1987 wurde der deutsche Philosoph und Ethiker Hans Jonas mit dem Friedenspreis ausgezeichnet. Die Verleihung fand am Sonntag, den 11. Oktober 1987, in den Städtischen Bühnen Frankfurt am Main statt. Die Laudatio hielt Robert Spaemann.
Begründung der Jury
Den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verleiht der Börsenverein im Jahre 1987 Hans Jonas, dem Philosophen, der mit dem denkenden zugleich den handelnden Menschen und seinen immer schwerer zu überschauenden Entscheidungsspielraum in den Blick rückt.
Hans Jonas stellt sich den politischen Fragen nach den Pflichten des Wissens und der Macht und arbeitet auf eine Philosophie hin, die im Nachdenken über das Leben und Überleben von Mensch und Natur ihre dringlichste Aufgabe sieht. In Sorge um das Menschenbild, um die Natur und um die Welt als Ganzes spürt er einer neuen Dimension des Begriffs Verantwortung nach.
Reden
Günther Christiansen
Grußwort des Vorstehers
Jonas zeigt, daß gerade der Gedanke der Optimierungsstrategie dem Gedanken der Verhinderung des Schlimmsten entgegengesetzt ist. Nie hat mehr als heute gegolten, daß das Bessere der Feind des Guten ist. Das »Prinzip Verantwortung« ist bewußt und ausdrücklich dem »Prinzip Hoffnung« entgegengesetzt. Nicht Hoffnung, sondern Sorge muß künftig das leitende Prinzip irdischen Handelns des Menschen sein.
Robert Spaemann - Laudatio auf Hans Jonas
Robert Spaemann
Auf den Friedenspreisträger 1987
Laudatio auf Hans Jonas
Wir ehren einen Philosophen, indem wir seine Gedanken nach- und weiterdenken. Dies ist es, was wir in den nächsten Minuten tun wollen, um Hans Jonas zu ehren.
Wäre die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels abhängig von der Häufigkeit, mit der ein Autor das Wort »Frieden« gebraucht, so wäre Hans Jonas kein Kandidat für diesen Preis gewesen. Jonas hat sich an der Friedensrhetorik der letzten Jahre in unserem Land nicht beteiligt, jener Rhetorik, die das kontroverse Nachdenken über geeignete Schritte der Friedenssicherung vielfach zum Gesinnungsstreit hat verkommen lassen. So als sei die Erhaltung des Friedens mehr eine Sache des guten Willens als der Staatskunst und als sei der Gebrauch eines bestimmten Betroffenheitsvokabulars ein Beweis für die Richtigkeit der eigenen Ratschläge und müßte allen Zweifelnden Schweigen gebieten. Tatsächlich will in Europa kein denkender Mensch mehr etwas, was er nur um den Preis eines dritten Weltkrieges erreichen kann. Und wenn dadurch auch die Gefahr eines solchen Krieges bei weitem nicht gebannt ist, so hat es doch Jonas nie als Aufgabe des Philosophen angesehen, der Staatskunst mit detaillierten Ratschlägen zur Kriegsverhütung beizuspringen. Ja er hat sogar die Vermutung geäußert, der Atomkrieg sei nicht einmal die am schwersten zu bewältigende Bedrohung des Friedens, nämlich jenes Friedens, der allem menschlichen Leben auf dieser Erde zugrunde liegt und ohne den es nach einem Wort von Augustinus nicht einmal Krieg geben kann. Denn sogar Krieg, so schreibt Augustinus im neunzehnten Buch der Civitas Dei, »sogar Krieg wird von Wesen geführt, die eine Natur besitzen. Das aber heißt, daß sie nur aufgrund irgendeines Friedens existieren. Ja sogar wer unter dem verlorenen Frieden seiner Natur leidet, leidet aufgrund irgendwelcher Reste von Frieden, die noch in ihm sind und die bewirken, daß seine Natur ihm immer noch Freundin ist.« Der Friede, von dem hier die Rede ist, ist offenbar ein anderes Wort für Leben, für die störanfällige Normalität des Lebens.
Wenn heute Hans Jonas - dessen erstes Buch übrigens dem heiligen Augustinus gewidmet war - den Friedenspreis erhält, dann zeigt dies, daß das Bewußtsein der Bedrohung dieses fundamentalen Friedens wächst, der Bedrohung jener elementaren Normalität, die wir Leben nennen. Diese Einsicht haben andere schon ausgesprochen, teils in pathetischeren Tönen, teils wissenschaftlich exakter dokumentiert. Niemand hat jedoch bisher die Tiefendimension dieser Bedrohung klarer, besonnener und unpathetischer analysiert als Hans Jonas. Vor allem aber: Jonas hat erstmals systematisch die prinzipiellen ethischen Konsequenzen aus dieser Einsicht entfaltet. Der Philosoph, den wir heute ehren, fasziniert seine Zeitgenossen nicht durch ein neues Paradigma der Weltdeutung, nicht durch glänzende Paradoxe oder durch die Erweckung von Hoffnungen auf das bisher Unerhörte. Wenn irgend etwas diesen Autor auszeichnet, dann ist es die Gleichgültigkeit gegen das Interessante und Originelle zugunsten des Wahren und des Zuträglichen. Wenn ein Philosoph mit diesen Eigenschaften und dazu mit einer ebenso makellosen wie unprätentiösen Prosa in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses und des öffentlichen Beifalls rückt, so ist das Zeichen einer Wende. Das Wort »Wende« ist oft im tagespolitischen Sinn gebraucht und dieser Gebrauch dann mit Recht verspottet worden. Das Wort bezeichnet indessen einen sehr realen Vorgang im geistigen Leben der Gegenwart. Stichtag dieser Wende war der Ausbruch der ersten Ölkrise, das wichtigste geistesgeschichtliche Ereignis der Nachkriegszeit. Damals begannen dreihundertjährige Utopien zusammenzubrechen, Utopien, die sich schließlich zu der Annahme verstiegen hatten, das Ende des Realitätsprinzips sei gekommen, Hybris beginne ein positiver Wert zu sein. Jahrtausendealte Sprichwörter wie dies, daß Bäume nicht in den Himmel wachsen, hätten ihre Gültigkeit verloren. Auf den Versuch, die Bäume in den Himmel wachsen zu lassen, folgte unmittelbar das Sterben der Bäume. Es ist Hans Jonas, der wie kein anderer geduldig erklärend auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht hat. Die Utopie, der Versuch, die Normalität der Conditio Humana prinzipiell zu überwinden, führt dazu, die Bedingungen jener Normalität zu zerstören, die Leben heißt. Unbegrenztes exponentielles Wachstum, endgültige Überwindung von Knappheit war die gemeinsame Voraussetzung der technokratischen und der radikal-emanzipatorischen Ideologie. Marxistische Panegyriker einer verwandelten und humanisierten Natur und einer am Ende auch verwandelten Natur des Menschen dachten ja nur jene Utopie zu Ende, die, wie Jonas zeigt, strukturell in der wissenschaftlich technischen Zivilisation verankert ist: die Verwandlung der Realität in Science fiction. Sie macht den Menschen im ursprünglichen Sinne des Wortes »utopisch«, das heißt ortlos, indem sie ihn der ökologischen Nische entreißt, in der alles Lebendige angesiedelt ist. Jonas hat das Ruchlose dieses utopischen Optimismus sichtbar gemacht, und er läßt sich nicht verblüffen durch das Argument, wir könnten doch nicht zurück wollen zum Neandertaler, zur Sklaverei und zur Operation ohne Narkose. Man muß nämlich nicht leugnen, daß es in vielen Hinsichten für die Menschen auf der Erde Verbesserungen gegeben hat und daß viele Menschen heute noch vergeblich auf die Früchte dieser Verbesserungen warten, um gleichzeitig zu sehen, daß der Fortschritt im Singular ein Mythos war, daß jeder Fortschritt im einzelnen verantwortlich in Beziehung zu seinem Preis gesetzt werden muß und daß der wissenschaftlich-technische Fortschritt inzwischen bei uns längst unter das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens geraten ist.
