Hans-Christoph Kirsch
Auf die Friedenspreisträgerin 1978
Laudatio auf Astrid Lindgren
Die Frage, was mit einer hervorragenden Leistung im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur für den Frieden getan sei, ist seit Bekanntwerden des Namens der diesjährigen Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels gelegentlich zu hören gewesen.
Ich will, wenn ich von dieser Frage ausgehe, mich nicht näher mit der Unterscheidung befassen, die in der Bundesrepublik immer noch hin und wieder zwischen sogenannter »großer« Literatur einerseits und Kinder- und Jugendliteratur als etwas a priori Minderem oder Zweitrangigem gemacht wird.
Vorurteile, die eine solche Unterscheidung hervorbringen, sind erfreulicherweise seit einiger Zeit im Abnehmen begriffen.
Wenngleich ein genaueres Nachdenken über sie auch in den Kern unseres, wie ich finde, gestört-verstörten Verhältnisses zur Kindheit und zum Kind führen würde, will ich dem vorerst hier nicht weiter nachspüren. Gegen solche Vorurteile gewandt, erinnere ich nur an einen Satz, dem sich, wie ich weiß, als Richtschnur viele Kinder- und Jugendbuchautoren des deutschen Sprachraums verpflichtet fühlen, und dessen Forderung sich gerade im Werk der hier zu ehrenden Autorin in exemplarischer Weise einlöst.
Dieser Satz stammt von Maxim Gorki und lautet: »Für Kinder sollte man schreiben wie für Erwachsene - nur besser.«
Dieser Satz enthält nicht nur die Aufforderung, Kinder als Leser ernst zu nehmen. Er weist auch auf die besondere Verantwortung und auf das besondere Maß an handwerklichem Können hin, das von dem verlangt wird, der sich anschickt, für Kinder zu schreiben.
Dieser Satz erinnert indirekt, nach meinem Verständnis auch daran, daß der Autor, der für Kinder und Jugendliche schreibt, das soziale Verhalten, die Rollenbilder, Wünsche und Utopien der nächsten Generation beeinflußt, ja diese hier und da vielleicht sogar entscheidend prägt.
Es drängt mich an dieser Stelle und bei dieser Gelegenheit auch, an jenen Mann zu erinnern, der posthum als erster Autor aus dem Bereich der Kinder- und Jugendliteratur mit dem Friedenspreis ausgezeichnet worden ist, an Janusz Korczak. Von ihm, der in Verantwortung für die ihm anvertrauten Kinder den höchsten Preis zahlte, den ein Mensch für ein Ideal der Humanität zu zahlen imstande ist, indem er sie beim Abtransport ins KZ nicht verließ, stammt ein anderer Kinder- und Jugendbuchautoren verpflichtender Satz: » Das Kind wird nicht erst ein Mensch, es ist schon einer!«
Ich will - dies im Sinn - versuchen, auf die Frage Antwort zu geben, die lautet: Was hat Astrid Lindgren mit ihrem Werk für den Frieden getan?
Nicht nur, daß die dabei hervortretenden Einsichten vielleicht am besten dazu angetan sind, die Autorin zu ehren.
Sie vermögen vielleicht auch einen Fingerzeig darauf zu geben, wie mit einer besonders gearteten Einstellung zu Kindern, die sich für mich in den Geschichten von Frau Lindgren abbildet, in einer ganz und gar nicht friedfertigen, eher von Gewalttaten erschütterten Welt und einer über den von manchen ihrer Töchter und Söhne praktizierten Terrorismus verstörten Gesellschaft, Schritte auf den Frieden hin möglich werden könnten. Lassen Sie mich aber auch noch ganz offen bekennen, daß Autoren, als deren Repräsentant ich mich in diesem Augenblick vor allem verstehe, dieser Frau besonderen Dank schulden. Sie verkörpert mit ihrem Werk die Wichtigkeit, die Ausdrucks- und Wirkungsmöglichkeiten von Kinder- und Jugendliteratur aufs Glücklichste. Man denke nur an all jene Eltern und Kinder, die vielleicht über diesen Büchern zum ersten Mal erfahren haben, daß Literatur kein esoterischer Bereich sein muß, sondern Einsamkeit und Isolierung aufzuheben vermag.
Seit dem Erscheinen der ersten jener wunderbaren Geschichten um die Gestalt der Pippi Langstrumpf 1945 in Schweden und 1949 in Deutschland haben sich eine große Zahl kluger Frauen und Männer den Kopf darüber zerbrochen, worin die Eigenart des Erzählens bei Astrid Lindgren bestehe, wie es denn komme, daß Kinder diese Geschichten und deren Gestalten - und dazu wären nicht nur Pippi, sondern auch Karlsson, Michel (oder, wie er in Schweden heißt, Emil), Mio, Rasmus, Kalle Blomquist und die Brüder Löwenherz zu rechnen - als Abbilder ihres Seins betrachten?
