Der Stiftungsrat für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wählt den französischen Dramatiker, Theaterkritiker und Philosoph Gabriel Marcel zum Träger des Friedenspreises 1964. Die Verleihung findet während der Frankfurter Buchmesse am Sonntag, 20. September 1964, in der Paulskirche zu Frankfurt am Main statt. Die Laudatio hält Carlo Schmid.
Begründung der Jury
Der deutsche Buchhandel ehrt mit der Verleihung seines Friedenspreises an Gabriel Marcel, den schöpferischen Denker, den Begründer einer Philosophie der Begegnung und Hoffnung, den Kämpfer gegen die Erniedrigung des Menschen, den Mahner zu einer realisitischen Ordnung des Friedens, den Schriftsteller, der in seinem reichen literarischen Werk in gleicher Weise aus den Quellen französischen wie deutschen Geistes schöpft und einer dauerhaften Freundschaft zwischen beiden Völkern dient.
Reden
Dies war unser Eindruck von Gabriel Marcel: ein französischer Europäer, der sein Gegenüber verstehen wollte, geduldig im Anhören und lebhaft in der Erwiderung, ein ganzer Mensch, dem Herkommen nach Franzose, der Religion nach ein Christ durch Natur und Gnade ein Mittler zwischen unsern Völkern, ein Bote der Brüderlichkeit, des Friedens.
Friedrich Wittig - Grußwort
Friedrich Wittig
Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels
Grußwort
Als vor fünfzehn Jahren der Friedenspreis, zu dessen Feier wir uns heute wieder in der Paulskirche in Frankfurt versammeln, von Verlegern aus beiden Teilen Deutschlands gegründet wurde, haben drei Momente seine Endfaltung begünstigt.
Einmal war es der Gedanke selbst und die darin zutage tretende Gesinnung. Beide waren die spontane Antwort auf schreckliche Jahre der Schuld. Der Friedenspreis rief den Buchhandel zur Selbstbesinnung auf und wurde von ihm als eine moralische Aufgabe verstanden und begrüßt. So wurde die Stiftung ein Jahr nach der Gründung zur Sache des gesamten Buchhandels hier in Frankfurt.
Das andere Moment war die Resonanz in der Öffentlichkeit. Ihre Stärke überraschte uns. Das kräftigste Echo kam 1950 aus dem Ausland, aus der selbstgewählten Heimat des ersten Friedenspreisträgers, des in Norwegen eingebürgerten Lektors Max Tau. Unser Staat hatte damals noch keine diplomatischen Vertretungen. Nur der einzelne konnte versuchen, das verlorengegangene Vertrauen zurückzugewinnen. Der Friedenspreis war eine der ersten Bekundungen deutscher Gesinnungsänderung und wurde zuerst in Skandinavien, später in anderen Ländern hoffnungsvoll aufgenommen.
Das dritte Moment war die glückliche Fügung, daß der erste Bundespräsident sein waches, warmes Interesse dem Friedenspreis zuwandte. Theodor Heuss hat nicht nur hier in der Paulskirche die erste Laudatio gehalten- sein unvergessliches Zwiegespräch mit Albert Schweitzer -, er hat fortan fast regemäßig diese Feier besucht. Mit ihm bekannte sich das geistige und politische Deutschland zum Sinn dieser Ehrung. Wir haben Theodor Heuss im vergangenen Jahr von dieser Stelle aus einen Gruß zugerufen, der ihn gefreut hat. Theodor Heuss war für uns nicht nur der Inhaber des höchsten Amtes in unserem Staat. Darüber hinaus war er uns ein Freund und hat diese Freundschaft in vielen Begegnungen und Gesprächen mit Verlegern und Buchhändlern auf der Buchmesse und bei andern Gelegenheiten bewiesen. Sein Name wird mit dem Friedenspreis für immer verbunden bleiben.
Es ist nicht die Absicht des Friedenspreises, politisch zu wirken, aber die Berührung mit dem Politischen liegt in seiner Natur. Das Kuratorium hat in diesem Jahr ein Lebenswerk würdigen wollen, das Franzosen und Deutsche verbindet, das ihrer realen Annäherung dient. Für unsere beiden Völker sind die Septembertage voll von geschichtlichen Erinnerungen. Aber daß wir heute den Sedantag von 1870 oder die Marneschlacht von 1914 oder die vierziger Jahre als geschichtliche Vorgänge nehmen, fast ohne Emotionen, eher mit der Verwunderung oder Beschämung über das Ausmaß politischer Fehlentscheidungen unseres Jahrhunderts und ganz gewiß mit dem Willen, von nun an friedlich und nachbarlich zusammenzuarbeiten - daß dem so ist, verdanken wir jenen Männern und Frauen in beiden Ländern, die unser geschichtliches Bewußtsein verändert haben, die unsere Gefühle filterten, die eine vernünftige Liebe zwischen Franzosen und Deutschen entstehen ließen. Einer von diesen waren und sind Sie, verehrter Herr Gabriel Marcel.
Sie haben als homme de lettres, als philosophischer Denker und ideenreicher Dramatiker für das mitmenschliche Verstehen geworben. Sie haben in vielen Büchern kunstvoll und konkret das Aufeinanderangewiesensein der Menschen behandelt. Es ging Ihnen nicht um Literatur, sondern um reale Verständigung. Sie lernten unsere Sprache, Sie kamen nach dem Krieg zu uns, sie suchten das Gespräch vor allem mit der Jugend. Dies war unser Eindruck: ein französischer Europäer, der sein Gegenüber verstehen wollte, geduldig im Anhören und lebhaft in der Erwiderung, ein ganzer Mensch, dem Herkommen nach Franzose, der Religion nach ein Christ durch Natur und Gnade ein Mittler zwischen unsern Völkern, ein Bote der Brüderlichkeit, des Friedens.
Darum haben wir uns heute um Sie versammelt, um Ihnen die höchste Ehrung des deutschen Buchhandels, um Ihnen den Friedenspreis zu überreichen. Wir haben uns versammelt in Anwesenheit des Herrn Bundespräsidenten, den wir herzlich begrüßen. Unser Gruß in dankbarer Verbundenheit gilt gleichfalls dem Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages, Herrn Professor Carlo Schmid, der die Laudatio halten wird. Mit Verlegern und Buchhändlern, die aus 39 Ländern zur Buchmesse nach Frankfurt gekommen sind, grüßen Sie die Vertreter unseres Hohen Parlaments, des deutschen Bundestages, der Länder, insbesondere des Landes Hessen, der Diplomatie, der Kirchen, der Kunst und der Wissenschaft.
Wir denken an Albert Schweitzer, der diese Versammlung grüßen läßt. Wir grüßen schließlich alle, die über den Äther mit uns verbunden sind und an dieser Feierstunde teilhaben.
Im Buchhändlerhaus drüben neben dem Goethehaus steht auf einer Bronzetafel: »Verantwortung vor dem Geist und Ehrfurcht vor der menschlichen Würde sind die Grundlagen der buchhändlerischen Tätigkeit. « Das ist ein hohes Wort. Ihre Bücher, Ihr Vorbild, mahnen und ermutigen uns, danach zu handeln. Dafür dankt Ihnen der deutsche Buchhandel.
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Friedrich Wittig
Grußwort des Vorstehers
Der Wechselschritt der Zeit wird in der Zwiesprache unserer Völker Dissonanzen aufklingen lassen. Doch was schadet es? Im Geiste Gabriel Marcels werden beide Völker das Wort wahrmachen, mit dem Hölderlin seinen Hyperion schließt: »Wie der Zwist der Liebenden sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder.«
Carlo Schmid - Laudatio auf Gabriel Marcel
Carlo Schmid
Auf den Preisträger 1964
Laudatio auf Gabriel Marcel
In dieser Zeit, da allenthalben von öffentlichen Ehrungen verdienter oder auch nur erfolgreicher Frauen und Männer zu lesen ist, erscheint mir jene Auszeichnung die vornehmste und reinste, höchstes Verdienst um die res publica bezeugende, zu sein, darin der Welt kundgetan wird, es habe sich einer um den Frieden verdient gemacht. Ein Friedenspreis, gestiftet und verliehen von Würdigen - und wer wäre würdiger als jene, die uns allen den Zugang zu den Werken des Geistes öffnen? - ist die Bürgerkrone der Menschlichkeit.
