Carl Friedrich von Weizsäcker
Bedingungen des Friedens
Dankesrede
Als erstes danke ich dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels für die Verleihung seines Friedenspreises. Ich danke den drei Rednern, die vor mir gesprochen haben, und deren Worte für mein heutiges Anliegen hilfreich waren. Ich danke der Stimme der Freundschaft.
Bei der ersten Nachricht habe ich einen Augenblick gezaudert, ob ich diesen Preis annehmen dürfe. Hat jemand von uns, und gar ich, genug für den Frieden getan? Ist der Friede soweit gesichert, daß man für ihn einen Preis verleihen kann?
Aber man soll diesen Preis wohl nicht als Anerkennung einer vollzogenen Leistung verstehen, sondern als Unterstützung einer fortdauernden Anstrengung. Diese Anstrengung ist freilich nicht die Arbeit eines Einzelnen. Ich bin heute aufgefordert, als einer von Vielen und im Namen dieser Vielen zu sprechen. Man bittet mich wohl insbesondere zu sprechen im Namen des Kreises der Atomphysiker, weitergespannt der Naturforscher, überhaupt der Wissenschaftler. Der Wissenschaft ist in den letzten beiden Jahrzehnten der Friede in einer vorher nicht geahnten Weise zu ihrem besonderen, unausweichlichen Problem geworden.
In den vergangenen Jahren habe ich mehrmals, teils gemeinsam mit Kollegen und Freunden, teils allein, öffentlich gesagt, was meiner Überzeugung nach heute in unserem Lande politisch notwendig ist. Die Bereitschaft zu solchen Äußerungen erscheint mir als staatsbürgerliche Pflicht. Ich habe nichts von dem damals Gesagten zurückzunehmen und bin bereit, mich, wenn es nötig scheint, wieder zu konkreten Anliegen des Tages zu äußern. Heute habe ich aber ein anderes Ziel. Ich will über die allgemeinen Bedingungen sprechen, unter denen alle konkreten Einzelentscheidungen beurteilt werden müssen. Die politischen Reaktionen, die man bei uns öffentlich zu sehen bekommt, sind zu sehr von zwei Elementen bestimmt: Lethargie und blinder Emotion. Beide machen denselben Fehler; sie verzichten aufs Denken. Jeder, der mit überlegten Vorschlägen an die Öffentlichkeit tritt, macht die bittere Erfahrung, daß die Kritik und oft auch die Zustimmung an Einzelheiten hängen bleibt, die nur vor dem Hintergrund eines Bildes der gesamten Weltlage beurteilt werden könnten. Diese Weltlage ist kompliziert; sie stellt unser Denken vor schwierige Probleme. In der vereinfachenden Weise, die in einer halbstündigen Rede allein möglich ist, will ich von diesen Problemen sprechen. Bitte verkennen Sie hinter dem kühlen Ton der Analyse nicht, daß diese Analyse auf die Ermöglichung sicherer Tritte auf dem praktischen Weg zum Frieden zielt.
Ich spreche also von den Bedingungen des Weltfriedens. Beim Nachdenken über sie sind verschiedene Aufgaben zu unterscheiden. Es gibt so etwas wie eine politische Generalstabsarbeit, die eine »Strategie der Friedenssicherung« entwirft. Diese Arbeit muß sich aufs Detail einlassen. Es ist eine der Stärken der heutigen amerikanischen Politik, daß sie sich auf solche Arbeit stützen kann. Wir werden dieser Politik weder gute Bundesgenossen, noch, wenn das einmal nötig sein sollte, gute Kritiker sein, wenn wir nicht ebenso planen lernen. Es ist mein Anliegen, im Sinne solcher Planung zu sprechen. Ich kann Ihnen jedoch nicht Ergebnisse derartiger Arbeit vortragen. Sie ist in unserem Land erst in den Anfängen, und in ihren Einzelheiten ist sie nicht mein Beruf. Aber diese Planung vollzieht sich vor dem vorgegebenen Hintergrund der Struktur der heutigen und der Möglichkeiten der morgigen Welt. Über diese Struktur und diese Möglichkeiten nachzudenken, gehört zu meinem Beruf; über sie will ich sprechen. Die besonderen Angelegenheiten Deutschlands werde ich dabei nur in einzelnen Bemerkungen streifen.