Worauf Jonas in seinem großen Buch »Das Prinzip Verantwortung« aufmerksam macht, ist die Krise, in die unter solchen Umständen die Normalität des Lebens gerät. Traditionelle Sittlichkeit ist Sittlichkeit der Normalität. Ihr Prinzip ist vielleicht am besten von Goethe formuliert worden in dem Verschen: »Tu du das Rechte nur in deinen Sachen, das andre wird sich von selber machen.« Eben dies stimmt nicht mehr. Die Reichweite menschlicher Macht ist so groß geworden, daß das andre sich nicht mehr von selber macht. Natur ist nicht mehr die umfassende Macht, innerhalb derer wir uns bewegen, ohne sie im ganzen in Mitleidenschaft ziehen zu können. Unser Wissen um die akkumulierten Folgen menschlichen Handelns hat dem Handelnden die Unschuld genommen, von diesen Akkumulationseffekten abzusehen. In diesem Sinne ist heute Normalität prinzipiell verschwunden. Hans Jonas kritisiert den naiven Glauben, unter diesen Umständen könnte die Normalität der »einfachen Sittlichkeit« sich selbst retten. Er verschreibt sich aber nicht der Utopie, dem modernen Mythos des unendlichen Fortschritts im Singular. Ja, diesem Mythos gilt seine eigentliche Kritik. Allen Veränderungen des sozialen Systems liegt nämlich die Natur des Menschen zugrunde, und deren Erhaltungsbedingungen sind nicht beliebig variabel. Nun lassen die neuesten Formen der Technologie, insbesondere der Gentechnologie die Vision aufkommen, die Natur des Menschen selbst umzuformen, sei es um sie resistenter, sei es um sie menschlicher oder gar übermenschlich zu machen. Aber was soll das heißen? Vernunft, Sittlichkeit, Humanität, Kultur sind die Weisen, wie eine bestimmte Form des Lebens, nämlich die des Menschen, zu sich gekommen sind. Wir verfügen über keinerlei Maßstäbe dafür, wie diese Natur verändert werden sollte, um menschlich zu bleiben, menschlicher oder gar besser als menschlich zu werden. Denn alle diese Maßstäbe sind und bleiben unsere Maßstäbe. Wir aber sind von Natur Menschen, oder wir sind gar keine Menschen. Jonas hat in einem bemerkenswerten Aufsatz in den »Scheidewegen« einmal den Gedanken durchgespielt. Menschen zu klonieren, also Kinder als eineiige Zwillinge bestimmter, erlesener Eltern herzustellen. Er hat im einzelnen die entmenschlichenden Konsequenzen dieses Gedankens durchdacht. Nicht umsonst ist dieser Aufsatz überschrieben mit dem Titel »Laßt uns einen Menschen klonieren« - in bewußter Analogie zu dem Spruch Gottes in der Genesis »Laßt uns den Menschen machen nach unserem Bild und Gleichnisse«. Wir können zur Zeit noch keinen Menschen klonieren. Aber der Angriff auf die Zeitgestalt des Menschen hat bereits begonnen, nämlich die Ersetzung der Zeugung durch das Zusammenrühren von Hand in der Retorte, entsprechend dem Wort des Famulus Wagner im Faust: »Wie sonst das Zeugen Mode war, erklären wir für eitel Possen.«
Verteidigung der Normalität des Lebens kann, so sagte ich, für Jonas nicht bloße Rückkehr zu einfacher Sittlichkeit sein. Sittlichkeit ist humane Normierung menschlichen Handelns, verantwortliches Handeln. Wo die Reichweite dieses Handelns größer geworden ist, wird auch die Verantwortung größer. Sie wird nun zur Verantwortung für die globalen Konsequenzen akkumulierten menschlichen Handelns, Verantwortung für die Natur im ganzen. Nicht nur für die Zukunft des Menschen. Jonas kritisiert die Anthropozentrik, die alles Sein nur als »Umwelt« der Menschen begreift. Sie ist ein mit der Menschenwürde unvereinbarer Naturalismus. Für jedes Tier ist die Welt nur seine Umwelt. Warum bekümmert aber gerade uns das drohende Aussterben von Elefanten, Walen oder Schmetterlingen, während unser Aussterben den Elefanten, Walen und Schmetterlingen gleichgültig wäre? Der Mensch ist gerade darin Ebenbild Gottes. Herr der Schöpfung, daß er Verantwortung hat für das Sein dessen, was nicht er selbst und seinesgleichen ist, für den Reichtum der Schöpfung. Denn sein Handeln zieht -zum Guten oder zum Schlechten - alles auf diesem Planeten in Mitleidenschaft. Gelingt es, so fragt Jonas, erstmals ein Ethos der Verantwortung für die Zukunft der Welt im ganzen, für noch nicht lebende Generationen zu wecken, ein Ethos, das es bisher lediglich in der Form des partikularen Familienethos gab? Freilich: zum Familienethos gehörte häufig der Gedanke: Meine Kinder sollen es einmal besser haben. Eine entsprechende Globalverantwortung kann es, wie Jonas überzeugend dartut, nicht geben, nicht also Verantwortung für eine bessere Welt, so wenig auch bestimmte Regionen der Welt, wo Hunger herrscht, auf den Gedanken der Verbesserung verzichten können. Wir hingegen nehmen uns schon - unter dem Vorwand der Verbesserung - eine viel zu große Bevormundung und Festlegung kommender Generationen heraus durch die Art unserer irreversiblen Investitionen. Um so wichtiger ist es für die europäisch-amerikanische Menschheit, nicht ihren Lebensstandard als unverzichtbaren Besitzstand zu betrachten und gar noch ihre Utopien dem Rest der Welt zu suggerieren.
Jonas zeigt, daß gerade der Gedanke der Optimierungsstrategie dem Gedanken der Verhinderung des Schlimmsten entgegengesetzt ist. Nie hat mehr als heute gegolten, daß das Bessere der Feind des Guten ist. Das »Prinzip Verantwortung« ist bewußt und ausdrücklich dem »Prinzip Hoffnung« entgegengesetzt. Nicht Hoffnung, sondern Sorge muß künftig das leitende Prinzip irdischen Handelns des Menschen sein. Sorge heißt nicht persönliche Angst, Angst um das eigene Schicksal. Panik ist ein schlechter Ratgeber. Worauf es ankommt ist vielmehr, aus Vernunft und sittlicher Verantwortung eine Furcht in uns zu kultivieren, die, ebenso weit entfernt von Angst wie von Hoffnung, nichts anderes als die angemessene emotionale Antwort ist auf die reale Gefährdung des Lebens auf der Erde.
