Der Stiftungsrat für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wählt den Arzt, Psychoanalytiker und Schriftsteller Alexander Mitscherlich zum Träger des Friedenspreises 1969. Die Verleihung findet während der Frankfurter Buchmesse am Sonntag, 12. Oktober 1969, in der Paulskirche zu Frankfurt am Main statt. Die Laudatio hält Heinz Kohut.
Begründung der Jury
Alexander Mitscherlich, Psychoanalytiker, Psychosomatiker, Schriftsteller und Sozialpsychologe, deckt durch seine Analysen Zwänge unserer Gesellschaft auf. Er deutet die Konflikte des Individuums wie die Unwirtlichkeit seiner Umwelt. Er legt Inhumanes bloß und trägt so zur Entwicklung von Modellen für eine sozial gerechte, lebenswürdige Zukunft bei.
Indem er menschliche Aggressivität bestimmt und sie zugleich zu meistern versucht, macht er die Idee des Friedens zu seiner Sache.
Alexander Mitscherlich wird der Friedenspreis 1969 zugesprochen.
Reden
Vom heutigen Preisträger stammt der Satz, daß der Friedenspreis eines der wenigen Beispiele sei, in denen sich der Begriff des Friedens mit dem Begriff deutsch verbinden lasse.
Werner E. Stichnote - Grußwort
Werner E. Stichnote
Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels
Grußwort
Zur Verleihung des Friedenspreises möchte ich Sie alle im Namen des Börsenvereins herzlich begrüßen und willkommen heißen. Die Freude, Sie, viele von Ihnen zum wiederholten Male, hier anläßlich der Überreichung des Preises zu sehen, ist groß. Es gilt Ihnen mein Dank für Ihr Erscheinen, zumal wir uns alle bei der Vorbereitung und Durchführung nicht von den Erlebnissen des letzten Jahres frei fühlen konnten.
Mit besonderem Respekt begrüße ich unseren Bundespräsidenten, der es sich nicht hat nehmen lassen, nun zum ersten Mal, seitdem er sein hohes Amt angetreten hat, hier zu erscheinen. Mein Respekt gilt nicht nur dem Bundespräsidenten, vielmehr seinen besonderen Bemühungen um eine friedliche Welt, indem er die Sache der Friedensforschung zu seiner eigenen Sache gemacht hat. Dieses gerade heute und hier zu sagen, erscheint mir Aufgabe und Pflicht. Kritik, mitunter bis zur härtesten Form der Ablehnung, traf uns, genauso aber auch Anerkennung und Bestätigung. Sollten wir den mir allzu bequem erscheinenden Weg gehen, eine wichtige Institution aufgeben und damit dem Wunsch zur Ruhe und Vermeidung von Auseinandersetzungen folgen?
Vom heutigen Preisträger stammt der Satz, daß der Friedenspreis eines der wenigen Beispiele sei, in denen sich der Begriff des Friedens mit dem Begriff deutsch verbinden lasse. In einer Welt, in der viele Preise gegeben und verliehen werden, steht es uns Deutschen und unserem Berufsstand im besonderen wohl an, alles zu tun, um den Frieden der Welt zu fördern. Nicht nur weil wir allein in einer friedlichen Welt unsere Bücher schreiben, verlegen und drucken können; die Verbreitung jedes Gedankens, der aus einer unfriedlichen eine friedliche Welt machen könnte, jeder Leistung, die der Aufdeckung und damit Beseitigung von Depressionen und Aggressionen gilt, legitimiert nicht nur unser Tun, sondern auch die Einrichtung des Friedenspreises, den wir an diesem Morgen zum 20. Mal verleihen. Frieden, so könnte man meinen, würde durch die menschliche Selbstsucht produziert.
Unsere Erfahrungen jedoch lassen erkennen, daß es sich anders verhält. Frieden, so meine ich statt dessen, kann durch Erziehung, durch Einfluß auf die Verhaltensweisen, aber auch mit politischen Mitteln, durch Schaffung von Lebensumständen, durch die zwingende Wirkung einer entsprechenden Umwelt geschaffen werden. Eine Aufgabe, der sich keiner von uns - jeder auf seine Weise - entziehen kann. Diese Auffassung unseres Berufes gibt ihm Rechtfertigung und manchmal sogar etwas von Würde.
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Werner E. Stichnote
Grußwort des Vorstehers
Wenn eine solche Wissenschaft sich einmal ernstlich formen wird, eine Friedenswissenschaft, wie sie Mitscherlich in seiner Frankfurter Antrittsvorlesung (1968) nannte, die nicht nur die Hindernisse in der menschlichen Triebnatur erklären muß, die der Gewinnung des Friedens entgegenstehen, sondern auch, paradoxerweise, die Gefahren des Friedens für das Menschliche, dann wird Mitscherlich gewiß zu ihren Pionieren gezählt werden.
Heinz Kohut - Laudatio auf Alexander Mitscherlich
Heinz Kohut
Auf den Friedenspreisträger 1969
Laudatio auf Alexander Mitscherlich
Die Festausgabe der Zeitschrift Psyche zu Ehren von Mitscherlichs sechzigstem Geburtstag enthält eine schöne Photographie. Sie zeigt ihn im Gewand des Arztes und ärztlichen Forschers, im weißen Kittel des Krankenhauses oder des Laboratoriums. Ich weiß nicht, wer dieses Bild ausgewählt hat, ob er selber, ob seine Mitarbeiter - aber ich glaube, daß es ihn in der Rolle zeigt, die ihm als die echteste Repräsentanz seiner Persönlichkeit erscheint: als heilender Arzt, als forschender Heiler.
Für ihn mag der Primat des ärztlich-psychiatrischen Forschers der Knoten sein, der das vielfältige Gewebe seines Lebens und seiner Person im Tiefen zusammenhält; und es mag auch sein, daß seine Mitarbeiter diese Perspektive als die primäre angenommen haben. Für entfernter lebende Freunde aber, wie ich einer bin, verdichtet sich sein Bild nicht so leicht. Kontraste drängen sich auf, die vorerst gesondert beleuchtet werden müssen, ehe man zu jenem Ziel der Vereinheitlichung kommen kann, das ja doch gewiß das anstrebenswerte Resultat der Darstellung einer Persönlichkeit, einer Lebensarbeit ist.
Da ist denn zunächst die professionelle Basis von Mitscherlichs Leben: der Mann im weissen Kittel, der forschende Arzt. Aus einer Professorenfamilie stammend, mit Generationen von großen Chemikern als Familienvorbild, muß dieser Wirkungskreis ihm gewiß lebensstützende Kraft einflößen. Und seine Beiträge sind demgemäß eindrucksvoll und umfangreich. Ich will mich nicht bei seiner Kleinarbeit aufhalten, obzwar ich weiß, daß Kleinarbeit das Lebensblut des wissenschaftlichen Fortschritts ist. Seine Spezialstudien stehen auf hohem fachmännischem Niveau; sein Bestes aber gibt er im Generellen, im synthetisch-lehrenden Überblick und in der mutigen organisatorischen Tat. Schon die frühe Schrift Freiheit und Unfreiheit in der Krankheit (1946) weist auf seine Fähigkeit hin, im Breiten und Tiefen über das Wesen der Krankheit nachzudenken: über das Verhältnis von physischen und psychischen Störungen zueinander; über die Stellung der Psychotherapie im Lager der Medizin. Und es klingt wie eine Ankündigung des Schwerpunkts seines späteren Werkes, wenn er die Lösbarkeit des Widerspruchs zwischen dem großen Müheaufwand für das Individuum und der »Unheiltiefe der abendländischen Menschheit« (V. E. v. Gebsattel, Not und Hilfe, Freiburg i. Br., 1947, S. 44) in den folgenden Worten beschreibt. Die Psychotherapie, sagt er, bringt Hilfe »in winzigen Schritten ..., die sie stoisch dem Einzelnen zu geben versucht ..., ohne die Aussicht, aber nicht ohne die Hoffnung, je den Gang im Großen zu wenden«*.