Wer darf mit ihr gekrönt werden? Der Staatsmann, dessen Einsicht ihn den Ruhm nicht in den Waffen, sondern in der Bewahrung des Friedens suchen läßt. Die Anreger und Schöpfer von Institutionen, durch die im Wettbewerb der Staaten an die Stelle des mordenden Kampfes um die Macht vernünftiger Ausgleich von Interessen treten kann. Der Menschenfreund, dessen geduldige Seelengröße es vermochte, selbst in die blutigen Tragödien der Geschichte ein wenig Menschlichkeit einzuführen. Jene großen Einsamen, die durch ihr Beispiel der kraftvollen Jugend unserer Länder anderen Lorbeer begehrenswert erscheinen lassen als den der Schlachtfelder. Männer und Frauen der Wissenschaft, die, vor dem Übermaß der zerstörerischen Kräfte, die ihr Geist entband, erschreckend, uns in die Verantwortung zurückgerufen haben, der wir uns, dem Zauberlehrling gleich, angesichts der sogenannten Wunderwerke der Technik so gerne entschlagen.
Doch mir will scheinen, daß es noch einen anderen Rechtstitel auf diese Krone gäbe: Leben und Denken eines Mannes, der im Ausloten der Tiefen und Untiefen, der Untergründigkeiten und Hintergründigkeiten der Existenz des Menschen uns lehrt, inmitten unserer Unfertigkeit im Umgang mit uns und den anderen uns für das Rechte fertig zu machen, indem wir unsere Selbstgewißheiten immer wieder in Frage stellen und darauf verzichten, der Wirklichkeit in den Ausflüchten zu begegnen, die uns die Kunst des Abstrahierens so billig anbietet. Ein solcher Mann hilft uns, die Mythen aufzulösen und zu entlarven, die unser Denken, Fühlen und Wollen auf Geleise locken, darauf selbst die Kunst steuernder Vernunft machtlos wird. Folgen wir einem solchen Mann, dann werden wir nicht mehr so leicht für Wahrheit halten, was nicht viel mehr ist als ein Wort, das unsere Gemütsbedürfnisse befriedigt; dann werden wir nicht mehr Stimmungen mit Entscheidungen des Gefühls verwechseln und uns nicht mehr dem Blendwerk jener Formeln gefangengeben, darin und damit wir die Wirklichkeit verfälschen, um uns bequemer im Trugbild einrichten zu können, jener Formeln, die uns wehrlos machen, wenn die Wirklichkeit über uns kommt.
In diesen falschen Mythen und in den Fehlhandlungen die sie gebären, liegt die Wurzel so vieler Dinge, die uns uns selber und einander entfremden. Entfremdung aber ist die Grundwurzel der Friedlosigkeit unter den Menschen und unter den Völkern.
Wir entgehen ihr nicht dadurch, daß wir uns vor der Zeit verstecken und dem Geist der Zeit zu entfliehen suchen und den Bedingungen, welche diese unserem Leben bietet und entgegenstellt, ausweichen. Wir überwinden sie, indem wir durch die Zeit mitten hindurchgehen, indem wir uns in unseren Bedingtheiten sehen, aber vor dem Angesicht eines Unbedingten, und dann Front machen gegen alles, was nur Kraft der Schwere und der Trägheit ist. So vermögen wir uns dem Bedingenden gegenüber auch in unserer Bedingtheit als freie Wesen zu behaupten - frei gegenüber dem, was uns aus uns selbst heraus in den Bann schlägt und frei gegenüber dem Dasein des Anderen.
Nur in dieser Freiheit erkennen wir, daß das Dasein von Anderen uns nicht verengt und unfrei werden läßt - daß also nicht die Anderen, wie Sartre sagte, die Hölle sind -, sondern daß es uns fruchtbarer und reicher macht, indem es uns am Geheimnis des Andersseins erkennen läßt, was wir nicht sind und nicht haben, und daß die Welt mehr ist, als was wir an Spiegelungen zu reflektieren vermögen.
So können wir, ohne es nötig zu haben, einander auszuweichen, der Versuchung entgehen, den Anderen zu verteufeln, wie jener anderen Versuchung, zu vergötzen oder auch nur zu verabsolutieren, was uns eigen ist - jene Grundursachen der Friedlosigkeit unter den Menschen und unter den Völkern. Befriedung und damit der Friede kommen zu uns als Früchte einer dauernden Bemühung, den Anderen um unseres eigenen So-Sein-Könnens willen in seinem Anderssein zu wollen. Wer uns dazu einen Weg eröffnet, hat sich um den Frieden unter den Menschen und unter den Völkern verdient gemacht. Er ist der Wächter, der Hekates Gespenster vom Kreuzweg scheucht: Feigheit vor der Wirklichkeit, aus der man in die Verblendung flüchtet, und fatalistische Ergebung an das Gesetz der Trägheit, die aus den Bewegungen der Geschichte einen seelenlosen Mechanismus werden läßt, der uns zu bloßen Objekten macht.
Gabriel Marcel, Sie sind solch ein Wächter.
Wer ist der Mann, dem schon so viele Ehrungen zuteil wurden? Hat er, dessen Bücher in der ganzen Welt gelesen werden, das Geheimnis seiner Existenz enthüllt und uns anvertraut?
Wenige haben so wie er Herkunft und Lebensweg als bestimmende Faktoren erkannt für Ausgangspunkt, Zielsetzung und Gang des Denkens, des Fragens nach Wahrheit und Sinn, nach Ursprung und Ende und für die Möglichkeit eines Lebens in Gewißheit oder für die Not eines Lebens im Zweifel.
Doch so sehr wir durch ihn selber wissen, wie der Vater, der frühe Tod der Mutter, die protestantische Strenge der Schwester der Mutter, die des Vaters zweite Frau wurde und den Knaben in achtsamer Liebe erzog, ihn formten; wie er zum Philosophen wurde, indem er, sich nach-denkend, fand, daß das philosophische Fragen an der Verbindungsstelle angesiedelt liegt, wo das Ich und das Du einander begegnen; wie er damit den Raum für seine Konversion frei-dachte, für den Glauben an Gott als das absolute Du, das der Überschreitung des Ich zum Anderen hin die Fülle gibt, wenn es in die Gemeinschaft hereingenommen wird, weil das Ich nur in dem Maße existiert, als es für andere existiert; denn Sein ist immer Mit-Sein - co-être - Teilhabe und Kommunikation - so sehr es wichtig ist, diese Ursprünge zu wissen, so scheint es mir doch nutzbringender, den Menschen in seinen Werken aufzusuchen, in jenem Riesenwerke philosophischer Betrachtung und dramatischer Dichtung, durch das hindurch Gabriel Marcel sich selber zuschreitet - an jedem Punkte des Weges auch im Anderssein er selbst und an jedem Orte sich in reinerer Schau begegnend und seiner inne-werdend.
Denn dieser Mensch ist immer auf dem Weg. Er hat sich selber einen »philosophe itinérant« genannt, einen Denker, dem gerade das »Auf-dem-Wege-Sein« Ziel und Wesen jedes Philosophierens ist. Auf dieser ständigen Wanderschaft begegnet einer in allem, worauf er trifft, sich selber, und diese Begegnung mit uns in unserem jeweiligen So- und Anderssein stellt uns in Frage und weckt und nährt in uns das Bedenken. In diesem Infragestehen gibt es keine fertigen Antworten. Aber wenn wir damit in der rechten Weise umgehen, kann der Wanderer erkennen und den anderen, die auf dem Wege sind, zeigen, was sich darauf an Exemplarischem begibt, das uns aus dem Subjektiven hinaus auf Gültiges hinweist, das uns in Verantwortung nimmt. Denn, so sagt Gabriel Marcel: »Vielleicht kann eine beständige irdische Ordnung nicht anders aufgebaut werden, als daß der Mensch sich ein durchdringendes Bewußtsein von seiner Verfassung als Wanderer bewahrt.«
Das ist nicht in dem romantischen Sinne von Baudelaires Gedicht »Die Reise« gedacht. Viel näher steht es John Bunyans »Pilgerreise in die Ewigkeit«: Wer auf dem Wege ist, um sich auf das Unbedingte hinzubewegen, darf nicht aus der Welt hinauswollen, er muß durch sie hindurch; so schreitet er auf das Zentrum des Mysteriums zu, das das Sein ist. In der wandernden Seele »entfaltet« - das Wort ist von Gabriel Marcel - sich das Licht, in dem wir sehend werden und das alles vor und hinter uns Liegende wie ein Kartenblatt entfaltet, darauf einer, den wir nicht kennen, unsere Welt vermessen und durchgezeichnet hat.
