. Und jeder muß die Hoffnung haben, mit dem anderen zusammen mehr von ihr zu sehen, als er allein zu sehen imstande wäre.
Von hier aus vermag auch jeder die Gedanken des anderen zu verstehen und an ihnen die eigenen zu berichtigen und auszuweiten.
Ist das aber möglich, wenn zwischen beiden solche Unterschiede bestehen wie die, von denen wir gesprochen haben? Wieder müssen wir antworten: Es ist möglich aus der Freiheit heraus. Denn frei sein heißt über die eigene so vielfältig gebundene Individualität hinaus gehen zu können auf die des anderen zu; verstehen, wie er in seinen Anschauungen existiert.
Und nun merken wir, daß in den bisher genannten Vorbedingungen des Gesprächs noch eine fehlt: die Sympathie. Schon Augustinus hat gesehen, daß sie die Voraussetzung für jede lebendige Erkenntnis ist. Wirklich erkennen können wir nur, was wir in irgendeinem Sinne lieben; sparsamer gesagt: dem wir wohlwollen. Da heraus können wir die Persönlichkeit des anderen mitvollziehen: sehen, worin ihr Wesen besteht; was sie erkennend sucht; wie sie zu den Gedanken kommt, die sie ausspricht, und was diese Gedanken, über vielleicht unzulängliche oder sogar falsche Äußerungsformen hinaus, eigentlich meinen.
Was aber das Wort selbst angeht, so ist es nicht nur Signal von Gemeintem, sondern Verleiblichung von Geist. In ihm wird die Wahrheit menschlich. So hat das herkommende Wort des anderen über die bloße Mitteilung des Gemeinten hinaus eine lebendige Macht. Es rührt an jene innere Mitte, die leicht zu fühlen, aber schwer durch Begriffe zu bestimmen ist: wo Geist und Stoff, Seele und Blut einander durchdringen; wo das Menschsein beginnt. Diese Mitte bringt es in Bewegung und macht, daß aus bloßem Feststellen und Bezeichnen lebendiges Wissen und Bilden wird.
So ist der Ertrag solchen Gesprächs Friede. Denn es entsteht aus dem Einvernehmen in Wahrheitssorge und wechselseitiger Ehrfurcht; und mit jedem neuen, gemeinsam in die Wahrheit getanen Schritt wird das Einvernehmen tiefer... Wie aber, wenn die beiden einander nicht verstehen?
Das wird oft der Fall sein, denn echtes Verstehen ist schwer. Ja, man kann zweifeln, ob es überhaupt je vollkommen gelinge; ob der eine je ganz über jene Schranke, welche das Selbst-Sein bildet, hinaus und zum anderen hin gelange; ob nicht alles Sprechen letztlich ein Sich-Verhalten auf ein Verborgenes hin sei? Doch das sind Schranken, die sich jedem Verstehen, auch dem wirklich gelingenden, entgegenstellen - wie ist es aber, wenn überhaupt keins zustande kommt? Wenn die Meinungen unversöhnt gegeneinanderstehen?
Dann bleibt das Vertrauen auf die Wahrheit und die Bereitschaft, das Gespräch fortzusetzen - eine Form jener großen Tugend, ohne die nichts Menschliches reift, der Geduld. Und auch das ist Friede.
Wir müssen aber noch einmal fragen: Wie, wenn ich zur Einsicht komme, daß die Gedanken des anderen falsch sind? Daß er irrt?