Praktische Folge dieser Furcht muß das sein, was in der Sprache der Moraltheologie des 17. Jahrhunderts einmal Tutiorismus hieß, ein neuer Tutiorismus. Das heißt: An Stelle des neuzeitlichen Prinzips »Im Zweifel für die Freiheit« muß heute die Beweislast umgekehrt werden: »Im Zweifel für das Leben.« Hinsichtlich drohender großräumiger und irreversibler Schädigungen des Lebens auf der Erde muß künftig Unschädlichkeit bewiesen werden, nicht Schädlichkeit. Das hat sehr konkrete Konsequenzen. Gegenüber Umweltkatastrophen, die sich abzeichnen, dürfen wir nicht warten, bis die Faktorenanalyse zu wissenschaftlich eindeutigen und unumstrittenen Ergebnissen geführt hat. Wir müssen bereits mutmaßliche Ursachen solcher Katastrophen auszuschalten suchen. Ökonomische und politische Argumente dürfen dabei prinzipiell nicht das Notwendige behindern. Wir haben nicht das Recht, unsere sozialen und ökonomischen Probleme auf Kosten kommender Generationen zu lösen. Der Reichtum der Welt ist das Kapital, das wir treuhänderisch zu verwalten haben. Wir dürfen von seinen Zinsen leben, es selbst jedoch nicht substantiell angreifen. Zur utopischen Hybris gehört auch der Gedanke, es könne Globalplanungen geben, die alle Nebenfolgen großräumiger Aktionen mit bedenken. Je großräumiger die Planung, desto großräumiger die unvorhersehbaren Nebenfolgen. Small ist daher nicht nur beautiful, es ist auch unter dem Gesichtspunkt der Kontrollierbarkeit und Korrigierbarkeit der Folgen immer mehr das einzig Verantwortliche.
Die Verantwortungsethik von Hans Jonas ist nicht nur eine Herausforderung der traditionellen Ethik der Rechtschaffenheit einerseits, des technizistischen Ethikverständnisses andererseits, das Ethik als Optimierungsstrategie versteht, sie ist auch eine Herausforderung jener vor allem in Deutschland in den letzten Jahrzehnten gepflegten Ethik, die um den Begriff des Diskurses und des Interessenausgleichs zwischen rational argumentierenden Partnern kreist. Öffentliche Diskussion ist ein wichtiges Element gelingenden Lebens, aber sie ist weder die Quelle sittlicher Verpflichtung, noch ist Konsens ein Wahrheitsbeweis. Der Gedanke, es sei so, entstammt einem Denken, dem die Realität so weich und nachgiebig erscheint, daß sie eigentlich nur aus Meinungen über die Realität besteht. Aber die Überlebensbedingungen der Menschheit auf der Erde unterliegen nicht der Abstimmung. Sie sind, wie sie sind. Zwar hat niemand einen privilegierten Zugang zu ihrer Erkenntnis. Wir müssen über sie diskutieren und uns über sie verständigen. Aber wenn wir uns leichtfertig über das Falsche verständigen, dann bleibt es doch das Falsche. Nur daß es andere sein werden, die die Zeche bezahlen, andere, die an unseren Diskussionen noch gar nicht haben teilnehmen können und an deren Diskursen wir nicht mehr teilnehmen werden. Diskurse sind so sterblich wie die, die sie führen. Die Verantwortung für diese anderen, nicht die auf Gegenseitigkeit beruhende Anerkennung Gleicher ist daher, wie Jonas zeigt, das fundamentale Paradigma des Sittlichen, die Verantwortung für das mir begegnende, mir anvertraute oder von meinem Handeln betroffene Leben. Als Urbild sittlicher Verpflichtung schildert Jonas jene unmittelbare Handlungsaufforderung, die an uns ergeht, wenn wir eines hilflosen Kindes ansichtig werden. Das kleine Kind ist kein Diskurspartner. Aber sein Leben zu schonen, seinem Leben aufzuhelfen, ihm Leben zu ermöglichen, es zu einem künftigen Diskurspartner werden zu lassen, ist die Pflicht, die sich unmittelbar aus seinem Anblick ergibt - oder es gibt überhaupt keine sittliche Verpflichtung. Niemand wird daher sagen dürfen, daß der Gedanke der Verantwortung von ihm Besitz ergriffen habe, den es nicht auf das höchste alarmiert, wenn in einem der reichsten Länder der Welt jährlich 200000 ungeborene fühlende Menschenkinder der Geborgenheit des Mutterschoßes entrissen werden und in Mülleimer wandern.
Die Gefährdung des Lebens durch die wissenschaftlich-technische Zivilisation beruht nicht einfach auf Mißbräuchen. Sie hat etwas mit einem bestimmten Typus von Wissenschaft und Technik zu tun. Das Spezifische der neuzeitlichen Wissenschaft ist die radikale Vergegenständlichung der Welt. Diese war es, die den Menschen, wie Descartes sagte, zum Herrn und Besitzer der Natur hatte werden lassen. Diese Vergegenständlichung - unersetzliche Quelle von Erkenntnis und unverzichtbares Instrument der Selbstbehauptung des Menschen - macht jedoch vor dem Menschen selbst und vor dem Leben im ganzen nicht halt. Descartes hatte die Welt zweigeteilt in Subjektivität auf der einen Seite, Materie auf der anderen Seite. Dabei hatte Descartes den Begriff des Lebens als den eigentlich vermittelnden zwischen Denken und Materie konsequent ausgeschaltet. Außermenschliches Leben ist für ihn nur Materie. Tiere sind ihm nichts als Maschinen. Die moderne Biologie hat sich im Rahmen der neuen materialistischen Naturwissenschaft organisiert. Ihre Bemühung zielt nicht auf Verstehen, sondern auf Rekonstruktion des Lebens, das heißt auf eine Theorie, die das Leben von seiner technischen Simulation her zu begreifen sucht, eine Mutter also zum Beispiel als - ich zitiere einen angesehenen Autor - »Maschine, die so programmiert ist, daß sie alles in ihrer Macht Stehende tut, um Kopien der in ihr enthaltenen Gene zu erhalten«. In seinem erstaunlichen, schon während des Krieges konzipierten Buch »Organismus und Freiheit« hat Jonas die wesentliche Absurdität des Versuchs sichtbar gemacht, uns selbst, unser Fühlen und Denken auf diese Weise zu rekonstruieren. Jonas fordert nicht eine andere Naturwissenschaft. Die Naturwissenschaft kann nicht anders sein, als sie ist. Sie ist ihrem Wesen nach materialistisch. Aber wir können uns mit ihrer Hilfe nicht gleichzeitig selbst als die Subjekte dieser Wissenschaft begreifen wollen. Die unableitbare Eigenständigkeit des Lebendigen, die Unableitbarkeit des Innen vom Außen hat Jonas in sorgfältigen Analysen herausgearbeitet und sich, schon lange vor dem »Prinzip Verantwortung«, auch als theoretischer Verteidiger der Normalität des Lebens erwiesen. Er gehört damit zu den wichtigsten Erneuerern einer Naturphilosophie, die das Nachdenken über Natur nicht mehr reduziert auf Methodologie der exakten Naturwissenschaft. Viele sind ihm inzwischen auf diesem Wege gefolgt. Was er uns lehrt, ist nichts Unerhörtes. Er lehrt uns, dasjenige, was wir alle von jeher wissen, nicht durch Science Fiction zu ersetzen. Wissenschaftliche Rekonstruktion bewußten Lebens ist Science Fiction. Verantwortung für das Leben aber kann es nur geben, wenn es Leben gibt als unableitbare Wirklichkeit. Der Zusammenhang zwischen der theoretischen Abschaffung des Menschen und der drohenden physischen ist weit davon entfernt, ein zufälliger zu sein. Und so ist auch der Zusammenhang zwischen diesen beiden wichtigsten systematischen Büchern von Hans Jonas nicht zufällig.
