Der Stiftungsrat des Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wählt den senegalesischen Dichter und Politiker Léopold Sédar Senghor zum Träger des Friedenspreises 1968. Die Verleihung findet während der Frankfurter Buchmesse am Sonntag, 22. September 1968, in der Paulskirche zu Frankfurt am Main statt. Die Laudatio hält François Bondy.
Begründung der Jury
Der Dichter, Staatsmann und Philosoph Léopold Sédar Senghor hat in seinem Wirken ein eigenes und universales Selbstbewußtsein des Afrikaners entwickelt.
In dem Urgrund der schwarz-afrikanischen Seele wurzelnd, sucht Senghor trotz der leidvollen Geschichte Afrikas, gebildet an europäischem Geist, nach einer in der Schöpfung angelegten Harmonie zwischen den Erdteilen. Sein dichterisches Werk ist eine Stimme ohne Haß, gelenkt von der Klugheit und Festigkeit seines Herzens. Er strebt nach dem Ausgleich zwischen Poesie und Politik. Sein Ziel ist die Versöhnung auf den Fundamenten einer "culture universelle" und der gegenseitigen Achtung der Würde des Menschen.
Durch die Verleihung des Friedenspreises ehren wir dankbar den Mut und die Kraft eines Mannes, dessen Leben der Freundschaft und dem Frieden zwischen den Völkern, den Rassen und den Religionen gewidmet ist.
Reden
Worte allein tun es wahrlich nicht - zumal in einem Jahrhundert, in dem der Mißbrauch der menschlichen Sprache zum Geschwätz und zum Zwecke zynischer Verdrehungen und widerwärtiger Lügen eine ungeahnte Perfektion erreicht hat.
Friedrich Georgi - Grußwort
Friedrich Georgi
Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels
Grußwort
Die Worte, die ich hier und heute als Vorsteher des Börsenvereins der festlichen Versammlung aus Anlaß des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels zu sagen habe, wollen mir nicht so recht über die Lippen. Was sind Worte und was vermögen Worte -Worte, die eine Friedenspreisverleihung einleiten sollen – angesichts der Erkenntnis, daß die Menschen doch offenbar nichts, aber auch gar nichts aus der Geschichte lernen, und Resignation und der Hoffnungslosigkeit, die alle unter uns zu befallen drohen, wenn wir uns nüchtern und sachlich darüber Rechenschaft ablegen, was denn nun für Frieden in der Welt herausgekommen ist durch diese nunmehr 19 Friedenspreisverleihungen an 20 Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels. Überschätzen wir uns, unser Tun und Handeln und unsere Möglichkeiten nicht allzusehr? Ja, machen wir uns nicht beinahe lächerlich angesichts unserer faktischen Ohnmacht und angesichts des Hasses und des Leidens und der kriegerischen Gewalt in dieser Welt, die wir voller Entsetzen wie gelähmt beobachten?
Worte allein tun es wahrlich nicht - zumal in einem Jahrhundert, in dem der Mißbrauch der menschlichen Sprache zum Geschwätz und zum Zwecke zynischer Verdrehungen und widerwärtiger Lügen eine ungeahnte Perfektion erreicht hat.
Aber Worte, die auf dem Grunde der Wahrhaftigkeit wachsen, haben doch auch heute noch- und vielleicht durch die Möglichkeiten der modernen Massenmedien sogar heute noch stärker als früher - weitreichende Wirkung! Ihre Wirkung ist so gewaltig und deshalb für bestimmte Inhaber der Macht so gefährlich, daß sie diese auf Wahrheitsgegründeten Worte mit Gewalt unterdrücken und offen eingestehen müssen, dies zum Kriegsziel Nr. 1 zu machen. Aber sie täuschen sich! Diese Worte gehen durch die Panzer der Gewalt widerstandslos hindurch. Gewalt bringt zwar unendlich viel Leid für die durch Willkür der Macht gequälte Menschheit, aber sie kann die Wahrheit auf die Dauer nicht auslöschen und zum Schweigen bringen; sie verbreitet Schrecken und Entsetzen, Angst und Not, Tod und Unfreiheit, Demütigung und Grausamkeit - aber sie erntet Abscheu und Verachtung, höhlt sich selbst aus und hat auf die Dauer keinen Bestand. - Auch das lehrt die Geschichte!
Auch das Wort - unsere Forderung und unser Bekenntnis zum Frieden in der Welt, zum Frieden unter den Völkern, Rassen, Religionen und Weltanschauungen, zum Frieden unter den Menschen dieser Erde, die der gesamten Menschheit von Gott zum Leben gegeben ist - und zwar zu einem menschenwürdigen Leben in Frieden und Freiheit – darf niemals verstummen, sondern muß um so deutlicher und stärker ausgesprochen werden, je größer die Bedrohung durch die Gewalt ist. Solange wir frei sind und unsere Meinung frei und offen bekennen können, müssen wir auch von dieser Freiheit Gebrauch machen und uns zum Frieden bekennen – zugleich im Namen all derjenigen, denen dieses Recht gewaltsam genommen ist. Nicht alle die schweigen, machen sich mitschuldig, aber diejenigen, die frei reden können und dürfen und dennoch schweigen - aus was für Gründen auch immer -, lasten Schuld auf sich, und zwar schwere Schuld, weil es um die elementaren Menschenrechte geht. In diesem Bekenntnis zu einem Frieden in Freiheit und Wahrheit müssen wir uns alle einig sein. Keine politische, rassische oder religiöse Meinungsverschiedenheit darf uns in dieser Grundhaltung trennen und schwächen. Deshalb werden wir auch in diesem Jahre einen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verleihen; wir stehen mit in der Verantwortung und müssen nach unserem Gewissen sprechen und handeln; wir werden nicht aufgeben und resignieren; wir werden uns unserer Mittel des freien Wortes, des freien gesprochenen und gedruckten Wortes, weiter bedienen, um auf unsere Weise für den Frieden, den Frieden in Freiheit, Wahrhaftigkeit Gerechtigkeit und Menschenwürde.
Wir werden weiter jene Menschen suchen und ehren, denen es vergönnt ist, diese Worte des Glaubens und der Wahrheit, der Hoffnung und der Sehnsucht zur Botschaft An die zerrissene Menschheit zu formen - und ihnen danken, wenn sie sich durch die Annahme dieses Preises unserem Bemühen verbinden. Diese Botschaft ist an die Menschen selbst gerichtet, an die Mächtigen und an die Ohnmächtigen.
Wir vertrauen auf die Kraft solcher Botschaft und darauf, daß sie auch die Herzen der Mächtigen erreicht und die Herzen derjenigen, die einmal die Macht haben werden - auf daß sie darin von dieser Macht den rechten Gebrauch machen werden - zum Segen der Menschheit.
In diesem Sinne begrüße ich Sie alle, die Sie an dieser Feier hier in der Paulskirche zu Frankfurt am Main mit uns versammelt oder über Fernsehen und Rundfunk mit uns verbunden sind, insbesondere Sie, hochverehrter Herr Professor Senghor, den Träger des Friedenspreises des Jahres 1968, Sie, hochverehrter Herr Bundespräsident und Sie, François Bondy, der Sie das Werk und die Persönlichkeit Léopold Sédar Senghors anschließend würdigen werden, im Namen des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Wir glauben an die Kraft dieses Bekenntnisses, an die gewaltlose Idee des Friedens und an die Hoffnung der Menschheit auf einen Frieden, der das Leben des Menschen lebenswert macht. - Am Anfang war das Wort - auch am Anfang des Friedens steht das Wort.
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Friedrich Georgi
Grußwort des Vorstehers
Für Sie lag Afrika niemals »im Herzen der Finsternis«. Auch sind Sie nicht - im Sinne des früh verstorbenen Martiniquesen Frantz Fanon, der Botschafter des kämpfenden Algeriens und Ghanas wurde und der jetzt unter den Anhängern des »Black Power« in den Vereinigten Staaten intensiv gelesen wird - ein »Verdammter dieser Erde«.
François Bondy - Laudatio auf Léopold Sédar Senghor
François Bondy
Auf den Friedenspreisträger 1968
Laudatio auf Léopold Sédar Senghor
Als Dichter, Linguist, Lehrer, Kulturphilosoph, politischer Schriftsteller, als französischer Abgeordneter und Minister, als afrikanischer Staatsmann, haben Sie stets die Methode des Dialogs gepriesen, den Sie in der negro-afrikanischen Tradition des Palavers, in der berbero-arabischen Tradition der Djemaa finden, und Sie haben diese Methode im Rahmen des Möglichen - das ist im politischen Kampf nicht das gleiche wie in der geistigen Auseinandersetzung - vorgelebt. In Ihrer zweifachen Bindung - zu den negro-afrikanischen Traditionen und zur französischen Kultur - haben Sie zugleich als Dichter und als öffentliche Persönlichkeit gewirkt; gerade in Frankreich gehört das zum Begriff der Literatur, wie er von Agrippa d'Aubigné über Voltaire bis zu Gide, Malraux und Sartre reicht.
Sie haben die Erfahrung der Fremde und der Neuverwurzelung gestaltet, der Zerrissenheit und der Versöhnung, und haben sie für andere fruchtbar gemacht. Innerhalb dieser historisch und persönlich bedingten Komplexität haben Sie die Treue zum Ursprünglichen bewahrt, das sich in Ihrer frühesten Dichtung in der traumhaften Atmosphäre einer glücklichen, entscheidend von der Mutter bestimmten Kindheit ausdrückt; vom Vater, Basile Djogoye Senghor, Grundbesitzer und Großhändler, zu dessen Viehbestand noch Dromedare gehören, erinnern Sie sich, wie er mit seinem Freund und Verwandten, Kumba Ndofene, dem König von Sine, Besuche und Geschenke austauschte. Das ist noch nicht das >Gespensterafrika< - >L'Afrique fantome< des Ethnologen Michel Leiris, nicht die >Afrique ambiguë<, das zwielichtige Afrika des Soziologen Georges Balandier, sondern näher der römischen >Africa portentosa<, näher jenem Afrika der Wunder, von dem Rabelais schrieb, von dorther sei immer etwas Kostbares zu erwarten.