Dann stehe ich vor einer Grenze, die um so empfindlicher ist, als sie nicht sein muß, aber ist. Ich kann sie aufzulockern suchen, indem ich mich bemühe, dem anderen seinen Irrtum zu zeigen - was nur möglich ist, wenn ich gleichzeitig meine eigene Meinung überprüfe und zur Korrektur bereit bin. Gelingt das aber nicht, dann ist die Grenze endgültig. Denn die gleiche Wahrheit, der wir beide verpflichtet sind, verbietet mir zu sagen: »Was du meinst, ist auch wahr.«
Es gibt keine »Auch-Wahrheit«. Was es gibt, ist die Verschiedenheit der Gesichtspunkte; die Dialektik von Aussagen, die von vornherein aufeinander bezogen sind und daher nicht in ausschließendem Widerspruch, sondern in fruchtbarem Gegensatz stehen. Da kann ich sagen: »Auch du siehst Richtiges«, und Synthese wird möglich. Sobald sich aber nicht Gegensatz, sondern Widerspruch zeigt, sobald der eine ja sagt, wo der andere verneinen muß, oder der eine als gut bezeichnet, was der andere als böse erkennt, dann ist keine Synthese mehr möglich, sondern nur das Entweder-Oder, und das heißt der Kampf.
Doch auch noch hierherein wirkt die Gesinnung des echten Dialogs, nämlich in der Achtung vor der Meinung des anderen. Nicht vor dem Inhalt, den sie vertritt; dem, was ich als falsch erkenne, darf ich nie die Ehre der Wahrheit erweisen. Wohl aber vor der Person, die sie trägt, und vor der Tatsache, daß es Menschenmeinung ist. Und wenn dann Kampf geschieht, hat er einen anderen Charakter.
IV
Dieser beständige Dialog, ist eins der Grundphänomene, die unsere Arbeit tragen.
Wir - Autor und Leser, dazwischen Verleger und Buchhändler - dienen dem vielfältigen Ding, das wir Literatur nennen. Es entspringt immer neu daraus, daß, im Einvernehmen der Sorge um die Wahrheit das Menschengespräch weitergeht.
Das scheint selbstverständlich; wir haben aber erfahren, daß es das nicht ist. Es gibt eine Art Literatur, die keinen Dialog mehr ausdrückt, sondern vor stummen Hörern ein Denk- und Werkprogramm entwickeln muß. Doch ist sie keine Literatur mehr, sondern Propaganda; und was sie will, nicht Wahrheit, sondern Macht.
Es gibt aber eine Gefahr, die noch tiefer greift als die bloße Gewalt und die aus der allgemeinen kulturellen Entwicklung selbst kommt.
In dem vielverwobenen Vorgang, aus dem die Literatur entsteht, sind verschiedene Grundbezüge wirksam: Sprechen und Hören, Schreiben und Lesen; endlich, durch die beiden genannten hindurch, Zeigen und Sehen.
Man möchte annehmen, diese Bezüge hätten im Lauf der Geschichte an Freiheit und Intensität gewonnen. Die Möglichkeit, zu mehr Menschen zu sprechen, gibt dem Wort ja wirklich einen besonderen Ernst; Druck und Verbreitung erweitern seinen Einflußbereich; die Hilfsmittel besseren Zeigens und Sehens bringen Erscheinungen vor Augen, die sonst unbemerkt blieben. Dem Gewinn stehen aber auch erhebliche Schädigungen gegenüber, und es lohnt die Mühe, sie genauer ins Auge zu fassen.
»Sprechen« - es wurde bereits gesagt - bedeutet, daß ich meine Erkenntnis in das Lautgebilde des Wortes gebe und zum anderen hinübersende; »Hören«, daß dieser das Wort empfange, der Sinn in seinem Geiste aufleuchte und ihm jene eigentümliche Freiheit und Festigkeit gebe, die eben »Wahrheit« heißt.
Wie ist das aber: Sind die Worte und ihr Gebrauch im Lauf der letzten - sagen wir, hundert Jahre - besser geworden? Genauer, tiefer, zeugungskräftiger? Man wird kaum mit einem einfachen Ja antworten können.