Man hat Gabriel Marcel einen christlichen, einen katholischen Philosophen genannt. Es wäre ein Wunder, wenn diesem Manne nicht jede Etikettierung widerstrebte. Zwar sagte er: »Insoweit es eine christliche Philosophie gibt, bin ich möglicherweise ein christlicher Philosoph...« Damit könnte manches hypothetisch erscheinen, das nur Sinn und Wert haben kann, wenn es außer Frage steht. Außer Frage steht aber, daß Gabriel Marcel ein Philosoph ist, der seine Philosophie als Christ sucht und lebt. Sein Leben und sein Denken sind auf eine ganz und gar eigene Weise »Einübung im Christentum«: eine stetige Bewegung auf die Welt hin im Zeichen des Kreuzes, auf das immer neu sich bestätigende Ende des Haders mit ihr.
Philosophie ist für Gabriel Marcel immer Metaphysik, im Sinne eines Versuchs, die Welt durch denkendes Ergreifen zu einem Stück eigener Innerlichkeit zu machen und damit so weit wie möglich in ihr heimisch zu werden; heimisch wird der homo viator darin, indem er sich im Prozeß des Erkennens ihres Gefüges in seiner Existenz bestätigt weiß, »das Innerlich Nahe mitten im Entferntesten« entdeckend. Gabriel Marcel gehört nach den Worten Etienne Gilsons »zum Geschlecht jener französischen Denker, deren philosophische Spekulation keine andere Quelle hat als ihre innere Erfahrung und die nur andauert, indem sie sich fortwährend auf sie bezieht«. Man hat ihn mit Pascal verglichen; er gehört auch in die Familie Kierkegaards. Wie diese beiden lehnt er es ab, das Leben als ein System zu begreifen; denn es gibt kein System des Lebens, sondern nur Systeme des Denkens, also dessen, was das Ich als Gegenstand seines Denkens »setzt«. Doch da der Mensch vor allem Denken »existiert«, und nicht erst im Zeichen des »cogito ergo sum«, ist jedes System eine Verbiegung der Wirklichkeit der menschlichen Existenz.
Philosophie hat darum nur einen Sinn, wenn sie konkret ist, das heißt, sich fortwährend am konkret Gegebenen orientiert, um von ihm aus in fortschreitender Annäherung - asymptotisch gewissermaßen - zu den Wurzeln und der Struktur des Daseins vorzustoßen.
Diese Erkenntnis ist die Grundlage allen Nachdenkens über das Sein - ein Nachdenken, das nie ins Ziel einläuft und dieses Ziel nie definieren, das heißt als ein abgrenzendes Abgegrenztes greifbar machen wird. Das Sein bleibt ein Mysterium. Wir können aber ein Mysterium nicht »auflösen«, wie man Rätsel auflöst oder Probleme löst wie Gleichungen - wir können aber daran teilhaben, indem wir uns mit allem was wir sind, hineinbegeben und es mit ihm und damit mit uns selber aufnehmen. In diesem Akt wird das Objekt-Subjekt-Verhältnis aufgehoben; Existieren wird zu »Inkarniert-sein«. Der Mensch, der sich dessen innewird, »erscheint sich leibhaftig ... in einer Ursituation, die ... nicht definiert oder analysiert werden kann ... Das metaphysische Denken ist Reflexion, die auf das Mysterium gerichtet ist ... Es gehört zum Wesen eines Mysteriums, daß es als solches anerkannt wird. Die metaphysische Reflexion setzt dieses Anerkennen voraus, obwohl es nicht zu ihrem eigentlichen Gebiet gehört.« Dieses Anerkennen wird zu Nach-denken. Im Nachdenken über mein Sein stehe ich mitten in mir selbst, und das Ergebnis ist nicht, daß ich Probleme löse, sondern daß ich mich »entwickle«. Marie Madeleine Davy - seine Biographin und Schülerin - hat für diesen Vorgang ein schönes Bild gefunden: ich werde mir immer sichtbarer, so wie mir das Bild auf der belichteten Platte im Fortgang des Entwickelns immer sichtbarer wird - freilich ohne je zum Gegenstande selbst zu werden. Das Mysterium erklärt man nicht; man hat an ihm teil. Aber »je mehr ich am Sein teilhabe, desto weniger ist es mir möglich zu unterscheiden, woran ich teilhabe, desto weniger werde ich der Frage, die ich mir über meine Teilhabe stellen könnte, einen Sinn geben können.«
So kann das Denken nicht eigentlich von sich »fortschreiten«; es wird immer wieder zu seinen Ausgangspositionen zurückkehren, zur »άρχή«, und immer wieder auf den Weg gehen, dem Wanderer gleich, der wissend, daß es eine Mitte geben muß, sie umschreitend ihr immer näherkommt, doch ohne je sie »haben« zu können; denn haben kann man nur, was man nicht selber ist. Sein und Haben - Teilhabe am Mysterium, das als Ganzheit anerkannt werden will, und Habenwollen dessen, was uns entgegensteht, weil wir uns nicht darin erkennen -, das sind die beiden Bereiche, in denen die Existenz des Menschen sich in der Zeit entfaltet.
Die Leiblichkeit ist der Grenzbereich zwischen Sein und Haben, das Eingehen in die Geschichtlichkeit. Zwar »bin ich mein Leib«, aber er ist auch »die Grundform des Habens«. »Er macht mich machtlos in dem Maße meiner Anhänglichkeit.« »Mein Körper frißt mich auf, sofern er ein Haben bedeutet.« »Diese Dialektik, analog der von Herr und Sklave, wie sie Hegel in der >Phänomenologie des Geistes< aufgezeigt hat, hat ihr Prinzip in der Spannung, ohne die es kein tatsächliches Haben gibt und geben kann.«
Es ist nicht weiter verwunderlich, daß in einem solchen Denken die Kategorien des Schicksals und des Glaubens ihre besondere Rolle zu spielen haben und daß Gabriel Marcel sich jenen Denkern verwandt fühlt, die den Fachphilosophen in sich überstiegen, weil sie »den Biß des Realen« zu spüren bekamen.
Die Aussagen Gabriel Marcels über den Schmerz, das Leiden, den Tod, die Liebe, die Treue, die Hoffnung, das Offensein führen uns in das eigentliche Zentrum seines Philosophierens.
Er sagt uns selbst, was ihn letztlich dazu trieb: der Protest gegen eine Welt, die »von ethischen Impulsen beackert und zugleich von einer unbesiegbaren Verzweiflung verwüstet war und in der man mir dennoch zu leben zumutete. Eine Welt, die dem seltsamen Kondominium des moralischen Bewußtseins und des Todes unterworfen war«. Philosophieren sollte ihn vor diesem Schmerze retten; es sollte ihn lehren, sich »jenseits aller uns Schmerz zufügenden Berührung mit dem täglichen Leben einzurichten und mir ein Heim zu schaffen. Philosophie war also ohne Zweifel für mich von Anfang an ein Transzendieren«. Was das Natürliche transzendiert, aber ist das Mysterium.
Tiefsten Schmerz bringt das Wissen um den Tod - nicht um den eigenen Tod, nicht um den anonymen Tod als ein Stück statistisch erfaßten Naturgeschehens, sondern das Wissen um den Tod des Nächsten, wie er ihm vor allem während des Krieges begegnete, wo er in einer Auskunftsstelle des Roten Kreuzes arbeitete, und wo er jeden Tag vielen, vielen Menschen mitteilen mußte, daß ihr Vater, ihr Gatte, ihr Sohn gefallen war. Dieses Aufhellenmüssen von Schicksalen hat ihn immun gemacht gegen »die Vernebelungstendenz, die den meisten abstrakten Begriffen ... eigentümlich ist«.
Mit diesem Erlebnis fertigzuwerden schien nur möglich, indem man die Hand Gottes in allen Ereignissen der Geschichte zu erkennen sucht. Weil - nach den Worten Peguys - Christus durch die Inkarnation »an allen menschlichen Mühsalen teilhat«, ist diese ganze Welt der Mühsal und des Todes in dem menschgewordenen Gott, der bei uns sein wird bis an das Ende der Welt, »aufgehoben«.