Ich beginne mit drei Thesen:
- Der Weltfriede ist notwendig.
- Der Weltfriede ist nicht das goldene Zeitalter.
- Der Weltfriede fordert von uns eine außerordentliche moralische Anstrengung.
Diese Thesen scheinen mir heute schon fast selbstverständlich. Nehmen wir sie ernst, so folgt aber viel aus ihnen. Ich wiederhole sie daher, zunächst mit wenigen erläuternden Zusätzen:
1. Der Weltfriede ist notwendig. Man darf fast sagen: der Weltfriede ist unvermeidlich. Er ist Lebensbedingung des technischen Zeitalters. Soweit unsere menschliche Voraussicht reicht, werden wir sagen müssen: Wir werden in einem Zustand leben, der den Namen Weltfriede verdient, oder wir werden nicht leben.
2. Der Weltfriede ist nicht das goldene Zeitalter. Nicht die Elimination der Konflikte, sondern die Elimination einer bestimmten Art ihres Austrags ist der unvermeidliche Friede der technischen Welt. Dieser Weltfriede könnte sehr wohl eine der düstersten Epochen der Menschheitsgeschichte werden. Der Weg zu ihm könnte ein letzter Weltkrieg oder blutiger Umsturz, seine Gestalt könnte die einer unentrinnbaren Diktatur sein. Trotzdem ist er notwendig.
3. Eben darum fordert der Weltfriede von uns eine außerordentliche moralische Anstrengung. Er ist unsere Lebensbedingung, aber er kommt nicht von selbst, und er kommt nicht von selbst in einer guten Gestalt. Seit die Menschheit besteht, hat es, soweit wir wissen, den Weltfrieden nicht gegeben; etwas Beispielloses wird von uns verlangt. Die Geschichte der Menschheit lehrt, daß das bisher Beispiellose oft eines Tages verwirklicht wird. Dies geschieht nicht ohne außerordentliche Anstrengung; und wenn der Friede menschenwürdig sein soll, muß die Anstrengung moralisch sein.
Ich gehe nun ins einzelne, und gleichsam als Überschrift wiederhole ich die Thesen ein drittes Mal mit je einem kurzen, begründenden Zusatz:
Der Weltfriede ist notwendig, denn die Welt der vorhersehbaren Zukunft ist eine wissenschaftlich-technische Welt.
Der Weltfriede ist nicht das goldene Zeitalter, sondern sein Herannahen drückt sich in der allmählichen Verwandlung der bisherigen Außenpolitik in Welt-Innenpolitik aus.
Der Weltfriede fordert von uns eine außerordentliche moralische Anstrengung, denn wir müssen überhaupt eine Ethik des Lebens in der technischen Welt entwickeln.
Wie sehen diese Zusammenhänge im einzelnen aus?
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1. Der Weltfriede ist notwendig, denn die Welt der vorhersehbaren Zukunft ist eine wissenschaftlich-technische Welt. Inwiefern ist sie eine wissenschaftlich-technische Welt? Wie tief greifen ihre Forderungen? Inwiefern macht sie den Frieden notwendig? Ich wähle die primitivsten Beispiele, versuche sie aber weit genug zu verfolgen.
Die Technik ernährt uns. Was haben Sie heute zum Frühstück gegessen oder getrunken? Vom dänischen Ei über das Brötchen aus kanadischem Weizen zum Kaffee aus Brasilien sind diese Lebens- und Genußmittel auf rationalisierte, technische Weise erzeugt, mit modernen technischen Mitteln herbeigebracht, frischgehalten, gebacken, gekocht. Eine Erinnerung zwanzig Jahre zurück genügt, uns klarzumachen, was geschieht, wenn uns diese Apparatur nicht mehr zuverlässig bedient. Heute müssen die Entwicklungsländer sich industrialisieren und ihre Landwirtschaft technisieren, wenn sie dem nackten Hunger entgehen wollen. Unsere eigene Landwirtschaft wird andererseits in der Weltkonkurrenz höchstens noch bestehen können, soweit sie sich entschlossen modernisiert; wo das nicht zureichend gelingt, werden staatliche Subventionen nur ihr Ende hinauszögern. Die technische Welt gewährt uns zwar ein Leben in bisher beispielloser Fülle materieller Güter. Aber die Gesetze ihres Funktionierens sind nicht minder erbarmungslos als die des Lebens in der Natur.
