Der Stiftungsrat hat den deutschen Schriftsteller Siegfried Lenz zum Träger des Friedenspreises 1988 gewählt. Die Verleihung fand während der Frankfurter Buchmesse am Sonntag, 9. Oktober 1988, in der Paulskirche zu Frankfurt am Main statt. Die Laudatio hielt Yohanan Meroz.
Begründung der Jury
Den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verleiht der Börsenverein im Jahre 1988 Siegfried Lenz, dem Schriftsteller, dessen vielgestaltiges literarisches Schaffen einen bedeutenden Beitrag zur Durchdringung der deutschen Vergangenheit und zur Frage der deutschen Identität leistet.
Siegfried Lenz beeindruckt durch seine gradlinige Haltung und überzeugt durch die klare Menschlichkeit und Wahrhaftigkeit seiner Prosa. Sein in viele Sprachen übersetztes Werk ist eine „Deutschstunde“ für Deutsche und für Leser in aller Welt und setzt deutliche Zeichen der Versöhnung und Verständigung.
Reden
Günther Christiansen
Grußwort des Vorstehers
Siegfried Lenz bezeugt und vermittelt hohe Moral, aber er ist kein Moralist; er lehrt eindringlich, ohne aufdringlich zu belehren. Er vertraut dem Leser; er übt ihm gegenüber das gleiche Maß an Toleranz, das er in von Zorn und Eifer freier Darstellung selbst walten läßt.
Yohanan Meroz - Laudatio auf Siegfried Lenz
Yohanan Meroz
Auf den Friedenspreisträger 1988
Laudatio auf Siegfried Lenz
Es wird berichtet, daß das Manuskript der ersten Übertragung des Faust ins Jiddische vor mehr als anderthalb Jahrhunderten dem Erzengel Gabriel den Wechsel von Paradieses-hölle mit tiefer, schauerlicher Nacht in den Mund zu legen versuchte. Den kleinen Wilnaer Verleger - unbewandert zwar in damals zeitgenössischer Literatur, doch mit gesunden Sinnen gesegnet - mutete die erstaunliche Metapher seltsam an, und so bat er den draufgängerischen Übersetzer um verständnisfördernde Erklärung. Dieser jedoch verwies ihn an den Dichter mit den Worten: »Wenn der große Goethe dieses Gleichnis wählt, wird er wohl wissen, was er sich dabei denkt.« Zu Ihrer Beruhigung darf ich festhalten, daß die Antwort den Frager nicht überzeugte; allerdings beraubte seine unbefriedigte Skepsis die Nachdichtkunst einer phantasievollen Stilblüte.
Ich erzähle dies nicht, um der anglo-amerikanischen Sitte zu entsprechen, daß auch Ernstes einer unbeschwerten Einführung bedarf, sondern weil ich mich heute dem eigenwillig-forschen, impressionistischen Vermittler deutscher Dichtung jener Tage nahe und wahlverwandt fühle.
Wenige Entscheidungen sind mir je schwerer gefallen als die bejahende Beantwortung des so unerwarteten wie überwältigenden Angebots des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, hier heute zu und über Siegfried Lenz zu sprechen. Nicht oft bemühte, nicht immer ganz überzeugende Demut oder Bescheidenheit lösten das Zögern aus, sondern die ungeschminkte Erkenntnis objektiver Unzulänglichkeit jemandes, der weder Friedensforscher noch berufener Richter literarischen Schaffens ist. Wenn ich den Auftrag nach vielen Stunden innerer Einkehr dennoch angenommen habe, so tat ich es aus zwei Gründen - aus natürlicher, tiefer und bewegter Dankbarkeit gegenüber einem teuren Freund, nicht minder aber auch, weil ich in der Würdigung eines hervorragenden deutschen Zeitgenossen durch einen Israeli an diesem, von positivem Geschichtsgeschehen getragenen Ort einen weiteren Markstein auf dem langen Wege deutsch-jüdischer Entkrampfung sehe.
Ich ließ dich meine Bedenken wissen, Siegfried. Zwar hast du sie nicht völlig ausgeräumt, aber in deiner lieben Art doch so weit beschwichtigt, daß ich beschloß, mich dem Wagnis zu stellen. Du erteiltest mir fast einen Freibrief, über alles zu sprechen, was mir in den Sinn kommt; dieser Großzügigkeit durfte ich mich nicht verweigern.
Ich bitte um Verständnis und Nachsicht. Nicht ungebührliche Aufdringlichkeit verleitet mich, von mir zu sprechen; auch im folgenden werde ich unkonventionelle Ichbezogenheit nicht ausklammern können. Sie ist mit dem verflochten, was uns zusammenführt, und es ist mir wichtig, daß Sie die Beweggründe sowohl des Zögerns wie auch der Zustimmung kennen. Vielleicht werden sie Ihrer Bereitschaft zu freundlicher Nachsicht eine Stütze sein; in jedem Fall bestimmen sie mein Bemühen, der Bedeutung dieser Feierstunde gerecht zu werden. Wenn es an objektiver Befähigung mangelt, ist man nolens-volens auf Subjektives angewiesen, und dazu gehört nun einmal das Fürwort »ich«.
So setze ich auf ganz persönlicher Ebene an, in bekennender Beschränktheit - vielleicht im Doppelsinn des Wortes -, doch von dem aufrichtigen Wunsche getrieben, des Vertrauens und der teuren Beziehung würdig zu sein.
Aus Gründen, die wohl kaum der Erläuterung bedürfen, kam ich erst lange nach dem Krieg mit deutscher Literatur in Berührung. Zwar hatte ich mich nie »grundsätzlich« weder von der Sprache getrennt noch von ihren hervorragenden Trägern aus anderen Zeiten losgesagt, aber in der lebendigen Wirklichkeit von Schreckens- und Leidenserinnerung war das Prinzip theoretischer Differenzierung nahezu bedeutungslos.