Aus der Vielzahl der Erklärungsversuche will ich hier einige, die mich persönlich besonders überzeugt haben, wieder ins Gedächtnis rufen.
So spricht Richard Bamberger davon, daß Astrid Lindgren die Welt der Kindheit in ihrer ganzen Eigenart und Vielfalt ins Erwachsenendasein mit hinübergerettet habe. »Astrid Lindgren«, fährt er fort, »ließ Träume und Phantasien, die Kinder haben und oft hartnäckig gegenüber den Erwachsenen verteidigen,Wirklichkeit werden und sich sogar vor den Erwachsenen behaupten.« Bamberger weist schließlich darauf hin, daß viele dieser Geschichten ein Tor zum Traum seien, in dem all das, was in dieserWelt schief geraten ist, wieder ins rechte Gleis komme.
Das stimmt wohl, wenn man hinzufügt, daß Phantasie hier eben nicht nur Flucht-, sondern immer auch Trostcharakter hat, Geborgenheit verbreitet, die Wirklichkeit nie verdrängt wird und zugleich auch in einer erstaunlich realistischen Erzählhaltung Utopien von Freiheit und Selbstbestimmung vorgeführt werden.
Hedi Wyss war es, die vor kurzem Pippi als eine Vorbildgestalt des Emanzipatorischen und besonders der weiblichen Emanzipation interpretiert hat. Sie schreibt: »Pippi Langstrumpf ist ein Symbol für Emanzipation des Kindes mit seinen Phantasien, seinen Interessen und Bedürfnissen, für die Emanzipation des weiblichen Kindes gegen den besonders schweren (geschlechtsspezifischen) Druck... Pippi ist das Vorbild, das nicht Anpassung und Wohlverhalten demonstriert, sondern Neugierde und Lebenslust.«
Am genauesten scheint mir Malte Dahrendorf dem Geheimnis der Wirkung der Lindgrenschen Geschichten nachgespürt zu haben.
In seiner Analyse zeigt er auf, wie der Mensch im Verlauf dessen, was die moderne Entwicklungspsychologie den »Sozialisationsprozeß« nennt, in der anfänglichen Vielfalt seiner Möglichkeiten beschnitten und begrenzt wird, wie das »Realitätsprinzip« über das »Lustprinzip«, die Notwendigkeit über die Freiheit siegt. Das nenne man dann »ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft« werden.
Könne es nicht sein, so fragt Dahrendorf, daß all das Abgetrennte, Abgedämmte, Unterdrückte irgendwo doch noch lebe, und die Hoffnung, es verwirklichen zu können, nie ganz aufgegeben werde, daß also in der Freisetzung dieses Unterdrückten und in der Verteidigung eben dieser Hoffnung, die Erklärung dafür zu suchen sei, daß die Gestalten aus den Geschichten von Astrid Lindgren - oft sogar gegen den Willen wohlmeinender Erwachsener! -von den Kindern so heiß geliebt werden?
Dies ist der Punkt, an dem wir uns fragen müssen, wie sich denn die Haltung der Autorin gegenüber Kindern von der mancher anderer Zeitgenossen unterscheidet? Es reicht nicht hin, wenn man sagt, Astrid Lindgren nehme Kinder eben ernst.
Es reicht nicht hin, wenn man definiert, sie habe eben nicht, wie so viele andere Menschen, die Brücken zwischen sich und dieser wundersamen und nicht nur immer angenehm-friedlich oder idyllischen "Welt des Kindseins, in der »einfache Dinge so seltsam und seltsame Dinge oft so einfach sind«, gesprengt.
Ihre Art der Zuwendung zum Kind hat noch andere Dimensionen.
Einmal hat sie selbst der so klugen Welt der Erwachsenen einen Satz ins Gesicht geschleudert, der uns alle in Hinblick auf unser Verhältnis zu Kindern in unserer Sicherheit, Selbstgefälligkeit und Nachlässigkeit erschüttern sollte.
Astrid Lindgren schreibt da von der unerhörten Dummheit und Phantasielosigkeit, mit der viele Erwachsene die ihnen ausgelieferten zarten Sprößlinge behandeln. Sie fährt dann ein großes Buch, nämlich die Bibel, zitierend fort: »>Fordert Eure Kinder nicht zum Zorn heraus!< Behandelt sie mit derselben Rücksicht, die Ihr Euren erwachsenen Mitmenschen zwangsläufig zeigen müßt. Gebt den Kindern Liebe, mehr Liebe und noch mehr Liebe, dann kommt die Lebensart von selbst.«
Hier, meine Damen und Herren, ergibt sich beiläufig, was diese Frau, erzählend für den Frieden getan hat: Durch ihre Fähigkeit, sensibel zu erahnen und konsequent auszudrücken, wie es im Bewußtsein von Kindern aussieht.