Ihr Afrika, Exzellenz, ist aber weder ein Mythos noch eine tabula rasa. Es ist auch nicht von den paar Jahrzehnten der Kolonialverwaltung so umgepflügt, daß fortan die Denunzierung dieses Kolonialismus eine positive Haltung ersetzen, zu einer produktiven Leistung hinreichen würde -niemand hat das so stark betont wie Sie. Zugleich ist dieses Afrika allerdings durch drei Jahrhunderte vielfältiger Beziehungen so umgeformt worden, daß auch dieses einwirkende Europa fortan zum afrikanischen Erbe gehört.
Ihre Lyrik, die sich von Ihrer Politik nicht trennen läßt, so sehr sie eigenen Gesetzen folgt, ist keine Flucht aus dieser Wirklichkeit gewesen. Ihr Realismus hat ohne Zweifel mit jener souveränen Selbstsicherheit zu tun, wie die frühe Kindheit sie begründete und wie sie in der vorkolonialen Zeit die Regel war, als afrikanische und europäische Reiche noch von keinem technologischen Abgrund getrennt waren.
Zwischen Habib Bourguiba, dem >Arabo-Berber<, um Ihre Einteilung zu verwenden, und Jomo Kenyatta oder Julius Nyerere, oder auch jenen Präsidenten des frankophonen Afrika, die bei aller revolutionären Ideologie so ruhmvoll dynastische Namen tragen wie Keita und Touré, sind Sie ein Staatsmann von besonderer Ausstrahlung, aber grundsätzlich von gleicher Art. In der modernen negro-afrikanischen Lyrik und Essayistik kommt Ihnen jedoch eine einzigartige Bedeutung zu; das bestätigen auch jene Kritiker, die den von Ihnen unermüdlich gekündeten Begriff der >Négritude< in Zweifel ziehen.
In der praktischen Politik kann ein einzelner niemals ein >Werk< vorweisen, das sich durchaus mit seinen Träumen, seinen Intentionen deckte. Deshalb sind bei Ihnen, als einem großen Vertreter des afrikanischen Friedensgedankens, auch die Visionen, die Ansätze, die Versuche zu würdigen, die über Ihr Wirken hinaus Vermächtnis an spätere Generationen bleiben. Gilt ein Gleiches nicht auch für zwei der schwarzen Träger des Friedensnobelpreises, Chief Albert Luthuli, der bis zu seinem Tod der Verfolgung ausgesetzt war, und den ermordeten Martin Luther King, der Priester war, wie Sie es einst werden wollten;
Sie haben sich lange Jahre gemüht um die Konföderation zwischen einem in die europäische Gemeinschaft eingebetteten Frankreich und einem seine großen Verwaltungseinheiten nicht verlierenden West- und Äquatorial-Afrika - als Abgeordneter, als Schriftsteller, als Minister, der vor dem Aufkommen der >Mikronationalismen<, vor der >Balkanisierung< gewarnt hat, aber schließlich doch den Restbestand dieser Einheit, die Zweier-Föderation mit Mali, aufgeben mußte, um sich auf die Wirklichkeit der >Sénégalité< zu konzentrieren, die Sie als Symbiose von >Africanité< und >Modernité< definiert haben. Als Abgeordneter waren Sie bereits über die Serer und Peul hinaus von Bürgern vieler Stämme gewählt - so der Woloff, der Toucouleur, der Mandingue. Nach Ihnen wuchs eine zahlreiche senegalesische Intelligenz über die Stammessolidarität hinaus. Als >Heimaten< nennen Sie selber nur die Stämme oder Ethnien, und Sie definieren die senegalesische Nation als eine durch den Staat bewirkte Verschmelzung dieser verschiedenen Heimaten. Ein Staat übrigens, dessen Planung auf genauen wirtschaftlichen Erhebungen gründet, wie sie auf dem Kontinent wohl einzigartig sind. Anstelle der föderativen Zusammenschlüsse, die Sie wünschten, blieb Ihnen der Dialog, die Wiederanknüpfung des Gesprächs, die Verständigung - mit Mali, mit Marokko, mit Guinea. In jedem dieser Fälle stellte sich wieder Vertrauen her, wo Spannung herrschte oder drohte. Über zwischenafrikanische Gebietsansprüche haben Sie etwas geschrieben, was weit über Ihren Kontinent hinaus zu beherzigen ist, nämlich : »Alle Grenzen sind künstlich, sogar in Europa. Sie wurden von der Geschichte eingezeichnet. Jenen, die sich auf die Geschichte berufen, um territoriale Änderungen zu fordern, wird man stets wiederum die Geschichte selber entgegenhalten können.«
Aus Umständen, die Sie anders gewollt hätten, haben Sie das Mögliche gemacht, und der Vergleich liegt nahe zum ersten deutschen Bundeskanzler, der eine übernationale europäische Gemeinschaft erstrebte und nicht den Ruhm des Architekten eines neuen souveränen Staates. Hier sehen wir, wie die nicht verwirklichten Einsichten des Staatsmannes den Späteren mehr fruchten können als die von ihm selber noch eingebrachte Ernte. Neben der aufreibenden Arbeit des Staats- und Regierungschefs haben Sie vier Jahre hindurch und in allen Einzelheiten das große Festspiel der Negerkünste in Dakar vorbereitet, das zwischen dem 30. März und dem 24. April 1966 stattfand und für die negro-afrikanische Kultur ein Markstein wurde sowie durch die Schaffung eines corpus ihrer Dokumente ein Beginn.
Einem Mann von so vielen und vielfachen Leistungen ist nicht mit einem Lob gedient, bei welchem der dazu bestimmte Redner nur die schlechte Nachahmung jener senegalesischen >griots< wäre, die den Fürsten und seine Ahnen poetisch rühmen, und keineswegs ein prophetisch inspirierter >Dyali<. Die in Westafrika noch lebendige Tradition des Barden ist nicht übertragbar, und der Versuch würde Ihren stark entwickelten Sinn für Humor herausfordern. Sie selber sehen sich, in Berufung auf Goethe, den Sie einst als Kriegsgefangener im Stalag neben Plato im Text lasen, als schwarzer Grieche. Die Griechen aber wußten, daß man einen Politiker nicht vor seinem Ende rühmen darf. Aus dem Urgrund alteuropäischen Aberglaubens fürchte ich auch die Folgen solcher Panegyriken für den voreilig Gepriesenen. Erlauben Sie mir daher, der ich weder Dichter, noch Philologe, noch Staatsmann bin, sondern vor allem Leser - und in dieser Eigenschaft als Sprachrohr eines Vereins, der mit dem Buch zu tun hat, legimitiert -, von Ihrer Methode des Dialogs Gebrauch zu machen. Ich maße mir dazu um so eher das Recht an, als ich auch Sie als Leser kenne, als Abonnenten der Pariser Zeitschrift, mit der ich arbeite, der noch in seiner jüngsten Botschaft an die Nationalversammlung des Senegal auf zwei dortselbst erschienene Aufsätze eingeht. Leser waren Sie auch als Präsident der Jury, die für diese Zeitschrift den Preis der afrikanischen Novelle verteilte, und die beiden von Ihnen damals gewählten Novellen sind seither in Übersetzungen in etliche Anthologien aufgenommen worden. Hier darf ich daher aus eigener Erfahrung eine Eigenschaft hervorheben, die zu Ihrem Wesen gehört: die Aufmerksamkeit. Wenn Ihr Freund, der Dichter und Politiker Aimé Césaire aus Martinique - Schöpfer, wie Sie immer wieder hervorheben, des Begriffes der Négritude - eine eigene Kultur forderte, »damit wir im Rendez-vous des Gebens und Nehmens nicht mit leeren Händen erscheinen«, so ist eben dieses Gleichgewicht von Aufnahme und produktivem Wirken Ihr Kennzeichen. Im Sinn dieses Dialogs möchte ich die Frage nach der Négritude in den Mittelpunkt stellen, und zwar verbunden mit dem scheinbar entgegengesetzten genauso wichtigen Motiv der >métissage<, der Misch- und Weltkultur, mit dem sie in einem Spannungs- und Komplementärverhältnis steht. Négritude ohne >métissage< wäre ein zwielichtiger Begriff. Nie werde ich vergessen, wie mir einmal ein hoher Beamter in Pretoria das Wesen der Bantukultur erklärte, die so eigen, so substantiell, so herrlich sei, daß man ihre Träger nicht der Zersetzung durch weiße Universitäten preisgeben dürfe, sondern in bantustanischen Reservaten ihre besondere schwarze Seele in Reinheit bewahren sollte. Gewiß, das ist ein böses Zerrbild der Négritude - etwa wie wenn man eine Definition jüdischen Wesens durch einen Antisemiten mit der durch Martin Buber vergliche. Dennoch: Besonderheit kann immer auch Einkapselung bedeuten. Césaire selber hat später Protest erhoben gegen die Tendenz, die Schwarzen auf bestimmte Gefühle und Möglichkeiten zu spezialisieren. Die Gefahr solchen Mißbrauchs ist aber gerade durch den von Ihnen unablässig entwickelten Begriff der >métissage< ausgeschlossen. Daher dessen Bedeutung.
Doch stellt sich die Frage, ob diese von Ihnen gezeigte Verbindung von Négritude und Métissage nicht eine einzigartige persönliche Leistung ist, die nicht für ganze Völker in Zukunft gelebt werden könnte. Der Begriff der Négritude kommt ja nicht aus Afrika, sondern wanderte dorthin auf dem Umweg über Harlem, die Antillen, Guyana und Paris. Amerikanische Negerdichter wie Claude McKay und Langston Hughes und Antillesen stehen am Anfang. Vielleicht auch die Pariser »Revue du Monde Noir«, wo schon 1931 zu lesen war: »Wir wollen unter den Schwarzen der ganzen Welt ohne Unterschied der Nationalität ein intellektuelles und moralisches Band knüpfen, damit sie einander besser kennen, brüderlich lieben, ihre gemeinsamen Interessen wirksamer verteidigen und ihrer Rasse Ruhm einbringen«.