Die frühen Erzeugnisse der neuen deutschen Literatur - in West und Ost - waren mir unbekannt; die Namen sagten mir nichts. Es fehlte sowohl die innere Bereitschaft wie vor allem die Fähigkeit, die Überbrückbarkeit von Unvergänglich-Vergangenem und einer anderen Gegenwart - und gar möglicher Zukunft - auf die Probe zu stellen. Neugier und Interesse hielten sich in engen Grenzen; wo sie bestanden, galten sie anderen Bereichen.
Mitte der fünfziger Jahre - ich war in Amerika auf Posten - verbrachte ich einmal einige Tage auf der Durchreise in Paris. Bei einer Begegnung mit Manès Sperber, die wir mit einem guten Sancerre begossen, tauschten wir unsere Gedanken und Reminiszenzen aus (nach seiner Absage an den Kommunismus hatte er sich dem linken Flügel der zionistischen Bewegung genähert, der einst auch meine politische Heimat gewesen war) - bei dieser Begegnung also fragte er mich plötzlich, ob mir der Name Siegfried Lenz ein Begriff sei. Als ich dies verneinte und erklärend hinzusetzte, daß mein Interesse an neuem deutschen Kulturgut gering sei, erwiderte er, daß er das wohl verstehe, doch habe jede Regel ihre Ausnahme, und er empfahl mir, sie einmal walten zu lassen. Bevor sich die Gelegenheit bot, seinen Rat zu beherzigen, vergingen mehrere Jahre.
Erst 1959, als ich ganz unerwartet nach 26 Jahren zum ersten Male wieder in Deutschland war - nicht dem eigenen Triebe gehorchend, sondern höherer Anweisung, der ich mich nur ungern fügte -, begann ich, trotz mancher bis heute nicht beseitigter Fragezeichen, die Gegenwart eines neuen Humanismus von Geist und Herz zu erleben, der mich immer noch in Atem hält. »Es waren Habichte in der Luft«, zu der Zeit schon fast zehn Jahre alt, gehörte damals und gehört im Rückblick noch heute zu den frühesten Anstößen einer allmählichen Umstellung, die mich, der Fragezeichen ungeachtet, seither begleitet. Es war die erste Begegnung mit Siegfried Lenz, lange bevor wir uns kennenlernten und Freunde wurden; es war die erste vieler Deutschstunden, der ich bedurfte, um Grundsätze in die Praxis umsetzen zu können. Die Bedeutung dieses ersten Romans lag für mich damals besonders darin, daß er sich äußerlich nicht mit dem zu befassen scheint, was im Mittelpunkt der deutsch-jüdischen Thematik steht. Äußerlich. Ohne in jener Zeit mit der Lenzschen Biographie vertraut zu sein und in den finnischen Wäldern die dänischen seines Eigenerlebens zu erkennen, waren mir jedoch Stenka und Erkki Vermittler eines Gleichnisses, in dem ich sicher war, Unausgesprochenes zu finden. Alles, was später folgte, bestätigte die Eindrücke und Empfindungen der ersten Begegnung.
Was Friede besagt, ist bei diesen Anlässen, seit Max Tau vor 38 Jahren die Auszeichnung erhielt, Gegenstand unterschiedlicher Betonungen und Interpretationen gewesen, doch in einem herrschte stets Übereinstimmung: Friede ist nicht allein, und nicht in erster Linie, eine Funktion oder ein Zeugnis verstandesgeprägter und zweckbezogener Vernunft, Einsicht, Aufgeschlossenheit, Kompromißbereitschaft und vieles anderen mehr, sondern vor allem des innermenschlichen Bestrebens und Bedürfnisses, Erlebtes und Erfahrenes nicht nur zu »bewältigen«, sondern sich geistig und seelisch damit auseinanderzusetzen.
Die deutsche Sprache, Medium der deutschen Psyche, ist diesem Bedürfnis nicht immer gerecht geworden. Gewisse Begriffe, wie wohlmotiviert auch geprägt, erwecken Bedenken, darunter manche, die in den letzten Jahrzehnten in den Wortschatz eingingen und in nicht genügend durchdachten Sprachregelungen aufgenommen worden sind.
Die mit Gedanken- und Ausdrucksklarheit Begnadeten waren und sind sich der Schwierigkeit - ja, der gelegentlichen Unlösbarkeit - sprachlich angemessener und treffender Antworten bewußter als ihre weniger zimperlichen Mitmenschen. Siegfried Lenz hat die Gnade in höchstem Maße erfahren; er strahlt sie überzeugend aus.
In seinen 1980 veröffentlichten Überlegungen, nach einer ersten Begegnung mit israelischen Schriftstellern, fragt Lenz, was in Israel von deutscher Gegenwartsliteratur erwartet wird. Die Antwort ist, wie er schreibt, »ebenso naheliegend wie verständlich: keine >Aufarbeitung<, keine >Bewältigung<, sondern dies: nicht die Leiden zu übergehen, die das jüdische Volk durch uns erfahren hat«.
Genau. Nicht eine Wiederholung teils verfehlter, weil unglücklich gewählter, teils abgenützter Formeln wird erhofft, sondern aus Bewußtseinsstärke gewachsene und auf die Gegenwart bezogene Kenntnis und Vermittlungsfähigkeit. Die Antwort bestimmt im übrigen das Gesamtbild des deutsch-jüdischen, deutsch-israelischen Verhältnisses nicht allein auf dem Gebiet literarischer Erwartungen. Der wahrhaft historische Versuch eines neuen Brückenschlages kann nur dann Aussicht auf Erfolg haben, wenn er dieser Bestimmung nicht nur als bisweilen fast mechanisch bemühte Aussage dient, sondern in inhaltlicher Aufrichtigkeit praktischer Verwirklichung nähergebracht wird. Davon wird noch die Rede sein.
Das dem Außenstehenden wohl vertrauteste Wort der hebräischen Sprache - Schalom - ist hier an diesem Ort in der Vergangenheit des öfteren bemüht worden und, bezeichnenderweise, nicht nur, wenn der Gewürdigte der jüdischen Gemeinschaft angehörte.