Schon die Tatsache, daß soviel und immer mehr gesprochen wird, hat eine verhängnisvolle Wirkung: Die Worte nützen sich ab. Es ist Ihnen sicher schon aufgefallen, was geschieht, wenn ein bisher nicht besonders beachtetes Wort aktuell wird - wie lange bleibt es lebendig? Es gehört zu den schlimmsten Erfahrungen jedes Sprechenden, wenn er für etwas echt Erkanntes einen guten Ausdruck findet, dieser aber nach kurzer Zeit verschlissen ist, einfach dadurch, daß so viele ihn nachsagen und immer schlechter nachsagen. Denken Sie etwa daran, was den Worten »das Nichts« oder »die Angst« widerfahren ist, seitdem sie vor zwanzig Jahren in der Philosophie aktuell geworden waren. Scheut man sich nicht, sie zu gebrauchen? Aber was soll man tun, wenn es keine anderen gibt? Was fängt man mit den zu Tode geredeten Worten an? Es bleibt wohl nur eines: immer einfacher zu sprechen, denn die Einfachheit widersteht der Zerstörung am längsten. Wer es aber mit ihr versucht hat, weiß, wie schwer es ist. Sie ist nämlich Meisterschaft.
Etwas anderes ist noch schlimmer: daß die Worte ihre Tiefe verlieren. Alle echten, aus langer Geschichte heraufgewachsenen Worte wurzeln in den Gründen des Seins, im Religiösen. Diese Wurzeln sterben aber im Fortgang der neueren Zeit ab. So verlieren die Worte die Dimension nach innen, die Frömmigkeit. Schlägt man in einem Wörterbuch nach, dann kann einem ganz schwer zumute werden, wenn man sieht, wie flach ein Wort geworden ist, in dem früher die Tiefe redete.
Dann aber gibt es das wirkliche Verbrechen am Wort: die bewußte Verwirrung durch die Propaganda. Überall stoßen wir heute auf Worte, bei denen wir von ihnen selbst her nicht wissen, was der Sprechende meint. Sie drücken nicht mehr aus, packen nicht mehr. Denn das echte Wort entsteht immerfort aus der Redlichkeit des Wahrheitswillens und der Achtung vor dem Vertrauen des Hörenden; hier aber wird es von der bewußten Lüge regiert - falls nicht der Sinn für Wahrheit überhaupt erstorben ist und es nur noch um Wirkungen geht. Oder kann man behaupten, Worte wie »der Friede« oder »das Recht« oder »die Demokratie«, hätten noch einen gemeingültigen Sinn? Muß man nicht geradezu eine neue Art des Hörens lernen, nämlich das Vernommene zunächst dahinzustellen und es aus der politischen Position des Sprechens heraus interpretieren? Eine Kunst, die früher nur den Diplomaten auferlegt war? Von dem grauenhaften Zustand nicht zu reden, in welchem der Beherrschte antwortet, was die Gewalt geantwortet haben will, mit dem Wort aber nicht mehr den Charakter einer Aussage verbindet, sondern es nur als Attrappe oder Schutzvorrichtung vor sich hinstellt.
Oder nehmen Sie, was uns hier besonders angeht, das Schreiben und Lesen; die Verfestigung des gesprochenen Wortes im anerkannten Zeichen, das dann technisch vervielfältigt und allgemein zugänglich gemacht wird.
Bildet die steigende Häufigkeit und Schnelligkeit des Schreibens nicht eine immer dringlichere Gefahr? Daß da nicht mehr ein Mensch für eine erkannte Wahrheit einsteht, sondern gleichsam das Schreiben sich selber schreibt? Wenn wir etwa eine Zeitung lesen - ist das dann noch ein wirkliches Lesen? Dessen Vorgang besteht doch darin, daß das äußere Druckgebilde das innere Wort weckt und in diesem sich die Sinngestalt offenbart. Dafür besteht aber in der Regel gar keine Zeit; sondern was wirklich geschieht, ist ein flüchtiges Aufblitzen kurzer Sinn-Signale. So haben wir denn auch meistens gleich nachher alles wieder vergessen. Dabei geht aber etwas sehr Schlimmes vor sich: Der Akt des Lesens selbst wird verdorben; denn der ist etwas Lebendiges und hält auf die Dauer das bloße Angefunktwerden nicht aus.