Als Mitscherlich kurz nach dem Krieg das Büchlein über die Freiheit und Unfreiheit in der Krankheit veröffentlichte, erwähnte er im Vorwort (1945) die Isolierung des deutschen Forschers, der »kaum einen Blick in die Welt jenseits der Grenzen des Landes« tun konnte. Und er gab der Hoffnung Ausdruck, daß er dazu beitragen werde, »ein Gespräch« in Gang zu bringen, »das wir so lange entbehren mußten und dessen wir so bedürftig sind«. Zwanzig Jahre später (1966/67) erschienen Mitscherlichs Studien zur psychosomatischen Medizin, Krankheit als Konflikt, und wir sehen, wie er die Themen, mit denen er allein gerungen hatte, weiterführte, und wie er es, wie kein anderer in Deutschland, verstanden hatte, die Arbeiten »jenseits der Grenzen des Landes« sich selbst und einer sich stets vermehrenden Gruppe von Mitarbeitern vertraut zu machen. Daß Mitscherlich nie bloß Zusammenträger von Arbeiten anderer sein kann, daß seine Synthese mehr ist als ein Bericht über die Forschungsergebnisse in anderen Ländern, versteht sich von selbst. Aber auch dort, wo er bloß zusammenzufassen scheint, fließen plötzlich Gedankengänge ein, die von scharfsinnigster Originalität zeugen, ohne daß er von ihnen viel Aufhebens macht. Ein schönes Beispiel aus seiner psychosomatischen Medizin (I, S. 150) ist die Formulierung über die zentrale Stellung der schöpferischen Phantasie im Angelpunkt zwischen dem triebgespeisten Individuum und dem spezifischen Sozialraum, in dem es sich bewegt. Er spricht von der »Bezogenheit ... zwischen dem Phantasiedrang, der das Individuum aktiviert, und der Objektivität der Formgesetze, in denen sich dieser Gestaltungsdrang entspannend ausdrücken kann«. Und er legt dar, daß »der Grad der Durchdringung ... der an den Standort gebundenen sozialen Lebensbedingungen mit der schöpferisch produktiven Qualität der Individuen ... über den Reichtum und die Entfaltungsmöglichkeit der Phantasie« entscheidet. Mir scheint es, daß Mitscherlich uns hier einen Schritt weiter zur Annäherung an jenes faszinierende Problem über den Beitrag des Milieus zur Gestaltung der Schöpferkraft geholfen hat, das z. B. in der erstaunlichen Tatsache exemplifiziert ist, daß fünf oder sechs der größten Geister des Abendlandes sich innerhalb eines verhältnismäßig kurzen Zeitabschnittes in einer nach modernen Maßstäben kleinen Stadt (im Athen des Perikles) entwickeln konnten.
Wenden wir uns nun einem zweiten Betätigungskreis Mitscherlichs zu, welcher uns seinem Wirken für den Frieden näher bringt: dem Gebiet der Sozialpsychologie. Und hier kann ich es nun nicht länger aufschieben zu betonen, was natürlich auch schon während der Darlegung des psychiatrischen Arbeitsgebiets am Platz gewesen wäre, daß der Einfluß der psychoanalytisch erworbenen Kenntnis des Menschen, Mitscherlichs Begegnung mit dem Werke Freuds, einen unabschätzbar großen Einfluß auf seine Beobachtungs-, Denk- und Formulierungsweise hat. Selbst vom Einfluß der Psychoanalyse auf Mitscherlichs Denkweise zu reden ist ein Understatement: er hat sich dieses - in seinen Worten - »kostbarste Instrument der Menschenkenntnis, das wir besitzen« völlig zu eigen gemacht, und, ob er Details untersucht oder umfassende sozialpsychologische Konstruktionen errichtet, er geht immer von einem Standpunkt aus, der durch psychoanalytische Beobachtungen am Einzelwesen empirisch gestützt ist. Nur weil ihm psychoanalytische Einsicht anstrengungslos zu Gebote steht, kann er z. B. mit überzeugender Gewißheit von der kindlichen Triebgebundenheit der asozialen Besitzgier sprechen oder den Einfluß erklären, den das projektive Im-anderen-Sehen, was man in sich selbst verbirgt, auf die Formierung des Vorurteils, dieser Geißel des menschlichen Zusammenlebens, ausübt. Aber auch in seinen breitesten Formulierungen stützt sich Mitscherlich auf die Psychoanalyse, und die Hauptgedanken seines größten Beitrags zur Sozialpsychologie, die in seinem Buch Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft (1963) enthalten sind, müssen weitgehend als angewandte Psychoanalyse verstanden sein.
Die Vaterlose Gesellschaft ist ein schwieriges Buch. Die großen Anforderungen, die es an den Leser stellt, liegen nicht nur darin, daß Mitscherlich in der Psychologie des Individuums sowohl wie in der Psychologie der sozialen Gruppe zu Hause ist, der durchschnittliche Leser aber nicht - die Schwierigkeit ist eine emotionelle. Der Leser muß ertragen, daß nichts vereinfacht wird, daß vieles in der Schwebe bleibt und darum nicht zum leicht merkbaren Gedankengut des Lesers werden kann. Das entscheidende Problem aber, das Mitscherlich darstellt, ohne jedoch eine einfache Lösung dafür anzubieten, ist nicht schwer aus dem enggefügten Mosaik seines Buchs herauszuheben. Einflüsse, sagt er, die nicht vom Individuum her erklärbar sind, haben die Gesellschaft grundlegend verändert. Wir leben nicht mehr in der Sicherheit eines autoritären Vater-Staates, sondern in einer Gemeinschaft von anonymen Gleichen, geführt von einem anonymen, unväterlichen Aufgebot von technisch geschulten Sachverständigen und professionellen Politikern.
Ich will hier nicht weiter darauf eingehen, wie Mitscherlich die Vor- und Nachteile dieser geschichtlichen Entwicklung schildert; das Hauptproblem - und ich fordere Sie alle auf, über diese tiefe sozialpsychologische Frage nachzudenken! - liegt in der Bewahrung der Vater-Mutter-orientierten Familienstruktur innerhalb dieses geschwisterlich organisierten Gesamtsozialkörpers. Der Mensch wird die Schöpferkraft erfordernde Anpassungsaufgabe an die neue Gesellschaftsform nur dann bewältigen können, meint Mitscherlich, wenn er den Kern der psychischen Struktur, die für eine solche Aufgabe benötigt wird, in der Kindheit erworben hat. Eine solche Struktur aber, die der Denkinitiative fähig ist, wird man, ganz im Sinne der psychoanalytischen Befunde über das Wachstum und die Festigung des psychischen Apparats im Einzelnen, im Allgemeinen nur dann erwerben, wenn man in einer Familie aufwächst, in der Vater und Mutter deutlich umgrenzte, für das Kind emotionell differenzierbare Figuren sind.
Es führt oft zu einem künstlich anmutenden Ergebnis, wenn man die mannigfaltigen Aspekte einer Persönlichkeit behandelt, als ob jeder ein Eigenleben hätte. Das Irreführende eines solchen Vorgehens, das aber doch unvermeidbar ist, wenn man über bloße Lobpreisung hinausgehen will, wird mir besonders augenfällig, wenn ich nun meine Aufmerksamkeit auf das Feld lenke, in dem sich die wichtigsten von Mitscherlichs Tätigkeiten abspielen. Ich spreche hier von Mitscherlich als beteiligtem Bürger, als Träger des nationalen Gewissens, als Sozialreformer.
Die Verwobenheit seines Verantwortungssinnes in alle seine Betätigungen ist unschwer zu erkennen. Auch wo er in wissenschaftlicher Kühle die Grundzüge der psychosomatischen Medizin darlegt und, in technischen Einzelheiten, die Experimente beschreibt, die ihre Befunde unterstützen, kann er plötzlich zum kraftvollen Polemiker werden, der spezifische Verbesserungen im Medizinstudium und in der Krankenfürsorge verlangt, die von den wissenschaftlichen Einsichten über das Wesen der psychosomatischen Erkrankungen ableitbar sind. Und wenn er uns z. B. in seinem kleinen, aber tiefschürfenden Aufsatz über Friedrich II. den Einfluß des Kindheitserlebnisses auf das Produktiv-Kulturstützende sowohl wie auf das Unmenschliche und Kulturzerstörende des Preußenkönigs vor Augen geführt hat, dann wird er plötzlich zum Ermahner, der eine heute gültige Moral aus der Geschichte abzuleiten weiß. »Wenn wir«, so sagt er, »... aus der Geschichte brauchbare Anweisungen destillieren wollen, kommt es uns nicht mehr auf Ratschläge an, wie man nationale Territorien erweitern kann, sondern auf Inspirationen, wie sich der Grad der Selbstüberwindung vermehren ließe, so daß man ohne Einbuße der Selbstbestätigung internationale Konflikte mit Argumenten statt mit sturer Machtanwendung zu lösen lernt.« (Der Spiegel, Jg. 23, 1969, Nr. 4, S. 110.) Ist dieser Satz nicht ein schönes Rezept für den Frieden?
»Die Worte des Dichters sind ... Taten«, schrieb Freud (6. Juni 1935) an Thomas Mann. Das hat gewiß allgemeine Gültigkeit und kann, in erweitertem Sinn, auch auf wissenschaftliche Beiträge angewendet werden. Aber in Mitscherlichs Fall heißt das mehr. Immer wieder, einer tiefsten Begabung seiner Persönlichkeit entsprechend, nimmt er es auf sich, als Einziger oder als die tapfere Stimme der Wenigen, Notlagen aufzuzeigen, Verbesserungsmöglichkeiten vorzuschlagen, Änderungen zu verlangen.