Als Vision und Bekenntnis der Gottbegeisteten, der Propheten - Jesaja, Jeremia, Micha und anderer -, ist die Vokabel vermeintlich leicht deutbar und in ihrer prosaischen Übersetzung »Friede« überall geläufig und verständlich. Es ist ein ganz wesentlicher Bestandteil des Gedankenguts, des geistigen Vermächtnisses, das unter der Bezeichnung »jüdisch-christliches Erbe« von der westlich benamten Welt (nicht allein in geographischer Benennung) beansprucht und bei passenden Anlässen vorgezeigt wird.
Doch die einfache Übersetzung verkennt den tieferen Sinn. Zu den prägenden Merkmalen der semitischen Sprachen gehört der dreiläufige Wortstamm, der durch interne Flexion und Aufteilung in Haupt- und Nebenlaute eine Vielfalt inhaltlich-gedanklicher Betonungen und Erweiterungen anbietet, die andere Sprachfamilien nicht - oder nicht in vergleichbarem Maße - vorweisen.
Die linguistische Abschweifung ist nur scheinbar ohne Bezug. Bevor Schalom zum Inbegriff des äußeren Friedens aufrückte - von Mensch zu Mensch, Gemeinschaft zu Gemeinschaft -, bezeichnete seine Wurzel zunächst die innere Verfassung einer in sich abgeschlossenen Ganzheit und Vollkommenheit, der das Deutsche, im Anklang an den ursprünglichen Gehalt, mit dem Wort »Zufriedenheit« nahezukommen sucht. Jeremias verzweifelte Klage, an die Manès Sperber hier vor fünf Jahren erinnerte - »Friede, Friede, aber es ist kein Friede« -, ist zunächst nicht an Um- und Außenwelt gerichtet, sondern ist die ihn quälende Widerspiegelung, die Bestätigung, des frühen Gotteswortes aus dem achten Kapitel der Genesis, nach der Entlassung Noahs aus der Arche, das Buber so übertrug - »...weil das Gebild des Menschenherzens von seiner Jugend her bös ist...«
Es ist die Korrektur der Bosheit, des inneren Unfriedens, denen der schmerzvolle Ruf des Propheten nach Schalom gilt. Sie ist die Voraussetzung für ein erfolgreiches Bemühen um den äußeren Frieden, das menschliches Bangen und Sehnen durchzieht oder durchziehen sollte. Dieser Korrektur widmet sich Siegfried Lenz in einer Vielfalt von Gestalten und Formen, ohne einerseits die Grenzen des Möglichen zu verkennen, aber auch ohne sich von ihnen abschrecken zu lassen. Der junge Gedächtniskünstler in der Erzählung »Der Spielverderber« begibt sich auf eine riskante Gratwanderung, die das Bemühen um Korrektur fast allegorisch veranschaulicht.
Eine besonders starke Vergegenwärtigung der zentralen Themen seines Schaffens legt Lenz in einigen der kürzeren, zum Teil weniger bekannten Werke vor; in Bühnenstücken, Novellen und Essays. Die großen Romane sind erzählerische Meisterwerke auch für den, der nicht ungern problembehafteter Auseinandersetzung und Herausforderung aus dem Wege geht und vor allem fesselnde Darstellung sucht. Auch mich nahmen nach den »Habichten« zunächst die Romane in die erste Nach- und Aufholpflicht der vielen Wissenslücken. Sie sind natürlich hervorragende Vehikel der Botschaft, doch kommt bei ihnen auch der Unbekümmerte, der von Themen der Zeit vermeintlich Unbelastete oder Unberührte, mühelos zu seinem Recht.
Eine wesentliche Komponente des Menschen und des Dichters Lenz ist seine Zurückhaltung. Die beiläufige, beim Lesen nahezu unbeachtete oder übergangene thematische Vermittlung strahlt auf dem häufig mehrspurigen Umweg über Un- und Unterbewußtsein eine spätzündende, doch um so nachhaltigere Wirkung aus. Damit werden wir uns noch im Zusammenhang mit der Entschlüsselung befassen.
Ich sagte schon, daß ich einige der »kleineren«, manchmal fast miniaturhaft anmutenden Schriften als besonders prägnante Vertiefer der Suche nach innerem Frieden empfinde - im Zwiegespräch, im szenischen Rahmen oder im Gedankenaustausch zum Beispiel mit Kołakowski oder Sperber, - aber auch im Gespräch des Autors mit sich selbst, wie in seiner Rede im Hamburger Auditorium Maximum am 23. Juni 1976 oder in seinen Überlegungen zu Thorkild Hansens »Hamsun-Prozeß«.
Gewiß, im einzelnen ist das Tableau der Themen »an sich« nicht neu, doch selten hat es in seiner Gesamtheit eine so ausführliche - und dabei ausgeglichene - Behandlung erfahren: Macht und Willkür, ihre inneren Schranken und äußeren Grenzen; abgeleitet und in integraler Abhängigkeit von ihnen Fragen von Verantwortung und Schuld; nicht zuletzt das weite Geäst der Pflicht, wahrer wie vermeintlicher.
Siegfried Lenz bezeugt und vermittelt hohe Moral, aber er ist kein Moralist; er lehrt eindringlich, ohne aufdringlich zu belehren. Er vertraut dem Leser; er übt ihm gegenüber das gleiche Maß an Toleranz, das er in von Zorn und Eifer freier Darstellung selbst walten läßt. Wo Kläger auftreten, kommen auch Verteidiger zu Wort, in der Erwartung, daß das verhaltene Urteil unübersehbar ist. Es ist die Toleranz des Optimisten. Marcel Reich-Ranicki nennt Siegfried Lenz einen »gütigen Zweifler«. Dem Adjektiv ist gewiß nicht zu widersprechen, doch vielleicht darf es auf »gütig-hoffnungsvoll« erweitert werden?
Nicht immer allerdings ist der allzu oft krasser, simplistischer Schwarzweißmalerei ausgesetzte Leser der eigenen Entscheidung gewachsen. Ich erinnere mich an ein recht lautstarkes Gespräch, in dem mir ein Bekannter nach der Lektüre der Novelle »Ein Kriegsende« zu meiner Überraschung die Frage stellte, ob ich eigentlich wisse, wie der Autor »nun wirklich« zu der Meuterei auf dem Minensucher steht. Er sah sich zu Eigenbemühung genötigt, der er zwar nicht Unwillens war, die ihn jedoch zu überfordern schien.