Warum sind denn viele Völker der Erde heute vom nackten Hunger verfolgt? Ich gehe hier nicht auf das große Problem der richtigen Güterverteilung ein, das schon zur Welt-Innenpolitik gehört. In den vortechnischen Jahrtausenden gab es keinen großen Welthandel mit den elementaren Nahrungsmitteln, und diese Völker haben doch, wenngleich mit periodischen Hungersnöten, zu essen gehabt. Warum? Damals war die Bevölkerungszahl über lange Zeiten etwa konstant, oder die Landnahme konnte mit ihr Schritt halten. Die wissenschaftliche Einsicht und die technischen Mittel der modernen Medizin und Hygiene haben ein vorerst unaufhaltsam scheinendes Wachstum der Bevölkerungszahlen, in Gang gebracht. Wissenschaft und Technik scheinen uns wohl mit Recht nirgends so segensreich wie in der Medizin. Eben dieser Segen wird hier zur Quelle des vielleicht schwierigsten Lebensproblems unserer Zeit. Welche Abhilfen gibt es? Ich sehe nur zwei, die Aussicht bieten, in der Breite Erfolg zu haben, und zwar indem sie zusammenwirken; beide gehören selbst der Welt der Technik und der wissenschaftlichen Medizin an: Vermehrung der Lebensmittelproduktion und Beschränkung der Geburtenzahl.
Der Vermehrung der Lebensmittelproduktion als vordringlichem Ziel dient die Technisierung der Entwicklungsländer mit dem durch sie erzwungenen Umsturz uralter Gesellschaftsordnungen. Auf diesem Weg ist viel zu erhoffen. Aber eines Tages muß die Geburtenzahl zum Stehen kommen, denn die Erde ist endlich und der Weltraum ist der Massenauswanderung verschlossen. Je später die Geburtenzahl zum Stehen kommt, desto schärfere Anforderungen werden an das Gewebe der Produktion und Verteilung gestellt, desto verletzlicher wird also der Apparat, an dem die Ernährung der Menschheit hängt. Ungestörtes Funktionieren der Weltwirtschaft setzt den Weltfrieden voraus; schon aus diesem Grunde ist er notwendig. Die Geburtenzahl ihrerseits wird nicht aus biologischen Gründen zum Stehen kommen; wenigstens bietet unsere Kenntnis der Gesetze des Lebens keinen Anlaß zu einer so bequemen Hoffnung. Ihre Beschränkung wird also entweder als eine sich durchsetzende Sitte oder aus Anordnung des Staates kommen. So tief wird der Mensch in der wissenschaftlich-technischen Welt genötigt, in seine Natur und in die Ausübung seiner Freiheit einzugreifen. Die ethischen und weltinnenpolitischen Folgen dieser Tatsachen versuche ich hier nicht auszumalen.
Heute schon allen sichtbarer geht die Notwendigkeit des Friedens aus der Entwicklung der Waffentechnik hervor. Wissen erzeugt Macht. Die Atomphysik, aus rein wissenschaftlichem Interesse entstanden, hat uns die Möglichkeit der Atomwaffen eröffnet. Der politische und gesellschaftliche Zustand der Menschheit ist so, daß von einer solchen Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, einerlei ob Einzelne sich der Teilnahme verweigern. Als Erkenntnis ist die Möglichkeit der modernen Waffen nicht mehr auszurotten; in diesem Sinne müssen wir für alle vorhersehbare Zukunft mit der Bombe leben. Trotzdem kann ein manifester Akt der Verweigerung der Teilnahme an ihr seinen Sinn haben. Er kann darauf hinweisen, daß der politische und gesellschaftliche Zustand der Menschheit, der diese Gefahr mit sich bringt, geändert werden muß.