Er ist kein Träumer, kein Prophet. Die haben es leicht. Über Träumer und Propheten lächelt man, oder man bewundert sie - ohne Furcht, da ja ihre Träume zu weit von der Wirklichkeit entfernt sind, als daß ihre Erfüllung bedrohlich wäre. Mitscherlich stellt sich der schwereren Prüfung: er ist ein Ketzer des Vortags der Erfüllung. Was er verlangt, liegt im Bereich des Möglichen; und er verlangt es mit der vollen Einsicht in die Widerstände, die es hervorrufen muß. Wenn er in seinem Buch Die Unwirtlichkeit unserer Städte (1965) Spielplätze für die Kinder der Großstadt fordert - das ist kein träumerisch-unerfüllbares Verlangen. Wenn er sein Verlangen mit der Feststellung unterstützt, daß die räumliche Beengung des Kindes letzten Endes dazu beitragen kann, selbst die freie Ausübung des Denkvermögens zu beeinträchtigen: wer könnte ihm da widersprechen? Aber Mitscherlich weiß, daß Grundbesitz nicht freiwillig aufgegeben werden wird; und er vergleicht unsere Bereitwilligkeit, eine gesetzlich durchgeführte Landenteignung für den Straßenbau gutzuheißen, mit der Unwilligkeit, ein Gleiches für den Spielraum des Kindes im überteuerten Grundbesitz der Großstadt zu erwägen. Stehen wir hier nur vor ökonomischen Fragen? Oder ist da, wie er meint, etwas von der selbstsüchtigen Unreife einer Generation von Erwachsenen enthalten, die sich nicht verantwortungsbewußt in die Bedürfnisse des Kindes einfühlen kann, die nicht im Rahmen der res publica bereit ist, väterlich und mütterlich zu handeln; Erlauben Sie mir hier einen Exkurs über ein Prinzip der Psychoanalyse, dessen Verständnis für das Verständnis von Mitscherlichs Tätigkeitsmodus im allerbedeutendsten seiner Tätigkeitsfelder, von dem ich in Kürze sprechen will, außerordentlich wichtig ist: Heilungsvorgänge werden nicht aktiv herbeigeführt, sondern man beschränkt sich darauf, Hindernisse, die ihnen im Wege stehen, wegzuräumen. Man könnte dies etwa mit der Wundheilung vergleichen. Der Arzt wird Fremdkörper entfernen, wird die heilungsverhindernde Kluft zwischen den Wundrändern verkleinern - der Rest wird den spontanen Heilkräften des Körpers überlassen. Die Aufgabe des psychoanalytischen Seelenarztes liegt gleichermaßen darin, den Kräften des Ichs zur Entfaltung zu verhelfen - die Lösungen für die inneren Konflikte und Lebensaufgaben des Patienten entwickeln sich spontan, und ihre Originalität übertrifft häufig alles, was sich der Therapeut hätte ausklügeln können. Ich möchte die Behauptung wagen, daß Mitscherlichs bedeutendster Beitrag zur Kultur der Gegenwart darin besteht, daß er - ob bewußt oder an der Schwelle des Bewußtseins - das Experiment unternommen hat, dieses Prinzip der psychoanalytischen Heilung von der Therapie des Einzelnen auf die Therapie eines Volkes zu übertragen. So wie sich das Ich des Einzelnen von rationalen Lösungsmöglichkeiten zurückzieht, die eine Konfrontierung mit unerträglichen Konflikt-Spannungen oder panikauslösenden äußeren Gefahren erfordern würden, so auch, nach Mitscherlich, die Summe im Wesentlichen gleicher Ichs von Völkern und Nationen. Den prärationalen Arbeitsmethoden der Psyche gelingt es oft, unlusterweckende seelische Störenfriede schnell beiseitezuschieben. Und wir wissen, daß diese Mechanismen im Seelenhaushalt ihren Platz haben, daß wir nicht von uns verlangen können, ständig nur unsere höchstdifferenzierten Geisteskräfte einzusetzen. Aber wenn es sich, in der Entwicklungsgeschichte des Individuums, um die Verdrängung eines ganzen seelischen Gebiets handelt oder, nach Mitscherlich, innerhalb eines Volkes um die Verleugnung des emotionellen Beteiligtgewesenseins an einem grandios-gräßlichen Stück der Nationalgeschichte, da ist die Lage eine andere. Man kann wohl weiterleben und sich in der weinseligen Stimmung der Fledermaus zusingen, daß »glücklich ist, wer vergißt, was doch nicht zu ändern ist« - aber man muß dafür schwer zahlen. Man zahlt einen Preis der Verkindlichung, sagt Mitscherlich, des emotionellen und kulturellen Seichtwerdens; und weiter - und das ist das Entscheidende! -, man verliert die Gabe, auf neue Sozialsituationen mit der Erschaffung von neuen, vitalen Lösungen der Probleme des Zusammenlebens reagieren zu können.
In der Vaterlosen Gesellschaft zeigt uns Mitscherlich die Aufgabe: die neue soziale Umwelt, die den Einsatz einer unbehinderten sozialpolitischen Schöpferkraft zur Erschaffung einer umwertenden Neueinstellung von uns fordert; und in dem gemeinsam mit seiner wundervollen Frau Margarete Mitscherlich-Nielsen verfaßten Buch Die Unfähigkeit zu trauern (1967) arbeitet er aktiv an einer Nationaltherapie, die es einer wichtigen Gruppe innerhalb der kulturschaffenden Menschheit ermöglichen soll, fruchtbar am Aufbau einer neuen Kulturwelt teilzunehmen.
Das Wesen dieses nationalen Heilungsexperiments ist gewiß schon verständlich. Man muß sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen, wenn man innerlich frei werden will. Die Ablösung von der Vergangenheit aber, von der schuldhaften Mitverantwortlichkeit für begangene Untaten, von der kindlich-verantwortungslosen, lustvollen Teilnahme in rücksichtslosen nationalen Größenideen, kann nur durch die schwere, affektauslösende innere Tätigkeit erzielt werden, die man in der Psychoanalyse Trauerarbeit nennt. Trauern heißt, erinnernd die Vergangenheit beleben und sich schmerzlich von ihr loslösen - ob von den großen Kindheitsfiguren der Einzelvergangenheit und von kindlichen Größenvorstellungen unserer selbst oder ob, nach Mitscherlich, von den historischen Königs- und Führerfiguren der nationalen Vergangenheit und von ehemals lusterweckenden Vorstellungen einer allmächtigen Selbst-Gruppe, in die man sich verschmolzen fühlte. Wird diese Trauerarbeit nicht geleistet, dann resultiert psychische Verarmung: wir werden kalt und verschlossen - wie Niobe, die zu Stein wurde, weil die Trauerarbeit, die von ihr verlangt wurde, jenseits menschlicher Kräfte lag [vgl. K. R. Eissler, Die Ermordung von wie vielen seiner Kinder muß ein Mensch symptomfrei ertragen können ... Psyche, Jg. XVII, 1963/64, S. 241 ff.] -, oder wir verflachen in einem leeren, technologischen Optimismus. Um aber die Kultur der Massenproduktion und des Massenzusammenlebens menschlich lebenswert zu gestalten, bedarf es des Einsatzes aller unserer freien seelischen Kräfte, bedarf es der Einsicht in menschliche Bedürfnisse, des Sich-einfühlen-Könnens, in die Mitmenschen und in sich selbst. Das kann nicht erreicht werden, wenn wir uns von den Schrecken der Vergangenheit als unbeteiligt abwenden. »Erst wenn wir... bereit sind«, sagt Mitscherlich in einer ergreifenden Rede über die Menschenversuche, die im Dritten Reich an Häftlingen durchgeführt wurden (In: Wissenschaft und Ethos, Mainzer Universitätsgespräche 1966/67, S. 27)*, »ein Stück trauernder Identifizierung mit den Opfern zu vollziehen, ... wird sich etwas zu ändern beginnen.«
Psychoanalytischer Seelenforscher, Sozialpsychologe, Reformer - wo ist da Mitscherlichs Friedenswerk? Die Antwort ist: in Allem. Im Kleinen wie im Großen. In der Befriedung des Einzelwesens, das, von inneren Spannungen befreit, nun an der Kulturarbeit teilnehmen kann, anstatt das Heer der dumpf Verärgerten und sich benachteiligt Fühlenden zu vermehren, die auf Rache sinnen. Und im Großen, wenn er für die menschliche Haltung eintritt, die sich mit dem technologischen Spezialistentum verbünden muß - ob in der Medizin oder im Städtebau und in der Politik-, wenn äußere Bedingungen geschaffen werden sollen, in denen man befriedigt und friedlich leben kann.
Mitscherlich ist kein Friedensprediger. Er weiß gewiß, daß es leicht ist, Begeisterung für den Frieden zu erwecken - vielleicht beinahe so leicht wie für den Krieg. Aber solche Begeisterungen sind nicht von Dauer. Den Frieden bloß zu wollen ist nicht genug. Was wir benötigen, sind Einsichten. Einsichten in das Wesen des Menschen, in die inneren und äußeren Bedingungen, die ihn mehr aggressiv oder mehr friedensbereit machen; Erkenntnisse der Tiefenpsychologie oder der tiefenpsychologisch orientierten Sozialpsychologie, die uns die Fragen beantworten, welche Erfahrungen der Kindheit, welche Lebensbedingungen des Aufwachsens und der Reife es uns ermöglichen, unsere Tatkraft auf Ziele gelenkt zu halten, die zur Entfaltung des Aufbauend-Besten im Menschen führen können. Wir brauchen eine wissenschaftliche Haltung gegenüber den Problemen der Friedensherbeiführung. Wenn eine solche Wissenschaft sich einmal ernstlich formen wird, eine Friedenswissenschaft, wie sie Mitscherlich in seiner Frankfurter Antrittsvorlesung (1968) nannte, die nicht nur die Hindernisse in der menschlichen Triebnatur erklären muß, die der Gewinnung des Friedens entgegenstehen, sondern auch, paradoxerweise, die Gefahren des Friedens für das Menschliche, dann wird Mitscherlich gewiß zu ihren Pionieren gezählt werden.