Noch in der von Ihnen herausgegebenen Anthologie schwarzer und madegassischer Dichtung sind - Ihr Übersetzer Janheinz Jahn hat es festgestellt - zehn Dichter aus dem karaibischen Raum neben drei Senegalesen und drei Madegassen vertreten. Die Schwarzen Amerikas berufen sich auf ein legendäres Afrika als Ganzheit, weil sie als Abkömmlinge verschleppter Sklaven ihre genaue Herkunft meist nicht wissen konnten. Auch in der französischen Entdeckung des neuen Afrika stehen Schwarze aus der Neuen Welt an der Spitze, die als Dichter, aber auch als französische Kolonialbeamte, Afrika erlebten. Allen voran René Maran, der den ersten Roman über Neger schrieb - Batouala -, was ihm den Goncourtpreis einbrachte und seine administrative Karriere zerbrach. Unter den Dichtern des karaibischen Bereichs waren Aimé Césaire, Guy Tirolien - auch er Kolonialbeamter -, Jean Brière, Paul Niger, Léon Damas und Jacques Roumain. Mit ihnen haben Sie sich durch Zeitschriften wie »L'Etudiant noir« für das Leben verbunden.
Die Beziehung zwischen den Antillen und Senegal hatte vor dreihundert Jahren begonnen durch die Schaffung einer >Compagnie du Sénégal< auf den Inseln des Zuckerrohrs, die den Sklavenhandel förderte. Und sie führt auf seltsamen Wegen bis zur antillesischen Abwandlung des Surrealismus, zur dichterischen Entdeckung des afrikanischen Urgrundes, der allerdings in Haiti - dem ersten unabhängigen Negerstaat der Neuzeit - im Wudukult überdauert hatte. »Wir suchen die Seele des schwarzen Landes, wo unsere Ahnen schlafen«, schrieb Guy Tirolien.
In Frankreich hatte die Négritude ihre Voraussetzung in der Entdeckung von Negermasken, von Jazz, von Negermärchen, durch Apollinaire und Cendrars, durch Derain, Gris, Braque und Picasso. Der neuen Negerlyrik war diese Revolution der Kunst förderlich.
Jean Paul Sartre schreibt im zu Recht berühmten Vorwort zu Ihrer Anthologie, hier seien die Weißen zum ersten Mal nicht mehr angeredet. Dennoch waren diese Weißen die Mehrheit der Leser, und es ging Ihnen wie später den Schriftstellern des Maghreb, die für die Unabhängigkeit von Frankreich französisch und in Frankreich schrieben und mehr französische als nordafrikanische Leser erreichten und noch erreichen.
Mag die Négritude bei Aimé Césaire an den Surrealismus anknüpfen - »ich sehne mich nach der ganzen Größe des verlorenen Afrika« schreibt André Breton -, so ist sie bei Ihnen selber mit französischen literarischen Erlebnissen verschmolzen, mit Baudelaire, Barrès, Péguy, Proust und, politisch, mit dem Sozialisten Léon Blum, Autoren, zu denen Sie vor allem Ihr Freund seit der Studienzeit, Georges Pompidou, geführt hat. Sogar der französische Ahnherr des weißen Rassismus, Graf Gobineau, war Ihnen ein Anreger, bekannte er doch, daß die Neger »stärkere künstlerische Emotionen« hätten als andere Völker. Er gab sogar, wenn auch unwillig, zu, daß manche Rassenmischungen der Kultur förderlich sein könnten. Von Maurice Barrès lasen Sie »Die Entwurzelten«, jenen Anruf an die Erde und die Toten, und Sie haben später geschrieben, daß Sie dem Rassismus als Bekenntnis zur mythischen Stimme des Blutes erst unter dem Eindruck des Hitlerismus im Stalag abgeschworen haben, ebenso wie Sie jene Meinung, die Sie dem Ethnologen Leo Frobenius dankten, wonach die Deutschen und die Afrikaner sich durch besondere Gemütstiefe von anderen Völkern unterschieden, durch den Umgang mit Goethe preisgegeben haben.
Die Négritude macht den ganzen Unterschied aus zwischen >assimiler< und >être assimilé<, wie Sie 1945 schrieben, zwischen selektivem Sich-Aneignen und restlosem Aufgehen in der anderen Kultur. An Definitionen hat es dieser Négritude nicht gefehlt. Janheinz Jahn nennt deren achtzehn in seinem Buch über neo-afrikanische Literatur; die Liste ist nicht abgeschlossen. Dem Hellenisten, dem Verehrer Goethes wird es nicht unlieb sein, wenn ich die Négritude als Entelechie verstehe, welche Goethe definierte als »ein Wesen, das immer in Funktion ist«. Sartres Bestimmung der Négritude als notwendige Negativität, als anti-rassistischen Rassismus, als Durchgangsstadium der Revolution und auch als überwiegend gegenchristlich, gilt für keinen Dichter in Ihrer Anthologie so wenig wie für Sie, der Sie Karl Marx als Humanisten hochschätzen und übrigens sehr genau gelesen haben, aber zugleich sich auf den Denker und Ethnologen Pater Pierre Teilhard de Chardin beziehen. Auch sind Sie wie Péguy, wie Claudel und Saint-John Perse ein Dichter der Aussage, der brüderlichen oder feierlichen Nennung, selten - aber dann heftig - der Ironie oder des Zornes, so wenn Sie sich schwören, das Reklamelachen des >Banania-Negers< an allen Mauern Frankreichs zu zerreißen.
Für Sie lag Afrika niemals »im Herzen der Finsternis«. Auch sind Sie nicht - im Sinne des früh verstorbenen Martiniquesen Frantz Fanon, der Botschafter des kämpfenden Algeriens und Ghanas wurde und der jetzt unter den Anhängern des >Black Power< in den Vereinigten Staaten intensiv gelesen wird - ein >Verdammter dieser Erde<. Sie sind ein königlicher Präsident. Vor vier Jahren sagten Sie in der Universität Straßburg: »Der Präsident verkörpert die Nation wie einst der Monarch >sein< Volk. Die Massen täuschen sich nicht, die vom >règne<, von der Herrschaft eines Modibo Keita, Sékou Touré oder Houphouet-Boigny sprechen, in denen sie jeweils den durch das Volk bestätigten von Gott Erwählten sehen«. Ihren eigenen Namen haben Sie hier ausgespart, der vielleicht aus dem portugiesischen Senhor - Herr - stammt, worauf Sie in einem Gedicht recht humorvoll anspielen.
Senegalesen sind seit langem französische Vollbürger gewesen, und Saint Louis war ein Ort der Rassen- und Kulturmischung. Auch der hervorragende französische Pädagoge und Schöpfer der >Prospektive-Forschung<, Gaston Berger - Vater des Ballettschöpfers Maurice Béjart - stammt von hier. Lange bevor die Einwohner von Nizza und Savoyen Franzosen waren, sind es die Bürger der vier alten Gemeinden des Senegal gewesen. So ist das Afrika der Stämme und das der Berührungen mit Europa für Sie keineswegs eine Vergangenheit, die nichts als Protest und Abkehr herausfordert. »Hören wir auf« - schrieben Sie -»den Kolonialismus und Europa für alle unsere Übel verantwortlich zu machen. Genau das wäre ein Minderwertigkeitskomplex, wie ihn der Kolonialismus uns eingeimpft hat, und wir dürfen uns nicht zu seinem Komplizen machen«.
Dem Linguisten, der Arbeiten über die Sprachformen der Serer und Wolof geschrieben hat, und dem Abgeordneten des Senegal war Afrika etwas anderes als jenen Schwarzen der Neuen Welt, die den Kontinent der Neger mit der Seele suchten - obwohl freilich solche Verklärung von der neuen Aufklärung ursprünglich nicht zu trennen war!
Ist nun die Négritude vor allem eine besondere Art der Wahrnehmung, der Sinnlichkeit, des Ausdrucks, des Rhythmus? Ist es der große Tamtam? Sie ist es und ist es wiederum nicht. Sie selber wünschen nicht, daß der Dichter und der Politiker getrennt gesehen werden, und auch die Dichter der Antillen und von Madagaskar, mit denen Sie sich fanden, sind zum Teil bedeutende Politiker geworden. Sie blicken aber als Schöpfer einer Nation über die Stämme und >Ethnien< hinaus, während die traditionelle Negerkultur eine Kultur von Stämmen ist - so zwielichtig auch dieser Begriff bleiben mag.
Die Berliner Festwochen von 1964 waren Afrika gewidmet, und die Ausstellung von Skulpturen, die wir dort sahen, ist hernach auch in Paris gezeigt worden. In der Einleitung zum Katalog dieser Ausstellung schrieb William Faggs : »Jede nur vorstellbare Art von Bildwerk ist an irgend einem Ort Afrikas gestaltet worden. Die afrikanischen Stämme waren getrennte Welten, voneinander stärker unterschieden als europäische von chinesischer Kunst«.
Ist der Reichtum des schwarzen Afrika mit Hunderten von Stämmen, Sprachen, Kunstformen nicht eben an jenen Partikularismus gebunden, den die neuen Staaten Afrikas überwinden müssen? Aimé Césaire stellte noch den weißen Technikern und Erfindern den Neger als Tänzer gegenüber. Aber auch Dakar ist Afrika, und Sie selber fordern, die Studenten mögen sich praktischen Aufgaben zuwenden, Ingenieure werden. Dichter und Philosophen würden sich ohnehin finden, um die neue technische Welt zu feiern und zu deuten.
Zwischen den großen Traditionen - aber Sie selber bemerkten 1945, daß die »Bräuche und Sprachen sich mit unglaublicher Geschwindigkeit verwandeln« - und den neuen Problemen eines verstädterten Afrikas ist die Négritude vor allem, wie Sie es einmal sagen, »ein Knoten von Wirklichkeiten«. Sie ist nicht rückwärts gewendet, sondern tiefer in die Zeit zurückgreifend, um weiter vorwärts zu dringen. »Es kommt nicht in Frage, die Vergangenheit auferstehen zu lassen und in einem negro-afrikanischen Museum zu leben«, schrieben Sie 1959. In diesem Sinn gehören auch jene jungen afrikanischen Schriftsteller zur Négritude, die den Begriff in Frage stellen, um ein letztes Mal Goethe zu zitieren : »Was einem angehört, wird man nicht los, und wenn man es wegwürfe«.