Damit wird das »co-être«, das Mit-Sein, zum Grundbegriff des Verstehens und des Bejahens der Welt, in der der Mensch existiert. Wenn der Mensch im anderen Menschen nur ein Objekt sieht, das er »haben« will, dann ist das Ich in sich selber eingemauert; damit aber steht es außerhalb jeder Freiheit. Doch wenn ich weiß, daß die anderen nicht nur »mein Denken des Andern« sind, sondern daß sie die Bedingung meiner eigenen Freiheit sind, wird der »Er« zum »Du« - immer von mir getrennt und immer verschieden von mir, doch immer im Anruf und in der Erwartung gegenwärtig. Ohne dieses Bewußtsein des Mit-Seins verliert das Ich den Weg zu seiner Bestimmung.
Das »Offensein« zur Kommunikation, jenes Offensein des Blickes, jenes Offensein dem Du, ist es, was dieses Du sich uns öffnen läßt. Jenes Offensein, das allein uns vor der Versteinerung schützt, wie schon Hölderlins Hyperion uns lehrte, schlägt Breschen in die Mauern des Ich, schließt uns damit die Welt auf und macht uns »disponible«, »verfügbar« für Liebe und Treue. So kann wahre Gemeinschaft entstehen; die durch Liebe begründete und in Treue eingebettete Gemeinschaft wird zur Möglichkeit eigener Entfaltung; in ihr komme ich zu mir.
Damit ist aber auch schon der Rahmen für das Grundgesetz der Moral durchgezeichnet, das uns Gabriel Marcel verkündet - wie nahe steht er dabei - er verzeihe mir das Wort - dem Jansenismus eines Pascal! -: »Sich selbst vergessen und danach streben, die Lage der Leidensgenossen zu erleichtern, sich andererseits einer außerordentlich strengen moralischen Disziplin unterwerfen, ohne die alles nur schamlose Ausschweifung ist.« Alles: Also auch das Denken:
Diese Ich-Du-Beziehung als Grundlage des Seins macht verständlich, warum in Gabriel Marcels Leben und Werk die dramatische Kunst eine so bedeutsame Rolle spielt. Schon als Kind schrieb er Theaterstücke, denn der einsame Knabe suchte in den Personen erdachter Dramen Partner für den Dialog mit sich und der Welt. Der Erwachsene setzte diese Partnersuche fort, als er erkannte, daß das Leben kein linearer Ablauf ist, sondern ein dauerndes Sich-Begegnen und Auseinandergehen von Menschen, unter denen sich ein Dialog anspinnt, der nie abreißt und nie eine Lösung bringt, denn im Lebendigen gehen Gleichungen nicht auf.
Gabriel Marcel nennt sich selbst »philosophe-dramatique« und legt dabei entscheidenden Wert auf den Bindestrich zwischen beiden Worten. Philosophie und dramatische Dichtung liegen in seinem Leben zueinander wie die »Abhänge der gleichen Anhöhe«. Das Drama zeigt am konkreten Fall die individuellen Möglichkeiten und Fehlsamkeiten des Menschen und demonstriert am Exempel, was die Philosophie nur losgelöst von der einzelnen Menschengestalt aussagen kann. Im Drama wird der Mensch vom Leben »gestellt«, und im dramatischen Dialog mit sich selbst in seinem jeweiligen Anderssein entlarvt er seine Lebenslügen.
Gabriel Marcels Stücke sind keine Thesenstücke im landläufigen Sinne, sowenig wie Ibsens Dramen, und wie diese konfrontieren sie den Menschen mit sich in seinem Dasein in der Gesellschaft. Sie lassen alle aufgeworfenen Fragen offen: der Zuschauer soll die Antwort in sich selber suchen. So ist dramatische Dichtung für ihn nicht ein anderes als Philosophie, sondern - wie das Tagebuch - lediglich eine andere und bevorzugte Ausdrucksweise für das, was er sich und uns zu sagen hat. Drama und Tagebuch sind gewissermaßen offengelegte Urkunden einer ständigen Gewissenserforschung.
Doch noch mehr als das Drama bedeutet dem »philosophe-dramatique itinérant« die Musik. Er bekennt, daß in seinem Leben Johann Sebastian Bach eine größere Rolle gespielt habe als selbst Pascal und Augustinus. Er habe bei den Großen der Musik gefunden, was kein Schriftsteller jemals geben könnte; bei Bach die Ewigkeit des Glaubens; bei Mozart die Ewigkeit eines glücklichen Liedes. In einem seiner Dramen heißt es, Musik sei »das ewige Leben alles dessen, was wir für tot halten - was aber nie stirbt«.
Wo Glaube und Liebe ist, da ist auch Hoffnung. Sie ist der Herd, auf dem das Licht brennt, das in unser Gefängnis hineinleuchtet und uns von der Verzweiflung heilt, nicht zu wissen, was das »wohin« denn eigentlich ist, auf das wir zugehen. Seine Hoffnung ist nicht das »Prinzip Hoffnung« Ernst Blochs. Sie ist nicht ein »Ich-hoffe, daß«. Sie ist wie Glaube und Liebe eine Kraft, der Mut zum Wege, der uns zum Mysterium des Seins hinführt und mit der Unauflösbarkeit des Geheimnisses der Existenz versöhnt.
Diese konkrete Philosophie Gabriel Marcels erlaubt uns, uns und was zu uns gehört - das jeweils begegnende Du und unser Verhältnis zu ihm - ohne die Masken der Ideologie zu sehen, die doch jede Gemeinschaftsbeziehung verfälschen und zunichtemachen; ohne die Tabus, die wir aufgerichtet haben, um an der Klippe vorbeizukommen, die wir selbst für uns sind, und die uns doch auf unserer Fahrt zu den Horizonten der Wirklichkeit scheitern lassen; ohne Thesen, die so leicht zu Mythen werden, darin dann im Drama der Begegnung mit dem Du und mit der Welt als unausweichliche Notwendigkeit »geschaut« wird, was doch nur Produkt eines umweltbedingten Wollens war. Diese konkrete Philosophie lehrt uns zu begreifen, daß wir nur in der Kommunikation mit dem Anderen wir selber sind; sie lehrt uns in dessen Besonderem das eigene Besondere zu erkennen und siedelt uns im lebendigen Begreifen und Ergreifen dieses dialektischen Verhältnisses von Persönlichstem im Lichtkreis des Allgemeinsten an. Sollte, was von den Individuen gesagt wurde, nicht auch von den Völkern gelten, die doch, wenn sie sich als Schicksalsgemeinschaften begreifen, nach den Worten Augustins auch Individuen sind, die sich und einander auf den Wegen der Geschichte begegnen? Gilt nicht auch für sie, daß sie nur dann sie selber sind, wenn sie sich dabei nicht in sich selber einmauern, sondern sich in der Begegnung mit dem Anderen suchen, dessen Existenz ein Mysterium ist wie die eigene? Sollte nicht auch von den Völkern gelten, daß sie nur im unaufhörlichen »dramatischen« Dialog mit sich selber und miteinander zu sich selber kommen? Daß sie nur zu sich selber kommen, wenn sie immer auf dem Wege zueinander sind? Kann dieses Aufeinanderzugehen, dieses Zusich- und Zueinander-Kommen anders geschehen, denn als Gang des Bruders zum Bruder, ein Gang aus Kraft des Hoffens?
Gabriel Marcel hat uns dafür einen Weg gewiesen, seinen Weg, auf dem er zur Versöhnung mit sich und mit der Welt - mit sich in dieser Welt - kam. Darum sehen wir in ihm einen, der die Welt den Frieden lehren kann. Wir Deutsche sind glücklich, ihm heute Dank dafür abstatten zu können, ihm, dem französischen Patrioten, der ein Weltbürger ist.
Wenn auch die Nationen auf ihr Verhältnis zu sich selbst und zu den anderen anwenden, was dieser andere Cherubinische Wandersmann auf seinem Wege fand, werden die Völker sich mit ihrem Dasein in einer Welt, darin auch andere »da sind«, versöhnen können. Völkern, die mit ihrem Dasein in dieser so gearteten Welt und damit mit sich selber versöhnt sind, wird die Kraft zuteil, auch mit anderen im Stande der Versöhnung zu leben - selbst unter dem oft so schmerzvollen »Biß der Realitäten«.
