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Friedenspreis 1978

Astrid Lindgren

1978 wird die schwedische Kinderbuchautorin Astrid Lindgren mit dem Friedenspreis ausgezeichnet. Die Verleihung fand am Sonntag, den 22. Oktober 1978, in der Paulskirche zu Frankfurt am Main statt. Die Laudationes hielten Hans-Christian Kirsch und Gerold Ummo Becker.

Begründung der Jury

Der Stiftungsrat für den Friedenspreis hat Astrid Lindgren zur diesjährigen Trägerin des Friedenspreises gewählt. Astrid Lindgren steht mit ihrem gesamten Werk beispielhaft für alle, die mit ihren Büchern Kindern in aller Welt als unverlierbaren Schatz die Phantasie schenken und ihr Vertrauen zum Leben bestärken. Neugier im Kind zu wecken, es kritisch zu machen gegenüber großen Worten und Parolen, ist genauso wichtig wie die Aufgabe, ihnen die Angst zu nehmen vor der Welt und der Zukunft.


Das Werk von Astrid Lindgren bedeutet keine Abkehr von der Wirklichkeit, keine Verführung zur Flucht in Träume. Sie führt ihren Lesern keine heile Welt vor, aber eine Welt, in der wie lachen und weinen, träumen, aber auch leben können. Ihre Bücher vermitteln Liebe und Wärme, bezaubern und verzaubern. Einer Autorin, die behutsam, aber nachdrücklich zu Toleranz, Fairness, Verständnis und Verantwortung erzieht, wird daher die höchste Auszeichnung, die der deutsche Buchhandel zu vergeben hat, zuerkannt.

Preisverleihung

Der Vorsteher des Börsenvereins Rolf Keller verliest die Urkunde für Astrid Lindgren.

Reden

Erziehung zum Frieden ist nicht Bildung junger Menschen zum passiven Hinnehmen festgeschrieben scheinender Umstände, zur Anpassung, zum Erdulden.

Rolf Keller - Grußwort
Rolf Keller
Grußwort des Vorstehers

Hier, meine Damen und Herren, ergibt sich beiläufig, was diese Frau, erzählend für den Frieden getan hat: Durch ihre Fähigkeit, sensibel zu erahnen und konsequent auszudrücken, wie es im Bewußtsein von Kindern aussieht.

Hans-Christoph Kirsch - Laudatio auf Astrid Lindgren
Hans-Christian Kirsch
Laudatio

Wir alle wollen ja den Frieden. Gibt es denn da keine Möglichkeit, uns zu ändern, ehe es zu spät ist? Könnten wir es nicht vielleicht lernen, auf Gewalt zu verzichten? Könnten wir nicht versuchen, eine ganz neue Art Mensch zu werden? Wie aber sollte das geschehen, und wo sollte man anfangen? Ich glaube, wir müssen von Grund auf beginnen. Bei den Kindern.

Astrid Lindgren - Dankesrede
Astrid Lindgren
Dankesrede der Preisträgerin

Chronik des Jahres 1978

+++ Das 3. Internationale Russel-Tribunal prangert nach seiner Kritik am Vietnam-Krieg und den Menschenrechtsverletzungen durch das Apartheid-Regime Südafrikas Ende März 1978 Menschenrechtsverletzungen in der Bundesrepublik an und erörtert die sogenannten Berufsverbote. +++ Auf dem 8. Schriftstellerkongress der DDR wird Hermann Kant Ende Mai als Nachfolger von Anna Seghers zum neuen Präsidenten der Vereinigung gewählt. Kritische Autoren wie Christa Wolf und Stephan Heym werden nicht zum Kongress eingeladen. +++


In der Nähe von London wird im Juli das erste in vitro (im Reagenzglas) gezeugte Kind geboren. +++ Der ägyptische Staatschef Muhammad Anwar as Sadat und der israelische Ministerpräsident Menachem Begin einigen sich im September unter Vermittlung von US-Präsident Carter auf die Einleitung von friedensstiftenden Maßnahmen im Nahen Osten. Im Dezember erhalten sie dafür den Friedensnobelpreis. +++ Nach dem Tod von Papst Paul VI. wird am 26. August Kardinal Albino Luciano zu seinem Nachfolger als Papst Johannes Paul I. gewählt. Als er nach einer nur 34-tägigen Amtszeit stirbt, wählt das Konzil den polnischen Kardinal Karol Wojtyla zu seinem Nachfolger. Papst Johannes Paul II. ist seit 455 Jahren der erste nichtitalienische Papst. +++ Unterstützt von Guerillakämpfern der kambodschanischen Einheitsfront für die Nationale Rettung fallen Ende Dezember vietnamesische Truppen in Kambodscha ein. Damit wird das blutige Regime von Pol Pot vorerst beendet. +++

Biographie Astrid Lindgren

Astrid Lindgren, geboren am 14. November 1907 auf dem Hof Näs in der Nähe von Vimmerby, Småland, beginnt nach der Schule eine Ausbildung als Sekretärin. Neben ihrer beruflichen Tätigkeit schreibt sie erste Geschichten, die in Zeitungen veröffentlicht werden. Von 1946 bis zu ihrer Pensionierung 1970 arbeitet sie im Verlag Rabén & Sjögren.