Die Vielfältigkeit von Mitscherlichs Werk und Persönlichkeit ist lange noch nicht ausgeschöpft; und seine moralische Einstellung, vor allem die Art, in der er seine Wert- und Zielvorstellungen durch nachdenkliche Beobachtung formt und läutert, verdiente gesonderte Behandlung. Ich will nur noch einen Glücksfall der psychischen Entwicklung erwähnen, nämlich, daß in Mitscherlichs Persönlichkeit eine große kritische Intelligenz mit außergewöhnlichem Mut gepaart ist - der Eigenschaft, die er so treffend als jene »Konsistenz der Ichstruktur« bezeichnet, kraft derer es dem Ich gelingt, trotz innerer und äußerer Einschüchterungen, seinen eigenen Zielen treu zu bleiben.
Die Darstellung von Mitscherlichs Schaffen ist nun beendet. Aber, meine Damen und Herren, es gibt Augenblicke im Leben bedeutender Männer, in denen ihr Leben nicht ihr Eigentum ist; Augenblicke, in denen sie es ertragen müssen, ins Generelle, Überpersönliche erhoben zu werden. Ich weiß, daß Mitscherlich leere Lobpreisung und Idealisierung zuwider sind. Aber darauf ziele ich nicht. Wie klein selbst das größte Lebenswerk ist, das können wir in tapferen Augenblicken erkennen, und wir wissen, daß sogar Goethes stolzes Wort von der Spur seiner Erdetage, die nicht in Äonen untergehen wird, nur eine schöne Selbstberuhigung darstellt. Nein, Wahrheitsliebe und ein höherer Stolz, Wirklichkeit unverfälscht zu ertragen, läßt uns nicht verschleiern, daß, was Mitscherlich unternommen hat, unvollständige und tastende Schritte sind, die Einsichten der Tiefenpsychologie von ihrer individualtherapeutischen Gebundenheit zu lösen und sie mit den Gedanken der Sozialforschung und den Taten der öffentlichen Einflußnahme zu verschmelzen.
Was ist ein bedeutender Mann, ein großer Mann? Warum veranstalten wir Feiern, in denen öffentlich Preise verliehen werden, in denen ein Mann - und ein Mann der Wissenschaft gar! - für einen Augenblick in den Mittelpunkt unseres Beifalls, unserer Dankbarkeit, unserer Liebe gestellt wird? Ist es Intelligenz, Kenntnis, Arbeitskraft, die einen Mann groß macht, die zum großen Werk, zur großen Tat führt? Ja, alles das, aber noch etwas mehr: es kommt noch die Fähigkeit dazu, das kreative Vorstellungsvermögen der Mitmenschen anzuregen, besonders das der folgenden Generationen. Mit Recht warnt Mitscherlich uns vor der Tendenz zur Verherrlichung autoritärer Figuren und ermahnt uns, zur Entfaltung der kritisch-nachdenklichen Intelligenz beizutragen, die sich nicht auf die Allwissenheit einer Vaterfigur verläßt. Das Bedürfnis des Menschen nach dem bildhaften Beispiel aber ist etwas anderes. Worte und Gedankenreihen müssen sich in der Tätigkeit eines außergewöhnlichen Individuums verwirklichen, wenn sie unsere Lebenshaltung und Tatkraft unterstützen sollen. Mitscherlichs Schaffen ist uns ein solches konkretes Symbol, und als solches wurde es von den Männern erkannt, die ihn zum Friedenspreisträger wählten. Mitscherlich ist, in den entwicklungsgeschichtlich kleinen Sozialmutationen der Anpassung an neue Gesellschaftsaufgaben, ein neuer Typus: ein Mann mutigen Denkens und gedankenvollen Muts, der sich rastlos bemüht, die besten Erkenntnisse, die über das Individuum erzielt worden sind, zum Verständnis großer Gruppen anzuwenden und zum lebenden Gedankengut des kulturbeteiligten, verantwortungsvollen Mitmenschen zu machen. Und ich meine, daß ein befriedigendes und würdiges menschliches Zusammenleben - nennen wir es Frieden! - nur auf dem Weg erreichbar sein wird, den Mitscherlich uns aufzeigt: dem Weg zur mutigen Handlung und tapferen Haltung im Dienste von Zielen, die wir uns im Einklang mit den tiefsten Einsichten der Seelenforschung gesetzt haben.
* In der Originalfassung nicht ausgezeichnet. Anm. d. Verfassers.
* Mitscherlichs größter Beitrag zu diesem grauenvollen Thema ist sein gemeinsam mit F. Mielke herausgegebenes Buch Medizin ohne Menschlichkeit (Frankfurt und Hamburg: Fischer Bücherei 1960).
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Der Nachdruck und jede andere Art der Vervielfältigung als Ganzes oder in Teilen, die urheberrechtlich nicht gestattet ist, werden verfolgt. Anfragen zur Nutzung der Reden oder von Ausschnitten daraus richten Sie bitte an: m.schult@boev.de
Heinz Kohut
Laudatio
Zwei Faktoren lassen sich benennen, die ernstlich im Lauf der Geschichte einer Entwicklung zu größerer Friedlichkeit im Wege standen. Sie tun es immer noch. Es sind dies die leicht weckbare Feindseligkeit des Menschen gegen seine Artgenossen und die, wie man zu sagen pflegt, unausrottbare Dummheit. Ich hebe diese beiden Faktoren aus vielen anderen heraus, die ich nicht leugne. Die kombinierten Funktionen von Feindseligkeit und hergestellter Dummheit scheinen mir besonders dringlich nach Untersuchung zu verlangen.
Alexander Mitscherlich - Dankesrede
Alexander Mitscherlich
Über Feindseligkeit und hergestellte Dummheit
Dankesrede
Den Friedenspreis, den Sie, meine sehr geehrten ehemaligen Kollegen vom Buchhandel, mir heute verleihen, habe ich mit Dankbarkeit angenommen.
In all seinen Teilstücken ist Frieden immer gefährdet; darauf muß man sich wohl einstellen. Nicht ohne ein Gefühl der Wehmut und eines für das ironische Moment, das hier enthalten ist, habe ich deshalb den Unfrieden beobachtet, der um Preis und Verleihungsmodus entstanden ist. Dieser Unfrieden hat mich bis in meinen persönlichen Lebensbereich hinein verfolgt.
Erwarten Sie bitte keine laute Schelte. Der Beruf, den ich ausübe, ist kein lauter. Als Psychoanalytiker höre ich zu, suche zu verstehen, bemühe mich, in der Erkenntnis der Konflikte meiner Patienten ihnen ein kleines Stück voraus zu sein, um ihnen damit zu helfen. Bei dieser Vorsicht der Beobachtungen muß ich auch in diesem Augenblick bleiben. Ich bitte aber, daraus nicht zu folgern, daß ich nicht des ungeheuren Maßes von Unfrieden und Ungerechtigkeit in der Welt gewahr oder keiner starken Gefühle fähig wäre. Was ich von der Welt in Erfahrung bringen konnte, hat mir nur wenig Hochachtung vor der Weisheit der Herrschenden abgefordert. Ich habe Verständnis für den Haß der Unterdrückten. Wird er aber helfen, in der Zukunft die Humanität zu mehren? Darf ich zudieser Problematik ein geographisch entlegenes Beispiel, das deshalb gewiß nicht außerhalb der Welt liegt, anführen? Hoffentlich gibt uns die räumliche Distanz zu einem skandalösen Sachverhalt die Möglichkeit, ihn von eigenen Interessen weniger berührt, aber dennoch leidenschaftlich genug zu untersuchen. Dieser Skandal ist die unmenschliche Sorglosigkeit, die sich in einem Bevölkerungszuwachs von jährlich dreieinhalb Prozent in Brasilien ausdrückt. Wir Europäer leiden bereits unter einem halben Prozent. In jenem Land ist nicht die geringste Vorbereitung für eine Geburtenregelung getroffen, weil die katholische Glaubenslehre das verbietet. Nach zwanzig Jahren wird sich die Bevölkerung verdoppelt haben. Aber keine freundliche Hand, kaum ein verstehendes Wort wird diese Menschenströme zu irgendeiner Form von Selbstbestimmung führen können. Wer soll diese entfesselte Vermehrung dann eindämmen, die Aggression dieser ungebeten erschienenen Massen in sozial erträgliche Bahnen leiten, ehe sich die schrecklichsten Katastrophen ereignen? Dies im Namen eines Religionsstifters, der eine bis dahin unbekannte Menschenliebe gefordert hat. Wenn ich an vermeidbaren - wenigstens verminderbaren - Unsinn oder den Starrsinn der Herrschenden denke wie in solch einem Fall, habe ich starke Gefühle; dann muß ich mich im Zaum halten, damit nicht auch in mir Zorn und Verzweiflung in Haß umschlagen. Aber Haß, so habe ich einsehen müssen, wenn er undurchdacht bleibt, verdirbt die Humanität. Die Energie des Zorns muß umgesetzt werden, ehe sie in Haß erstarrt.