Ist dies heute schon rundum lebendige Wirklichkeit? Ist so wenigstens die Wirklichkeit des Verhältnisses der Völker Deutschlands und Frankreichs zueinander, deren Regierungen einen Vertrag geschlossen haben, der die Versöhnung beider Völker verbriefen soll? Wenn wir Deutsche und Franzosen Versöhnung für etwas halten sollten, das - indem es die Vergangenheit abgetan sein läßt - ein für alle Mal abgeschlossen ist und nun wie ein Denkmal an unseren Grenzen steht, wären wir freilich vom Rechten noch weit entfernt: Versöhnung ist nie »fertig«; sie ist ein ständiges Auf-dem-Wege-zu-sich und Auf-dem-Wege-zueinander-sein: sie geschieht durch das stetige Wollen ihres Werdens in einem »plébiscite de tous les jours«, uns unter ihre täglichen Gebote stellen zu wollen.
Dies geschieht in der Brust der Menschen und dringt von dort in die Geschichte ein. Was in der Geschichte Gestalt annehmen soll, bedarf aber des Durchgangs durch die ballende, formende und verantwortende Kraft der Staaten. Diese haben für das, was aus der Brust der Menschen in die Welt einströmen will, um diese zu verändern, die Kanäle zu graben, die Dämme aufzurichten, die Schleusen zu bauen, auf daß es zu Geschichte werden könne.
Für das Wissen von Ursprung und Sinn, von den Kategorien und Kriterien des Humanen bedarf es des Philosophen. Doch für die Umwandlung dieses Wissens in den Bedingungen des Hier und Jetzt gemäßes Tun bedürfen der Philosoph der Ergänzung durch den Staatsmann und die philosophische Erkenntnis der Ergänzung durch die Staatsraison: es ist ein Ding, das Rechte zu wissen und ein ander Ding, ihm den Weg zu bereiten. Jedes dieser Geschäfte erfordert seine eigene Tugend.
Es sind Menschen am Werk - hüben wie drüben - diese Kanäle in den Boden der Geschichte zu graben, diese Dämme aufzuwerfen, diese Schleusen zu erbauen. Sie wissen, daß die Erde tief unter dem gestirnten Himmel liegt und daß man sich demütig zur Erde niederbücken muß, um zu roden, zu pflügen, zu säen. Lehrer wie Gabriel Marcel können sie unterweisen, in der Vorläufigkeit dessen, was sie je und je tun, etwas zu erblicken, auf dem ein Widerschein des Lichtes ruht, darin die Bestimmung des Menschen sich erfüllt.
Oft, wenn ich die Geschichte unserer beiden Völker überdachte, fielen mir Peguys Worte ein: »Mère, voici tes fils qui se sont tant battus. . .«. Ich weiß, daß der Dichter dabei an das Los des Menschen schlechthin und nicht an die Kriege der Völker dachte. Aber mir wollte trotzdem scheinen, er, der gerade vor fünfzig Jahren an der Marne fiel, habe diesen Vers auch im Blick auf unsere beiden Völker geschrieben.
Doch solche Gedanken gehören der Vergangenheit an. Es wird zwischen unseren Völkern keine blutigen Schlachten mehr geben. Sie wollen brüderlich zusammenleben, jedes das andere so wollend, wie es ist, und das Geheimnis seines Wesens achtend.
Doch - Platon hat es gesagt - alles Schöne ist schwer. Auch die Triumphbogen des Friedens wölbt die Spannung von Druck und Gegendruck der Widerlager. Ohne Widerstreit erstirbt das Leben an sich selbst.
Der Wechselschritt der Zeit wird in der Zwiesprache unserer Völker Dissonanzen aufklingen lassen. Doch was schadet es? Im Geiste Gabriel Marcels werden beide Völker das Wort wahrmachen, mit dem Hölderlin seinen Hyperion schließt: »Wie der Zwist der Liebenden sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder.«
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Der Nachdruck und jede andere Art der Vervielfältigung als Ganzes oder in Teilen, die urheberrechtlich nicht gestattet ist, werden verfolgt. Anfragen zur Nutzung der Reden oder von Ausschnitten daraus richten Sie bitte an: m.schult@boev.de
Carlo Schmid
Laudatio
Einerseits erscheint der Friede als das wesentliche Element einer Existenz, die dieses Namens würdig ist, aber andererseits scheint es, daß wir, sobald wir davon reden, Gefahr laufen, uns in den schlimmsten Gemeinplätzen zu verlieren.
Gabriel Marcel - Dankesrede
Gabriel Marcel
»Der Philosoph und der Friede«
Dankesrede
Zunächst möchte ich meine tiefe Dankbarkeit allen denen ausdrücken, die mir die große Ehre erwiesen haben, mir den Friedenspreis zuzuerkennen. Ich müßte lügen, wenn ich nicht ganz einfach gestehen wollte, daß ich darüber sehr glücklich bin und auch über die so tiefsinnige Einführung in mein Werk, die Sie, Herr Professor Schmid, soeben gegeben haben.
Ich wäre froh, glauben zu dürfen, daß mein Werk, dessen Bedeutung und Wert für mich Gegenstand eines ständigen Fragens ist, je mehr ich mich dem Ende nähere, zu dem Werke des Friedens, das in meinen Augen das bei weitem kostbarste ist, etwas - und sei es auch noch so wenig - beigetragen hätte. Es genügt nicht zu sagen, daß der Friede ein Gut ist, man muß vielmehr erklären, daß er die Grundbedingung für alles wahrhaft Gute ist, und ich glaube, daß wir alle heute mit Abscheu den Gedanken verwerfen müssen, daß der Krieg eine ihm eigentümliche Fruchtbarkeit besäße. Die Anwendung der Vernichtungswaffen, die wir mit Entsetzen und Verzweiflung erlebt haben, hat zumindest ganz deutlich gemacht, daß der Krieg etwas von Grund auf Böses ist, und zwar im Gegensatz zu dem, was - wenn schon nicht Hegel und Nietzsche selbst - so doch wenigstens eine große Anzahl ihrer Jünger verkündet haben.
Wie es mir aber fast immer am Anfang einer solchen Untersuchung ergeht, so hat sich meine Aufmerksamkeit auf gewisse Paradoxa gerichtet, die zum Nachdenken veranlassen.
Was sich mir dabei zeigt, möchte ich folgendermaßen formulieren. Einerseits erscheint der Friede als das wesentliche Element einer Existenz, die dieses Namens würdig ist, aber andererseits scheint es, daß wir, sobald wir davon reden, Gefahr laufen, uns in den schlimmsten Gemeinplätzen zu verlieren. Worin hat das seinen Grund? Muß man darauf antworten, daß der Friede in seinem Wesen etwas ganz Einfaches ist, das sich folglich mit der Analyse nicht fassen läßt, sondern eher in einer Art von rhetorischer Begeisterung? Seien wir aber vorsichtig, der Begriff der Einfachheit enthält einen gefährlichen Doppelsinn. Es gibt einerseits die elementare Einfachheit, die uns zwar in der Existenz nicht zweifelsfrei erscheint, die aber Voraussetzung jeder Synthese ist. Aber es ist ganz offensichtlich: wenn die traditionelle Theologie zu Recht oder zu Unrecht darauf besteht, daß Gott ein Einfaches ist, so handelt es sich hier um eine ganz andere Einfachheit, eine Einfachheit, in der alle Unterschiede vereint, verschmolzen und überwunden sind. Aber wir müssen erkennen, daß es nur allzu leicht ist, diese beiden in Wirklichkeit entgegengesetzten Formen der Einfachheit zu vermengen, und dieser Vermengung machen sich Ideologen fast ausnahmslos schuldig.