Ihren Vorsatz, niemals ein Buch zu schreiben, bricht sie 1944. Gleich ihre ersten Bücher Britt-Mari erleichtert ihr Herz und Pippi Langstrumpf werden mit Preisen ausgezeichnet. Im Laufe der Zeit erschafft sie berühmte Romanfiguren wie Michel aus Lönneberga, Kalle Blomquist, Karlsson vom Dach, die Kinder von Bullerbü oder Ronja Räubertochter. In ihren Büchern beschreibt sie nicht nur eine heile Welt, auch prekäre und provokative Themen greift sie immer wieder auf, setzt sich mit dem Tod von Kindern auseinander, prangert die Rassendiskriminierung an und macht die Sinnlosigkeit von Gewalt deutlich.

Ihre Rede "Niemals Gewalt" bei der Friedenspreisverleihung 1978 wird weltweit aufmerksam diskutiert. 1992 beendet die immer wieder für den Literaturnobelpreis vorgeschlagene Autorin das Schreiben. 1994 erhält sie den Alternativen Nobelpreis.

Astrid Lindgren stirbt am 28. Januar 2002 in Stockholm im Alter von 94 Jahren.

Auszeichnungen

1999 Wahl zur „Schwedin des Jahrhunderts“
1995 DIVA – Deutscher Videopreis
1994 Ehrenpreis des Right Livelihood Awards
1987 Leo-Tolstoi-Preis


1986 Selma-Lagerlöf-Preis
1986 Lego-Preis
1979 Wilhelm-Hauff-Preis
1979 Internationaler Janusz-Korczak-Literaturpreis
1978 Premio Bancarelino
1978 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
1975 Königlich Schwedische Medaille Litteris et Artibus
1974 Medaille des Schwedischen Buchhandels
1974 Medaille des Lächelns
1973, 1975 und 1983 Zilveren Griffel
1971 Iranischer Kinderbuchpreis
1971 Große Goldmedaille der Schwedischen Akademie für Literatur
1970 und 1973 Lewis Carroll Shelf Award
1965 Schwedischer Staatspreis für Literatur
1958 Hans-Christian-Andersen-Medaille
1956 Prämie des Deutschen Jugendbuchpreises
1950 Nils-Holgersson-Plakette
1946 Literaturpreis der Zeitung „Svenska Dagbladet“

Bibliographie

Pippi Langstrumpf

Übersetzt von Cäcilie Heinig, illustriert von Katrin Engelking, Friedrich Oetinger Verlag, Hamburg 2007, 978-3-7891-4161-4; (Pippi Långstrump, 1945, deutsch 1949)

Karlsson vom Dach

Übersetzt von Thyra Dohrenburg, illustriert von Ilon Wikland, Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg 1994, 978-3-7891-4111-9, (Lillebror och Karlsson på taket, 1955, deutsch 1956)

Die Brüder Löwenherz

Übersetzt von Anna-Liese Kornitzky, illustriert von Ilon Wikland, Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg 1974, ISBN: 978-3-7891-2941-4, (Bröderna Lejonhjärta, 1973, deutsch 1974)

Gerold Ummo Becker

Als der Börsenverein neben Hans-Christian Kirsch auch Gerold Ummo Becker um eine Laudatio für Astrid Lindgren bat, war noch nichts über den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen an der Odenwaldschule bekannt, die Becker von 1972 bis 1985 leitete.


In den 1970er Jahren war man vielmehr von seinen reformpädagogischen Ansätzen beeindruckt, die nun aber, nach Bekanntwerden der Vorfälle, in einem anderen Licht gesehen werden müssen. Becker wird in einem unabhängigen Abschlussbericht über die „sexuelle Ausbeutung von Schülern und Schülerinnen an der Odenwaldschule im Zeitraum 1960 bis 2010“ als Haupttäter bezeichnet. Vor dem Hintergrund dieses Wissens ist heute ein anderer Zugang zu seinen Schriften notwendig. Den Menschen, die Opfer des Missbrauchs wurden und denen damit anhaltendes Leid angetan wurde, soll mit dieser Anmerkung Solidarität bekundet werden. Was den Umgang mit Beckers Laudatio auf Astrid Lindgren betrifft, nehmen wir gerne Anregungen entgegen.