Diese zufällige Erinnerung veranschaulicht eine wesentliche Problematik in der Wechselbeziehung zwischen Autor und Leser: das begriffliche Durcheinander von vermeintlicher Bewältigung von Vergangenheit und Geschichte (einer seit Jahrzehnten gern benützten, doch, wie bereits angedeutet, irreführenden Vokabel) und wirklicher Auseinandersetzung mit ihr. Nicht ohne Scham gestehe ich heute, daß es mir einmal ähnlich erging, als ich die »Deutschstunde« zum ersten Mal zu schnell und zu oberflächlich gelesen hatte. Ich war mir nicht sicher, wie Lenz »nun wirklich« zu dem bizarren Pflichtverständnis des Rugbüller Polizisten stand. Vielleicht war mein Augenmaß von den kurz zuvor wiedergelesenen Goetheschen Worten angeschlagen - »... wir Deutschen sind geneigt, uns in frühere Zeiten und Sitten, so abstehend und wunderlich sie auch sein mögen, mit einem heitern Patriotismus zu versetzen.«
Daß ich den Autor damals noch nicht persönlich kannte, bietet keine Erklärung, geschweige denn Entschuldigung, für die getrübte Sicht.
Es sei mir gestattet, aus handschriftlichen Briefen zu zitieren, deren sich Siegfried Lenz - zumindest im Wortlaut - wahrscheinlich nicht erinnert. Nach seiner Rückkehr aus Israel schrieb er im Herbst 1979: »Ich hörte viele Stimmen, doch wieviel Unterschiedliches sie mir auch zutrugen, von einem Problem gab es nur eine einzige bezwingende Übereinstimmung: dem Sicherheitsproblem des Landes. Von allen Eindrücken, Wahrnehmungen und Informationen ist dies für mich fraglos die wichtigste Erfahrung: das inständige, manchmal verzweifelte, oft bis in den Traum reichende Bedürfnis nach Sicherheit, nach endlicher Sicherheit...«
Diese kluge, einfühlsame Erkenntnis führte mich in eigenen Aufzeichnungen zu der Feststellung, daß wenige Deutsche - wenige Menschen überhaupt - Israel so umfassend »verstehen« wie Siegfried Lenz. Der aus dem Trauma jahrtausendealter Verunsicherung entstandene Traum ist nicht nur der Lebensfaden, die Achse unserer existentiellen Eigenarten, sondern auch der Schlüssel zu politischen Rätseln, die wir anderen - gelegentlich uns selbst - aufgeben. Lenz erkannte dies in den wenigen Tagen seines Aufenthalts in Israel. Was er anspricht, ist die auf dem Hintergrund unvergleichbarer Erfahrungen gesammelte und gehegte Sehnsucht nach Frieden, die die Zerstörung zweier Tempel - nicht allein im physischen oder glaubensbezogenen Sinne - so ungemein belastet. Das oft in den Vordergrund gerückte »Politische« ist dabei fast nebensächlich.
In einem anderen Zusammenhang schrieb er wenige Jahre später: »... es ist schon deprimierend zu erfahren, wie wenig sich das Selbstverständliche von selbst versteht.«
Für eine Auswahl gedanklich und sprachlich harmonierender »Geflügelter Worte« sind die Bühnenstücke eine unerschöpfliche Quelle. Das früheste - »Zeit der Schuldlosen« - vermittelt einen großartigen Erkenntnisreichtum zu der unendlichen Machtthematik, die auch da im Mittelpunkt Lenzschen Schaffens steht, wo sie scheinbar auf ein Nebengleis verwiesen zu sein scheint. Die Konfrontation von Überzeugung und Anpassung, von Gewissen und Bequemlichkeit bestimmt das packende dramatische Geschehen. Der Student, thematische Hauptperson, sagt: »Wer zu handeln versäumt, ist noch keineswegs frei von Schuld. Niemand erhält seine Reinheit durch Teilnahmslosigkeit...«
Und dann: »Wer sich entscheidet, als Mitwisser von Verbrechen zu leben, der kann es nur unter der Bedingung, daß er sich verantwortlich fühlt.«
Das ist die Quintessenz Lenzscher Moral, in der die zeitliche Nähe zur damals noch jungen Vergangenheit nachdrücklich mitschwingt. In einem vergleichsweise schmalen Rahmen bietet das Stück einen Mikrokosmos gewaltigen Ausmaßes an (eine mit Bedacht genützte contradictio-in-adiecto). Das Zwie- oder Vielgespräch ist von jeher ein erprobtes Mittel zur Verdeutlichung gedanklich-existentieller Befragung. Lenz beherrscht auch dieses Mittel in einer Vollkommenheit, die die Frage aufwirft, warum er es nicht noch häufiger bemüht hat. Sein Bühnenwerk ist manchen seiner Bewunderer nicht genügend vertraut. Es ist bemerkenswert und kein Zufall, daß zwei seiner Stücke in Israel schon zu einem Zeitpunkt aufgeführt wurden, als deutscher Bühnendichtung gegenüber noch Zurückhaltung bestand - lange vor seiner Begegnung mit israelischen Kollegen.
Siegfried Lenz verkörpert in ganz hohem Maße die geistige und menschliche Haltung, die der sogenannte Wald- und Wiesen-Israeli im Umgang mit Deutschen sucht und erhofft. Das erklärt die Nachfrage nach den - meines Wissens - bis jetzt fünf ins Hebräische übersetzten Romanen. Daß »Deutschstunde« und »Stadtgespräch« darunter sind, ist kaum erstaunlich; eher schon, daß auch das »Heimatmuseum« dabei ist. Obwohl sich der Jude nicht zu Unrecht als Angehöriger der Gemeinschaft des Buches bezeichnet und das kleine Israel eine vergleichsweise große Lesergemeinde aufweist, ist es keineswegs selbstverständlich, daß eine ihm so unbekannte Menschen- und Naturlandschaft wie die des »Heimatmuseum« diesen Anklang gefunden hat. Ich spreche hier auch stellvertretend für seine vielen Anhänger unter meinen Mitbürgern. Was ihnen Lenz so zugänglich macht, ist der vornehme Abstand von aufdringlicher, selten überzeugender Selbstgeißelung; die schlichte Zurückhaltung vermittelt ihnen die innere Aufrichtigkeit, die sie überzeugt.