Es gibt ab und zu Phasen vorübergehender Selbststabilisierung im historischen Prozeß, die wie ein Eingriff einer gnädigen Vorsehung, wie eine uns zur Nutzung gewährte Frist erscheinen. So ist heute die Gefahr des großen Kriegs gerade durch die Erkenntnis der vernichtenden Wirkung dieser Waffen gemindert. Aber das behutsame Verfahren der führenden Staatsmänner ist selbst ein Akt schwer errungener Einsicht. Diese Einsicht bedarf der Ausarbeitung im Detail. Sie bedarf der Expertenarbeit; sie bedarf einer Wissenschaft und Technik oder, wie ich eingangs sagte, einer Strategie der Friedenssicherung. Die technische Welt stabilisiert sich nicht von selbst; sie stabilisiert sich, soweit Menschen sie zu stabilisieren lernen.
Deshalb ist der bewußt gewollte, geplante und herbeigeführte Weltfriede Lebensbedingung des technischen Zeitalters. Vergleichen wir den Weg zu diesem Frieden mit der Besteigung eines noch nicht bezwungenen Felsenbergs. In früheren Jahrhunderten stieg die Menschheit durch Geröllhalden, in denen ein häufiges Zurückgleiten unvermeidlich, aber nicht tödlich war. Heute nähern wir uns der Gipfelregion. Sie bietet hartes Gestein; das Gestein historischer Notwendigkeit. In ihr kann man vielleicht sicherer steigen als früher. Aber man muß steigen wollen, und man muß es technisch können; und ein Ausgleiten hier oben ist wahrscheinlich tödlich.
Hierzu noch eine letzte klarstellende Bemerkung. Wie manche andere habe ich in den letzten Jahren gelegentlich öffentlich gesagt, ein mit planmäßigem Einsatz der verfügbaren Waffen heute geführter Weltkrieg würde vermutlich die Menschheit nicht völlig ausrotten. Ich habe das gesagt, weil mir wichtig schien, daß wir in allen Erwägungen das Maß behalten. Ich bin dann gelegentlich so zitiert worden, als dürfe hieraus abgeleitet werden, ein Krieg sei unter Umständen immerhin noch zu verantworten. Ich kann mir keinen törichteren und schrecklicheren Mißbrauch meiner Äußerungen denken. Freilich wissen wir alle, daß die Regierungen der Weltmächte heute auf die Drohung mit einer letzten Bereitschaft zum nuklearen Krieg noch nicht zu verzichten vermögen. Aber diese Staatsmänner wissen selbst am besten, daß sie dabei zugleich mit dem Selbstmord alles dessen drohen, was sie selbst zu verteidigen wünschen. Wer diesen Krieg überleben würde - und in Europa würden es wenige sein - der würde nur bedauern, daß er nicht unter den Toten ist. Von Freiheit und Demokratie würde nachher schwerlich noch die Rede sein, sondern von Hunger, Radioaktivität und der letzten Hoffnung auf eine starke Hand. Der billige Ausweg aus dem Nachdenken, der lautet »entweder es bleibt Friede, oder wir sind alle tot« - dieser Ausweg ist uns versperrt.
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2. Wir haben bereits den Fragenkreis der Weltpolitik betreten. Die zweite These lautete: Der Weltfriede ist nicht das goldene Zeitalter, sondern sein Herannahen drückt sich in der allmählichen Verwandlung der bisherigen Außenpolitik in Welt-Innenpolitik aus. Unter dem Titel Welt-Innenpolitik werde ich hier zwei verschiedene, aber beide aus der Vereinheitlichung der Welt entspringende Phänomene beschreiben: die Entstehung übernationaler Institutionen und die Beurteilung weltpolitischer Probleme mit innenpolitischen Kategorien.