Was verstehe ich nun hier unter einem Ideologen im Gegensatz zu einem Philosophen im eigentlichen Sinne? Ein Ideologe ist ein Geist, der sich von dem Gespinst der reinen Abstraktionen gefangennehmen läßt. Ein Beispiel wird meinen Gedanken besser verständlich machen: Der Gedanke der Gleichheit - wenn man seine rein mathematische Anwendung außer acht läßt - kann nur den Ideologen verführen. Niemals könnte ein Philosoph, der diesen Namen verdient, den Gedanken der Gleichheit in der Anwendung auf menschliche Wesen ernst nehmen. Er kann dort nur eine μετάβασις εΐς άλλο γένος sehen, eine unzulässige Übertragung, denn die menschlichen Wesen, an sich betrachtet, geben keine Veranlassung zu einer Gedankenoperation, die allein der Vorstellung von Gleichheit einen Sinn verleihen kann. Zu sagen, daß die Menschen - ich spreche nicht von deren Rechten - gleich seien, ist ebenso widervernünftig, wie zu wünschen, daß sie es würden - (was übrigens auch keinerlei Sinn hat). Wünschenswert ist dagegen die Errichtung einer Ordnung, in der jedes Wesen eine gewisse Überlegenheit über die anderen besäße. Aber selbst diese Aussage bietet der Kritik einen Ansatzpunkt, denn eine solche Formel schließt wieder Vergleiche ein, und gerade der Versuchung zu vergleichen muß man widerstehen. Sprechen wir deshalb lieber von einer brüderlichen Welt, in der jeder sich freuen könnte, bei seinen Brüdern Eigenschaften zu finden, die er selbst nicht besitzt.
Aber von hier aus kommen wir geradewegs zu unserem Thema zurück, denn genau von dieser brüderlichen Welt könnte man mit voller Berechtigung sagen, daß sie im Frieden ist, während eine Welt, in der allgemeine Gleichheit beansprucht und gefordert wird, dies nicht vermag, und zwar aus einem Grunde, der bei der Untersuchung sofort deutlich wird: Gesetzt den Fall, das, was man Gleichheit nennt, könnte irgendwo errichtet werden, so würde sie unvermeidlich wieder in Frage gestellt werden, denn jeder der Gleichen wird unvermeidlich versuchen, sich über die anderen zu erheben, und das wäre ein Zustand ständiger Spannung, der mit dem, was wir Frieden nennen können, nicht vereinbar ist. Diese Spannung verschwindet dagegen, wenn ich gelernt habe, die Werte zu schätzen, die ich im anderen erkenne und von denen ich weiß, daß sie mir fehlen.
Diese brüderliche Welt, das müssen wir auch erkennen, setzt eine gewisse Identität - ich sage nicht eine Gleichheit - der fundamentalen Rechte voraus, das heißt dessen, was man die Grundbedingungen der sozialen Existenz nennen kann. Wie könnte eine brüderliche Welt da möglich sein, wo äußerstes Elend mit schamlos zur Schau getragenem Überfluß zusammentrifft? Aber durch einen leicht nachweisbaren Trugschluß verwechselt man die Identität der fundamentalen Rechte mit der Gleichheit der Individuen, denen diese Rechte nicht bewilligt, wohl aber zuerkannt werden.
Wenn ich in diesem Zusammenhang das Wort »brüderliche Welt« einführe, so glaube ich damit zugleich zu bemerken, wie jeder von uns, wie bescheiden, auch seine Stellung, wie begrenzt auch sein Horizont sei, zu dem Werk beitragen kann, von dem ich am Anfang dieser Rede sprach.
Aber wird man mir nicht entgegenhalten, daß ich dem eigentlichen Problem der politischen Ordnung ausweiche? Wir möchten wissen, ob es auf politischem Gebiet ein Engagement des Philosophen zugunsten des Friedens geben kann und wie es verstanden werden kann oder muß. Mir scheint, daß man hier einer doppelten Klippe ausweichen muß: Einerseits meldet sich bei dem Philosophen zu oft ein Anspruch, sich einzumischen, das heißt, apodiktische Urteile über eine konkrete Situation abzugeben, von der er in Wirklichkeit nur eine sehr unvollkommene Kenntnis hat. So sind viele von uns dazu aufgerufen worden, ihre Unterschrift unter diesen Aufruf oder jene Petition zu setzen, die zumeist von Leuten entworfen wurden, die in rein politischen Vorstellungen befangen waren. Ich spreche hier aus Erfahrung und muß bekennen, daß ich meinerseits oft aus Schwäche und aus der Furcht gefehlt habe, man könnte mich für konservativ, indifferent oder gefühllos halten, wenn ich nicht unterschriebe, obwohl ich mich um diese möglichen Reaktionen gewiß nicht hätte kümmern dürfen. Die Erfahrung zeigt unglücklicherweise, daß diese Aufrufe selbst da, wo sie völlig gerechtfertigt sind, kaum etwas ausrichten und daß man durch seine Unterschrift vor allem versucht, sich selbst ein gutes Gewissen zu verschaffen.
Aber es gibt noch eine andere Klippe: Es kann geschehen, daß der Philosoph es ablehnt, sich zu engagieren, nicht aus Feigheit, sondern weil ihm alles Politische seinem Wesen nach unrein erscheint. Ich glaube, daß darin ein Irrtum liegen kann, der mindestens ebenso schwer ist wie der, von dem ich gerade sprach, ein Irrtum, der zweifellos auf der Vorstellung von Reinheit beruht. Die Enthaltung an sich ist sicher nicht rein, und sei es nur, weil sie zweideutig ist, und weil der, der sich enthält, sich selbst über seine eigentlichen Beweggründe nicht immer ganz im klaren sein kann.
Die einzige Lösung, die mich befriedigte, besteht darin, so genau wie möglich zu unterscheiden zwischen Fällen, bei denen universelle Prinzipien im Spiele sind und wo man sich folglich durch Enthaltung an einer unentschuldbaren Verfehlung mitschuldig machen würde, und den davon sehr verschiedenen Fällen, die eher Fragen reiner Opportunität betreffen. Ich nenne hier ein Beispiel: Am Tage nach der Anerkennung der Regierung des kommunistischen China durch Frankreich bat man mich, einen Protest zu unterschreiben, in dem an die Verbrechen erinnert werden sollte, die dem Pekinger Regime zuzuschreiben sind. Aber es ist nur allzu klar, daß ähnliche Verbrechen auch anderen, seit langem anerkannten kommunistischen Staaten vorgeworfen werden können. Andererseits kann es prinzipiell nur absurd erscheinen, die Existenz eines Volkes von 600 Millionen Menschen leugnen zu wollen. Die einzige Frage ist demnach eine Frage der Opportunität, ob der Augenblick für diese Anerkennung gut oder schlecht gewählt war. Das ist eine schwierige und wichtige Frage, zu der aber, meiner Meinung nach, der Philosoph als solcher nicht vernünftig Stellung nehmen kann, das heißt, indem er rational ausschlaggebende Gründe geltend macht. Ich hielt es daher für meine Pflicht, meine Unterschrift zu verweigern, obwohl ich dem Gefühl nach geneigt war, sie zu geben.
Ich betone nochmals, der Philosoph muß sich in jedem Falle vor der Versuchung hüten zu glauben, daß sein Name auf einem Stück Papier etwas ändern könne, was es auch sei, und dies deswegen, weil er als Philosoph die Fallen kennt, in die das Ich unvermeidlich fällt, wenn es sich selber gefällig bleibt.
Aber läuft das nicht darauf hinaus zu sagen, daß der Philosoph in der Politik, in der sich doch alles entscheidet, nicht nur sein Unvermögen, sondern auch seine völlige Unzuständigkeit zugeben muß? Das zu behaupten, hieße zu weit gehen. Doch welche Rolle kann man ihm zuerteilen, wenn es darum geht, den Frieden zu schützen? Ich glaube, daß das Wort Wächter am genauesten diese Rolle charakterisiert. Darunter verstehe ich folgendes: Wachen, das heißt wachbleiben, aber noch genauer, zuerst für sich selbst gegen den Schlaf kämpfen. Aber um welche Art von Schlaf handelt es sich? Er kann sich in verschiedener Gestalt darbieten. Da ist zuerst die Gleichgültigkeit, das Gefühl, daß ich nichts vermag, das heißt der Fatalismus, der übrigens verschiedene Aspekte annehmen kann. Daher rührt auch der recht bequeme Optimismus derer, die denken, daß sich letzten Endes alles schon arrangieren werde (als wenn das Geschehene eine Zuversicht dieser Art nicht auf schlagende Weise widerlegt hätte). Daneben gibt es auch die freiwillige Unbeteiligtheit dessen, der unter dem Vorwand, daß ja doch alle lügen, weder Zeitungen liest noch Radio hört. Sich wachhalten, heißt tätig gegen alles reagieren, was uns zur Annahme dieser feigen oder trägen Haltung bringen könnte. Es gibt also durchaus eine Tugend der Wachsamkeit, die der Philosoph im Rahmen des Möglichen ausüben muß. Aber diese muß sich, wie ich glaube, vor allem gegen jede Propaganda richten und besonders gegen die, deren sich fast unablässig die öffentlichen Mächte bedienen, selbst in den Ländern, die nicht unter einer Diktatur stehen. Denn man kann ohne Zweifel prinzipiell sagen, daß eine Propaganda, wie beschaffen sie auch sei, in dem Maße, in dem sie dazu beiträgt, eine Gruppe gegen andere Gruppen aufzubringen, auch ohne es zu wollen im Sinne des Krieges arbeitet. Und ich möchte hinzufügen, daß dies, so paradox diese Behauptung auch klingen mag, sogar auf die pazifistische Propaganda zutrifft. Die Geschichte zeigt zudem nur allzu häufig, daß diese unbewußt im Sinne der entgegengesetzten Propaganda arbeitet.