Die großen existentiellen Themen, die sein Werk durchziehen und bestimmen, sind von stets aktueller, heute auch von besonders akuter Bedeutung für die Menschen in Israel. Die Auseinandersetzung mit ihnen wird die Zukunft prägen, ihren inneren und äußeren Frieden, in der komplexen Wechselwirkung von Dingen wie Macht und Gewalt, Recht und Gerechtigkeit, die die politische Bühne seit geraumer Zeit weit über Grenzen vermeintlich »örtlicher« Zuständigkeit hinaus in Anspruch nehmen.
Ein anderer Freund, Teddy Kollek, wurde hier vor drei Jahren geehrt. In seinem Lebenswerk, der positiven Auseinandersetzung mit diesen Themen, konnte er ungeahnte Gipfel erklimmen, und trotz aufgezogener Wolken und Widrigkeiten hat es Bestand. Seinen weisen Worten folgend, kann ich nur einmal mehr dem Wunsch und der Hoffnung Ausdruck geben, daß die Vernunft und Toleranz aller das Vorbild im Auge behält, mit dem Ägypten und Israel vor mehr als zehn Jahren die vermeintliche »Unmöglichkeit« eines arabisch-israelischen, eines islamisch-jüdischen Friedens widerlegten.
Doch nicht mit dieser Komplexität, zu der ich bestenfalls Wunsch und Gebet, jedoch keine Lösung beitragen kann, will ich mich befassen, wohl aber mit den Auswirkungen - richtiger, mit den potentiellen Gefahren -, die aus ihr den neuen Beziehungen unserer beiden Völker entstehen können. Daß ich dies in Anwesenheit des verehrten Herrn Bundespräsidenten tun darf, erfüllt mich mit tiefer Bewegtheit. Niemand hat sich der unendlich tragischen, zugleich aber auch nicht aussichtslosen deutsch-jüdischen Thematik mit größerer ethischer Kraft und Weisheit zugewandt; niemand hat wie er verstanden, den der Vernarbung noch immer harrenden Wunden des Schreckens Linderung und Hoffnung zuteil werden zu lassen.
Es ist wahrhaft wundersam, daß sich heute Juden und Deutsche mit einem Maß an Unbefangenheit gegenüberstehen, daß sie ehrlich darum bemüht sein können. Nicht nostalgisch-irrige Erinnerungen an eine legendäre »Symbiose« - oft bemüht, doch nie belegt - hat uns nähergebracht, sondern ihr Gegenteil: die Entlassung aus Fesseln fehlgedeuteter Bindung und Abhängigkeit in beiderseitige Freiheit, die zum ersten Male einen Rahmen von Gemeinsamkeit und Zusammenwirken bietet, den frühere Generationen in selbsttrügerischer Gutgläubigkeit gefunden zu haben glaubten. Natürlich darf die Vergangenheit nicht ausgeklammert werden. Zugleich können wir uns heute manches sagen, auch Kritisches, ohne die Last jener Zeit mit Worten in jeden Gedankenaustausch einzuflechten, wiewohl sie im Bewußtsein nicht erlischt. Dazu gehört auch die frei geäußerte Meinung zum Tagesgeschehen.
Doch auch dies muß mit allem Nachdruck gesagt werden: Unerträgliches Suchen nach »Vergleichen«, Angebote selbstgefälliger »Analogien«, auf dem Hintergrund der unmenschlichsten aller Versündigungen am Antlitz Gottes, bezeugen nicht nur Niedertracht oder unverbesserliche Blindheit. Sie sind nicht minder eine neue Saat alter Vorurteile , die den schweren, noch schmalen Weg des Verständnisses, zu dem wir uns bekennen, überwuchern und unbegehbar machen kann.
Was sich einst anzubieten schien, verlief in leidensgetränktem Sande. Die unzähligen Namen, die den Versuch zu bestätigen schienen, sind uns heute, bei aller Größe, Symbole tragischer Illusion. Weder Stefan Zweigs Nachtrauern der »Welt von Gestern« noch, auf anderem Boden, Prousts Suche nach der »Verlorenen Zeit« werden den jungen Pfad der Gegenwart zu einem Weg freier und bekennender Gemeinsamkeit machen. Andere Menschen, andere Namen verkörpern ihn: Ben-Gurion und Adenauer, Shmuel Josef Agnon und Heinrich Böll, Teddy Kollek und Richard von Weizsäcker, Amos Oz und Siegfried Lenz. Das wirkliche Heutige, nicht das trügerische Gestrige ist der Born der Hoffnung für das Morgige.
All dies weißt du wohl, lieber guter Freund Siegfried. Möge dein begnadetes Schaffen auch unter dem Leitstern dieser Ehrung dem Ausbau und der Festigung dieses Weges dienen. Die Wünsche und das Vertrauen aller begleiten dich, dich und Lilo, in eurer wunderbaren Unbeirrbarkeit. Schalom.
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Yohanan Meroz
Laudatio
Wir leben im Frieden, in einem unfertigen, notdürftigen, immer gefährdeten Frieden. Die Kräfte bedenkend, die ihm entgegenstehen, die Belastungen zählend, denen er ausgesetzt ist, die Aufgaben prüfend, die er uns stellt, möchte ich das, womit wir dem Frieden heute dienen können, mit wenigen Worten sagen: Widerstand, Widerstand gegen die, die den Frieden bedrohen mit ihrem Machtverlangen, mit ihrer Selbstsucht, mit ihren rücksichtslosen Interessen.