Daß Außenpolitik kleinerer in Innenpolitik größerer politischer Einheiten übergeht, ist ein uns aus der Geschichte vertrauter Vorgang. Es sind noch keine hundert Jahre verflossen, seit zum letztenmal deutsche Staaten gegeneinander Krieg führten. Damals kämpfte der König von Preußen gegen die Könige von Bayern, von Württemberg, von Hannover und den Kaiser von Österreich. Der jungen Generation von heute ist das schon fast unvorstellbar. Die Interessen- und Temperamentsdifferenzen der deutschen Stämme haben seitdem nicht aufgehört, und moralischer ist die Politik inzwischen gewiß nicht geworden. Aber innerhalb des Bismarckschen Reiches und heute innerhalb der Bundesrepublik gab und gibt es verfassungsmäßige Wege zum Austrag der Differenzen. Wo diese Wege, noch nicht einmal durch Gewalt, sondern z. B. durch Unwahrheit verlassen werden, erhebt sich berechtigte und in manchen Fällen erfolgreiche Empörung. Wir müssen hoffen, daß denen, die in hundert Jahren jung sein werden, die vergangenen Kriege zwischen Deutschland und Frankreich, ja die Möglichkeit eines Kriegs zwischen Amerika und Rußland so unbegreiflich sein werden wie unserer Jugend der politische Zustand Deutschlands, der durch die Kriege von 1866 und 1870 beendet wurde.
Das ist heute nur eine Hoffnung; und was mag zwischen uns und ihrer Verwirklichung noch liegen? Eine, freilich zweischneidige Realität hingegen ist, daß sich die Menschen heute schon die Spannungen zwischen den Mächten immer mehr nur noch in der Sprache innenpolitischer Ideologien begreiflich machen können. Die meisten Menschen im Westen sind überzeugt, daß demokratische Staaten ihre Differenzen stets friedlich regeln könnten und nur der Kommunismus und allenfalls nationalistische Diktatoren uns mit Krieg bedrohten. Genau analog scheint den Kommunisten chinesischer Observanz der Krieg durch das bloße Dasein des Kapitalismus unausweichlich, und auch die russische Observanz sieht im Kapitalismus die Quelle des Unfriedens in der Welt. Auch die neu sich formierenden asiatischen und afrikanischen Nationen sind überzeugt, gegen ein Prinzip, den Kolonialismus, zu kämpfen.
Dieser Glaube an die Dominanz innenpolitischer Prinzipien ist zweischneidig, denn er ist zum Teil eine Selbsttäuschung. Machtkörper wie die Imperien und wie nationalistische Nationen haben noch heute die Tendenz zum ungezügelten Ausgreifen und, gegebenenfalls, zum Rückerwerb verlorener Gebiete. Diese Tendenz hat 1914 die einander so ähnlich gewordenen europäischen Kulturnationen in den selbstmörderischen Krieg gegeneinander gehetzt. Wir dürfen daher unsere Hoffnung nicht allein auf den Sieg der uns als richtig erscheinenden Ideologie setzen. Wir müssen vielmehr, quer durch die Ideologien, langsam, behutsam und mit unbeirrbarer Zähigkeit diejenigen Elemente staatlicher Souveränität abbauen, die es den Staaten möglich machen, Krieg aus freiem Entschluß zu beginnen.
Ein Teil dieses Bemühens sind die seit langem fortlaufenden Verhandlungen über Abrüstung. Es ist gleich gefährlich, sie zu über- wie zu unterschätzen. Man darf sie nicht überschätzen: Abrüstung ist technisch und politisch gleich schwer durchzusetzen, und sie löst die bestehenden Konflikte nicht. Sie muß ergänzt und wohl erst ermöglicht werden durch die Schaffung politischer Wege zum Austrag von Konflikten. Ich glaube, daß sie eines Tages in die Übertragung des Polizeimonopols an eine internationale Behörde einmünden muß. Davon sind wir noch sehr weit entfernt. Man darf die Abrüstung aber auch nicht unterschätzen. Die Arbeit an ihr ist ein ständiger Anreiz, eben diese notwendigen weiteren internationalen Regelungen auszubilden. Zudem ist Verachtung des Abrüstungswillens eine der Brutstätten jenes Zynismus, aus dem die Katastrophen hervorgehen. Ich sehe mit Kummer, wie der politische Provinzialismus der Bundesrepublik sich z. B. im Fehlen einer breiteren Schicht von Kennern der »Strategie der Abrüstung« dokumentiert; ich zitiere damit den deutschen Titel eines amerikanischen Buches, in dem die Abrüstungsaspekte der Strategie der Friedenssicherung dargestellt sind. Verstünden wir mehr von diesen Fragen, so würden wir vielleicht weniger in Versuchung sein, uns auf Grund spezieller nationaler Interessen, so wichtig sie für uns sind, notwendigen internationalen Schritten in den Weg zu stellen.