Hans Jonas' Verteidigung jener Normalität, die Leben heißt, darf nicht verwechselt werden mit dem Vitalismus der dreißiger Jahre oder gar mit jenem fatalen Buche, das den Geist als Widersacher der Seele, das heißt des Lebens zu denunzieren suchte. Im Gegenteil. Jonas ist ein Verteidiger der Rationalität. Es kann nicht irrational, es kann nicht unvernünftig sein, die Bedingungen für das Fortdauern vernünftiger Wesen auf dieser Erde an die erste Stelle aller Verantwortung zu stellen. Und es kann nicht unvernünftig sein, die Vernunft selbst und ihren Anspruch auf Wahrheitsfähigkeit gegen ihre szientistische Entlarvung zu verteidigen. In diesem Sinne ist Jonas immer »Intellektualist« gewesen. Seine Kritik am Szientismus ist die Kritik an einem reduzierten, einem verkümmerten Vernunftbegriff. Erst in der Vernunft kommt Leben voll zu sich selbst. Eindeutig hat Jonas dies schon in jener zweibändigen Arbeit über die antike Gnosis ausgesprochen, die seinen Ruhm in der gelehrten Welt begründet hat. Er kritisiert in dieser Arbeit jene Leute, die sich wundern, wenn Mystiker anfangen zu denken. Jonas schreibt: »Als ob nicht das Denken selber ein mystischer Vollzug (bis zur Ekstase), der Intellekt ein mystisches Organ werden kann ... so wenigstens dachte die Antike. Freilich schon die seit Parmenides der ganzen Antike unverlierbar gewordene Grundüberzeugung ist der modernen Sophistik nicht mehr erschwinglich: daß das Denken der Zugang zum Sein ist, und zwar der eigentlichste Zugang zum eigentlichsten Sein. Und daß im Denken das Sein wahrhaft erfaßt wird.« In einer Zeit, in der Szientismus und technisches Denken auf der einen Seite, ein sich für mystisch haltender Irrationalismus auf der anderen die zwei Seiten der Medaille der Modernität bilden, wirkt das Geltendmachen eines solchen integralen Vernunftbegriffs wie die Stimme aus einer fernen Welt. Und doch ist diese Stimme aktueller geworden als vieles andere. Sie spricht nicht von dem, was gestern war, und nicht von dem, was heute oder morgen, sondern von dem, was immer ist. In Zeiten raschen geistigen und gesellschaftlichen Wandels scheint das, was immer ist, unwirklicher zu werden. Erst wenn die Gefährdungen durch diesen schnellen Wandel offenkundig werden, beginnen wir zu begreifen, daß nichts wirklicher ist als das, was immer wirklich ist, und heute nichts wichtiger als das, was immer wichtig ist. Jonas schreibt einmal in einem Vortrag über »Wandel und Bestand«: »In dem Augenblick, da wir dabei sind, alles noch auf Erden übrige Geschichtslose zu zerstören, indem wir seine Träger in die Geschichte zwingen, tun wir gut daran, uns zu erinnern, daß Geschichte nicht das letzte Wort der Menschheit ist.«
Hans Jonas hat den Historismus nie für das letzte Wort über den Menschen gehalten und die Moderne nie für etwas anderes als eine - wenngleich wichtige - Episode. Daß die sich ständig beschleunigende Dynamik gesellschaftlichen Wandels für die nächsten 100000 Jahre das Leben des homo sapiens bestimmen wird, daß die Menschen im Jahre 5000 noch »moderne Menschen« sein werden, ist ja reine Phantastik. Entweder die Menschheit wird durch diese Dynamik aus der Bahn geschleudert, die ihr ihre Natur vorzeichnet, und kommt so zu einem baldigen Ende, oder sie findet erneut zu einem relativ geschichtslosen, aber deswegen nicht weniger menschlichen Gleichgewichtszustand, und zwar, wenn überhaupt, dann bald.
Unser Denken ist nicht unabhängig von dem, was wir erfahren. Hans Jonas hat Weltgeschichte in erster Linie als Einbruch, als Beeinträchtigung der Normalität des Lebens erfahren. Ihren Herausforderungen ist er nicht ausgewichen. Sein Weg, der Weg eines angesehenen mitteleuropäischen Gelehrten, schien dem Schüler Heideggers und Bultmanns vorgezeichnet. Bis heute ist seine Gnosis-Arbeit von 1934 ein Standardwerk. Als es in Deutschland mit einem Vorwort von Bultmann erschien, hatte der Autor sein Vaterland schon verlassen, wohl wissend, daß ein Mensch, der nicht irgendwo Bürger ist, auch seines Rechtes als Mensch nicht mehr sicher sein kann. Jonas ging zunächst nach England, dann nach Palästina, als Dozent der Hebräischen Universität von Jerusalem. Beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges meldete er sich zur Britischen Armee. Angesichts des Versuches der nationalsozialistischen Revolution, die Emanzipation von einer zweitausendjährigen römisch-klassischen und jüdisch-christlichen Gesittung zum Triumph über den Rest Europas zu führen, flüchtete er sich nicht in antifaschistische Reflexionen. sondern beteiligte sich ohne große Worte an der physischen Niederwerfung der Barbarei.
Seine Rückkehr nach Deutschland geschah in der Uniform des Siegers. Ich bringe die Selbstverständlichkeit und unbefangene Freundlichkeit, mit der Jonas sich seither im Land seiner Geburt und seiner Jugend bewegt, mit diesem befreienden Umstand in Zusammenhang. Sieg macht dumm - sagt man. Aber Hans Jonas' Gedanken waren nie Siegergedanken. Denn Jonas hatte auch im Krieg nicht über den Krieg philosophiert, er hat weder den Heroismus verherrlicht noch den Krieg zur Friedensaktion umgedeutet. Worüber er zu jener Zeit nachzudenken begann, war das Wesen des Lebendigen. »Voll Ungeduld« - wie er selbst schreibt - »nach dem Zivilleben, um in der Ruhe, die ich mir nach so viel Weltgeschichte noch erhoffte, die fern von Büchern herangereiften Ideen systematisch auszuarbeiten«. Jonas tat dies seit 1949 in Kanada und in den Vereinigten Staaten, wohin ihn nach dem Krieg sein Weg führte, zuletzt in die New School for Social Research, deren Glanz deutschen Emigranten soviel verdankte. Das »Prinzip Verantwortung« schrieb er nach langer Zeit erstmals wieder in deutscher Sprache.
Lieber Herr Jonas, wir ehren Sie heute als einen Mann des Friedens. Der zweite, nach dem Krieg erschienene Gnosis-Band trägt die Widmung: »Dem Andenken meiner Mutter. Auschwitz 1942«. Das Grauen, das sich mit diesem Namen verbindet, mag durch historische Wissenschaft kommensurabel gemacht werden. Das geschieht heute. Es kann wohl nicht anders sein. Wenn Wissenschaft sich mit etwas zu beschäftigen beginnt, so heißt das, daß sie es der Optik der Vergleichbarkeit unterwirft. In Wirklichkeit ist in sich selbst kein Ereignis, das durch Menschen bewirkt wird, vergleichbar. Mit Bezug auf Auschwitz fühlen wir diese Inkommensurabilität unmittelbar. Wir fühlen, daß das, was der Historiker von Amts wegen damit tut, die Sache selbst nicht erreicht.
Sie hat eine metaphysische Dimension. Sie berührt den Sinn der Welt, sie berührt das, was Sie, Herr Jonas. einmal »den Frieden des unsichtbaren Reiches« genannt haben. »Eine Wolke des Kummers und der Anklage« - so sagten Sie -»hängt über unserer Welt. Sie verlangt Wiedergutmachung, sie verlangt Rettung des Friedens des unsichtbaren Reiches. Eine große Anstrengung ist« - so fuhren Sie fort - »von uns Lebenden verlangt, den Schatten von unserer Stirne zu lüften und denen, die nach uns kommen, eine neue Möglichkeit der Seelenheiterkeit dadurch zu verschaffen, daß wir sie, die Gemordeten, der unsichtbaren Welt zurückgeben. Und wir tun dies, wenn wir im Angesicht der Bombe und all dessen, was sie symbolisiert, das göttliche Abenteuer auf Erden nicht im Stich lassen.«
Niemand von uns hätte das Recht, in die Gemeinschaft der Wiedergutmachungspflichtigen Lebenden ausgerechnet Sie, Herr Jonas, einzubeziehen. Daß Sie selbst dies taten, indem Sie in diesem Zusammenhang mit unprätentiöser Selbstverständlichkeit von »uns Lebenden« sprechen, das zeigt, daß Sie das Geheimnis des Friedens kennen. Es macht Sie für uns alle zu einem Lehrer des Friedens.