Vor 17 Jahren wurde hier mit gutem Grund ein Mann geehrt, dessen Leben mit Afrika verbunden war, und der sich dennoch Afrikas kulturellem Wesen streng verschlossen hatte: der Theologe und Arzt Albert Schweitzer aus Lambarene. In seiner Ansprache gebrauchte der große alte Mann mehrmals den Ausdruck »die Primitiven und Halbprimitiven« und zeigte sich besorgt über das »Entstehen von Staaten, die an der höheren Kultur keinen Teil haben«. Sie selber haben oftmals gesagt, man dürfe sich nicht wundern, wenn die Staatswerdung in Afrika weder ruhig noch geradlinig vor sich gehe; ich zitiere aus einer Schrift von 1966: »Was mich wundert, ist, daß es nicht noch mehr Putsche in Afrika gibt. Letztes Jahr las ich während meiner Ferien die Geschichte der Herzöge der Normandie. Es gab unentwegt Kriege, Morde, und die Sitten waren rauh. Denken Sie an die Geschichte der Kapetinger. Gleichfalls Kriege und Morde. Frankreich brauchte tausend Jahre, England fast ebenso lange, um eine Nation zu werden. Man will, daß wir in wenigen Jahren Nationen werden. Zuviel der Ehre! Wir sind wie Ihr. Wir sind nicht mehr als Ihr. Wir müssen stolpern, wir müssen zurückfallen, wir müssen straucheln. Die Bildung einer Nation ist langwierig und schwer. Daher dürfen wir nicht den Mut verlieren«.
Albert Schweitzers Sorgen sind nicht gegenstandslos geworden - es genügt, Nigeria zu nennen -, aber seine Begriffswelt mutet bereits sehr ferne an. Kein Ethnologe verwendet mehr den Ausdruck >Primitive<, für den Melville Herskovits >Kulturen ohne Schriftsprache< vorgeschlagen hat. >Primitiv<, das ist keine brauchbare Kategorie zur Erfassung andersartiger Kulturen.
Wie steht es aber mit >unterentwickelt< einem Wort, das West und Ost ängstlich vermeiden. Sie, Exzellenz, halten sich nicht an dieses Tabu. In Ihrer Botschaft an die Nationalversammlung des Senegals kommt der Ausdruck >unterentwickelt< sehr häufig vor, und einmal sagen Sie, man solle sich eine >Bibliothek des Unterentwickeltseins< anlegen. Sie gebrauchen ihn unbefangen, weil er eine Aufgabe und einen Abstand ausdrückt, und sagten in diesem Sinn vor sechs Jahren : »Es wird keine von außen her als ein himmlisches Manna sich auf uns senkende Politik der Entwicklung geben ohne unsere eigene Arbeit und Organisation«.
Hier muß ich doch den >griot< spielen und festhalten, daß Ihre >Botschaften< über den Senegal Prosa vom Rang Ihrer besten Essays sind. Sie sprechen über die Notwendigkeit, den exklusiven Anbau der Erdnuß durch Anpflanzung von Reis, Baumwolle, Tomaten, Bananen, Ananas und Zuckerrohr zu korrigieren, ebenso prägnant wie in der Universität von Kairo über die Beziehung der negro-afrikanischen zu den semitischen Sprachen.
Im jüngsten Werk über Ihre Dichtung - sein Verfasser ist Okechukwu Mezu, ein Ibo - wird meines Wissens zum ersten Mal eine wichtige Beziehung erhellt: die zur Renaissance. Hier erst wurde mir klar, aus welchem Impuls Sie eine Einleitung zu einer Sammlung französischer Renaissancedichtung geschrieben haben. Denn Ronsard und du Bellay verteidigten das Recht, eine eigene neue Dichtungssprache zu entwickeln, die sich von der italienischen Tradition unterschied, und in dieser Erneuerung drücken diese Dichter oft die Sehnsucht nach der engen Heimat der Kindheit aus - wie Sie selber es in Ihrer Dichtung tun. In der Tat darf in der Négritude eine Art Renaissance gesehen werden. Das ist aber eine Zeit, die Ideen als Ansätze und Arbeitshypothesen brauchte. So ist auch die gleitende Beziehung zwischen Négritude und >métissage< zu verstehen. Sie selber verankern sie weit in der Vergangenheit und rühmen Teilhard de Chardin, der zeigte, daß die Spezies Mensch zuerst in Afrika aufgetreten ist, aber ebenfalls, welch frühe positive Rolle die Rassenmischung gespielt hat. Für die Zukunft sehen Sie die >métissage< nicht als bloßen Vorgang, sondern als bewußte Entscheidung. »Zur >métissage<«, so schrieben Sie in >Preuves<, »braucht es Konfrontierung, Auswahl und Entscheidung. Es geht nicht darum, die weißen Werte anzunehmen, sondern bestimmte Werte auszusuchen«.
Sie selber sind Linguist und haben als >grammairien< die Verfassung der Vierten Republik sprachlich überarbeitet. Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen den autochthonen Sprachen und dem Französischen? Sartre schreibt eloquent über die Not des Afrikaners, der an die Sprache der Kolonialherren gekettet bleibt und damit auch an ihre Denkform. Positiv hat es der madegassische Dichter und Staatsmann Rabemananjara gesagt, der auf einem Kongreß von >Présence Africaine< ausrief: »Wir sind ein Kongreß von Sprachdieben. Mindestens dieses Verbrechen haben wir wirklich begangen. Die westliche Kultur trägt ihren Stein herbei zum Aufbau unseres Bewußtseins. Die Schwarzen sind intellektuell in dem Maß, in dem sie sich als Okzidentale sehen und beurteilen«.
Es gibt im Senegal extreme Ideologen wie Cheikh Anta Diop, die den afrikanischen Sprachen den Vorrang geben wollen. Er selber hat es unternommen, dem Woloff die fehlende moderne Terminologie zu geben. Aber nicht die Armut der >Vernakularsprachen< ist hier das Hindernis, sondern ihre Vielzahl und ihre Schattierungsfülle. In Ihrem Essay über die negro-afrikanische Ästhetik schreiben Sie: »Charakteristisch für die Negersprachen ist der Reichtum ihres Vokabulars. Es gibt zehn, manchmal zwanzig Wörter, um einen Gegenstand zu bezeichnen, je nachdem er seine Gestalt, sein Gewicht, seine Dichte, seine Farbe wechselt. Im Fulfulde werden die Substantive in einundzwanzig ungeschlechtliche Genera eingeteilt. Aus einer Wurzel kann man im Woloff mit Affixen über 20 Verben bilden ... «
Um als Gebrauchssprache zu dienen, müssen solche Sprachen nicht nur ergänzt, sondern auf eine Art >basic woloff< und dergleichen reduziert werden, ihrer zahllosen Schwingungen und Nuancen beraubt, schon um der Übersetzbarkeit willen. Ihr eigener Vorschlag überzeugt, afrikanische Sprachen von der Schule an zu pflegen und für Dichtung zu brauchen, zugleich aber eine europäische Hochsprache vollendet zu beherrschen und niemals mit dem sogenannten >petit nègre< zu kontaminieren. Die Sprache erzieht, und »Erziehen«, so sagen Sie, »heißt zugleich verwurzeln und entwurzeln«. So verstehen wir, daß Sie mit dem Präsidenten Bourguiba zum Vorkämpfer der Frankophonie geworden sind. Diese Idee hat zugleich den praktischen Zweck, neben den Franzosen auch Kanadier, Wallonen, Welschschweizer, Luxemburger als Spezialisten, als Lehrer zu gewinnen und zwischen dem Maghreb und den verschiedenen Teilen des schwarzen Afrikas eine Brücke zu bilden. Ein F.L.N.-Führer des kämpfenden Algeriens sagte Ihnen einmal: »Sie und ich, wir sind die französische Kultur«.
Mag in dieser Sprache die Négritude nicht den vollkommenen Ausdruck finden - sie findet dafür die Kommunikation, die Resonanz, den Zugang zur Welt. Für den Dichter wie für den Staatsmann sind Selbstverständnis und Verständigung nicht zu trennen, und mangels der völligen Synthese ist ein Kompromiß immer noch besser als ein Abbruch. Auch lehnen Sie es ab, Französisch bloß als Vehikel zu bezeichnen. »Für mich«, so sagten Sie zu Armand Guibert, »ist, seit ich als Siebenjähriger >confiture< und >chocolat< sagen lernte, Französisch die Sprache geworden, die die natürliche Ausdrucksform meines Denkens ist«.
Sie haben Griechisch, Latein und Französisch an französischen Gymnasien gelehrt, afrikanische Sprachen an Pariser Universitätsinstituten. Das ist ein Sonderfall, aber in bescheidenerem Maß ist mindestens Zweisprachigkeit den meisten erreichbar. Von Ihren Dichtungen ist den Senegalesen wohl der Text der Nationalhymne am vertrautesten, wo es heißt : »Ein Volk, allen Winden der Welt zugewandt« und auch : »Der Bantu ist unser Bruder, und der Araber, und der Weiße«.
Können Besinnung auf den Ursprung und Ausblick auf die Mischkultur zusammengehen? Ihre Dichtung gibt eine Antwort. Sie schreiben in Rhythmen, die zugleich französische und afrikanische Einflüsse spüren lassen, und stellen sich diese Dichtungen als Rezitationen vor, begleitet von afrikanischen Instrumenten, der Kora - einer Harfe, dem Balafong - einem Xylophon, und dem tama, dem tabala, dem talmbatt, dem mbalakh, dem ndeundeu, dem gorong, die verschiedene Instrumente des tamtam sind. So sind diese Gedichte mit ihrer rhythmischen Begleitung zugleich Négritude und Francité oder, wie Aimé Césaire es sagte : »Geben und Nehmen«.