Allgemein gilt: der Friede muß nicht nur durch friedfertige Absichten, sondern durch feste übernationale Institutionen gesichert werden. Absichten und Gefühle wechseln von Land zu Land, von Generation zu Generation; der Friede aber muß alle Länder umfassen und die Generationen überdauern. Diese Institutionen müssen so gut wie möglich den heranreifenden innenpolitischen Strukturen einer sich vereinheitlichenden Welt angepaßt sein. Welches sind diese Strukturen? Welche Ziele müssen wir dem Willen zum Fortschritt und zur Bewahrung setzen, der in jedem Land und jeder Generation immer von neuem erwacht?
Wir im Westen halten mit vollem Recht die Freiheit für ein unaufgebbares politisches Gut. Wir sind damit in unserem Jahrhundert zeitweilig in die Defensive gedrängt. Aber auch in der heutigen Welt ist Freiheit, richtig durchdacht, der eigentlich fortschrittliche Gedanke. Für den größeren Teil der Welt ist innenpolitische Freiheit vor allem deshalb schwer erreichbar, weil sie als konkretes Ziel fast noch zu früh kommt. Diese Völker lösen sich erst in unserem Jahrhundert aus der alten feudalen Ordnung. Sie müssen sich modernisieren, sie müssen einen angemessenen Grad sozialer Gleichheit erreichen, und sie träumen oft einen - angesichts der wahren Verflechtung der modernen Welt - altmodischen Traum nationaler Unabhängigkeit. All dies ist ohne eine starke Staatsgewalt nicht zu erreichen. Diese aber, meist Kind einer Revolution, sichert sich gegen neuen Umsturz auf Kosten der Freiheit der Staatsbürger.
Wir werden den in die Modernität eintretenden Nationen diese Phase oft nicht ersparen können. Vielleicht dürfen wir uns hier daran erinnern, daß in der west- und mitteleuropäischen Geschichte das wichtigste Sprungbrett zur institutionell gesicherten Freiheit die Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit war. Der Staat des Absolutismus aber hatte an der Schaffung dieser Rechtsordnung, die ihn schließlich abzulösen gestattete, ein erhebliches Verdienst. Daher ist auch in der Welt-Innenpolitik, gerade auch in der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus, die Schaffung und Verteidigung zuverlässiger rechtsstaatlicher Formen im Innern der Staaten und durchsetzbarer rechtlicher Normen im Verkehr zwischen ihnen ein vordringliches Ziel; dies ist ein Ziel, das überall auf der Welt persönlichen Einsatz unter Gefahr rechtfertigt. Rechtsstaatlichkeit ist die Grundlage bürgerlicher Freiheit; Freiheit ohne bindende Rechtsordnung vernichtet sich selbst.
Zugleich aber müssen wir die Freiheit dem heutigen und kommenden Gesellschaftszustand gemäß neu denken und müssen dementsprechend handeln lernen. Terror ist ja eigentlich ein plumpes und altmodisches Mittel. Das moderne Problem heißt: Freiheit und Planung. Moderne Industriegesellschaften wie einerseits die der atlantischen Nationen, andererseits die der Sowjetunion werden einander unmerklich immer ähnlicher; dies geschieht unter der Decke widerstreitender Ideologien und echter Gegensätze politischer Gewohnheit und politischen Gefühls. Die technischen Notwendigkeiten erzwingen ein weitgehend geplantes Leben, und mit oft kaum erkennbarem Zwang, mit ökonomischem Druck und der Verlockung des Lebensstandards werden die Menschen dem Plan eingefügt. Wenn es in unserer Welt noch eigentliche menschliche Freiheit geben soll, so bleibt uns nicht erspart, auch den Raum dieser Freiheit zu planen. Ein Plan ohne Freiheit wird sich in einer fortschreitenden technischen Welt am Ende als unterlegen, ja als funktionsunfähig erweisen; er widerspricht der Natur des Menschen, der diese Technik und ihren Fortschritt trägt.