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Robert Spaemann
Laudatio
Je freier die Gesellschaft selber ist, je weniger also die natürliche Gattungsfreiheit durch die Herrschaft von Mensch über Menschen beeinträchtigt wird, desto evidenter und unerlässlicher wird im zwischenmenschlichen Verhältnis die Pflicht freiwilliger Begrenzung. Vergleichbares nun tritt ein im Verhältnis der Menschheit zur Natur.
Hans Jonas - Dankesrede
Hans Jonas
Technik, Freiheit und Pflicht
Dankesrede
Bewegten Herzens und auch beklommen über die Größe der Ehrung, in die noch hineinzuwachsen mir keine Zeit mehr bleibt, danke ich dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels für die Verleihung und den Vorrednern für ihre Worte, ganz besonders Ihnen, Herr Spaemann, für Ihre großherzige Würdigung meines Denkens und Wollens. Auch ich mußte mir die Frage vorlegen, womit denn mein Werk, obwohl es nicht ausdrücklich vom Frieden spricht, für diese Auszeichnung in Betracht kam. In der Erklärung seiner Wahl sagt der Stiftungsrat für den Friedenspreis »Frieden gründet auf Verantwortung«, damit eine Brücke schlagend zwischen dem Begriff des Friedens und dem vorherrschenden Thema meiner Altersschriften. In der Tat versteht es sich im Atomzeitalter von selbst, daß Friede als Nichtkrieg zwischen Nationen, zumal den Supermächten, zur allerersten und hinfort permanenten Aufgabe weltweiter Verantwortung geworden ist. Hier wird nur am grellsten sichtbar, daß die übergroße Macht unserer Technik Verhütung zum Hauptauftrag an die Verantwortung macht. Aber eben nicht hier allein. Auch unsere friedliche Technik, mit der heute die Menschheit dem Planeten ihren Alltag abgewinnt, birgt ihr Unheilspotential in sich - ein absichtsloses, nicht jähes, sondern schleichendes, das mit kürzeren oder längeren Karenzzeiten ihre gewollten und oft so benötigten Werke gerade im Erfolg wie ein wachsender Schatten begleitet. Die Karenzzeiten sind Gnadenfristen, die im Vormarsch des Fortschrittes schrumpfen. Das auftausend Wegen sich Heranstehlende zu vermeiden, ist schwerer als die einmalig-eindeutige Untat des Krieges. Die Wahl einfacher Tatenthaltung ist uns da versagt. Denn wir müssen ja mit der technischen Ausbeutung der Natur fortfahren. Nur das Wie und Wieviel davon steht zur Frage; und ob wir dessen Herr sind oder es werden können, wird zur ernstesten Frage an die menschliche Freiheit. Um diese Frage geht es mir auch in den heutigen Betrachtungen.
Es ist in Frankfurt wohl am Platze, sie mit Worten von Goethe zu eröffnen. Der sterbende Faust spricht sie in Vorschau des Triumphes menschlicher Naturbezwingung, die er als sein Alterswerk unternommen hat - die Gewinnung neuen Kulturlandes vom Meere.
Im Innern hier ein paradiesisch Land,
Da rase draußen Flut bis auf zum Rand,
Und wie sie nascht, gewaltsam einzuschießen, Gemeindrang eilt, die Lücke zu verschließen.
...
Und so verbringt, umrungen von Gefahr,
Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr.
Solch ein Gewimmel möcht ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.
Welch herrliche Vision! Bejahenswerter kann der Angriff der Technik auf die Natur nicht dargestellt werden. Böse Mittel zwar -Teufelsbündnis, Unrecht, Gewalttat - verdunkeln im Drama selbst den Weg zu dem glorreichen Ziel, doch dieses strahlt in seinem eigenen Glanz. Strahlt es auch uns noch? Gibt die Schau des schon Erblindeten noch wieder, was wir heute von den Siegen der Zivilisation über die Natur denken müssen? Schon zu Goethes Zeit, zu Beginn der industriellen Revolution, war das Bild vorwiegend agrarischen Glückes überholt. Schon sah auch das neu entstehende »Gewimmel« - um die Schlote, nicht die Bauernhöfe - ganz anders aus als das von Faust erträumte.
Vor allem aber müssen wir das »umrungen von Gefahr« mit dem unsrigen vergleichen. Faust spricht von der draußen rasenden Flut, die einzuschießen droht. Kommt uns die Gefahr noch von außen? Von dem wilden Element, dessen Einbruch in das umwallte Kunstgebilde der Kultur wir abwehren müssen? Zuweilen immer noch. Aber eine neue und gefährlichere Flut rast jetzt darinnen und schießt zerstörend nach außen - die überschießende Kraft unserer Kulturtaten selber. Von uns her öffnen sich die Lücken, wir schlagen die Breschen, durch die sich unser Gift über den Erdball ergießt, die ganze Natur zur Kloake des Menschen verwandelnd. So haben sich die Fronten verkehrt. Wir müssen mehr den Ozean vor uns als uns vor dem Ozean schützen. Wir sind der Natur gefährlicher geworden, als sie uns jemals war. Am gefährlichsten sind wir uns selbst geworden, und das durch die bewundernswertesten Leistungen menschlicher Dingbeherrschung. Wir sind die Gefahr, von der wir jetzt umrungen sind - mit der wir hinfort ringen müssen. Ganz neue, nie gekannte Pflichten erstehen daraus dem rettenden Gemeindrang.
Jeder von Ihnen weiß, wovon ich im Gleichnis der Flut und der Breschen gesprochen habe. Die nukleare, ökologische, bio-ethische. gentechnologische Debatte dieser Jahrzehnte bringt es unaufhörlich zu Wort - ein wachsender öffentlicher Chor mit wachsender Thematik, in dem meine Stimme eine unter vielen ist. Aus der Euphorie des faustischen Traumes sind wir ins kalte Tageslicht der Furcht erwacht. Es darf nicht das des Fatalismus sein. Nie darf apokalyptische Panik uns vergessen machen, daß die Technik ein Werk der uns Menschen eigenen Freiheit ist. Taten dieser Freiheit haben uns zum gegenwärtigen Punkt gebracht. Taten derselben Freiheit - die sie bleibt trotz der selbstgeschaffenen Zwänge zum Fortfahren auf der eingeschlagenen Bahn - werden über die globale Zukunft entscheiden, die zum ersten Mal in ihren Händen liegt. Ich spreche von der Freiheit als Gattungseigenschaft, die noch nicht die politische ist, sie aber ermöglicht. Über sie, ihre natürliche Wurzel, ihren Weg in der Technik, ihre Pflicht und - zaghaft - auch über ihre Hoffnung, möchte ich nun etwas sagen.
1. Die Freiheit des Menschen gründet als Gattungseigenschaft in der organischen Ausstattung seines Leibes. Da ist die aufrechte Haltung, die zum Umgang mit den Dingen freie Hand, der vorwärtsgerichtete Blick, die endlos modulierbare Stimme und über dem allen das erstaunliche Gehirn, das zentral überdiese Vermögen verfügt. Die Verfügungsgewalt beginnt schon darinnen: Die Einbildungskraft kann die erinnerten, den Augen verdankten Bilder der Dinge nach Willen umbilden, neue entwerfen. Mögliches sich vorstellen. Die Hand dann, dem Willen hörig, kann das innere Bild nach außen übersetzen und ihm gemäß die Dinge selbst umbilden - zum Beispiel zu Werkzeugen für weiteres Umbilden. Und die ebenfalls dem Willen hörige Stimme formt die Sprache, dies souveränste sinnliche Medium der Freiheit. Nach außen macht sie die Gesellschaft als Dauersubjekt wachsenden Wissens möglich, nach innen den Gedanken, der sich über die Sinnenvorstellung erhebt. So ausgestattet mit doppelter Freiheit, geistiger und leiblicher, betritt der Mensch seine Bahn und breitet seine Kunstwelt als Werk dieser Freiheit in der Naturwelt aus. So will es seine eigene Natur, und die übrige Natur muß es erleiden.