Dabei stellen sich jedoch verschiedene Fragen: Wenn der Philosoph diese Wachsamkeit einzig für sich selber ausübt, wozu dient sie dann? Welchen positiven Wert kann man ihr zuerkennen? Aber wie könnte man andererseits hoffen, die Presse, so wie sie in den meisten Ländern ist, für den Dienst einer kämpferischen Klarsichtigkeit zu gewinnen, die ihrem Wesen nach von allen Gruppen- oder Parteiinteressen frei ist, da sie die Errichtung des Friedens zum Ziele hat?
Die Erfahrung zeigt deutlich genug, daß es sich da nicht nur um eine theoretische Schwierigkeit handelt. Man muß sich immer an die Macht des Geldes wenden, eine arme Macht allerdings, um die öffentliche Meinung aufzurütteln, um ihr die Bedrohungen zum Bewußtsein zu bringen, die in einem bestimmten Augenblick auf dem Schicksal eines Landes und damit sogar auf der gesamten Menschheit lasten, da heute, ob man sich dessen nun freuen muß oder nicht, das, was an einem Punkte des Planeten geschieht, das Leben auch der entferntesten Länder betreffen kann.
Tragisch ist aber, daß sich immer Menschen, finden, deren Hintergedanken mehr als verdächtig sind, und die nun versuchen, Aufrufe, die einzig aus gutem Willen hervorgehen, zu ihrem eigenen Vorteile auszunutzen, und der Philosoph ist nicht immer klarsichtig genug - er ist sogar im allgemeinen zu harmlos -, um zu bemerken, in welcher Weise sein Gedanke von Menschen ausgebeutet wird, die nichts mit ihm gemein haben. Daß dies so ist, ist schmerzlich, aber vielleicht unvermeidlich, denn wenn der Philosoph scharfsichtiger wäre, verlöre er vielleicht den Mut und versänke im Skeptizismus.
Es liegt keineswegs in meiner Absicht, die Schwierigkeiten aller Art zu unterschätzen, auf die derjenige stößt, der heute in dieser bedrohlichen Welt, die uns überall umgibt, für den Frieden zu kämpfen versucht. Ich meine weder ausschließlich noch grundsätzlich äußerliche Schwierigkeiten, sondern vielmehr die unlösbaren Widersprüche, auf die er innerhalb seines eigenen Denkens stößt, wenn er redlich ist. Sie werden mir erlauben, hier ganz genau zu sprechen. Ich hätte das Gefühl, unehrenhaft zu sein, wenn ich nicht eine Unsicherheit in dieser Lage eingestünde oder eine Aporie, aus der herauszufinden mir noch nicht gelungen ist, und auch das umfangreiche Buch, das Karl Jaspers diesem Problem gewidmet hat, erlaubt trotz seines unbestreitbaren Wertes zweifellos nicht, eine Schwierigkeit zu lösen, die so tief in unserer Situation selbst verwurzelt ist.
Einerseits muß ich glauben, daß es in sich selbst nicht zu rechtfertigen ist, seine Zuflucht zu nuklearen Waffen zu nehmen. Als Christ bin ich überzeugt, daß damit ein Verbot verletzt wird, das ich als unbedingt ansehen muß. Andererseits erkenne ich mir als verantwortlicher Schriftsteller nicht das Recht zu, eine einseitige atomare Abrüstung zu empfehlen, die unter Umständen die freie Welt ohne mögliche Hilfe den Angriffen eines Gegners auslieferte, für den das Gewissen nur ein Wort ohne Inhalt ist. Ich erinnere mich, dieses Problem mit Studenten der Harvard-Universität diskutiert zu haben, bei denen ich bei dieser überaus ernsten Frage einer vollauf gerechtfertigten Angst begegnete. Keine Seite dieser Alternative darf ausgeschaltet oder unterschätzt werden. Wie mir scheint, kann man unter diesen Bedingungen nur hoffen, Zeit zu gewinnen, derart, daß sich auf der anderen Seite die Vernunft allmählich gegen einen ideologischen Fanatismus durchsetzt, der von selbst zum Kriege führt. Das Wort Vernunft ist allerdings hier vielleicht nicht völlig passend. Es ist schwierig zu glauben, daß eine Philosophie der Aufklärung wie die Lessings z. B., welches auch ihr sittlicher Wert gewesen sein mag, von neuem eine Welt regieren könne, die so tief von Verzweiflung ergriffen ist: Wir können vielmehr mit einer tiefen Erneuerung des Christentums rechnen, wenigstens in den Ländern, die der Geist des Christentums vielleicht unauslöschlich geprägt hat. Für China ist das freilich anders, und hier ist das Problem so beängstigend wie nur möglich. Aber selbst was Osteuropa betrifft, stellt sich eine sehr heikle Frage. Es handelt sich tatsächlich darum, um welchen Preis man das erhalten kann, was man gewonnene Zeit nennt, mit welchen Zugeständnissen man das bezahlen muß; sie dürften auf keinen Fall so beschaffen sein, daß sie die Stellungen, die man verteidigen will, gefährlich erschütterten. Das Bild der Stück um Stück allmählich entblätterten Artischocke stellt sich mit all den schrecklichen Gedankenassoziationen, mit denen es belastet ist, vor unser Bewußtsein. Es handelt sich für den Staatsmann also darum, eine Fähigkeit der Abschätzung zu entwickeln, die sich nicht allein auf den Augenblick richtet, sondern wenigstens ebenso sehr auf die manchmal fernliegenden Konsequenzen augenblicklicher Entscheidungen. Mir scheint, daß der Philosoph sich hier seiner Unterlegenheit einem Politiker gegenüber, der dieses Namens würdig ist, bewußt werden muß. Es würde von der wahnsinnigsten Täuschung zeugen, wenn er glauben wollte, er könne den Staatsmann, und sei es auch nur in der Vorstellung, ersetzen. Das kann er genauso wenig, wie er zum Beispiel den Platz eines Chirurgen einnehmen könnte. Die Verantwortlichkeiten sind übrigens sehr ähnlich. In dem einen wie in dem anderen Falle muß man rechtzeitig eingreifen können, weder zu früh noch zu spät, ein Irrtum in der Einschätzung des Kairos kann für die gesamte Menschheit die katastrophalsten Folgen nach sich ziehen; wir haben es erlebt, auf unsere Kosten und auf Kosten der ganzen Menschheit.
Ich muß um Entschuldigung bitten, daß ich mich hier bis an den Rand des historischen Abgrunds vorgewagt habe, aus dem, wie es scheint, unsere beiden Völker endlich in einer Art aufsteigen, die wie ein Wunder anmuten mag. Aber in Wirklichkeit schätze ich das Wort Wunder in einem solchen Zusammenhang nicht; es benutzen hieße auf unzulässige Weise die hartnäckigen und stillen Anstrengungen so vieler beherzter Männer übergehen, die gelitten und gekämpft haben, um den Anbruch einer Ära der Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland vorzubereiten.
Sie werden es mir sicher nicht übelnehmen, wenn ich hier an einen von ihnen, einen der besten, einen der edelsten erinnere: Robert Schuman. Ich habe ihn wenig gekannt, aber doch gut genug, um heute mit Bewegung und Dankbarkeit an ihn zu denken, und ihm widme ich die unzureichenden Worte, die ich hier eben sprach.