Was hier in besonders deutlicher Weise geschieht, zeigt sich überall in unserem von bedrucktem Papier überschwemmten Dasein. Wenn man noch Gelegenheit hatte, zu beobachten, welche Kraft die Vorstellung, das Gedächtnis, das Denken und Sprechen von Analphabeten hat, dann kann einen das scheinbar reaktionäre Wort, alles Unheil habe mit dem Schreib- und Lesezwang angefangen, sehr nachdenklich stimmen. Und was geschieht mit dem dritten, dem Zeigen und Sehen? Zeigen kann, wem sich etwas gezeigt hat. Aus dem unmittelbar Dastehenden heraus hat das Wesen eines Dinges seine Augen berührt, und nun lenkt er - durch die Gebärde der Hand, durch ein deutendes Wort oder ein aufschließendes Bild - dem anderen den Blick: Sieh, was da herausstrahlt! Man könnte nun denken, unsere Zeit, die so viel und mit so glänzender Technik »illustriert«, verstehe das Zeigen aus dem Grunde, und das Sehen werde immer besser. Ist das aber so? Wieder ein alltägliches Beispiel: Im Schaufenster der Photographiegeschäfte stehen wunderbar feine und scharfe Geräte, fähig, die fernsten und flüchtigsten Erscheinungen festzuhalten. So sollte man meinen, sie müßten bewirken, daß die Welt formenvoller, tiefer, schöner in die Augen scheine. Ist das der Fall?
Sieht einer, der viel photographiert, mehr von der Welt, als der, der es nicht tut, dafür aber seine Augen aufmacht? Im Einzelfall sicher - den Erinnerungswert mancher Aufnahmen nicht gerechnet. Wie steht es aber mit Regel und Durchschnitt? Schauen ist doch ein Sich-Auftun für die Gestaltenfülle des Daseins - wird durch die Bildabsicht des Photographierens nicht gerade das aufgehoben? Schauen ist ein Hereinnehmen in den inneren Besitz, ins Gedächtnis - wirkt der Apparat nicht so, daß er einem die Anstrengung dieses Vorgangs abnimmt? Das Gefühl gibt, man habe das Schöne nun drinnen, während es in Wahrheit durchaus »draußen«, nämlich auf dem Film, bleibt?
Und gewinnt derjenige, der die Bilder betrachtet, reicheren Weltbesitz? Wir möchten die herrlichen Bände nicht missen, die uns Kunst und Landschaft zeigen - aber die Sache hat auch eine andere Seite. Wenn wir zum Beispiel eine illustrierte Zeitung durchgesehen haben - haben wir da wirklich »gesehen«? Hat nicht in Wahrheit ein Bild das andere ausgelöscht? Hat nicht schon die Art, wie die Bilder auf das Interessante hin zurechtgemacht waren, die echte Fähigkeit des Sehens verdorben? Oder sind wir nach der Wochenschau im Kino bildmäßig reicher? Wenn da im raschesten Zeitmaß Geschehnis auf Geschehnis gefolgt ist; und möglichst in Kontrasten, und von jedem immer der Gipfelpunkt, das Erregendste? Das Gegenteil ist der Fall.
So wenig richtig ist die Ansicht, die Illustrationstechnik unserer Zeit zeige dem Menschen mehr »Welt«, daß man versucht wird zu sagen: je mehr Photographierapparate, desto weniger wirklich gesehene Welt. Ich bitte Sie, hinter dem Gesagten nicht jene Gesinnung vermuten zu wollen, die nur über den Niedergang der Zeit klagt. Aber in einer Stunde wie dieser besinnt man sich auf das, was dem eigenen Tun zugrunde liegt, und auf die Schwierigkeiten, die sich ihm entgegenstellen.