Ich kann mich bei Ihnen nicht als eine Art Vorbeter haßvoller Parolen beliebt machen. Genügend Menschen sind mit dem Aussprechen solcher Anklagen beschäftigt und erwarten gleiches bei jeder Gelegenheit, also auch jetzt von mir. Das mag oft aus Not und berechtigter Sorge geschehen. Es ist trotzdem nicht mein Beitrag.
Bevor ich von einigen andauernden Erschwernissen beim Herstellen von Frieden spreche, noch ein Wort zum Friedenspreis selbst. Er hat in der Welt Aufmerksamkeit erweckt. Das scheint mir nicht unverständlich, denn in der Geschichte der letzten zwei bis drei Generationen finden sich nicht viele Beispiele, in denen sich das Wort deutsch mit dem Wort Frieden auf glaubhafte Weise hätte verbinden lassen. So verstand man wohl unseren Friedenspreis in Zusammenhang mit dem Versuch, einen uns liebgewordenen Charakterzug: das Martialische, abzulegen. Ich frage mich aber, ob dieses Martialische nicht im Streit zwischen Bücherschreibern und Büchermachern und im Streit um die Verleihung des Friedenspreises aufgebrochen ist, gleichsam bei alt und jung wieder durchschlug. Natürlich weiß ich, daß verhärtete Institutionen sich nur rühren, wenn sie heftig und ausdauernd attackiert werden. Trotzdem muß ich fordern, daß gerade die progressiven »Protestanten«, wenn ich sie so nennen darf, die sich der Sache der Humanität in ihrem Bewußtsein verschrieben haben, sich um bessere Selbsterkenntnis bemühen als sonstwer. Das schließt aber ein, daß sie für das Martialische in sich selbst hellhöriger werden, als ihre Gegner es in der Vergangenheit gewesen sind. Das freizügig brutalisierte Vokabular und manchen Auftritt, der dem Fortschritt dienen sollte, konnte ich nur als Entsublimierung, als Rückfall in Imponiergehaben verstehen. Dabei bin ich mir dessen bewußt, daß ich hier einen Widerspruch formuliere: das Martialische ist offensichtlich zuweilen unvermeidlich, aber es bringt zugleich ständig die Gefahr hervor, das Ziel selbst zu werden, statt ein mögliches Mittel zu bleiben.
Überblickt man den Erdball als ganzen, dann kann freilich dieser unser Friedenspreis nur als Trostpreis für Erfolglosigkeit verstanden werden. Man könnte geradezu fragen: werden hier Narren ausgezeichnet, die allem Augenschein zum Trotz an der Möglichkeit friedlicher Konfliktlösungen zwischen Menschen festhalten? Dieser Frage läßt sich aber mit der übergeordneten begegnen: liegt diese Chance zur friedlichen Bearbeitung von Konflikten auf der Linie der Evolution, eines geschichtlichen Fortschritts, der hinführt zu einer gerechteren Verteilung der materiellen und geistigen Güter dieser Welt? Oder ist das eine unerfüllbare »Humanitätsduselei« - ein Wort, das schon wieder zu hören ist und das mir aus den dreißiger Jahren durchaus noch in Erinnerung steht?
Dies als Anmerkung zum Friedenspreis; solange er eine Funktion erfüllt, wird mit seinen Preisträgern etwas von der Anstrengung sichtbar werden, die es kostet, für den Frieden sich friedlich einzusetzen, wo viele längst glauben, Lösungen seien nur noch mit Brachialgewalt zu erreichen.
In dieser tief reichenden Meinungsdifferenz - ob und wann man für den Frieden kriegerische Mittel einsetzen dürfe - ist Friedensforschung dringend angezeigt. Denn Frieden fällt uns nicht in den Schoß, Frieden zwischen Völkern, die einen weit voneinander entfernten Bewußtseinszustand repräsentieren, Frieden innerhalb sozialer Gruppen, die von oft versteinerten Einzelinteressen gelenkt werden. Da wir schönen Worten zum Trotz nur unter Pein bereitender Anstrengung über egoistische, oft unwahrscheinlich kurzsichtige Zielsetzungen hinauskommen, ereignen sich Kollisionen auf allen Ebenen, von den alltäglichsten Erwartungen bis zu bedeutungsschweren Widersprüchen. Dabei sind drei Unheil gebärende psychische Prozesse im Spiel; alle drei bewußtseinsflüchtig und deshalb Schutzmächte der Selbsttäuschung: der Prozeß der Verschiebung von Affekten auf Einzelne oder Gruppen in der Außenwelt (nicht ich oder wir hassen, die anderen hassen); der Prozeß der Projektion von inneren Konflikten (nicht ich oder wir, die anderen verstoßen gegen Gesetz, Gewissen, Menschlichkeit); schließlich der Prozeß der Verleugnung (ich oder wir haben überhaupt jene schimpflichen Wünsche nicht, die mir oder uns höchst unbilligerweise zugeschrieben werden). Jeder dieser drei Prozesse stützt den anderen. Sie sind ebenso zwischen Individuen am Werk wie im Verkehr ganzer Nationen. In dieser Größenordnung drohen sie politische Gleichgewichtssysteme zu zerstören und haben es immer wieder vermocht. Daraus folgt ein neues Verständnis der Struktur des Friedens. Er muß (psychologisch) als Merkmal eines in ständiger Bewegung befindlichen, und zwar befriedigenden Gleichgewichtssystems affektiver Beziehungen verstanden werden. Freundlicher Kontakt macht auch auf der Ebene harter Realitäten möglich, was bei gespannten oder feindlichen Verhältnissen zur Unmöglichkeit wird. Es ist ein der speziellen Friedensforschung würdiges Ziel zu analysieren, wieviel im Verkehr zwischen BRD und DDR von den Prozessen Verschiebung, Projektion, Verleugnung Gebrauch gemacht wurde, und zwar von beiden Seiten, und wieviel deshalb »unmöglich« wurde (in jedem Hintersinn des Wortes), was objektiv keine unlösbare Aufgabe darstellte.
Konzipiert man Frieden nicht derart dynamisch, sondern statisch, so bleibt man an der Oberfläche. Die Beschreibung wird nichtssagend. Es herrscht Waffenruhe, und dann brechen wieder - unvorhergesehen und unkontrollierbar - feindselige Zwiste in diese scheinbare, friedliche Statik ein.
Ebenso notwendig wie eine psychologische Analyse friedlicher Gleichgewichte ist aber auch die kriegerischer Unternehmungen. Das Kriegführen bringt hohe Risiken; um so erstaunlicher ist es, wie es einer Clique, einer Interessentengruppe immer wieder gelingt, ihre Mitmenschen dazu zu bringen, dieses Risiko des Verlustes von Leib und Leben, Hab und Gut auf sich zu nehmen. Bei aller physischen Macht, über die Staatsapparate verfügen, könnten sie das nicht ohne ein psychisches Entgegenkommen. Man muß annehmen, in vielen von uns bestünde unbewußt bleibend ein hohes Maß von Destruktionsbereitschaft und insbesondere von Neigung zur Selbstdestruktion, die leicht erregbar sind. Sonst würde nicht erst das Ansinnen, am Kriegführen sich zu beteiligen, sondern schon die Verpflichtung, sich zum Kriegführen abrichten zu lassen, auf mehr Widerstand stoßen. Unsere Moral lehrt uns, nicht zu töten - auch nicht uns selbst -, offenbar gegen einen uneingestandenen Hang, gerade dies zu tun. Das ist der Ansatzpunkt der Verführbarkeit zum Krieg als Handwerk.
Neben den spezifischen Kriegsvoraussetzungen - der aktuellen Vorgeschichte eines Krieges, durch faktische Bedrohung, durch soziales Elend, unerträglich gewordene menschliche Not - gibt es allgemeine Voraussetzungen, die nur auf der seelischen Eigenart des Menschen als Gattungswesen beruhen können. Ohne eine Veränderung der psychischen Konstitution - eine quasi qualitativ neue Stufe der kulturellen Entwicklung, ein erweitertes und gestärktes Bewußtsein - kann kaum mit einer Minderung der Kriegschancen gerechnet werden. Wie aber diese bisher unbefriedbare Konstitution des Menschen in solcher Richtung ändern? Hier wird Friedensforschung unmittelbar zu anthropologischer Forschung: Erforschung menschlicher Motive.
Zwei Faktoren lassen sich benennen, die ernstlich im Lauf der Geschichte einer Entwicklung zu größerer Friedlichkeit im Wege standen. Sie tun es immer noch. Es sind dies die leicht weckbare Feindseligkeit des Menschen gegen seine Artgenossen und die, wie man zu sagen pflegt, unausrottbare Dummheit. Ich hebe diese beiden Faktoren aus vielen anderen heraus, die ich nicht leugne. Die kombinierten Funktionen von Feindseligkeit und hergestellter Dummheit scheinen mir besonders dringlich nach Untersuchung zu verlangen.