Ein konkretes Beispiel für die notwendige Planung der Freiheit mag genügen: das Bildungswesen. In unserer Welt ist für jeden Menschen eine angemessene Ausbildung Bedingung desjenigen sozialen Status, in dem allein er das ihm mögliche Maß an Freiheit betätigen kann. Diese Ausbildung aber erfährt er als Folge staatlicher Planung (oder Planlosigkeit) in einem jugendlichen Alter, in dem er noch nicht für sich selbst entscheiden kann. So entscheidet die Planung des Bildungswesens mit darüber, ob wir Staatsbürger haben werden, die der Freiheit
fähig sind.
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3. Der Weltfriede fordert von uns eine außerordentliche moralische Anstrengung, denn wir müssen überhaupt eine Ethik des Lebens in der technischen Welt entwickeln.
Was bedeutet Ethik der technischen Welt?
Ihre Grundlage ist nicht neu. Die alte Ethik der Nächstenliebe reicht aus, wenn wir sie auf die Realitäten der neuen technischen Welt anwenden; und wenn wir sie hier nicht anwenden, so ist es uns mit ihr nicht Ernst. Das revolutionärste Buch, das wir besitzen, das Neue Testament, ist nicht erschöpft. Viele Strukturen der modernen Welt stammen aus ihm, nur sind sie hier einseitig aufs Konkrete, Diesseitige angewandt; sie sind, wie man sagt, säkularisiert. Ich nenne diesen Hintergrund hier, aber ich analysiere ihn nicht. Ich will versuchen, das wenige, was ich noch zu sagen habe, aus der inneren Gesetzmäßigkeit der technischen Welt selbst zu entwickeln. Damit versuche ich, nicht von ethischen Postulaten auszugehen, sondern von der Vernunft. Der Zusammenhang zwischen beiden ist eng. Wahre Vernunft, auf die Praxis angewandt, setzt sich notwendigerweise auch in ethische Postulate um. Was aber unserer Vernunft die Augen geöffnet hat und, wo wir sie nicht zu gebrauchen wissen, immer wieder öffnet, ist die Stimme der Nächstenliebe, die wir einmal gehört haben.
Es gibt eine eigentümliche Faszination der Technik, eine Verzauberung der Gemüter, die uns dazu bringt, zu meinen, es sei ein fortschrittliches und ein technisches Verhalten, daß man alles, was technisch möglich ist, auch ausführt. Mir scheint das nicht fortschrittlich, sondern kindisch. Es ist das typische Verhalten einer ersten Generation, die alle Möglichkeiten ausprobiert, nur weil sie neu sind, wie ein spielendes Kind oder ein junger Affe. Wahrscheinlich ist diese Haltung vorübergehend notwendig, damit Technik überhaupt entsteht. Reifes technisches Handeln aber ist anders. Es benützt technische Geräte als Mittel zu einem Zweck. Den Raum der Freiheit planen kann nur der Mensch, der Herr der Technik bleibt.
Mir liegt daran, klarzumachen, daß diese reife Haltung nicht der Technik fremd, sondern erst die eigentlich technische Haltung ist. Jedes einzelne technische Gerät ist von einem Zweck bestimmt; es ist so konstruiert, daß das Zusammenwirken aller seiner Teile eben diesem Zweck dient. Kein Gerät ist Selbstzweck. Eine technische Zivilisation, deren Glieder sich gegenseitig hindern, gefährden und zerstören, ist technisch unreif. Eine Technik, die sich als Selbstzweck gebärdet, ist als ganze auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe als ihre einzelnen Apparate; sie ist als ganze noch untechnisch.