Hier möchte ich zitieren, was Sie in einem Gespräch mit >Jeune Afrique< auf die Frage erwiderten, ob Sie je geträumt hätten, ein Weißer zu sein: »Dieser Traum hat mich schon derart erschüttert, daß ich gleich aufgewacht bin. Ich glaube, wenn ich ein Weißer wäre, hätte ich weniger zu tun. Was wollen Sie - die Weißen haben der Welt viel gegeben. Ich, im Gegenteil, da ich ein Schwarzer bin, habe alles zu geben. Ich ziehe das vor«.
Was diese zweifache Bindung im Tieferen meint, das haben Sie am Ende eines woi - einer Ode - namens >Botschaft< geheimnisvoller ausgedrückt, weshalb ich mit dieser Zeile auf Französisch und Deutsch schließen will: »Telles sont ma réponse et ma récade bicéphale: gueule du Lion et sourire du Sage«. In Jahns Übersetzung: »Dies meine Antwort und mein doppelköpfiger Botenstab: Rachen des Löwen und Lächeln des Weisen«.
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François Bondy
Laudatio
Schritt für Schritt können wir so in Zukunft – und ja auch schon heute – jene ‚Weltkultur’ entstehen sehen, die ein gemeinsames Werk aller verschiedenen Kulturen sein wird, da alle Kontinente, alle Völkerschaften und alle Nationen an ihr mitwirken. Wenn ich sage ‚alle Nationen’, dann meine ich, daß alle – auch die kleineren und kleinsten Nationen – ohne jede Einmischung der Großmächte selber über ihre Entwicklung entscheiden.
Léopold Séder Senghor - Dankesrede
Léopold Séder Senghor
Die Versöhnung der Gegensätze
Dankesrede
Zunächst möchte ich Herrn Bundespräsident Lübke sagen, wie sehr es mich - mehr als ich mit Worten ausdrücken kann - bewegt, daß er heute unter uns weilt. Ich sehe in seiner Anwesenheit das Zeugnis einer persönlichen Freundschaft, die ich, wie er weiß, erwidere, mehr noch: das Zeichen einer hohen gegenseitigen Wertschätzung, ja das Unterpfand einer Freundschaft zwischen unseren beiden Völkern, die sich heute voll und ganz den Werken der friedlichen Zusammenarbeit widmen.
Ihnen, meine Herren Buchhändler, muß ich zugleich mit meinem Dank für die hohe Ehre, die Sie mir mit dieser Auszeichnung erweisen, auch meine Beschämung gestehen. Was Sie freundlicherweise mit diesem Preis bedenken, sind - dessen bin ich mir durchaus bewußt - weniger meine Verdienste als meine Absichten, nicht so sehr meine Leistungen als vielmehr meine Bemühungen. Über den Staatschef und den Mann der Feder hinaus gilt Ihre Auszeichnung zudem auch dem senegalesischen Volk. Im selben Afrika, in dem immer noch allzuoft bei den Weißen das Rassen- und bei den Schwarzen das Stammesdenken vorherrscht, hat es dieses Volk verstanden, seine völkischen, sozialen und kulturellen Unterschiede in einer Symbiose zu überwinden, in der sich all diese verschiedenartigen Reichtümer gegenseitig ergänzen.
Das alles hindert nicht, daß die heutige Feier etwas Merkwürdiges an sich hat. Da geben Sie den Friedenspreis einem ehemaligen Kriegsgefangenen der deutschen Wehrmacht, einen Preis, der immerhin als literarischer Preis gemeint ist, einem alten Vorkämpfer der >Négritude<, der kulturellen und politischen Eigenständigkeit des Negertums. Eine wahrhaft merkwürdige Feier, die doch so gut unsere Zeit der Gewalt und Verwirrung und zugleich der anbrechenden Morgendämmerung und Klarheit kennzeichnet, diese zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, die wir gemeinsam erleben. Seltsam also und doch bezeichnend und nicht ohne Sinn. Denn auch in den Kriegsgedichten dieses Dichters und Gefangenen werden Sie kein Wort des Hasses gefunden haben. Und jener Vorkämpfer des Negertums legte großen Wert darauf, zugleich auch ein Vorkämpfer der künftigen Weltkultur zu sein.
*
Sie werden mir verzeihen, wenn ich Ihnen hier keine >Vorlesung< halte, auch wenn ich von Beruf Lehrer und Professor bin. Ich werde Ihnen auch keinen wohlgegliederten Vortrag mit einem >erstens<, >zweitens< und >drittens< präsentieren, obwohl ich vorhabe, mit einer Synthese zu schließen. Ich vermag Ihnen heute nur von meiner, von unserer Erfahrung als Senegalesen und Vorkämpfer des Negertums auf dem schweren, aber fruchtbaren Weg des >Gebens und Nehmens< zu berichten. Das ich und das wir werden daher oft wechseln und einander ablösen, aber doch so, daß beide auf ein gemeinsames Ziel hin konvergieren. Denn im Zentrum dieses Dialogs steht eben das Problem, von dem heute die Rede ist, das Problem des Friedens. Und während all dessen will ich Ihnen zugleich berichten, welche Hilfe uns auf diesem Weg die Erfahrungen Deutschlands geleistet haben.
Seit dem zweiten Weltkrieg sind wir - alle Kontinente, alle Rassen und alle Völker - nolentes-volentes, ob wir wollen oder nicht, und ohne die Möglichkeit einer Umkehr in den Prozeß der Totalisierung und Sozialisierung der Menschheit hineingeraten, durch den diese zu einem einzigen Ganzen und einer einzigen Gesellschaft zusammenwächst. Schon in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen hat dies Pierre Teilhard de Chardin vorausgefühlt, bevor uns die Atombomben und Überschallflugzeuge, die Raumfahrzeuge und Nachrichtensatelliten bestätigten, daß es keine unbekannten und keine von der Welt abgeschlossenen Länder mehr gibt, daß keine Nation mehr völlig unabhängig ist, auch wenn noch manche Völker für ihre Unabhängigkeit oder schlicht und einfach für ihr Überleben kämpfen. Aber die Herausforderungen, Spannungen und Streitigkeiten, die Auseinandersetzungen, die Kriege, ja die Hungersnöte wären nicht so dramatisch und zuweilen so tragisch, wenn sie sich nicht eben auf dieser Ebene der Nationen, der Völkerschaften und Kontinente abspielten. Und dies ist wiederum der Beweis dafür, daß wir uns - dank den Fortschritten der Kultur, der Wissenschaften und der Technik - im Laufe dieses Jahrhunderts mit Leib und Seele einander geöffnet haben, daß wir einander nahegekommen, daß wir zusammengedrängt und miteinander vermischt worden sind. Wir können aus dieser planetarischen Interdependenz, dieser planetarischen gegenseitigen Abhängigkeit nur eine einzige Lehre ziehen: daß wir uns auf dieser selben Weltebene miteinander verständigen müssen - im Frieden und durch den Frieden. Denn die materielle Macht der entwickelten Völker ist so groß, daß sie in jedem Augenblick die ganze Menschheit vernichten kann; und auch die unterentwickelten Völker - die zwei Drittel der Menschheit ausmachen - verfügen über eine Macht zur Auflehnung und zum Aufstand, die nicht weniger zerstörerisch sein kann.
Aber was ist - genau besehen - eigentlich >Frieden<? Bevor ich auf diese Frage zu antworten versuche, möchte ich darauf hinweisen, daß der Begriff des Friedens die Grundlage der Gesellschaft, ja die Grundlage der Ontologie der Nord-Sudanesen bildet. In allen Sprachen meines Landes geht es bei Gruß wie bei Abschied stets und immer wieder um den Frieden: »Hast Du Frieden?« begrüßen wir uns etwa. »Bleibe im Frieden!« heißt es zum Abschied.
Für den Nord-Sudanesen, ja für den Schwarzafrikaner ist Friede jedoch nicht nur eine Negation, eine bloße >Abwesenheit von Krieg<. Friede ist zunächst und vor allem ein positiver Zustand: die freie Entfaltung ausgewogener Beziehungen und ausgeglichener Verhältnisse, sowohl im Innern des einzelnen Menschen wie zwischen den verschiedenen Menschen. Friede ist gleichbedeutend mit Ordnung und Harmonie. Und das griechische Wort, das ihm am besten gerecht würde, ist nicht >eiréne< (είρήυη), sondern dikaiosýne (διχαιοσύνη), die >rechte Fügung<.
Für den Schwarzafrikaner ist es somit der Beruf des Menschen, sowohl in seinem Eigenleben als auch in seinem Zusammenleben mit den anderen Menschen das Erbübel wieder gutzumachen, das aus der mit seinem Ursprung als Menschen zusammenhängenden Verwirrung der Ordnung entstanden ist, indem er nach dem Beispiel und dem Vorbild Gottes die anfängliche Ordnung der Schöpfung neu schafft, eine Ordnung, die Harmonie ist, weil an ihr alle Elemente der Person, der Gesellschaft, der Erde und des Weltalls im rechten Verhältnis teilhaben. Die Gesellschaft lebt >im Frieden<, d.h. in einem auf der rechten Fügung ruhenden Einklang, wenn alle Einzelpersonen und alle gesellschaftlichen und kulturellen Gruppen ihren gerechten Anteil an ihr haben und ihre wahre Rolle in ihr spielen können. In den senegalesischen Sprachen ist Schönheit gleichbedeutend mit Maß und Fügung, mit Gleichgewicht, Einklang und zuweilen sogar Güte.
Wir gelangen so von einem ontologischen und geistig-sittlichen zu einem kulturellen Begriff. Unter den Elementen, die eine Person, eine Gesellschaft, eine Welt konstituieren, darf keines zerstört werden oder auch nur brachliegen, denn das geistige Leben - und das heißt die Kultur - besteht wie das physische Leben eben aus dem freien Spiel dieser Elemente und Kräfte, die ihrem Wesen nach stets nach Gleichgewicht, Harmonie und Schönheit streben, in welcher das Leben des Geistes seinen vollkommensten Ausdruck findet.