Die Fähigkeit, in Lebenslagen von sehr unterschiedlichem Gewicht sich aggressiv zu verhalten, geht auf eine aggressive Grundbegabung der Gattung Mensch zurück. Die Zielvorstellung aller Kultur, sobald das nackte physische Elend überwunden ist, besteht demnach in der Milderung der feindseligen und zerstörerischen Formen von Aggression durch die Förderung ausgleichender seelischer Kräfte, wie Mitgefühl, Verständnis für die Motive des anderen und ähnliches.
Dieser Förderung steht die Dummheit im Wege. Ich meine damit nicht die Begabungsdummheit, sondern die anerzogene Dummheit, die sorgfältig durch Erziehung zu Vorurteilen herbeigeführte Dummheit. Im Erfolgsfall solcher Erziehung - und er tritt leider massenhaft ein - ersetzt dann bei dem Versuch einer Konfliktlösung mit steigender Erregung das Vorurteil die Arbeit kritischer Reflexion. Vor allem zeigt sich eine verstärkte Unfähigkeit, eigene Probleme unbestechlich zu betrachten. Gerade darin weiß sich das Individuum von seiner Gesellschaft beschützt. Denn deren Auftrag lautet dann nicht: denke, beobachte, wäge ab, sondern: handle in Konformität, so, wie alle handeln! Das kann zu heroischen Leistungen beflügeln, aber auch zu ungeheuerlichen Selbsttäuschungen. Beides haben wir erlebt. Wegen dieser Blindheit spreche ich von hergestellter Dummheit.
Sie leistet der feindseligen Aggression kräftig Vorschub, weil sie die Neigung erweckt, einen Sündenbock zu finden, Aggression überhaupt nur außerhalb des eigenen Ich zu sehen. Damit steht dem Ausagieren der Feindseligkeit kaum noch etwas entgegen. Sie nimmt vielmehr ihren mehr oder weniger geplanten Lauf.
Was wir soeben beschrieben haben, ist eine Situation gesellschaftlich herbeigeführter Aggression: die Gesellschaft ist nicht zuletzt deshalb Gesellschaft, weil sie von solchen gemeinsamen Vorurteilen viel weitergehend bestimmt wird, als wir uns dies gewöhnlich eingestehen.
Über den Ursprung der Aggression ist es bisher zu keiner übereinstimmenden Auffassung in der Forschung gekommen. Mit der Neigung, den Menschen weniger als Wesen auch mit einer Naturgeschichte, sondern ausschließlich mit sozialer Geschichte zu sehen, tritt in neuerer Zeit wieder die Auffassung in den Vordergrund: feindselig reagiere der Mensch nur auf das, was die Gesellschaft ihm als Individuum an Enttäuschungen und Leid zufüge. Von Natur aus sei er friedfertig. Ich teile diese Auffassung nicht. Was ist das für eine »Natur«, die bis heute nie endgültig zum Zuge gekommen ist? Woher kommt es, daß der Mensch friedfertig sein soll, die Menschen aber von Generation zu Generation voller destruktiver Phantasien sind, die sie auch ausleben? Ist dieser Glaube an die gute Natur nicht eine Illusion, die das Erkennen der psychischen wie der sozialen Realität verstellt? Da scheint es mir besser, Feindseligkeit gegen seinesgleichen als ein leicht weckbares seelisches Bedürfnis des Menschen im Rahmen seiner Aggressivität, als Artmerkmal anzuerkennen und der Gesellschaft die Aufgabe zuzusprechen, sie zu mildern.
Der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen, und deshalb ist es müßig zu fragen, wie sich seine Aggression ohne Gesellschaft entwickeln würde. Andererseits wissen wir, daß Aggression ebenso wie die Liebesfähigkeit sehr wandelbar ist. Man darf die energetische Grundkraft, welche die Aggression speist, nicht nur in der destruktiven Richtung am Werke wähnen. Es ist fraglich, ob ohne diese Grundkraft Handeln überhaupt zustande käme. Dabei ist es unbestritten, daß sich das Ziel des Handelns unter dem Einfluß von Enttäuschungen leicht in der Richtung der Feindseligkeit, der Destruktion verschieben kann. Wir sind fähig, Verheißungen zu widerstehen, die eine unmittelbare Befriedigung ankünden, und dies zugunsten weiter gesteckter Ziele. Wir lernen also, uns in einen differenzierten Handlungszusammenhang, wie ihn jede Kultur darstellt, einzufügen. Trotz dieser Formbarkeit sollten wir uns der Grenzen unserer Kulturfähigkeit bewußt bleiben. »Das gern verleugnete Stück Wirklichkeit hinter alledem«, schrieb Freud, »ist, daß der Mensch nicht ein sanftes, liebebedürftiges Wesen ist, das sich höchstens, wenn angegriffen, auch zu verteidigen vermag, sondern daß er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Teil von Aggressionsneigung rechnen darf.« »Infolge dieser primären Feindseligkeit der Menschen gegeneinander ist die Kulturgesellschaft ständig vom Zerfall bedroht.« (Ges. Werke XIV, Das Unbehagen in der Kultur, 470 f.). Etwas später spricht Freud davon, daß »das größte Hindernis der Kultur die konstitutionelle Neigung der Menschen zur Aggression gegeneinander« sei (ib., 503). Für ihn blieb es eine ernste Frage, ob der Mensch die Beschränkungen, welche seine Kultur von ihm verlangt, verzeihen könne. Jedenfalls war keine der Kulturen bisher vor selbstzerstörerischen Kräften, vor in ihr entstehender Feindseligkeit gesichert, Feindseligkeit, die dann auf andere Gruppen, andere Völker verschoben und projiziert wurde und zu Kriegen und Bürgerkriegen führte.
Der Sachverhalt bleibt also bedenkenswert - wenn er auch ein noch ziemlich dunkles Feld unseres Wissens umschreibt -, ob in der menschlichen Aggression Triebkräfte enthalten sind, welche unmittelbar zur Zerstörung drängen, oder ob sich die Verwandlung von aggressivem Triebgeschehen in destruktives erst beim Umgang von Mensch zu Mensch vollzieht. Sicher ist nur so viel, daß wir alle Aggressionen haben und daß für unser und anderer Glück und Unglück außerordentlich viel von dem persönlichen und sozialen Schicksal dieses Triebes abhängt. Schicksal meint hier, wie wir angeleitet werden - oder eben nicht -, mit unseren aggressiven Bedürfnissen umzugehen und mit den Anforderungen, welche andere, aus den gleichen Bedürfnissen, an uns stellen. Welchen Grad von starrer Unbelehrbarkeit oder Reflexions- und Lernfähigkeit wir dabei entfalten, bestimmt entscheidend unseren Lebenslauf.
Hier verschmelzen zwei große Felder der Erziehung: Erziehung im Umgang mit elementaren, natürlichen Lebensbedürfnissen (wie der aggressiven Triebkraft); und Erziehung im Umgang mit der äußeren Realität. In beiden Bereichen beginnt Erziehung als Dressaterziehung. Sie sollte zur Stärkung unserer Fähigkeit, selbständig zu entscheiden, über diesen Rahmen hinaus fortschreiten. Aber eben dieses Fortschreiten war historisch nicht die Regel. Vielmehr wurde im Rahmen der Herrschaftsverhältnisse, oft mit erstaunlicher strategischer Sicherheit, Dummheit in großem Stil hergestellt. Es ist die Aufgabe der gegenwärtigen und kommender Gesellschaften, die Prozesse kritisch zu untersuchen, mit denen sie ihre Mitglieder zu Sozialwesen formen. Fast alle tieferreichenden Einsichten verdanken wir bisher der Analyse individueller Erziehungsschicksale. Erst wenn es uns gelingt, am Einzelfall beispielhaft die Entstehungsgeschichte sozial hergestellter Dummheit aufzuhellen, sind wir in der Lage, auf sie gezielt Einfluß zu nehmen. Damit öffnet sich mittelbar eine nicht zu verachtende Chance, die Tendenz der aggressiven Triebregungen dort zu verringern, wo sie die Richtung auf Destruktion oder Selbstdestruktion einschlagen. Statt dessen lassen sich Befriedigungen eröffnen, die den dumm gemachten, den eingeengten Menschen bis dahin verschlossen waren.
Aber war Dummheit nicht vielfach in der Geschichte ein erwünschtes Produkt der Erziehung - ein Produkt der Notwehr gegen den Kulturzerfall? War dieser Drill zu unkritischem Glauben, zu durch Vorurteile sicher lenkbarem Verhalten nicht nahezu das einzig verfügbare Mittel gegen das »Kulturhindernis der Aggression« (Freud, ib., 504)? Das wird man kaum verneinen können. Aber die Grenzen dieser Sozialisierungstechnik sind auch immer deutlicher zu erkennen. So wie primitive Formen unseres persönlichen Gewissens uns daran hindern, kritisch zu fragen, z.B. wo ein Glaubenstabu verhängt ist, so hat sich historisch auch in den menschlichen Gesellschaften immer wieder ein System von kollektiv anerkannten Gewissensgeboten, ein primitives »Kultur-Über-Ich« herausgebildet, das nicht kritisch untersucht, und dieses System durfte nicht infrage gestellt werden und darf es an vielen Orten noch nicht.