2. Was bedeutet das für diese? Bis dahin war das Gesetz der Lebensvielfalt, daß der Kampf ums Dasein unter den Arten auf ein ungefähres Gleichgewicht hinausläuft, in dem sich das Ganze im Widerstreit der Teile erhält. Die Vielfalt selber entstammte schon dem Kampfe, der sie laufend bewahrt und langsam verändert im Hervorgang neuer Arten um den Preis vergehender. Insofern gilt hier das Wort Heraklits, daß der Krieg der Vater aller Dinge sei. Aber es ist ein im Wesen auf Koexistenz abgestimmter Krieg, in dem jeder nur tun kann, was die Art ihm vorschreibt, und auch der Stärkste zuletzt dem gemeinsamen Haushalt zurückgibt, was er von ihm nahm. Aber nun ist ein neuer Stärkster aufgetreten, der all dies umwirft. Mit der einseitigen Überlegenheit seiner nicht mehr natürlichen, sondern künstlichen Waffen ist der Mensch aus dem Kreis symbiotischen Gleichgewichts ausgebrochen. Er rottet aus, wo bis dahin der Streit nur Schranken setzte. Er gibt nicht mehr brauchbar zurück, was er dem Ganzen nimmt. So treibt er Raubbau an ihm. Im Erwerb seiner Übermacht war er sehend, ist sie doch ein Werk immer höherer erfinderischer Intelligenz; in ihrem Gebrauch war er blind und konnte es so lange bleiben, wie die Strafen der Erde immer noch vom Lohn der Siege überglänzt wurden. Diese lange Schonzeit der Blindheit ist vorbei. Das Verhältnis von Mensch und Natur ist in eine neue Phase eingetreten.
3. Was ist das Neue, und wie kam es dazu? Ein Faktor ist der biologische unserer rasanten Vermehrung, deren organischer Bedarf allein die planetarischen Nahrungsquellen zu überfordern droht. Aber dem liegt ursächlich schon ein ganz und gar Unorganisches zugrunde: der qualitative Sprung in unserer technologischen Macht, den der kaum zweihundert Jahre alte Bund zwischen Technik und exakter Naturwissenschaft bewirkte. Durch dies epochale, einzigartig westliche Praktischwerden reiner Theorie ist die Überlegenheit des Menschen so einseitig geworden, seine Eingriffe nach Größe, Art und Tiefgang so bedrohlich für das Ganze jetziger und künftiger Erdnatur, daß die Freiheit auch hierin endlich sehend werden mußte. Sie sieht: der zu große Sieg bedroht den Sieger selbst.
Das qualitativ Neue sei an einem einzigen Beispiel illustriert, das auch erklärt, was ich mit dem neuen »Tiefgang« unserer Eingriffe meine. Alle vormoderne Technik war makroskopisch, wie es das älteste Werkzeug war und heute noch die Maschine ist. Mit den Größen der sichtbaren Körperwelt hantierend, hielt sich die Technik sozusagen noch an die Oberfläche der Dinge. Seither ist sie in die molekulare Ebene hinabgestiegen. Diese kann sie jetzt manipulieren, von dorther nie gewesene Stoffe erbauen, Lebensformen ändern, Kräfte freisetzen. Nie vorher ist Kunst der Natur so in ihren Elementen zu Leibe gerückt. Vom Untersten her regiert sie jetzt das Oberste, vom Kleinsten das Größte. Dies Schöpfertum am »Kerne« bedeutet mit neuer Macht neue Gefahr. Eine ist die Belastung der Umwelt mit Substanzen, die ihr Stoffwechsel nicht bewältigen kann. Zur mechanischen Verwüstung tritt chemische und radioaktive Vergiftung hinzu. Und in der Molekularbiologie erscheint die prometheische Versuchung, vom Keime her verbessernd an unserem eigenen »Bilde« zu basteln.
Die gesteigerte Macht entstammt also gesteigertem Erkennen. Dasselbe Erkennen nun, das in der Technik waltet, setzt uns auch instand, ihre globalen und künftigen Auswirkungen zu errechnen. Dafür sehend gemacht, muß die Freiheit erkennen: durch sie selbst steht das Ganze auf dem Spiel, und sie allein ist dafür verantwortlich. Damit komme ich von Wurzel und Macht zur Pflicht unserer Freiheit.
4. Daß sie sich Grenzen setzt, ist erste Pflicht aller Freiheit, ja, die Bedingung ihres Bestands, denn nur so ist Gesellschaft möglich, ohne die der Mensch nicht sein kann und auch nicht seine Herrschaft über die Natur. Je freier die Gesellschaft selber ist, je weniger also die natürliche Gattungsfreiheit durch die Herrschaft von Mensch über Menschen beeinträchtigt wird, desto evidenter und unerläßlicher wird im zwischenmenschlichen Verhältnis die Pflicht freiwilliger Begrenzung. Vergleichbares nun tritt ein im Verhältnis der Menschheit zur Natur. Wir sind freier darin geworden durch unsere Macht, und eben diese Freiheit bringt ihre Pflichten mit sich. Schritthaltend mit den Taten unserer Macht reicht unsere Pflicht jetzt über den ganzen Erdkreis und in die ferne Zukunft. Sie ist unser aller Pflicht, denn wir alle sind Mittäter an den Taten und Nutznießer an den Gewinnen der kollektiven Macht. Jetzt und hier, so sagt uns die Pflicht, sollen wir unsere Macht zügeln, also unseren Genuß kürzen, um einer künftigen Menschheit willen, die unsere Augen nicht mehr sehen werden. Ist unsere moralische Natur auch dafür ausgerüstet, wie sie es für das zwischenmenschliche Nahverhältnis ist? Gerechtigkeit, Achtung, Mitleid, Liebe - Impulse dieser Art, die in uns schlummern und im konkreten Miteinander wachgerufen werden, helfen uns da aus der Enge der Selbstsucht heraus. Nichts Ähnliches ruft der abstrakte Inbegriff hypothetischer künftiger Menschenwesen in uns hervor; und Furcht vor Vergeltung fällt hier gänzlich weg. Aber wir haben die Idee der Verantwortung, sind stolz auf die Fähigkeit dazu; und das tief in uns angelegte Gefühl dafür, so urtümlich bekundet im Eltern-Kind-Verhältnis, wo es mit seiner Sorge bereits über alle Unmittelbarkeit hinaus in eine gar nicht mehr eigene Zukunft reicht: Dies Gefühl, zur Idee erweitert, kann die Brücke von der Nächstenethik zu dem Fernen, nur Vorgestellten schlagen, das noch mit keiner Stimme zu uns sprechen kann - von dem aber bekannt ist, daß es in die Willkür unserer Macht geraten ist. Verantwortung sagt, daß es ihr darum anvertraut ist.
Wer so spricht, muß sich allerdings die Frage gefallen lassen, die sich beim Säugling in der Wiege gar nicht erst stellt, ja, pervers wäre: Warum denn überhaupt dies Spätere sein soll - in unserem Fall: eine Menschheit auf Erden? ja, Leben überhaupt?