Der Name Robert Schumans scheint hier zudem um so passender, als er mir erlaubt, zu meinem Anfangsthema, dem der brüderlichen Welt, zurückzukehren. Er ist einer jener unendlich seltenen Menschen gewesen, die durch ihr Beispiel bewiesen haben, daß ein Staatsmann mit den unvermeidlich unzulänglichen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, gleichwohl für den Anbruch dieser Gemeinschaft der Herzen und Geister arbeiten kann, die das einzig legitime Ziel ist, das man der Geschichte setzen kann, obwohl dieses Ziel seinem Wesen nach ohne Zweifel überhistorisch ist. Der Friede ist zweifellos eine eschatologische Vorstellung, und dennoch muß jeder von uns - und um wieviel mehr gilt das für die, die uns regieren - so dafür arbeiten, als wenn der Friede morgen zu erreichen wäre, als wenn er im Rahmen der irdischen Welt errichtet werden könnte.
Bevor ich schließe, möchte ich aber direkter, als ich dies bis jetzt getan habe, von der wahren Dimension sprechen, der übersinnlichen Dimension, in der der Friede wahrhaft weilt: Es ist die Musik, die mir den Zugang zu dieser Dimension seit dem frühesten Kindesalter eröffnet hat. Und als ich diese Rede verfaßte und im schönsten Theater der Welt - in Versailles - wieder das erhabene Quartett op. 135 von Beethoven hörte, erkannte ich, daß ich hier mit all der Dankbarkeit, die er mir einflößt, an das unvergleichliche Genie erinnern müsse, dessen Werk uns das brennende Zeugnis einer Seele schenkt, die durch die heftigsten Kämpfe hindurch jenseits der unlösbarsten Spannungen zum Frieden gelangt. Dies ist der Friede einer endlich brüderlichen Welt. Aber man muß sagen, daß er weder aufgezwungen, noch, um genau zu sein, erworben wird. Nein, er steigt vielmehr wie eine belebende Brise herab am Ende eines heißen Tages zu dem, der so viel geirrt und so viel - oft gegen sich selbst - gekämpft hat. Der unvergleichliche Satz Goethes, der leider ein Gemeinplatz für Abiturienten geworden ist: »Über allen Gipfeln ist Ruh'« zeigt uns hier seinen wahren Sinn. Was ist in der Tat der Gipfel, wenn nicht gerade der Ort dieses Hauches von anderswo, der wie ein Segen des Jenseits die fiebrige Stirn des Helden streift. Mir scheint, daß ich niemals genau und nachdrücklich genug werde sagen können, was diese letzten Werke Beethovens für mich bedeutet haben. Die »Missa solemnis« ist für mich das Meisterwerk der Meisterwerke. Jedes Mal, wenn ich sie höre, scheint mir, daß sie eine Leere um sich schafft. Aber das ist nur ein Wahn, gegen den man sich verteidigen muß, denn der Höchste schließt nichts aus, er umgreift alles, und wenn er vielleicht zerstreut, was nur ein glühender Dunst schien, aufgestiegen aus dem Nichts, so ist das nur ein Werk der Barmherzigkeit.
Wenn es in meinem Werk einen Begriff gibt, der alle anderen überragt, so ist es zweifellos der der Hoffnung, verstanden als Mysterium. Ein Begriff, habe ich gesagt, wie belebt von innen her durch eine inbrünstige Antizipation. »Ich hoffe für uns auf Dich« habe ich geschrieben, und das ist auch heute noch die einzige Formulierung, die mich befriedigt.
Wir können noch deutlicher sagen: Ich hoffe auf Dich, der Du der lebendige Friede bist, für uns, die wir noch im Kampfe liegen mit uns selbst und gegeneinander, damit es uns eines Tages gewährt werde, in Dich einzugehen und an Deiner Fülle teilzuhaben.
Und mit diesem Wunsch, mit diesem Gebet, glaube ich diese Betrachtung schließen zu dürfen.
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Gabriel Marcel
Dankesrede des Preisträgers
Chronik des Jahres 1964
+ + + An den Ostermärschen 1964 der Atomwaffengegner nehmen erstmals über 100 000 Menschen teil. + + + Im Juni wird die »Palästinensische Befreiungsorganisation« (PLO) gegründet. Im südafrikanischen Pretoria wird Nelson Mandela, der Führer der Befreiungsbewegung »Afrikanischer Nationalkongress« (ANC), zu lebenslanger Haft verurteilt. + + +
+ + + Mit der Unterzeichnung des Bürgerrechtsgesetzes am 2. Juli durch US-Präsident Johnson wird der bislang bedeutendste Schritt zur Gleichstellung von Schwarzen und Weißen in den USA getan. Das Gesetz besagt, dass schwarze Bürger bei Wahlen auf Bundesebene nicht benachteiligt und diskriminiert werden dürfen. + + + Martin Luther King erhält im Herbst den Friedensnobelpreis. + + + Nach US-amerikanischen Angaben haben im August nordvietnamesische Kriegsschiffe im Golf von Tongking zwei US-Zerstörer angegriffen. Dies wird zum Anlass für die Bombardierung von Zielen in Nordvietnam durch US-Flugzeuge. Der Vietnamkrieg beginnt. + + + Im September trifft in Köln der millionste Gastarbeiter ein und erhält ein Moped als Geschenk. + + + Am 28. November wird die rechtsextreme »Nationaldemokratische Partei Deutschlands« (NPD) gegründet. + + + Nachdem China sich weigert, dem im August 1963 unterzeichneten Atomteststopp-Abkommen beizutreten, wird im Oktober die erste chinesische Atombombe zu Testzwecken gezündet. + + + Der sowjetische Partei- und Regierungschef Chruschtschow wird im Oktober aller Ämter enthoben. Als Hintergrund der Aktion werden der sich verschärfende Konflikt mit China und der wirtschaftliche Misserfolg betrachtet. Regierungschef wird Alexej N. Kossygin, neuer Parteichef Leonid I. Breschnew. + + +
Biographie Gabriel Marcel
Der am 7. Dezember 1889 in Paris geborene Gabriel Marcel studiert an der Sorbonne Philosophie. Er promoviert 1910 und arbeitet fortan als Lehrer in verschiedenen französischen Städten. 1922 wendet er sich dem Verlagswesen zu und betätigt sich als Lektor, Herausgeber und Theaterkritiker. Bei seinen zahlreichen Reisen durch die ganze Welt begegnet Marcel führenden Persönlichkeiten und widmet sich verstärkt den Problemen und Gefahren seiner Zeit.
1929 tritt er vom Judentum zum Katholizismus, der Religion seines Vaters, über und wird zum Begründer und Vordenker des christlichen Existentialismus in Frankreich. Er selbst bezeichnet diese Schule als »Neosokratismus«.
Zwischen 1939 und 1941 unterrichtet er als Universitätsprofessor in Paris und Montpellier. Die Zerrissenheit des Menschen zwischen der Welt des Habens und der des authentischen Seins und die Heilung dieses Bruchs durchzieht als Grundgedanke sein großes dramatisches und in 15 Bänden gesammeltes philosophisches Werk.
Gabriel Marcel stirbt am 8. Oktober 1973 im Alter von 83 Jahren.
Bibliographie
Die französische Literatur im 20. Jahrhundert
Acht Vorträge. Herder Bücherei, 259. Herder Verlag, Freiburg 1966
Der Philosoph und der Friede. Die Verletzung des privaten Bereichs und der Verfall der Werte in der heutigen Welt
Frankfurt 1964
Die Erniedrigung des Menschen
Frankfurt 1964
Schöpferische Treue
Paderborn 1963
Gegenwart und Unsterblichkeit
Frankfurt 1961
Der Untergang der Weisheit. Die Verfinsterung des Verstandes
Heidelberg 1960
Philosophie der Hoffnung. Überwindung des Nihilismus
München 1957
Der Mensch als Problem
Frankfurt 1956
Metaphysisches Tagebuch. Der Philosoph der Hoffnung in seinem geistigen Werdegang
Wien 1955
Geheimnis des Seins
Wien 1952
Homo Viator, Philosophie der Hoffnung
Düsseldorf 1949
Sein und Haben
Paderborn 1968 (frz. Original 1935)