*
Natürlich haben die Vorkämpfer der >Négritude<, des Negertums im oben angedeuteten Sinn, diese Wahrheit nicht sofort und von vornherein entdeckt. Wir waren blind gegenüber uns selbst und gegenüber den anderen durch die koloniale Situation, die sozusagen zwei blinde Flecken in unseren Augen schuf: die Schwären unseres Minderwertigkeitskomplexes und unseres Ressentiments gegen die Eroberer. Durch eine jener dialektischen Wendungen, die die Kulturgeschichte ausmachen, waren es dann jedoch gerade die Kolonialländer, darunter auch Ihre deutsche Heimat, die uns schließlich die Augen öffneten. In meinem Fall freilich sind es, wie Sie wissen, zunächst die Franzosen gewesen.
Ein europäischer Geistlicher, der Leiter des >Collège Libermann<, eines Priesterseminars in Dakar, wurde nicht müde, uns immer von neuem zu wiederholen, daß unsere afrikanischen Vorfahren keine Kultur geschaffen, sondern uns nur eine >tabula rasa<, eine völlige Leere hinterlassen hätten, von der ausgehend man alles erst neu schaffen müsse. Die jungen Widerspruchsgeister, die wir damals waren, uns, die wir glaubten, ein ordentliches Leinengewand beanspruchen zu können, stieß er ständig auf die Ebene unseres herkömmlichen >Lendenschurzes< zurück. Dazu kam dann das holzhammerartig vorgetragene Argument, wir ließen uns von der Musik, vom Klang der Worte bezaubern, statt uns an ihre Substanz, ihre Bedeutung zu halten - was natürlich eindeutig bewies, daß wir keine Kultur hatten.
Ich werde dem alten Pater und Leiter unseres Seminars nie genug dafür danken können, daß er mich zu Widerspruch und Nachdenken zwang und damit zwar nicht dem Namen, aber doch der Sache nach, auf den Gedanken der >Négritude<, der Eigenart und Eigenständigkeit des Negertums, brachte. Denn ich fühlte sehr wohl, was an seinen Behauptungen wahr und was an ihnen falsch war. Meine Eltern hatten mich ebenso wie meine Geschwister im Stolz auf ihren Namen und auf ihre Abkunft erzogen. Ich fühlte sehr wohl und hatte es in meiner Kindheit erlebt und erfahren, daß hier eine eigenständige Kultur war, eine Kultur, die ich heute zu kennzeichnen versuche als »un cheval et un fusil, une femme et une kôra, une noix de kola« (»ein Pferd und ein Gewehr, eine Frau, eine Kora, und eine Kolanuß«).
Ich meine eine Kultur, die von feudalen Strukturen, von Gedicht und Lied und vom Handel bestimmt ist, die Kultur des nördlichen Sudan.
Ich hatte freilich auch in der Tat das Gefühl, daß bei uns allzuoft das Herz über den Verstand siegte, und daß wir, wenn auch nicht ausschließlich, so doch zunächst und in erster Linie auf die sinnlichen Eigenschaften der Worte hörten: auf ihren Klang und ihre Farbe, ihren Rhythmus und ihre Struktur. Und da wir inzwischen unwiderruflich in die Welt der europäischen Weißen eingetreten waren, beschloß ich damals, künftig alles dadurch zu begreifen, daß ich es mit dem Sieb des kritischen Verstandes prüfte. Meine eigenen Argumente fühlte ich zwar, fand sie aber erst später im Paris des Jahres 1928. Oder besser: Nicht ich, sondern wir fanden dort diese Argumente, denn die Erfahrung, die ich persönlich gemacht hatte, hatten ebenso auch andere junge Männer und Frauen in Afrika, aber auch in Amerika, machen können.
Sie können sich leicht ausmalen, welche Art von Bildung wir in Paris im Lycée Louis-le-Grand und an der Sorbonne erhielten, mit Fächern wie Sprachen, Philosophie und Geschichte und mit Aufgaben wie Aufsatz und Textinterpretation, alles in der Tradition eines Rationalismus, der so kritisch wie nur irgend möglich war. Seltsamerweise kam ich jedoch gerade dort zum ersten Mal wirklich mit dem deutschen Geist in Berührung: mit deutschen Sprachforschern, deutschen Philosophen und deutschen Historikern. Und interessanterweise waren es - trotz der zunehmenden Verschlechterung der deutsch-französischen Beziehungen in den Jahren 1928 bis 1934 - Franzosen, d.h. meine Lehrer, die mich lehrten, bei jenen Deutschen die Strenge der Analyse und die Kraft der Synthese und Zusammenschau zu erkennen und zu bewundern. Sie mögen daraus ersehen, wie groß die intellektuelle Redlichkeit meiner Lehrer war, wobei sie freilich im Grunde ihrer Seele auch fühlten, daß der deutsche Geist und die deutsche Seele eine komplementäre Ergänzung des französischen Geistes und der französischen Seele waren. Was ich jedoch einseitig bewunderte, war lediglich das Abstraktionsvermögen und das diskursive Denken, wenn auch ein wenig aus der Distanz, denn es ließ meinen Wissensdurst ungestillt.
Erst am Ende jener Periode und am Ende meines Studiums entdeckte ich - zusammen mit anderen Kameraden - das andere Gesicht des deutschen Geistes, der deutschen Seele im Sinne von C. G. Jung, für den die Seele das Denken und Fühlen zugleich umfaßt. Und es war vor allem noch später, als ich als junger Lehrer zu den Quellen zurückging und meine Studien auf völkerkundlichem Gebiet, insbesondere im Hinblick auf die schwarzafrikanischen Kulturen, fortsetzte. Eben damals entdeckten Paris und Frankreich von neuem die deutsche Romantik. Diese gleichzeitige Entdeckung der schwarzafrikanischen Kulturen und der deutschen Bewegung des Sturm und Drang war, zumindest für mich, von entscheidender Bedeutung für die Herausbildung des Begriffs der Négritude.
Lehrte uns nicht der deutsche Völkerkundler Leo Frobenius, daß jedes Volk seine eigene Kultur besitzt, d. h. eine geistige Struktur, aus der die Gefühle und Gedanken, die Sitten und Einrichtungen, die Religion und die Kunst dieses Volkes hervorgehen? Er bewies uns, daß »die Vorstellung vom barbarischen Neger ... eine Schöpfung Europas« ist; daß der Neger durch seine Fähigkeit gekennzeichnet ist, sich nicht von den Tatsachen, sondern »vom Wesen der Erscheinungen« bewegen zu lassen und diese in einem »unmittelbaren, ungekünstelten und ernsten« Stil auszudrücken; und daß im übrigen die Seele des Negers mit der deutschen Seele verwandt ist. Bei der Beschreibung der Volkscharaktere werden die Deutschen und die Schwarzafrikaner zwar zum Beispiel bei Paul Grieger zwei verschiedenen Volkstypen zugeordnet, beiden werden jedoch nichtsdestoweniger als wesentliche Züge ihres Charakters eine große Fähigkeit zur Gefühlsbewegung und eine ebenso große Ausdruckskraft zugesprochen.
Sie werden verstehen, wie tief wir bewegt und beim Nachdenken auch stolz waren, als wir Novalis und die deutschen Dichter der Romantik lasen. Sie waren zu den germanisch-deutschen Quellen des Lieds und des Märchens zurückgekehrt, sie besangen nach der Sonne den Mond, nach dem Tag nun auch die Nacht. Sie besangen die Erde und holten aus den Abgründen der Seele die archetypischen Bilder hervor, die aus dem Waldesdämmer der Einfühlung emporstiegen. Nichts konnte uns stärker ermutigen, unseren Weg der Rück- und Heimkehr nach Ur-Afrika weiter fortzusetzen.
Der Krieg mit seinen Furien des Bruderhasses und seinen Hekatomben von Toten und Ruinen sollte uns dann den Weg des wahren Friedens zeigen: den Weg des dynamischen, weil in friedlicher Auseinandersetzung erfolgenden Ausgleichs der Gegensätze (accord dynamique parce que conciliant). Der Krieg, das heißt hier: die Gefangenschaft.
Als Gefangener der Deutschen mußte ich ihnen notwendigerweise ins Auge blicken, mich näher mit ihnen befassen und die beiden Bilder einander gegenüberstellen, die ich mir von diesem großen Volk gemacht hatte: das eine war ein romantisches, aber übertriebenes, das andere ein konkretes - ich will nicht sagen das wirkliche -, aber ein recht bedrückendes Bild. So setzte ich meine Suche nach dem wahren Bild zwei Jahre lang fort, wobei sich diese zwei verschiedenen Erfahrungen als recht hilfreich erwiesen, indem ich zugleich die deutschen Klassiker und den konkreten Deutschen entdeckte, auch wenn der letztere Soldat war und mich bewachen mußte.
Aber gerade in solchen Situationen, wenn sich gegnerische Stämme oder Völker in unmenschlichen Systemen wie dem Krieg, der Rassentrennung oder der Apartheid gegenüberstehen, kommt die menschliche Wahrheit zutage. Die Wahrheit, daß über alle haßerzeugende gegenseitige Unkenntnis und Furcht hinaus die Menschen, wenn sie mit entblößter Seele einander ausgeliefert sind, zugleich mit dem Selbst der anderen ihr gewaltiges Bedürfnis nach gegenseitiger Liebe, d. h. nach Brüderlichkeit entdecken. Weswegen man die Wachen alle zwei Wochen ablöste und ich seit zwanzig Jahren vergeblich nach den Spuren von Leutnant Wuttke suche, der mir zur Entdeckung von Johann Wolfgang Goethe verhalf.
Diese Entdeckung war für mich von ganz entscheidender Bedeutung: einmal für das Verständnis des deutschen Wesens, das heißt der deutschen Kultur, und zweitens für die Herausbildung des neuen Negertums. Denn was Deutschland betrifft, so drückt sich das wahre Wesen eines Volkes in der höchsten Gestalt seines Denkens und seiner Kunst, d.h. seines Geistes aus, in seiner Klassik, die André Gide eine >gebändigte Romantik < (un romantisme dominé) nennt. Diese Formulierung erinnert an den Satz Paul Valérys: »Jede Klassik setzt eine vorhergehende Romantik voraus.« Ich möchte hinzufügen: Weil jede Klassik einen Frieden im schwarzafrikanischen Sinn des Wortes darstellt, d.h. einen versöhnlichen Zusammenklang (accord conciliant) zwischen verschiedenen, wenn nicht gar gegensätzlichen Elementen. Was eben die Klassiker Weimars - und Goethe besser als jeder andere - bewiesen haben.