Siegfried Lenz - Dankesrede
Siegfried Lenz
Am Rande des Friedens
Dankesrede
Soviel scheint mir sicher: Wo es um die Sache des Friedens geht, gibt es keine Inkompetenz. Jeder hat seinen Traum, jeder ist betroffen, wer sich um den Frieden sorgt, hat das Recht, mitzureden, und wer gelitten hat, ist zuständig; denn Leiden, so glaube ich, sind Legitimation genug. Wir wollen den Herren der Staatskunst nicht die Kompetenz bestreiten - die alleinige Kompetenz indes, für den Frieden tätig zu sein, können wir ihnen nicht zubilligen. Geschichtliche Erfahrung rät uns, auf eigenem Mitspracherecht zu bestehen, und das heißt: das Wort zu nehmen - und ein Wort nehmen ist gleichbedeutend mit Handeln -, wenn wir den Frieden bedroht sehen. Und er ist immer bedroht, immer löcherig, im Kleinen wie im Großen. Keine Zeit - von den alttestamentarischen Propheten bis zu den heiser gewordenen Kassandras unserer Tage -, in der das Sehnsuchtsziel Friede nicht in Gefahr gesehen wurde. Keine Zeit auch, in der sich Vernunft nicht genötigt fühlte, auf die erkannte Gefährdung zu antworten: mit visionärem Programm, mit utopischem Entwurf. Der oft verheißene neue Mensch - der friedfertige, der konfliktfreie, der gute Mensch - schritt bisher unter keinem Horizont hervor, und es ist nicht schwer, vorauszusagen, daß wir vergeblich auf ihn warten werden. Gezwungen, mit offenen Problemen zu leben, müssen wir uns anscheinend auch mit einem Frieden abfinden, der immer etwas zu wünschen übrigläßt - was aber heißt, daß wir nicht nur zu begleitender Sorge, sondern, je nach Möglichkeit, auch zu gebotener Handlung aufgefordert sind. Mag er auch ausgefragt sein als Begriff, als Thema, als Wunschzustand, mag er auch erforscht und erkundet sein in seinen vielfältigen Bedingungen und Voraussetzungen: immer wird der Friede Aufgabe bleiben, denn wo er auch herrscht: er ist allemal unvollkommen.
Als Schriftsteller habe ich erfahren, wie wenig Literatur vermag, wie dürftig und unkalkulierbar ihre Wirkung war und immer noch ist. Niemals wurden kriegsentschlossene Mächtige zum Frieden hingeschrieben; kein Werk der Einbildungskraft reichte aus, um die Folter abzuschaffen, Kinder vor dem Hungertod zu bewahren, die Rechte Andersdenkender zu sichern. Literatur hat auch nicht verhindern können, daß Millionen unter der Armutsgrenze leben, daß wir zu Gefangenen monströser Bürokratien geworden sind und daß wir fassungslos dem Sterben unseres Planeten zuschauen müssen. Und schließlich hat Literatur es auch nicht vermocht, der Instanz zu gebieterischer Autorität zu verhelfen, die nach Ansicht erfahrener Friedensforscher die bedeutendste Rolle bei der Lösung von Konflikten spielt: die menschliche Vernunft. Nein, es ist nicht weit her mit der greifbaren Wirkung von Literatur; der Geschichtenerzähler von heute, der immer noch aus einer Art Notwehr handelt, hat manche Gründe zur Mutlosigkeit, und er wird, seine enttäuschten Hoffnungen bilanzierend, zugeben, daß Literatur niemals die Politik ersetzen kann. Die Ungleichheit ihrer Bedeutung und Wirkung läßt sich schon allein daran erkennen, daß, wenn ein Buch mißlingt, der Schaden auf Autor und Verleger begrenzt bleibt; daß aber, wenn eine fragwürdige Politik zum Ende kommt, alle betroffen sind.
Angesichts ihrer offenbaren Wirkungslosigkeit muß man sich allerdings fragen, wodurch sich Literatur zu jeder Zeit die besondere Aufmerksamkeit der Mächtigen verdiente. Man muß sich fragen, wodurch sie Argwohn und Verdacht auf sich zog und woran es wohl lag, daß ihre Geschichte - wenigstens zu einem beträchtlichen Teil - gleichbedeutend ist mit der Geschichte ihrer Verfolgung. Traute man ihr doch mehr zu, als man sich eingestehen wollte? Was besagen - bei unterstellter Wirkungslosigkeit - die unablässigen Bemühungen der Mächtigen, Schriftsteller auf sich zu verpflichten und aus ihnen schön sprechende Bauchredner zu machen, die nur den Refrain kennen: Es herrscht Friede im Land. Verwiesen auf die Reservate der Phantasie, zum Sachwalter des Scheins bestellt: so wollte man oft den Schriftsteller haben. Ein Zierfisch, dessen Möglichkeiten an der Glaswand des Aquariums endeten: so ertrug man ihn. Es spricht für sich, daß sich Literatur fast immer dem Schicksal ausgesetzt fand, entweder verdächtigt oder aber verharmlost zu werden.
Das freilich - Verdächtigung und Verharmlosung - sind Reaktionsweisen, die nicht einem Gegenstand entsprechen, von dessen völliger Wirkungslosigkeit man überzeugt ist. Sollte es sich ausschließlich um Überreaktionen handeln? Zu einem Teil - gewiß; zum andern - keinesfalls. Die Hellhörigkeit der Herrschenden jedenfalls war allemal gerechtfertigt; denn wenn es der Literatur auch nicht gelang, die spektakulären Probleme einer Zeit kalkuliert zu lösen, den Forderungen des Tages den entscheidenden Impuls zu geben oder die Vernunft für immer zu inthronisieren - vollkommen wirkungslos war sie nicht. Immerhin muß man zugeben, daß sie, auch wenn sie die Verhältnisse nicht geändert hat, etwas anderes erreichte, nämlich unser Verhältnis zur Welt zu ändern. Indem sie bloßstellte, aufklärte, bewußtmachte, wirkte sie. Indem sie Alternativen anbot, forderte sie dazu auf, die eigene Lage zu überprüfen, mit einem Wort: deutlicher zu leben. Oft aus der Defensive handelnd, schlug Literatur uns vor, den Traum von besseren Wirklichkeiten nicht aufzugeben. Immer an den einzelnen gewandt, machte sie das Angebot, sich mit anderem Schicksal zu vergleichen und, gegebenenfalls, Schlüsse aus dem Vergleich zu ziehen. Und gerade dies: das unkontrollierte Zwiegespräch mit dem einzelnen, ließ sie in den Augen der Mächtigen als subversive Bedrohung erscheinen. Schließlich wirkte Literatur auch immer dadurch, daß sie aufhob und bewahrte, daß sie sich zu erkennen gab als geräumiges Gedächtnis. Und auf Erinnerung zu bestehen, kann mitunter schon Widerstand sein - zumindest dann, wenn Vergeßlichkeit großgeschrieben oder aber dekretiert wird.