Mit der von mir versuchten und anderweitig vorgelegten Antwort darauf will ich Sie hier nicht plagen, sondern einfach Ihre Zustimmung unterstellen, gegen Schopenhauer, Buddhisten, Gnostiker und Nihilisten, daß die in endloser Werdemühe entstandene Vielfalt des Lebens als ein Gutes oder ein »Wert an sich« anzusehen ist und die zuletzt daraus hervorgegangene Freiheit des Menschen als Gipfel dieses Wertwagnisses des Seins. Das stellt die Träger dieser Auszeichnung mit ihrer Macht, die jetzt erkennbar das Ganze gefährdet, unter die besagte Pflicht. So erhält die Ethik zum ersten Mal eine quasi kosmische Dimension, über alles Zwischenmenschliche hinaus.
5. Dies zugestanden bleibt aber immer noch die Frage: An wen konkret richtet sich dieser Ruf? Wer kann ihm Folge leisten? Wer soll die Opfer bringen, die seine Befolgung verlangt? Ich sprach vorher von »unser aller Pflicht« und muß jetzt spezifischer werden. Das angesprochene »Wir« meint zuerst das der fortgeschrittenen Industriegesellschaften. Wir vom sogenannten »Westen« haben den technologischen Koloß geschaffen und auf die Welt losgelassen; wir sind weiterhin die Hauptverzehrer seiner Früchte und darin Hauptsünder an der Erde. Unserer Üppigkeit auch ist Einschränkung wohl zuzumuten. Es wäre obszön, den Hungernden verarmter Weltteile Umweltschonung zum Besten der Zukunft, gar noch der globalen, zu predigen. Sie zwingt die nackte Not des Tages zu eben dem Zerstören, das in noch größere Not späterer Jahre führt. Sie vorab aus diesem Zwang zu befreien, muß das Ziel aller Entwicklungshilfe sein, zu welchem sie ihrerseits freilich mindestens die Geburtenbeschränkung beitragen müßten. Doch das eigentliche Problem liegt bei den Reichen dieser Erde, den Prassern mit ihrer globalen Schuld und Pflicht. Es ist ein Problem nicht der Ohnmacht, sondern der Macht und damit - vorläufig immer noch - der Freiheit.
Aber wer ist hier ihr Subjekt? Die technologische Macht ist kollektiv, nicht individuell. Also kann nur kollektive Macht, und das heißt zuletzt: politische, sie auch bändigen. Diese aber geht in den parlamentarischen Demokratien vom Volke aus, das seine Regierungen wählt und dessen Willen sie ausführen sollen. Daher ist durch politische Freiheit auch jeder einzelne Subjekt der neuen Pflicht. Aber Mehrheiten entscheiden, und diese werden im Tageslauf der Dinge nicht von selbst auf seiten selbstloser Fernsicht sein, mit den Verzichten am verwöhnten Jetztinteresse, die sie verlangt. Und doch hängt der Fortbestand der Freiheit selber davon ab, denn sie würde verlorengehen in dem allgemeinen Bankrott, in den die ungehemmte Selbstindulgenz ausmünden muß. Was ich in diesem Zusammenhang einmal vom drohenden »Gespenst der Tyrannei« gesagt habe, ist mir statt als Warnung als Empfehlung ausgelegt worden: als ob ich der Diktatur für die Bewältigung unserer Probleme das Wort redete. Was ich meinte, war, daß in Extremsituationen kein Raum bleibt für die umständlichen Entscheidungsprozesse der Demokratie und wir es dazu nicht erst kommen lassen dürfen. Die Gattungsfreiheit des Menschen, seine biologische Mitgift, kann nur mit ihm untergehen; aber die politische Freiheit, eine besondere und geschichtlich seltene Ausprägung davon, kann sich auch wieder verscherzen. Sie würde es, wenn sie die bisher größte Probe aller menschlichen Freiheit für sich nicht besteht. Was sind die Aussichten, daß sie diese bestehen wird? Was ihre möglichen Mittel dazu? Hierzu kann ich nur sehr Unzureichendes sagen und nichts mit Sicherheit, die ja der unvorgreiflichen Natur der Freiheit nach nicht zu erwarten ist.
6. Da ist zuerst einmal der nicht-institutionelle Weg einer Erziehung des Allgemeinbewußtseins durch solche, die das Gewissen dazu treibt und Sachkenntnis dafür qualifiziert und die sich spontan in dieser Aufgabe zusammenfinden.
Die Erziehung besteht in nichts anderm als dem öffnen der Augen für das, was sie schon sehen. Ihre Beglaubigung, wie gesagt, ist Sachkenntnis, und schon deswegen müssen sie sich zusammentun, denn nur das vereinte Wissen vieler Fächer kann der enormen Streuung der Probleme einigermaßen gerecht werden. Unermüdliche Aufklärung durch solche Wortführer kann einen Druck der öffentlichen Meinung erzeugen, dem dann auch Widerstrebende sich beugen. Ich denke also, Gott behüte, nicht an charismatische Führer, sondern ein Immer-mehr von dem sehr Nüchternen, das seit einiger Zeit in Amerika und Europa wie eine neuentstehende »Internationale« über Ländergrenzen hinweg schon im Gange ist: das stete Lautwerden sachlicher Einsicht und Sorge, die von jedem Verdacht des Interesses frei ist. Der Widerhall darauf bezeugt, daß dies nicht ganz ohne Wirkung ist - zunächst auf das öffentliche Bewußtsein und von da vielleicht auch auf das Verhalten, privates und politisches. Da liegt eine der Chancen der Freiheit, die Hoffnung gibt.
7. Aber mit der nicht-institutionellen Spontaneität ist es auf die Dauer nicht getan. Der grundsätzliche Konsens, den sie günstigenfalls erzielen kann, muß staatsrechtlich befestigt werden. Auf diesem Felde bin ich unbewandert. Von berufener Seite habe ich mir sagen lassen, daß sich da an vorgreifende Verfassungsbestimmungen denken läßt, die technische Neuentwicklungen besonders folgenträchtiger Art mit vielleicht irreversiblen Auswirkungen auf das Leben künftiger Generationen dem Belieben des Marktes entziehen und besonderer legislativer Entscheidung vorbehalten, die erschwert sind durch längere Moratorien, qualifizierte Mehrheiten und dergleichen. Also zum Verfassungsschutz der Grundrechte des einzelnen ein Verfassungsschutz für die Grundpflichten des Ganzen gegenüber der Zukunft. Anders als dort gälte hier: Verboten ist, was nicht ausdrücklich erlaubt wird. So etwas könnte sich die Demokratie in vorgreifender Besinnung wohl auferlegen. Aber es bezöge sich eben nur auf Neues und jeweils Spezifisches, nicht auf das Unheilschwangere, das schon im Gange ist als ein Ganzes. Darin greift bis jetzt die öffentliche Gewalt nur hin und wieder ein, etwa durch Entsorgungsauflagen, meist nach schon sichtbar und fühlbar gewordenem Schaden. Die Flut als solche steigt weiter auch ohne neuen Zufluß. Sie einzudämmen, dem von ihr insgesamt drohenden Unheil vorzubeugen, erfordert Änderungen in unseren Verbrauchergewohnheiten, also in unser aller Lebensstil, und damit im gesamten Wirtschaftsgefüge, das ihm dient und gerade davon lebt. Wie das geschehen kann, ohne seinerseits Unheil anzurichten (wie Massenarbeitslosigkeit), das noch mehr schrecken würde als das entferntere Übel, das es verhüten soll, weiß ich nicht. Hier einen gangbaren Weg auf dem Grate zwischen zwei Abgründen zu finden, ist eine Aufgabe für Nationalökonomen. Opfer an Marktfreiheit würde er sicher verlangen, aber die politische Freiheit kann diese dabei überleben.