Wenn also Goethe ein Klassiker ist, dann deswegen, weil er zuvor an der Bewegung des Sturm und Drang teilnahm, weil er zunächst Romantiker war und es in seinem Unterbewußtsein bis zu seinem Tod geblieben ist. Romantiker war er, weil er der bloßen Nachahmung des Fremden den Rücken kehrte und beschloß, er selbst zu sein, indem er Deutscher war, und weil er sich dabei »unmittelbar an das Volk und an das Herz des Volkes wandte, ohne den Umweg über die Kelter der Kritik« zu gehen. Ja, er hat sich zunächst und vor allem an das deutsche Volk gewandt, von Herz zu Herzen gesprochen, indem er noch vor Novalis zum lebendigen Quell des Lieds und des Märchens zurückkehrte, zu den dunklen Kräften der Sehnsucht und des Gefühls, wie sie sich in den aus der deutschen Erde und dem deutschen Himmel erwachsenen Bildern und Gleichnissen ausdrücken.
Diese Romantik ist jedoch von Goethe in einer selten versagenden Bemühung um innere Disziplin in seiner Lebensführung und um formale Strenge in seiner Kunst gebändigt worden, ich möchte sagen: in einer systematischen Bemühung um die Gestalt, bei der sich der Dichter nicht nur immer strengeren Regeln der Sprachmelodie und des Versmaßes unterwirft, sondern die klarsten Symbole im knappsten Ausdruck zu Wort bringt. Ich spreche hier von der Dichtung als dem eigentlichen Wesen der Kunst.
Wenn Goethe auf diese Weise der erste war, der Deutschland eine dieses Namens würdige Nationaldichtung schenkte, dann geschah dies eben nicht, indem er über Deutschland hinausging, sondern indem er die deutsche Seele in ihrer höchsten Gestalt, in der Dichtung, zu Wort brachte. Das gilt für Goethe, aber auch für alle seine Schüler und Nacheiferer in Weimar. Wie Schiller im Entwurf zu einem Gedicht über den Deutschen notierte:
Nach dem Höchsten soll er streben;
Die Natur und das Ideal.
Er verkehrt mit dem Geist der Welten.
Mehr noch: Auch die Romantiker in Jena teilten das gleiche Ideal. Bei aller Verwurzelung im deutschen Wesen wollten sie doch zugleich Weltbürger sein. Sie suchten eine Welt der Kultur, ein Reich des edlen Wettstreits zu errichten, in das der Deutsche das Beste einbringen sollte, was er zu geben hat: Die Spannung zwischen der nachtumwobenen Erde und dem gestirnten Himmel, die Leidenschaft, die seine Sehnsucht nach dem Absoluten besingt:
»Himmlischer, als jene blitzenden Sterne, dünken uns die unendlichen Augen, die die Nacht in uns geöffnet.«
Bevor ich einen Schluß aus meinen Überlegungen zu ziehen versuche, möchte ich nochmals auf die Harmonie der Gegensätze (l'accord conciliant) zurückkommen, die Goethe in seiner Person zu erreichen vermochte. Ich meine hier nicht das Gleichgewicht zwischen Schriftsteller und Politiker, zwischen Künstler und Gelehrtem und nicht einmal zwischen Deutschem und Europäer, obwohl man all dies nicht übersehen darf, sondern einen noch innerlicheren, wesentlicheren Ausgleich zwischen deutschem Wesen und Latinität oder besser zwischen Deutschtum und Griechentum: zwischen dem grünen Schatten der germanischen Wälder und dem blauen Licht des Mittelmeers.
*
»Jeder sei auf seine Art ein Grieche, aber er sei's«, schrieb Goethe. Seit mehr als zwanzig Jahren denke ich über diese Lehre Goethes nach, und sie soll auch der Ausgangspunkt für meine Schlußüberlegungen sein.
Man hat mich auf dem Gymnasium, ja auf der Sorbonne gelehrt, daß das griechische Wunder darin bestanden habe, durch das diskursive Denken, das Tatsachen sucht, entdeckt und klassifiziert, nach einer Menschheitsgeschichte von rund einer Million Jahren in wenigen Jahrhunderten das ursprüngliche Dunkel der Schöpfung mit der Helle des Geistes erleuchtet zu haben. Durch das diskursive Denken, das von der Tatsache zur Idee, vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Nichtwissen zur Erkenntnis der Wahrheit fortschreitet; durch ein Denken, das somit der Ursprung der Wissenschaft, der Verwandlung der Natur und demgemäß alles zweckmäßigen und erfolgreichen Handelns ist.
Das griechische Wunder besteht jedoch nicht nur aus den Philosophen und Gelehrten, nicht nur aus Aristoteles und Archimedes, sondern auch aus den griechischen Dichtern und Dramatikern, auch aus einem Pindar, einem Äschylus oder einem Aristophanes. Das Wunder ist eben dieses Theater, das Dichtung, und diese Dichtung, die Musik und Tanz ist, paradoxerweise, aber nicht ohne Grund und nicht ohne Sinn und Verstand (non sans raison), wie in Schwarzafrika.
Nicht ohne Sinn und Verstand, in der Tat. Schon in den Hörsälen der Universität hatten wir - und nicht nur bei Homer - die Gleichwertigkeit sowie die ständige Überlagerung von Gefühl und Verstand (raison), von thymós (δυμός) und nous (νούς) bemerkt. Was letzten Endes das griechische Wunder ausmacht, ist - unter der Einwirkung des logos (λόγος) - der sich in einer Symbiose vollziehende Austausch zwischen thymös (δυμός) und nous (νούς), zwischen intuitivem Verstehen und diskursivem Begreifen. Denn dieser Logos ist mehr als nur feststellende Rede (mot statique), er ist immer zugleich ein Geschehen der Entbergung und des entbergend-verbergenden Ausgleichs; er ist, wie Martin Heidegger, einer der Interpreten dieses Logos, gesagt hat, »die Versammlung des Seienden im Ganzen«, von wo es dann nicht mehr weit zur Wahrheit des Seins ist. Denn dieser Logos war bei den Griechen noch flüssige, ungeronnene Rede und schöpferisches Wort.
Das Wunder besteht darin, daß die Griechen nicht den Menschen verstümmelten wie die Renaissance und die Neuzeit, die die Vorstellung vom >barbarischen Neger< in die Welt gesetzt haben, während noch Herodot die Schwarzen für >die schönsten< aller Menschen hielt und Homer sie >ohne Fehl und Tadel< nannte. Daß die Griechen den Menschen als Ganzes sahen, im Gleichgewicht seiner Anlagen und im Einklang seiner Lebensäußerungen: von Leib und Seele, Ergriffenheit und eigenem Zugriff, selbstsüchtiger Begierde und selbstloser Liebe sowie vor allem von dem am Auge und am Aussehen orientierten begrifflichen Vorstellen (raison-regard) und dem am Greifbaren orientierten mitfühlenden Vernehmen (raison-toucher). Das Wunder besteht darin, daß sie die Idee und den Begriff im Gefühl, das Gefühl im Bild und, womit alles gesagt ist, das Bewußte im Unbewußten bzw. im Unterbewußten entdeckt haben.
Denn auch Aristoteles selbst, der Vater des Rationalismus, hat das anschauende, intuitive Denken (raison intuitive) keineswegs vernachlässigt und in seiner Nikomachischen Ethik ausdrücklich erwähnt. Und was ist sein nous poietikós (νούς ποιητιχός) - »seinem Wesen nach das Höchste im Menschen« - anderes als die schöpferische Anschauung (intuition creatrice), der Jacques Maritain eines seiner besten Werke gewidmet hat. Wobei Aristoteles sich wieder seinem Lehrer und Meister Platon anschließt: Für diesen ist die Muse, d.h. die >Entrücktheit< des Dichters, das anschauend-vernehmende Denken (raison intuitive), das über dem diskursiven Denken steht (raison discursive), das schönste Geschenk der Götter. Daß Platon die Dichter aus seinem Staat vertreiben will, ist, wie Sie leicht erraten können, nur sokratische Ironie.
Für Goethe und die Klassiker von Weimar war dies die große Lehre, die sie aus dem griechischen Wunder ziehen konnten. Es gibt jedoch noch eine andere Lehre, die die Vorkämpfer der Négritude, des Negertums im oben angedeuteten Sinn, aus demselben griechischen Wunder ziehen und die uns auf der Universität Dakar erlaubt, die griechischen und sogar die lateinischen Autoren mit neuen Augen zu lesen! Ich meine die Mischung der Kulturen (die übrigens - obwohl dies nicht das Wesentliche ist - zugleich eine biologische Mischung war). Wir wissen heute, daß die Griechen, als sie als harte, hellsichtige und durch ihre Organisation erfolgreiche indoeuropäische Krieger die Küsten des Mittelmeeres erreichten, nicht eine kulturelle Leere, sondern eine schon glanzvolle Kultur vorfanden, die sie nach ihrem Sieg in sich aufnahmen und die eine der Komponenten des griechischen Wunders war. Der >homo mediterraneus<, der diese Kultur geschaffen hatte, war ein Mischling aus den verschiedensten - europäischen, asiatischen und afrikanischen - Rassen, die nacheinander die Küsten und Inseln des Mittelmeers bevölkert hatten und zu denen auch die negroiden Träger des Capsien gehörten.
Wenn ich Sie recht verstanden habe, meine Herren Buchhändler, dann wollten auch Sie bei der Stiftung des Friedenspreises >auf Ihre Art< oder besser nach Goethes Art >Griechen sein<. Ich nehme an, daß Sie deswegen beschlossen haben, die Verleihung des Preises regelmäßig in Goethes Geburtsstadt Frankfurt vorzunehmen.
Ich sehe jedoch in der Wahl dieser Stadt noch einen anderen Sinn. Die Stadt Frankfurt liegt im Herzen Deutschlands, so wie Deutschland im Herzen Europas liegt. Eingespannt zwischen ihren seelischen Vettern, den Kelten und Slawen, zwischen ihren Brüdern, den Skandinaviern, und ihrer komplementären Ergänzung, den Mittelmeervölkern, haben die besten Vertreter Ihres Vaterlandes die deutsche Kultur stets als ein gleichzeitiges Streben nach Bodenständigkeit und nach Weltoffenheit verstanden, was ja auch zugleich das Wesen aller Kultur ausmacht.