Ist Literatur unfriedlich? Sie ist es, sie mußte es wohl immer sein, da vorgefundene Wirklichkeit ihr nichts anderes übrigließ. Ihr unfriedlicher Charakter, das ist klar, besteht darin, daß sie gewaltsam herbeigeführte Ruhe stört, daß sie sich nicht abfindet mit verfügtem Schweigen, daß sie für die spricht, die man stimmlos gemacht hat. Unfriedlich, um einem besseren, einem nicht vorgetäuschten Frieden zu dienen, hat Literatur uns auch daran erinnert, daß Vergangenheit nicht aufhört und daß diese, die uns Wesen und Rolle des Menschen zugleich zeigt, uns in der Gegenwart überprüft. Es hat den Anschein, daß ohne diese Art von Unfriedlichkeit nicht der Friede erreicht werden kann, den zu wünschen wir nicht müde werden.
Wir können es uns wohl nicht leisten, Frieden ausschließlich als Nicht-Krieg zu definieren. Auch Definitionen kommen in die Jahre, sie schränken ein und verarmen und werden den Veränderungen nicht gerecht, die ein Begriff erfahren hat. Welch ein aufschlußreiches Zögern zum Beispiel bei dem Versuch, den Begriff »Gewalt« zu definieren: bei Kant, einem ihrer bittersten Verächter, eindeutige Bezogenheit, Bezogenheit nach oben, bei Alfred Grosser, unter dem Blickwinkel dieser Zeit, vielfältige Erwägungen. Nein, so, wie »Gewalt« heute weiter ausgelegt werden muß, so müssen wir wohl auch den Begriff »Frieden« weiter fassen, müssen jedenfalls fragen, ob er bereits besteht, wenn sich, sozusagen, der Lärm der Waffen gelegt hat. Es ist ja nicht nur denkbar, sondern entspricht auch unserer Erfahrung, daß wir den Krieg aus wohlerwogenen Gründen ablehnen und uns dennoch nicht als friedensfähig erweisen, im Gesellschaftlichen, im Privaten, in unserem Verhältnis zu den Problemen der Zeit. Ich weiß nicht, ob unsere Hoffnung gerechtfertigt ist, daß wir jemals friedensfähig werden können - die schmerzhafte Unvollkommenheit des Friedens, in dem wir uns gegenwärtig befinden, bestätigt da eher meinen Zweifel. Und dieser Zweifel wächst und findet seine Gründe angesichts von Sachverhalten, die uns nicht erlauben, von erreichtem Frieden zu sprechen, sondern allenfalls von unfertigem. Was auch zu ihm gehört - außer Waffenstillständen, Friedensschlüssen und Verträgen -, daran möchte ich erinnern.
Nicht erst seit Shakespeares Königsdramen wissen wir, was der Macht zu ihrer Selbsterhaltung einfällt und wozu sie sich bereitfindet; schon die Antike liefert uns genügend Aufschluß. Außer einer Methodenlehre zur Beseitigung von Unruhestiftern und Rivalen, von Jugendverderbern und Staatsfeinden vermitteln uns vergangene Zeiten die Einsicht, daß Wörter ein Risiko darstellen können. Einmal ausgesprochen und vervielfältigt, können sie Waffe und Bedrohung bedeuten; sie können Forderungen zusammenfassen - wie die klassische Forderung: Mehr Brot, mehr Gerechtigkeit, mehr Freiheit -, und sie können, was sich an Herrschaft verselbständigt hat, in Frage stellen. Das ist leider keine Erfahrung, die der Geschichte angehört. Welch eine Gefahr von Wörtern immer noch auszugehen scheint, belegt ein Bericht des Komitees im Internationalen PEN-Club: »Writers in Prison« (Schriftsteller im Gefängnis). Es ist der einstweilen letzte Bericht vom Juli 1988, und er besagt, daß zu diesem Zeitpunkt 305 Schriftsteller und Journalisten in den Gefängnissen von Ländern saßen, zu denen wir wirtschaftliche, kulturelle und sogar freundschaftliche Beziehungen unterhalten und mit denen wir in Allianzen verschiedener Art verbunden sind. Weil Herrschende nicht einverstanden waren mit ihrem Gebrauch von Wörtern, setzten sie diese 305 Männer und Frauen gefangen; es sind, ich muß es erwähnen, einige weniger als im letzten Jahr, doch wie der Bericht hervorhebt, bedeutet die verringerte Zahl keineswegs, daß die Freiheit des Wortes in der Welt sich zum Wünschenswerten hin verändert hätte. Die Gründe, die zu Verhaftung und Anklage führten, sind uns allesamt bekannt; es sind die alten, die trostlosen, die schmierigen Gründe, die eine argwöhnische Macht zu Hilfe nimmt, um die Störer der Kirchhofsruhe zum Schweigen zu bringen. Erbittert, doch ohne Erstaunen erfahren wir, daß eine Dichterin verurteilt wurde, weil sie in einem Poem an ein Massaker erinnerte, das die Regierung zu verantworten hatte: Erinnerung an ein Datum nationaler Schande darf nicht erlaubt sein. Wir hören von einem Urteil, das gegen einen Schriftsteller erging, der das Datum eines historischen Aufstands feierte: die Strafwürdigkeit, klar erkennbar, liegt in versuchter Aufwiegelung. Einer wurde verurteilt, weil er mit Studenten über Gedichte diskutierte, in denen die Ideale der Demokratie verherrlicht wurden; ein anderer, weil er ein »Buch der Demokratie« schrieb. Die Gründe der Anklage studierend, überraschte es mich nicht, »Verschwörung gegen den Staat« als häufigstes Vergehen genannt zu finden. Im Gebrauch von Wörtern wird eine »Rebellion gegen die Autoritäten« erkannt, Wörter fordern Regierungschefs heraus, sie verbreiten »umstürzlerische Gedanken«, sind also konterrevolutionär, sie tragen eine »gefährliche Ideologie« ins Volk, sie mißinterpretieren die Verlautbarungen der Herrschenden und bedrohen somit den Frieden.