Direkt an uns Erwachsene gewandt, hat Astrid Lindgren einmal gesagt:
»Es müßte also ihre (der Erwachsenen) Sache sein, eine Welt der Geborgenheit, der Wärme und Freundlichkeit um den Wicht zu schaffen. Aber tun sie das? Viel zu selten tun sie es, so will es mir scheinen. Sie haben wohl keine Zeit! Sie sind voll und ganz davon in Anspruch genommen, den kleinen Wicht zu erziehen. Sie erziehen ihn beharrlich von früh bis spät. Es ist ihnen so verzweifelt viel daran gelegen, daß er schon von Anfang an genau wie ein Erwachsener auftritt, denn dieses >ein Kind sein< ist doch wohl eigentlich ein sehr häßlicher Charakterzug, der mit allen Mitteln weggearbeitet werden muß.«
Meine Damen und Herren, ich weiß nicht, inwieweit bei jedem einzelnen von Ihnen die Hoffnung noch besteht oder längst verworfen worden ist, die großen Entwürfe und Systeme seien in der Lage, dem Menschen den Weg in eine friedfertigere Welt zu weisen.
Wie immer die individuelle Antwort auf diese Frage ausfallen mag, optimistisch oder skeptisch-pessimistisch, verweist sie nicht so oder so auf unseren persönlichen Bereich, auf die Beziehung zu unseren Kindern ? Hier müßten wir doch in der Lage sein, positiv etwas zu ändern. Ich finde, wir sollten das Alltägliche als Ansatz für Veränderungen nicht unterschätzen.
Aber wie sieht es damit in Wirklichkeit aus?
Gibt ein jeder von uns den Kindern, die ihm anvertraut sind, durch Geburt, Sitte oder Beruf dieses Soviel und noch mehr an Geborgenheit, Wärme, Liebe und noch einmal Liebe?
Ich behaupte: viel zu oft nehmen wir uns die Zeit zum lebendigen Umgang mit unseren Kindern eben nicht oder meinen, sie uns nicht nehmen zu dürfen.
Wir geben uns stattdessen damit ab, Häuser zu bauen, die oft nicht so sehr Heimstätten denn Prunkstätten sind.
Unser Ehrgeiz geht dahin, selbst mächtig, berühmt oder berüchtigt zu werden, um so vor unseren Kindern bestehen zu können, um ihnen zu imponieren.
Wir bilden uns ein, durch die Anhäufung materiellen Besitzes, durch die Überlieferung einer im Materiellen und im Besitzdenken wurzelnden, zuweilen recht zynisch Materialismus und Egoismus propagandierenden Wertordnung, trügen wir zum Schutz unserer Kinder, zu ihrer Geborgenheit und ihrem Ansehen im späteren Leben bei.
Verkrampft streben wir danach, mehr und noch mehr Geld zu verdienen, damit wir unseren Kindern ein Motorrad, ein Auto oder ein entsprechendes mechanisches Spielzeug geben können. Ein Verhältnis zu Dingen soll das Verhältnis zwischen Menschen ersetzen. Würden wir nicht so verfahren, es könnte uns eben in einer intensiven Begegnung mit Kindern unser eigener Verlust an Lebendigkeit klar werden, und davor haben wir Angst.
Bei alldem entwickeln wir zwar manchmal noch schlechtes Gewissen darüber, daß wir so sind, wie wir nun einmal sind, machen aber viel zu häufig »die Verhältnisse«, viel zu selten uns als Personen dafür verantwortlich.
Wenn sich dann die Verstörtheit unserer Kinder, ihre Einsamkeit und sprachliche Hilflosigkeit zu psychischer Krankheit steigert - und als solche will mir auch der Terrorismus erscheinen - sind wir ratlos oder reagieren pharisäerhaft aufgebracht.
Um die Beziehung zum Werk von Astrid Lindgren herzustellen:
Lesen Sie einmal die Geschichten von Michel oder Emil nach. In der Fiktion einer Geschichte, noch dazu in einer von und für Kinder, ist ja ein solch aufgewecktes, einfallsreiches Bürschchen recht lustig. Überlegen Sie sich aber: wie würden Sie reagieren, wäre Michel Ihr Sohn, Pippi Ihre Tochter? Liebevoll oder nervös? Schutzgebend oder aufbrausend? Freundlich verständnisvoll oder aggressiv?