Sie, meine Herren Buchhändler, setzen diese edle Tradition des deutschen Geistes fort. Indem Sie Ihren Preis heute einem Afrikaner verleihen, schließen Sie sich, nach dem Vorbild der Bundesregierung, der umfassenden, auf ein gemeinsames Ziel hin strebenden Bewegung an, die Menschen und Völker dazu veranlaßt, unseren gesamten Planeten mit einem Netz von wirksamen gegenseitigen Verantwortungen und Bindungen zu überziehen. Damit Frieden herrsche.
Wir Senegalesen, wir Bewohner des nördlichen Sudan, die wir durch Geographie, Vorgeschichte und Geschichte sowie nicht zuletzt durch Rassenmischung auf unseren Platz unter den Tropen, zwischen Urwald und Mittelmeer verwiesen wurden, haben schon vor einer Generation unsere Situation analysiert, sie akzeptiert und beschlossen, unsere Friedensrolle zu spielen. An die Stelle einer Négritude des Ghettos und des Ressentiments wollen wir ein Negertum setzen, das in jenem >Ur-Afrika< verwurzelt ist und zugleich zum Mittelmeer hin offen bleibt, zum Mittelmeer, das ebensowohl Brücke nach Asien wie Brücke nach Amerika ist. Und was den Ausgleich durch eine komplementäre Ergänzung der Gegensätze betrifft, so wollen wir dieses Gleichgewicht jeweils als einzelne in uns selbst verwirklichen, aber zugleich auch dazu beitragen, daß jedes Volk einen solchen Ausgleich zu erreichen vermag. Schritt für Schritt können wir so in Zukunft - und ja auch schon heute - jene Weltkultur entstehen sehen, die ein gemeinsames Werk aller verschiedenen Kulturen sein wird, da alle Kontinente, alle Völkerschaften und alle Nationen an ihr mitwirken. Wenn ich sage >alle Nationen<, dann meine ich, daß alle - auch die kleineren und kleinsten Nationen - ohne jede Einmischung der Großmächte selber über ihre Entwicklung entscheiden. Ein solcher eigener Weg setzt jedoch sowohl politische als auch kulturelle Freiheit voraus.
Damit jedoch alle Völker und vor allem die Entwicklungsvölker der sogenannten >Dritten Welt< in diese weltweite Begegnung all ihren geistigen Reichtum und all ihre >schlafenden Energien< einbringen können, muß zunächst auf der Erde wirtschaftlicher Friede herrschen. Hier liegt das große Problem der internationalen Gerechtigkeit, das die Welthandels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen noch nicht gelöst hat. Es kann keinen Frieden geben, weil es keine Gerechtigkeit geben kann, solange ein und dieselbe Arbeit, ein und dasselbe Gut, ein und dieselbe Dienstleistung mit verschiedenem Entgelt bedacht werden, je nachdem, ob man mächtig oder schwach, Europäer oder Afrikaner, Nord- oder Südamerikaner ist. Ich spreche von dem bekannten Problem der sogenannten Verschlechterung der >terms of trade<, der Verschlechterung der >Handelsbedingungen<.
Aber die Feier, die heute morgen in der Geburtsstadt Goethes stattfindet, sowie unsere Anwesenheit in Deutschland lassen uns hoffen, sagen uns, daß ebenso, wie für die kulturelle Zusammenarbeit nichts verloren ist - das Gegenteil ist vielmehr der Fall -, wir auch die Hoffnung auf eine wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen gleichberechtigten Partnern - die eine Voraussetzung für die kulturelle Zusammenarbeit ist - nicht aufzugeben brauchen. Ich sage: nichts ist verloren, auch nicht für die politische Zusammenarbeit, trotz des gegenwärtigen Waffengeklirrs, das in Europa die alten Gegensätze und Bitterkeiten wieder aufleben läßt. Wir geben die Hoffnung auf einen Sieg des Friedens in der Welt um so weniger auf, als die Bundesregierung - eingedenk der Aufgabe, die dem großen Volk der Deutschen zufällt - ihr kaltes Blut bewahrt und gelassen reagiert hat. Sie hat begriffen, daß die Rolle Deutschlands darin besteht, auf den internationalen Konferenzen und Versammlungen jenem Ideal des harmonischen Gleichgewichts (équilibre harmonieux) und der Versöhnung der Gegensätze (accord conciliant), mit einem Wort: dem Ideal des Friedens zum Siege zu verhelfen, das die größten deutschen Geister so zutreffend bestimmt haben.
Wir wissen freilich, daß dieser Kampf, dieser Kreuzzug für den Frieden die Mitwirkung aller Nationen, der großen wie der kleinen, erfordert. Deswegen ist heute auch Senegal unter Ihnen vertreten. Seien Sie bedankt dafür, daß Sie es so ehrenvoll, aber vor allem so brüderlich unter sich aufgenommen haben.
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Der Nachdruck und jede andere Art der Vervielfältigung als Ganzes oder in Teilen, die urheberrechtlich nicht gestattet ist, werden verfolgt. Anfragen zur Nutzung der Reden oder von Ausschnitten daraus richten Sie bitte an: m.schult@boev.de
Léopold Sédar Senghor
Dankesrede des Preisträgers
Chronik des Jahres 1968
+ + + Vietcong-Verbände und Truppen aus Nordvietnam starten Ende Januar 1968 eine Großoffensive, die den Rückzug der USA aus Vietnam einleitet. + + + Im März verüben US-Soldaten ein Massaker an Einwohnern des südvietnamesischen Dorfes My Lai. 507 Menschen kommen ums Leben. Das Dorf wird zum Sinnbild eines Krieges, dessen Leidtragende vor allem die Zivilisten sind. + + + In Memphis wird am 4. April der schwarze Bürgerrechtler und Friedensnobelpreisträger Martin Luther King durch Schüsse eines weißen Attentäters getötet. Die Nachricht von seinem Tod löst in vielen Städten der USA Unruhen und Krawalle aus. + + +
+ + + Anfang April setzen Anhänger der APO zwei Frankfurter Kaufhäuser in Brand. Die Brandstifter, unter ihnen Andreas Baader und Gudrun Ensslin, werden zu drei Jahren Haft verurteilt. + + + Eine Woche später wird Rudi Dutschke von einem 23-jährigen Arbeiter niedergeschossen und schwer verletzt. Der Anschlag führt in vielen Teilen der Bundesrepublik zu teilweise blutigen Auseinandersetzungen von Demonstranten mit der Polizei. Ende Mai beschließt der Bundestag die Notstandsverfassung, die unter anderem den Einsatz der Bundeswehr bei inneren Unruhen genehmigen kann. + + + In der CSSR wird der Reformpolitiker Alexander Dubèek zum neuen Generalsekretär gewählt. Dubèek versucht, einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« zu verwirklichen. Die UdSSR unterstützt ihn zunächst, befürchtet jedoch bald den Verlust nicht nur ihres Einflusses in Prag, sondern auch ihrer Hegemonie im Ostblock. Am 20./21. August wird der »Prager Frühling« von Truppen des Warschauer Paktes niedergeschlagen. + + +
Biographie Léopold Sédar Senghor
Léopold Sédar Senghor, geboren am 9. Oktober 1906 in Joal, im damaligen Französisch-Westafrika, arbeitet nach dem Studium ab 1935 in Tours als Lehrer. Er kämpft im Zweiten Weltkrieg in der französischen Armee und gerät in deutsche Kriegsgefangenschaft, wird aber 1943 wegen Krankheit entlassen.
Drei Jahre später wird er in den Generalrat der Senegal-Region der Kolonie Französisch-Westafrika gewählt und setzt sich als Abgeordneter in der französischen Nationalversammlung für die Unabhängigkeit Senegals ein. Durch seine Initiative wird 1952 in Dakar eine Hochschule errichtet, aus der 1957 die erste Universität im Senegal entsteht.
1956 wird Senghor Staatssekretär für Wissenschaft beim französischen Präsidenten. 1959 erhält Senegal als Föderation Mali seine Unabhängigkeit und Senghor wird zum ersten Präsidenten gewählt. 1980 tritt er als Staatspräsident ab und arbeitet fortan als Präsident der Sozialistischen Internationale in Afrika.
Als Humanist, Philosoph und Dichter zählt Senghor zu den herausragenden Persönlichkeiten Afrikas seiner Zeit. Neben seinem Einsatz für eine politische Unabhängigkeit und geistige Emanzipation der Afrikaner werden seine Äußerungen zur Négritude aber auch kritisiert, weil sein Postulat über das intuitive Wirklichkeitsverständnis des Schwarzafrikaners als gleichwertiges Gegengewicht zur manipulativen technischen Rationalität des Europäers auch missverstanden werden könnte.
Léopold Sédar Senghor stirbt am 20. Dezember 2001 im Alter von 95 Jahren.
Auszeichnungen
1996 Lifetime Award des Grand Prix littéraire de l’Afrique noire
1996 Großkreuz der französischen Ehrenlegion
1983 Dr.-Leopold-Lucas-Preis
1981 Auszeichnung Schärfste Klinge der Stadt Solingen
1968 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
1965 Dag Hammarskjöld-Preis
Bibliographie
Sterne auf der Nacht deiner Haut. Gedichtband
1994
Dialog mit Afrika und dem Islam. Essays
1987
Poèmes. Gedichte
1984
Liberté. Essays
1983
Gesammelte Gedichte
1977
Négritude und Humanismus. Essays
1967
Botschaft und Anruf. Gedichtband
1963
Esthétique négro-africaine
1956
L'Apport de la poésie nègre
1953
Langage et poésie négro-africaine
1954
Nocturnes. Gedichte
1961
Ethiopiques. Gedichte
1956
Schwarzer Orpheus. Gedichtband
1954
Chants pour Naëtt. Gedichte
1949
Hosties noires. Gedichte
1948
Chants d'hombre. Gedichte
1945