Wir müssen also ein Bewußtsein für den richtigen, den technischen Gebrauch der Technik gewinnen, wenn wir in der technischen Welt menschenwürdig überleben wollen. Das verlangt eine moralische Anstrengung, die sich in einer positiven Moral, einer gefestigten Sitte niederschlagen muß. Wir sollen, nach Kant, so handeln, daß wir die Menschheit - wir würden heute sagen das Menschsein - in jedem Menschen nicht nur als Mittel, sondern als Zweck verstehen. Als leitende Regel muß gelten: Kein Mensch ist ein Gerät, und Geräte dürfen nur zum Nutzen, nicht zum Schaden der Menschen gebraucht werden. Das wachsende Bewußtsein von dieser Regel wird sich manifestieren in der Herausbildung fester verbindlicher Formen des Umgangs mit der Technik. Die Medizin, die seit Jahrtausenden eine auf Wissen beruhende Technik und die aus ihr fließende Macht kennt, kennt auch diese bindende Regel seit Jahrtausenden; sie kennt den Hippokratischen Eid. In der Technik des Alltags, wie etwa im Straßenverkehr, lernen wir alle sie heute nach und nach respektieren. Im großen wirtschaftlichen Zusammenhang ist sie gegen das scheinbare Einzelinteresse durchgesetzt worden oder muß noch durchgesetzt werden, wie in Fragen der Slums und der Abholzung oder heute der Abgase und Abwässer. Die technischen Waffen schließlich haben eine Perfektion erreicht, die die Ausschaltung des Kriegs zu einer vordringlichen Forderung der technischen Ethik macht.
Diese Forderung ist dem heutigen Menschen bewußt; er verzagt nur oft gegenüber ihrer Realisierbarkeit. Wir befinden uns in einer Übergangszeit, in der der große Krieg schon schlechthin verwerflich, aber doch noch möglich ist. So ist auch unser ethisches Verhalten zur Möglichkeit des Kriegs ein unsicheres Verhalten des Übergangs. Einige versuchen heute schon streng nach derjenigen Ethik zu leben, die eines Tages wird die herrschende sein müssen, und verweigern jede Beteiligung an der Vorbereitung auf den möglichen Krieg. Andere, die die Forderung nicht minder deutlich verstehen, versuchen inmitten der heute noch geltenden Normen für die Festigung einer rechtlichen und freiheitlichen Friedensordnung zu wirken. Beide tun etwas Notwendiges; etwas, das zu tun sich jemand bereitfinden muß.
Am klarsten sollte das Bewußtsein von der Notwendigkeit, den Frieden zu sichern, bei den Menschen entwickelt sein, die den technischen Waffen am nächsten stehen: den Wissenschaftlern, deren Forschung sie ermöglicht; den Soldaten, die sie anwenden müßten; und den Politikern, die noch am ehesten Mittel haben, ihre Anwendung zu vermeiden. Aber jeder dieser Stände bleibt noch hinter seiner Aufgabe zurück. Der Wissenschaftler zieht sich oft in den elfenbeinernen Turm der reinen Forschung zurück, und daß das nicht ausreicht, möchte ich gerade der wissenschaftlichen Jugend sagen; wo sich aber der Wissenschaftler den politischen Folgen seiner eigenen Forschung stellt, muß er erst lernen, die verwickelte politische Realität gedanklich zu durchdringen. Dem Soldaten fällt es heute noch schwer, an eine so tiefgreifende Verwandlung der Welt zu glauben. Der Politiker schließlich ist gezwungen, mehrere Eisen im Feuer zu haben; er vertritt, so ernst es ihm mit dem Frieden sein mag, stets zugleich das Interesse seiner Partei, seiner Nation. Alle brauchen den Antrieb und den Rückhalt oder Widerstand eines Bewußtseins aller Menschen, auch derer, die unter ihrem Kommando stehen oder ihnen ihre politische Stimme geben; des klar herausgearbeiteten und zu Opfern bereiten Bewußtseins, daß Krieg nicht mehr sein darf.
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