Und das bedarf keines besonderen Beweises, wie sehr die Erscheinungen, von denen die Rede war, den Dialog erschweren. Wir wollen ihn nicht feierlich nehmen - soviel ist aber doch wohl klar, daß er um so fruchtbarer wird, je echter das Sprechen ist und je offener das Hören, je klarer die Dinge des Lebens gesehen sind und je eindringlicher der eine sie dem anderen zu zeigen versteht. Was aber das Lesen angeht - wie oft wird unser Sprechen über die Wirklichkeit richtiger und voller, wenn wir imstande sind zu sagen: Augustinus hat so gesagt, oder Dante, oder Goethe! Doch dazu muß ihr Wort sich unserem Geiste geöffnet haben.
Und was für das Gespräch über die Sinnprobleme des Daseins gilt, hat seine Richtigkeit auch für dessen praktische Fragen - und damit kommen wir vom geistigen Gespräch zum sozialen und politischen. Entstehen nicht die erheblichsten Schwierigkeiten des Miteinander-Auskommens daraus, daß die wie immer Verantwortlichen nicht wirklich miteinander ins Gespräch gelangen? Die Erde wird immer enger, die Entfernungen verringern sich, die Gelegenheiten zur Begegnung häufen sich von Tag zu Tag. Die Menschen aber - und das ist eine der bösesten Paradoxien unseres so ganz und gar nicht fortschrittsicheren Kulturganges - scheinen sich immer ferner zu rücken.
Es ist also - und damit kehren wir zu unserer Sache zurück - mit dem Reden, Schreiben und Zeigen allein nicht getan, sondern wir stehen hier vor neuen Problemen und Aufgaben. Sie beschränken sich nicht auf die Sorge, Gutes zu schaffen, sondern fordern eine Erziehung zum rechten Aufnehmen des Guten, damit der Mensch nicht am Guten selbst zu Schaden komme.
Es geht darum, daß er lerne, richtig zu lesen; mit Urteil zu unterscheiden; Selbstzucht zu üben - eine Bemühung, die bereits in der Schule beginnen muß und nie enden darf.
Damit gelangen wir aber in die weite Frage, wie der Mensch, nachdem er die Unabsehlichkeit der neuzeitlichen Kultur hervorgebracht hat, nun auch lernen könne, sie richtig zu gebrauchen - eine Kunst, die er noch erst sehr wenig zu verstehen scheint. Es ist die Frage, in die heute so gut wie alle Überlegungen einmünden.
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Der Nachdruck und jede andere Art der Vervielfältigung als Ganzes oder in Teilen, die urheberrechtlich nicht gestattet ist, werden verfolgt. Anfragen zur Nutzung der Reden oder von Ausschnitten daraus richten Sie bitte an: m.schult@boev.de
Romano Guardini
Dankesrede des Preisträgers
Chronik des Jahres 1952
+ + + Im März 1952 stirbt der britische König Georg VI., seine Tochter Elizabeth wird am gleichen Tag zur Queen Elizabeth ii. proklamiert. + + + Bundespräsident Heuss und Bundeskanzler Adenauer einigen sich auf das Deutschlandlied als Nationalhymne. Bei staatlichen Anlässen wird künftig die dritte Strophe gesungen. + + + Sieben Jahre nach Kriegsende erlangt die Bundesrepublik Ende Mai die volle Staatliche Souveränität. Die drei ehemaligen westalliierten Mächte behalten sich jedoch aus der Kapitulation des Deutschen Reiches abgeleitete Rechte vor (Stationierung von Streitkräften, Berlin-Status). Die DDR beschließt am gleichen Tag die Errichtung einer 5 km breiten Sperrzone entlang der Grenze zur Bundesrepublik. + + +
+ + + Mit Israel schließt die Bundesrepublik ein Abkommen, in dem Wiedergutmachungszahlungen für das vom nationalsozialistischen Regime begangene Unrecht vereinbart werden. + + + Der nukleare Rüstungswettkampf der Supermächte erreicht neue Dimensionen: Am 1. November testen die USA die erste Wasserstoffbombe, die mindestens um das 700-fache die Zerstörungskraft der Atombombe von Hiroshima übertrifft. + + + Mitte Juni erscheint erstmals die Bild-Zeitung des Verlegers Axel Springer mit einer Auflage von 250 000 Exemplaren. + + + An der ehemaligen Hinrichtungsstätte der Haftanstalt Plötzensee in West-Berlin wird im Herbst ein Mahnmal zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus enthüllt. + + + Albert Schweitzer erhält den Friedensnobelpreis. + + + Am zweiten Weihnachtsfeiertag geht die »Tagesschau« erstmals auf Sendung. + + +
Biographie Romano Guardini
Romano Guardini wird am 17. Februar 1885 in Verona als Sohn italienischer Eltern geboren. Er wächst in Mainz auf und nimmt 1911 die deutsche Staatsangehörigkeit an. Guardini studiert Theologie in Freiburg, später in Tübingen. Nach seiner Habilitation tritt er 1923 an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Breslau eine Professur für Religionsphilosophie und katholische Theologie an, lehrt aber mit Erlaubnis des preußischen Kultusministeriums als ständiger Gast der Philosophischen Fakultät an der Universität Berlin.