8. Soweit all dies nun, wegen des Willenselementes dabei auch eine Frage der Psychologie und nicht nur sachlicher Machbarkeit ist, so kann der nötigen Willigkeit etwas sehr Unfreiwilliges von den Dingen selbst her zu Hilfe kommen: der Schock wirklicher und wiederholter Katastrophen kleineren Ausmaßes, die uns den gehörigen Schrecken vor der großen Katastrophe einjagen, mit der die technologische Ausschweifung uns für die Zukunft bedroht. Tschernobyl und Waldsterben haben schon jetzt für die meisten mehr getan als alles Predigen abstrakter Weitsicht. Mehr davon und Alarmierenderes wird folgen. Es ist nicht schmeichelhaft für den Menschen, daß es dessen bedarf, aber für mich ist es Teil meiner bescheidenen Hoffnung. In einem Punkt ist sie gar nicht so bescheiden: Besagte Schocks - Schreckschüsse der gepeinigten Natur - kennen keine Hoheitsgrenzen und könnten schließlich die beiden technologischen Riesen, kapitalistischen Westen und kommunistischen Osten, zu gemeinsamer Abwehr der als gemeinsam erkannten Gefahr zusammenführen - also auch zu einem besseren Frieden als dem der gegenseitigen Abschreckung. Letztlich setzt bei alledem meine Hoffnung doch auf die menschliche Vernunft - dieselbe, die sich schon in der Gewinnung unserer Macht so stupend bewiesen hat und jetzt ihre Lenkung und Beschränkung in die Hand nehmen muß. An ihr zu verzweifeln, wäre selber unverantwortlich und ein Verrat an uns selbst.
Über eines müssen wir uns zum Schluß im klaren sein: Eine Patentlösung für unser Problem, ein Allheilmittel für unsere Krankheit gibt es nicht. Dafür ist das technologische Syndrom viel zu komplex, und von einem Aussteigen daraus kann nicht die Rede sein. Selbst mit der einen großen »Umkehr« und Reform unserer Sitten würde das Grundproblem nicht verschwinden. Denn das technologische Abenteuer selber muß ja weitergehen; schon die rettenden Berichtigungen erfordern immer neuen Einsatz des technischen und wissenschaftlichen Ingeniums, der seine eigenen neuen Risiken erzeugt. So ist die Aufgabe der Abwendung permanent, und ihre Erfüllung muß immer Stückwerk bleiben und oft nur Flickwerk.
Das bedeutet, daß wir wohl in alle Zukunft im Schatten drohender Kalamität leben müssen. Sich des Schattens bewußt sein aber, wie wir es jetzt eben werden, wird zum paradoxen Lichtblick der Hoffnung: Er läßt die Stimme der Verantwortung nicht verstummen. Dies Licht leuchtet nicht wie das der Utopie, aber seine Warnung erhellt unsern Weg - zusammen mit dem Glauben an Freiheit und Vernunft. So kommt am Ende doch das Prinzip Verantwortung mit dem Prinzip Hoffnung zusammen - nicht mehr die überschwengliche Hoffnung auf ein irdisches Paradies, aber die bescheidenere auf eine Weiterwohnlichkeit der Welt und ein menschenwürdiges Fortleben unserer Gattung auf dem ihr anvertrauten, gewiß nicht armseligen, aber doch beschränkten Erbe.
Auf diese Karte möchte ich setzen.
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Hans Jonas
Dankesrede des Preisträgers
Chronik des Jahres 1987
+++ Auf dem Deutschlandtreffen der CDU in Dortmund bezeichnet Bundeskanzler Kohl im Januar 1987 die DDR als »Regime, das politische Gefangene in Gefängnissen und Konzentrationslagern hält«. +++ Bei dem Londoner Auktionshaus Christie’s ersteigert im März ein anonymer ausländischer Sammler das Gemälde Sonnenblumen von Vincent van Gogh für umgerechnet 72,5 Millionen dm – die höchste Summe, die bis dahin für ein Gemälde bezahlt worden ist. +++
Generalsekretär Gorbatschow hält auf einer Sitzung des ZK der KPdSU ein Grundsatzreferat über die Umgestaltung der Gesellschaft und der inneren Parteistrukturen, in dessen Verlauf er schonungslos auf die Mängel und Fehler der Breschnew-Ära hinweist. Er fordert die Entwicklung des »demokratischen Sozialismus« durch mehr innerparteiliche Demokratie. Als Leitlinien gibt Gorbatschow hierzu die Begriffe »Glasnost« und »Perestroika« aus. +++ Beim Gipfeltreffen von US-Präsident Reagan und Gorbatschow in Washington kommt es im Dezember zum Abschluss des Vertrages zur Beseitigung der Mittelstreckenwaffen. +++ In Ost-Berlin kommt es im Juni zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und der Volkspolizei, nachdem Sicherheitskräfte versuchen, etwa 3000 Rockfans, die vom Brandenburger Tor aus ein Rockkonzert vor dem Reichstagsgebäude in West-Berlin mithören wollen, den Zutritt zu verwehren. Trotz eines großen Polizeiaufgebots fordern die Menschen den Abriss der Mauer und Freiheit. Im September kommt es zu Demonstrationen unabhängiger Friedensgruppen gegen die atomare Rüstung in Ost und West. Die Sicherheitsorgane der DDR schreiten nicht ein. Beobachter vermuten die bevorstehende erste Reise eines DDR-Staatschefs in die Bundesrepublik als Grund für diese Zurückhaltung. +++ Am 11. November wird der zurückgetretene Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, Uwe Barschel (CDU), tot in der Badewanne in einem Zürcher Hotel aufgefunden. Die Todesursache bleibt ungeklärt. Barschel musste wegen des Vorwurfs zurücktreten, dass er den SPD-Spitzenkandidaten für die bevorstehenden Landtagswahlen, Björn Engholm, habe bespitzeln lassen.+++
Biographie Hans Jonas
Hans Jonas, geboren am 10. April 1903 in Mönchengladbach, studiert Philosophie, Kunstgeschichte und Theologie und promoviert 1928. 1934, kurz vor Erscheinen seines Werkes Gnosis und spätantiker Geist, emigriert er zunächst nach England, dann nach Palästina.
Nach dem Krieg, an dem er als britischer Soldat teilnimmt, kehrt er nach Jerusalem zurück, um dort als Dozent an der Hebräischen Universität in Jerusalem zu unterrichten. 1949 siedelt Hans Jonas nach Kanada und später in die USA über, wo er ab 1955 bis zu seiner Emeritierung 1976 an der New School for Social Research in New York lehrt. Ein Kernpunkt seiner Arbeit ist die Forderung an den Einzelnen, ethische Verantwortung für Leben und Natur zu übernehmen und sich in die wissenschaftliche und technische Entwicklung einzumischen.
Mit seinem Buch Das Prinzip Verantwortung (1979), das zum Standardwerk über die grundlegenden ethischen Risiken von neuen Technologien ohne soziale Steuerung wird, erlangt er weltweite Aufmerksamkeit. Seine hier geforderte »Fern-Ethik« bürdet dem Einzelnen auch die Verantwortung für das Entfernteste auf, das heißt auch für Kriege in anderen Ländern und für Hunger und Armut in der Welt.
Hans Jonas stirbt am 5. Februar 1993 im Alter von 89 Jahren.
Auszeichnungen
1989 Verdienstkreuz des Landes NRW
1989 Ehrenbürger der Stadt Mönchengladbach
1988 Gr. Bundesverdienstkreuz
1987 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
1984 Leopold-Lucas-Preis
Bibliographie
Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, (Erstausgabe 1979), Klappenbroschur, 400 Seiten, ISBN 978-3-518-42954-9, 18.00 EUR
Erinnerungen
Insel Verlag, Frankfurt am Main 2003, Gebunden, 495 Seiten, ISBN 9783458171560, 24.99 EUR
Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1994, Leinen, 408 Seiten, ISBN 978-3-458-16649-8, 24.99 EUR