Diese archaische pädagogische Arbeit ist aber letztlich immer wieder gescheitert. Zu einer von Vernunft bestimmten Triebkontrolle hat sie nicht genug angeleitet, aber sie hat Unterdrückungs- und Verschiebungsmechanismen gefördert und damit auch ungewollt das Aufstauen eines aggressiven Triebüberschusses. Der Einzelne blieb unter Tabuschutz, hatte Sicherheit, wurde aber dafür zeitlebens kindlich abhängig, ich-schwach gehalten. In diesem Zustand war er in vieler Hinsicht leicht auszubeuten.
Es scheint mir keine Selbstüberschätzung der Psychoanalyse, wenn sie die hartnäckige Wiederholung einer grundsätzlich untauglichen Sozialisationsmethode auf den Mangel an psychologischer Einsicht zurückgeführt hat. Das kann man am Gebot »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« beispielhaft erläutern. Freud erkannte, daß es »die stärkste Abwehr der menschlichen Aggression« darstellt, aber eben auch, daß es »ein ausgezeichnetes Beispiel für das unpsychologische Vorgehen des Kultur-Über-Ichs« ist (Freud, ib., 503). Triebregulierung ist notwendig, aber wir gestehen uns nicht gerne ein, wie bedroht die triebeinschränkenden Mechanismen durch die Triebe selbst sind. Diese Notlage versuchen wir, gleichsam in einer Flucht nach vorn, durch überhöhten Anspruch an die Freiheit des Entschlusses zu überspielen. Wir tun so, als seien wir absolute Herren im eigenen Haus. In Wahrheit ist aber die Forderung nach uneingeschränkter Nächstenliebe undurchführbar; »eine so großartige Inflation der Liebe kann nur deren Wert herabsetzen, nicht die Not beseitigen« (Freud, ib., 503).
Ein nicht unwesentlicher Aspekt der vielzitierten Bildungskatastrophe - das zeichnet sich recht deutlich ab - ist darin begründet, daß wir in einem Zeitabschnitt unabsehbaren technischen Fortschritts - wozu auch das Ausmaß an raffinierter psychischer Beeinflussung gehört - die Fundamente eines statischen Bildungstypus, des Drilltypus, beibehalten haben. Statisch heißt hier, daß in weiten Gebieten nach wie vor Glaubens- bzw. Vorurteilsantworten eingeübt werden; die gleichen Antworten Generation nach Generation, z.B. Status- oder Rassenvorurteile. Die Inhalte, welche diese Bildung vermittelt, bleiben der gesellschaftlichen Entwicklung nicht auf der Spur. Menschen, die diesen Bildungstyp durchlaufen haben, entwickeln sich in der Regel zu unpolitischen Bürgern. Ungeübt im kritischen Abwägen der vorgefundenen sozialen Formen, sind sie kaum zu alternativem Denken in der Lage; angesichts der Tatsache, daß wir aus denkbaren und möglichen Zukünften die herausfinden müssen, in der es sich lohnt zu leben - ist das ein prekäres Versagen.
Soviel kann der Psychoanalytiker in dieser Notlage sagen: ohne verstehendes Eindringen in psychische Prozesse, besonders in die unbewußten, ist keine einigermaßen verläßliche Basis für selbständiges Denken zu erwarten. Ohne solche psychologischen Grundkenntnisse ist aber auch keine effektive Friedensforschung zu betreiben; und schließlich, ohne lange geübte Introspektion, ohne Erkenntnisinteresse an den eigenen Affekten bleibt die Füllung des politischen Raumes Zufällen ausgeliefert. Von politischer Planung kann kaum die Rede sein. Ihr bedeutendster Mangel scheint mir im psychologischen Dilettantismus zu hegen (oder im taktischen Mißbrauch psychischer Anfälligkeit, was im Effekt dasselbe ist). Aber das muß auf einem anderen Blatt verzeichnet werden.
Der Versuch, den intensiven Wirkungszusammenhang zwischen Aggression und sozial erzeugter Dummheit sichtbar zu machen, kann sich auf das Wort berufen: »Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz.« Stolz, wie es hier das Sprichwort anklingen läßt, ist eine angriffsfreudige Leitlinie des Verhaltens, die Perversion des natürlichen Selbstgefühls in seine übermäßig selbstbezogene Kränkbarkeit oder in ein aggressives Verlangen nach Bewunderung, Unterwerfung. Die Gültigkeit des Sprichwortes läßt sich auch auf Gruppenverhalten erweitern; das hieße dann: Nationale Dummheit und nationaler Stolz wachsen auf einem Holz.
Insofern dieser nationale Stolz eine hohe kriegstreibende Kraft darstellt, muß man einen Satz in Frage stellen, der den affektiven Anteil am Zustandekommen kriegerischer Verwicklungen verharmlosen möchte. Nur ein psychologisch unaufgeklärter Kopf kann formulieren, der Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Krieg ist ganz im Gegenteil mit einem partiellen Außerkraftsetzen des Gewissens verknüpft, insofern er die Tötung von Artgenossen erlaubt und herbeizuführen trachtet. Mit dem Eintritt in den Krieg vollzieht sich das Hereinbrechen von etwas gänzlich anderem. Krieg unterscheidet sich grundsätzlich von Politik. Kriege können geplant werden, und sie werden es. Sie werden durch Rüstungen vorbereitet, durch eskalierende Drohungen eingeleitet. Wenn dann aber einmal Krieg ausbricht, dann kann dies nicht ohne eine Revolution im psychischen Zustand derer geschehen, die an ihm beteiligt sind. Das Wegfallen der Tötungshemmung von Mitmenschen bedeutet eine tief eingreifende Energieverschiebung im seelischen Bereich. Das alte Gewissen wird seiner Einsprachekraft beraubt und durch neue Ideologien so verändert, daß es keinen Einwand mehr dagegen erhebt, wenn nun eine neue Ebene kollektiver Asozialität ungeniert zum Zuge kommt: es wird geplündert, geschändet, gefoltert, exekutiert. Unbesorgt werden Dinge getan, die im heimischen Bereich zwar auch geschehen, aber dann nur unter dem Einspruch der normalerweise in uns wirkenden Gewissensmacht und nur unter der Drohung sozialer Sanktionen.
Erst wenn man sich die Verschiedenartigkeit der Situationen vergegenwärtigt, in denen es zu kriegerischen Verwicklungen in der Geschichte kam, erwirbt man langsam einen Blick dafür, daß in der jeweiligen Dynamik die offenbaren Kriegsgründe die tieferen und verborgeneren, in unserer Natur verankerten verdecken müssen. Dies gilt für jede kriegführende Partei.
Kriege waren in der Vergangenheit offenbar unvermeidlich. Solange wir nicht einen entscheidenden Schritt vorwärts bei der Gestaltung aggressiver Bedürfnisse gemacht, das heißt, unsere Erkenntnisse über ihre Entstehung und Formbarkeit vermehrt haben, ist jeder, der die menschliche Aggression zu verharmlosen geneigt ist, ein unverantwortlicher Wunschdenker. Noch gefährlicher sind freilich die anderen, die aus einer angeblichen Unbeeinflußbarkeit der Aggression ein sozialdarwinistisches Weltbild ableiten.
Ich resümiere: Die Feindseligkeit des Menschen kann mit Hilfe der Analyse ihrer Motive gedämpft werden. Wir bedürfen der konstruktiven Seiten, der sublimierten Formen der Aggression; keine Gesellschaft kann ohne Wettbewerb - worin er nun bestehe - und ohne die festlichen Höhepunkte, die er bringt, gedacht werden. Aggression ist eine Grundmacht des Lebens.
Auch Dummheit wird nicht gänzlich abzuschaffen sein, sie kann aber doch in ihren gefährlichen Formen in befreiender Weise aufgehellt werden. Die lange infantile Abhängigkeit des Menschen schafft die Voraussetzung für später oft unauflösliche entwicklungshemmende Identifikationen (wie natürlich auch umgekehrt für entwicklungsfördernde). Die Einengungen, die diese Identifikationen mit sich bringen, sind zunächst in unserem Leben unvermeidlich. Ohne Vorbilder könnten wir uns in der Welt nicht zurechtfinden. Diese kindliche Bedürftigkeit braucht aber nicht in lebenslange intellektuelle Hilflosigkeit, in politische Kindischkeit, überzugehen, so daß die Vorbilder keinem kritischen Blick unterworfen werden können. Das ist eine vermeidbare Folge der frühen Bindung an Vorbilder.
Es läßt sich im Gegenteil zur genaueren Diagnose die anti-manipulative Formel bilden: Dummheit wird gewünscht, wo nachweislich Information unterschlagen und Selbstentfaltung durch einschüchternde Tabus verhindert wird. Unsere Schulen waren bisher vorwiegend Schulen sozialer Klassen und der Nation. Beide hatten ein Interesse, manche Information zu vermitteln und anderes zu verbergen. Daran nagt der Zahn der Zeit. Subkulturen, Schichten und Nationen finden sich allmählich in der unbequemen Lage, ihre Werte, ihre Gepflogenheiten, ihre Urteile, ihre Ziele dem kritischen Denken ausgesetzt zu sehen. Man muß demnach die Bekämpfung dieser erzieherisch oft unbemerkt und unbewußt erzeugten Dummheit zu den wesentlichsten Aufgaben der Friedenssicherung zählen.