Er wird zu einer der führenden Persönlichkeiten der katholischen Jugendbewegung Quickborn und der liturgischen Bewegung. Durch seine Schriften ist sein Einfluss auf die intellektuellen und kirchlichen Kreise der christlichen Konfessionen groß.
1939 verhängen die Nationalsozialisten ein Lehrverbot gegen ihn, persönlich erfährt er keine Repressalien. Nach dem Krieg unterrichtet Guardini einige Jahre in Tübingen und erhält 1948 einen Lehrstuhl an der Universität München, wo er einen großen Hörerkreis um sich schart. 1952, im Jahr seiner Auszeichnung mit dem Friedenspreis, wird er Päpstlicher Hausprälat.
Romano Guardini stirbt am 1. Oktober 1968 im Alter von 83 Jahren.
Auszeichnungen
1965 Großes Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland mit Stern
1963 San Zeno Preis der Stadt Verona
1962 Erasmuspreis
1959 Großes Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland
1958 Bayerischer Verdienstorden
1952 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
Bibliographie
Unterscheidung des Christlichen
1963
Religion und Offenbarung
1958
Die menschliche Wirklichkeit des Herrn. Beitrag zu einer Psychologie Jesu
1958
Landschaft der Ewigkeit
1958
Gegenwart und Geheimnis. Eine Auslegung von 5 Gedichten Eduard Mörikes
1957
Vom Wesen katholischer Weltanschauung
1953
Die Macht, Versuch und Wegweisung
1951
Die Sinne und die religiöse Erkenntnis
1950
Das Ende der Neuzeit
1950
Das Recht des werdenden Menschenlebens
1950
Deutsche Psalter
1949
Das Jahr des Herrn
1949
Freiheit, Gnade, Schicksal
1948
Der Tod des Sokrates
1944
Vom Sinn der Schwermut
1944
Anfang, Eine Auslegung der ersten fünf Kapitel von Augustins Bekenntnissen
1943
Rilkes Deutung des Daseins. Eine Interpretation der Duineser Elegien
1941
Die letzten Dinge
1940
Hölderlin, Weltbild und Frömmigkeit
1939
Welt und Person. Versuch zur christlichen Lehre vom Menschen
1939
Das Wesen des Christentums
1938
Der Engel in Dantes Göttlicher Komödie
1937
Die Bekehrung des Aurelius Augustinus
1937
Das Bild von Jesus dem Christus im Neuen Testament
1936
Der Herr Betrachtungen über die Person und das Leben Jesu Christi
1936
Christliches Bewußtsein, Versuch über Pascal
1935
Der Mensch und der Glaube, Versuch über die religiöse Existenz in Dostojewskis großen Romanen
1932
Das Gebet des Herrn
1932
Vom Leben des Glaubens
1932
Vom lebendigen Gott
1930
Das Gute, das Gewissen und die Sammlung
1929
Der Gegensatz. Versuch zu einer Philosophie des Lebendig-Konkreten
1925
Vom Sinn der Kirche
1922
Gottes Werkleute
1921 ff.
Vom Geist der Liturgie
1918