Man hat Astrid Lindgrens Bücher in die in der Bundesrepublik teilweise recht dogmatisch geführte Auseinandersetzung über autoritäre oder antiautoritäre Erziehung hineingezogen.
Diese oder jene Seite hat Zitate aus den Büchern als Beweismittel für die Richtigkeit ihres Standpunktes angeführt.
Ich möchte damit nicht fortfahren, meine aber, daß sich in Astrid Lindgrens Darstellung über ihre Kindheit und ihre Eltern einige in diesem Zusammenhang unerhört aktuelle Hinweise auf echte Autorität finden. So, wenn sie schreibt:
»Unsere Kindheit wurde von Geborgenheit und Freiheit geprägt. Man fühlte sich geborgen bei diesen Eltern, die sich sehr mochten und die immer da waren, wenn man sie brauchte... gewiß wurden wir mit christlichen Ermahnungen erzogen, der damaligen Zeit entsprechend, aber in unseren Spielen waren wir herrlich frei und wurden nie überwacht... ich finde, Hannas Art Kinder zu erziehen, war recht großzügig. Daß man gehorchen mußte, war selbstverständlich, aber sie verlangte nicht immer unnötige und unmögliche Dinge von uns. Sie hat z. B. nicht darauf bestanden, daß wir pünktlich zu den Mahlzeiten erschienen und... ich kann mich auch nicht erinnern, daß sie uns jemals Vorwürfe machte, wenn wir mit zerrissenen oder schmutzigen Kleidern heimkamen. Sie fand wohl, ein Kind habe das Recht, sich im Spiel auszutoben.«
Aber es heißt auch:
»Wir hatten viel Freiheit, aber das bedeutete nicht, daß wir nichts zu tun brauchten. Natürlich mußten wir auch lernen zu arbeiten.«
Diese Balance zwischen Freiheit und Geborgenheit, zwischen Offenheit und notwendiger Anpassung, scheint mir eine Voraussetzung für echte, für personale Autorität, die von Kindern nicht nur anerkannt, sondern als Teil der Geborgenheit auch gewollt und ersehnt wird. Dies setzt aber freilich auf Seiten der Erwachsenen Zeit, Souveränität, Absehenkönnen von sich selbst, von eigenen Wünschen und hin und wieder auch Widerstand gegen scheinbar unverrückbare Normen der Konsumgesellschaft voraus.
Astrid Lindgrens persönliche Haltung und ihr meistergültiges Einfühlungsvermögen in kindliches Bewußtsein sind für mich lebendiger Beweis dafür, welchen Zuwachs an Friedfertigkeit und menschlichem Glück eine solche Einstellung gegenüber Kindern erbringen könnte.
Meine Damen und Herren: gewiß ist die Kinderfeindlichkeit unserer Gesellschaft ein vielstrapaziertes Schlagwort. Seltener ist schon davon die Rede, wie kinderfeindlich wir uns als Individuen verhalten, wenn wir von Kindern - und sei es auch nur spaßhaft - als von »kleinen Monstern« reden, wenn wir uns ihrer Existenz ganz und gar verweigern, wenn wir ihre Lebendigkeit als lästig empfinden und nur bestrebt sind, sie möglichst rasch in wohlfunktionierende, unbedingt angepaßte, kleine oder größere Erwachsene zu verwandeln.
In diesem Sinn enthalten die Geschichten und Szenen von Astrid Lindgren eine Herausforderung von großer Aktualität, sofern wir nur bereit sind, hinzusehen oder hinzuhören.
Ich schließe mit einem Vers meines Kollegen Hans Manz.
»Jeder muß lernen
sich anzupassen,
aber gleichzeitig aufpassen,
daß er nicht verpaßt zu sagen:
Das paßt mir nicht.«
Dieser Satz könnte durchaus auch als Motto über dem gesamten Werk Astrid Lindgrens stehen, aus dem bei aller funkelnden Phantasie doch auch viel sich in Vernunft gründender Realitätssinn, tiefe Liebe zum Menschen, verbunden mit Respektlosigkeit vor jedem Gehabe, zu uns sprechen.
Der Gedanke, den dieser Vers prägnant faßt, verweist auf jene beiden Pole, zwischen denen sich Erziehung in unserer Zeit, die immer auch Erziehung zu einem Mehr an Friedfertigkeit und Toleranz, aber auch Erziehung zu recht verstandener Emanzipation zu sein hat, bewegen sollte.
Lebendige, einprägsame Anregungen dazu liefert das Werk von Astrid Lindgren in reichem Maße.
Dafür gebührt ihr Dank, nicht nur Dank von Kindern, dessen sie gewiß ständig teilhaftig wird, sondern auch unser Dank, als der von Eltern und Mitmenschen.
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