Verhärtete Institutionen, ritualisierte Interessenkonflikte scharf bewachte Tabus, all diese Versuche, den Zerfall sozialer Gebilde zu verhindern, die dann schließlich im historischen Prozeß beim Gegenteil ihrer Wirkung anlangen und diesen Zerfall nun ihrerseits unheilvoll verstärken, all diese paradoxen Wirkungsketten waren mir nur auf der Mikro-Ebene zugänglich: bei der Beobachtung meiner Patienten und des Verhältnisses, das sich zwischen ihnen und mir entwickelte und das wie in einem Brennspiegel die Prozesse der Erziehung verdichtet zeigte. Wo der Patient fähig war, die Grenzen seiner Selbstwahrnehmung zu erweitern, konnte er sich vom Zwang befreien, aggressiv sein zu müssen. Aber auch das Umgekehrte war möglich. Er konnte vielleicht aggressiv werden, wo er es bisher nicht zu sein vermochte; aber diese Aggression stand jetzt mehr im Zeichen einer notwendigen Selbstbehauptung oder in einer Vermengung mit libidinöser Zuwendung zu den Objekten der Welt, als im zwanghaften Bedürfnis, sich oder andere zu destruieren.
So kann man eigentlich die psychoanalytische Therapie als die Entdeckung eines neuen Weges zur Entwicklung menschlicher Solidarität beschreiben (neben vielen anderen Möglichkeiten ihrer Definition). Psychoanalyse hat gewiß etwas zum Verständnis der Prozesse beizutragen, die Gruppen vereinen oder sprengen; ihr Heimatboden ist und bleibt aber der Versuch der Aufklärung der Konflikte, die das Individuum durchlebt.
Ich weiß, es ist unschicklich, in Stunden wie dieser vom Geld zu sprechen. Ich breche das Verbot. Aus dieser Erfahrung begrenzter, überschaubarer Verantwortung heraus möchte ich gerne die Geldmittel, die an den Friedenspreis geknüpft sind, an eine Organisation weiterreichen, deren praktizierte humane Solidarität und Liberalität mir Respekt einflößen. Es ist dies »Amnesty International«, eine internationale Hilfsorganisation für politische Häftlinge. In Deutschland betreuen, wie ich vernehme, über 140 Gruppen vor allem junger Menschen unter persönlichen Opfern je drei politische Gefangene und versuchen, deren Not zu lindern. Jeweils ein Gefangener ist in einem Land des Ostblocks, in einem westlichen oder in einem der dritten Welt inhaftiert. Die Hilfsaktion hängt allein an der Qualität, daß der andere ein Mitmensch ist. Indem wir solche Hilfe anbieten, verwirklichen wir Solidarität. Tun wir das nur auf privater Ebene, wie man vielleicht einwenden wird, also ohne politischen Effekt? Ich glaube eher das Gegenteil. Natürlich verringern wir dabei das gewaltige »Kulturhindernis der Aggression« nur um winzige Mengen, vor allem nicht prophylaktisch, sondern indem wir bereits in den Brunnen gefallenen Kindern helfen. Es ist mir klar, daß das nicht etwa ein soziologischer Beitrag zum Frieden oder auch nur zur Friedensforschung ist. Aber mit diesen objektiv zunächst winzigen Beiträgen erleichtern wir doch faktisch für einen einzelnen, benennbaren Menschen das Leben und verringern dabei seine Verzweiflung und eine Verhärtung seiner Aggression. Man müßte blind für die Zeichen der Zeit sein, wenn man in ihnen nicht die Verzweiflung allenthalben entdeckte.
Wird es auf dem Weg in die Zukunft eine Erleichterung von der Bürde der Aggression geben? Dies hängt davon ab, ob uns eine Art der Selbstüberwindung gelingt, die auf dem Respekt vor dem Mitmenschen gründet. Selbstüberwindung also nicht in Opferhaltung, um unseres eigenen Seelenheiles, sondern um des Verständnisses der Pluralität menschlicher Daseinsformen willen. Skepsis, was unsere Güte betrifft, ist sicher angebracht. Wie die Welt auch aussehen mag, bewohnbar wird sie nur bleiben, solange wir Glück und Unglück des Einzelnen nicht aus dem Auge verlieren.
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Alexander Mitscherlich
Dankesrede des Preisträgers
Chronik des Jahres 1969
+++ Jassir Arafat wird am 3. Februar 1969 zum Vorsitzenden der PLO gewählt. Drei Wochen später greift die israelische Luftwaffe Stützpunkte arabischer Widerstandsorganisationen in Syrien an. Der US-amerikanische Senat ratifiziert im März den sogenannten Atomwaffensperrvertrag. +++ John Lennon und seine Frau Yoko Ono inszenieren Mitte März in Amsterdam ein siebentägiges »Bed-in«, um für den Frieden in der Welt zu demonstrieren. +++
Der Bundestag verabschiedet einige rechtliche Neuerungen, die als erster Schritt zu einer großen Strafrechtsreform gesehen werden. Unter anderem wird die Zuchthausstrafe abgeschafft, Ehebruch und Homosexualität werden straffrei. Zudem werden uneheliche Kinder den ehelichen rechtlich gleichgestellt. Die Verjährungsfrist für Völkermord wird gänzlich aufgehoben. +++ In Cape Kennedy hebt am 17. Juli die »Apollo 11« ab. Vier Tage später betreten Edward Aldrin und Neil Armstrong als erste Menschen den Mond: “That’s a small step for a man, one giant leap for mankind.” +++ Nach der Ernennung von Gustav Heinemann zum neuen Bundespräsidenten im März wird mit der Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler am 21. Oktober eine neue Ära in der Außen- und vor allem in der Ostpolitik eingeläutet. In seiner ersten Regierungserklärung fasst Brandt mit dem Schlagwort »Mehr Demokratie wagen« seine innenpolitischen Vorstellungen zusammen. Im Zuge seiner »neuen Ostpolitik« spricht er als erster deutscher Politiker offiziell von zwei deutschen Staaten. +++ In Libyen stürzt die revolutionäre Offiziersbewegung »Freie Unionistische Offiziere« unter Muamar al Gaddafi im September in einem unblutigen Putsch die Monarchie. Gaddafi wandelt Libyen in der Folgezeit in eine islamisch-sozialistische Republik um. +++ Mitte Oktober protestieren in verschiedenen Städten der USA Millionen von Menschen gegen den Vietnam-Krieg. An den Protestaktionen beteiligen sich prominente amerikanische Politiker.+++
Biographie Alexander Mitscherlich
Der am 20. September 1908 in München geborene Sohn einer angesehenen Familie von Naturforschern, Biologen und Chemikern studiert Geschichte, Philosophie und Literatur. Kurz vor seiner Dissertation bricht er 1932 sein Studium ab, da der Nachfolger seines verstorbenen jüdischen Doktorvaters sich weigert, die Arbeit zu übernehmen.
Aufgrund seiner kritischen Haltung zum Nationalsozialismus wird Mitscherlich 1933 kurz inhaftiert. Er gründet in Berlin-Dahlem eine Buchhandlung, die 1935 durch die SA geschlossen wird. Steckbrieflich wegen seiner Widerstandsarbeit gesucht, emigriert Mitscherlich in die Schweiz. Dort studiert er Medizin und wird bei einem illegalen Aufenthalt in Deutschland erneut aufgegriffen und für acht Monate inhaftiert. Anschließend nimmt er sein Studium wieder auf und promoviert in Heidelberg bei Viktor von Weizsäcker.
Nach dem Krieg habilitiert sich Mitscherlich und gründet 1949 die Abteilung für psychosomatische Medizin an der Universität Heidelberg, die er ab 1952 als Professor leitet. Dabei bemüht er sich um die Anwendung psychoanalytischer Methoden und Erkenntnisse auf soziale Phänomene.
Ab 1966 lehrt er in Frankfurt und leitet dort das von ihm gegründete Sigmund-Freud-Institut. Neben seinen psychosomatischen Forschungen befasst er sich aus dem Blickwinkel der psychoanalytischen Theorie mit politischen und gesellschaftlichen Problemen seiner Zeit.
Alexander Mitscherlich stirbt am 26. Juni 1982 im Alter von 73 Jahren.
Auszeichnungen
1973 Kulturpreis der Stadt München und Wilhelm-Leuschner-Medaille
1972 Goldene Wilhelm-Bölsche-Medaille
1969 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
Bibliographie
Gesammelte Schriften in zehn Bänden
Hrsg. v. Klaus Menne, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1983, ISBN 978-3-518-57636-6
Ein Leben für die Psychoanalyse - Anmerkungen zu meiner Zeit
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1980, ISBN 978-3-518-03640-2
Die Unwirtlichkeit unserer Städte - Anstiftung zum Unfrieden
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999, (Orginalausg. 1965), ISBN 978-3-518-10123-0