Über die Beschaffenheit dieses Friedens braucht nicht viel gesagt zu werden; man kann, wie der Bericht »Writers in Prison« zeigt, verurteilt werden für die Verbreitung marxistischer Ideen, und man kann heute ebenso hinter Gittern landen, wenn man sich weigert, sich auf den Katechismus-Charakter Marxscher Erkenntnisse einschwören zu lassen.
Ein Frieden unter Menschen - das ist wohl sicher - bestimmt sich nicht durch Palmenzweig und Zimbelton. Sanftmut in allen Herzen und verzichtbereites Glück sind auch nicht das Ziel. Zu einem Frieden, wie wir ihn herbeiwünschen, gehören durchaus Spannungen, Konflikte, auch ein unvermeidliches Maß an Unruhe. Er ist um so verläßlicher, je bereiter er unsere Widersprüche aufhebt. Und deshalb können wir uns nicht mit einem Frieden abfinden, in dem es keine Antagonismen mehr gibt, keinen Einspruch, keinen Widerspruch zum Bestehenden. Mögen Eigentümer der Macht auch der Ansicht sein, daß es genug sei, wenn sie für uns denken und reden - das uns allen verheißene Wohlgefallen auf Erden wird sich erst dann einstellen, wenn die Freiheit des Wortes für jedermann garantiert ist. Sie gehört zum Frieden. Sie macht ihn zu ihrem Teil aus. Sie ist eine Forderung.
Ich weiß, es ist eine alte Forderung, wir können sie nur wiederholen - wie wir auch nur ins Gedächtnis rufen können, was bereits die alten Propheten als unerläßlich für den Frieden ansahen. Was zweitausend Jahre lang überhört wurde, ist deshalb keineswegs aus der Zeit: den Haß zu begraben und aufs Schwert zu verzichten, der Tyrannei ein Ende zu machen und einen Zustand zu schaffen, in dem, wie es bei Amos heißt, das Recht offenbart und die Gerechtigkeit wie ein starker Strom wird - diese alten Forderungen gelten auch heute noch. Gewiß, in ihren Erwartungen berufen sich die großen Verkünder oft auf das Wörtchen »nachdem« - nachdem die Herrscher weise, die Wölfe Vegetarier geworden sein werden, ..., doch das ändert nichts daran, daß wir die alten Propheten zu den bedeutenden Aufklärern zählen müssen. Sie haben uns vor Augen geführt, daß, wie es einen Krieg nach außen und nach innen geben kann, der äußere Friede seine Entsprechung findet im inneren Frieden.
Was heißt das: innerer Friede? Vielleicht ist er das »volle Beisichsein«, von dem Ernst Bloch einmal sprach. Vielleicht ist er das Ende langer Identitätsnot, das Happy-End nach beschwerlicher Selbstsuche; also restlose Einigkeit mit sich und der Welt. Innerer Friede: vielleicht schimmert er im Lächeln des Genügsamen auf, vielleicht manifestiert er sich auch in der Genugtuung eines Menschen bei seiner Arbeit. Satt an eingelösten Wünschen, geben wir uns dem Gefühl hin, das Erreichbare erreicht zu haben - nichts ist mehr offen, die Sehnsucht ist an ihrem Ort angelangt, an dem nur noch Harmonien walten. Ich glaube, daß der innere Friede immer ein utopisches Fernziel bleiben wird, ein notwendiges Fernziel, und daß er, selbst wenn uns dies gelingen könnte, schwerer zu verwirklichen wäre als der äußere Friede, denn der Naturzustand des Menschen ist nun einmal notorisch friedlos.
Was auch zum Frieden gehört: daran möchte ich erinnern. Mir ist klar, welch eine außerordentliche Bedeutung für unser Leben die Rüstungskontrolle hat, mir ist auch bewußt, wieviel von Konfliktregulierung, von Abrüstung und der Errichtung eines europäischen Sicherheitssystems abhängt, doch wie erfolgreich diese Probleme auch gelöst werden mögen: der Friede, der uns wunschlos sein läßt, wird sich nicht zeigen. Er umfaßt, wie gesagt, mehr als den erklärten Verzicht auf Gewalt. Er bestimmt sich auch als einen Zustand, in dem es ebenso ein Recht auf Hoffnung für alle gibt wie die Pflicht zur Verantwortung für das, was ist, und für das, was war. Verantwortung sagt - so bilanzierte Hans Jonas -, daß uns etwas anvertraut ist. Es kann der Nächste sein, der Schwächere, der Verirrte; es kann aber auch eine Erkenntnis sein oder das Wasser, von dem wir leben, oder die eigene Geschichte. Für das Anvertraute müssen wir einstehen, auf welche Probe es uns auch stellt.
Wir haben in jüngster Zeit eine Auseinandersetzung über deutsche Geschichte erlebt, die unter dem Begriff »Historikerstreit« Aufmerksamkeit in der ganzen Welt fand. Bestürzt nahmen wir das Bemühen akademischer Lehrer zur Kenntnis, Auschwitz, also dem industrialisierten Mord an Millionen, seine Singularität abzusprechen, ja, es »verstehbar« zu machen. Auf Stalins Archipel Gulag verweisend, in dem bereits zuvor Millionen Menschen den Tod fanden, wollte man uns glauben machen, daß Hitler hier sein Beispiel gefunden habe. Schroff verkürzt, wurde uns das Fazit nahegelegt: Ohne Archipel Gulag kein Auschwitz. Noch erschrocken über diese Schlußfolgerung, erfuhren wir, daß es nunmehr an der Zeit sei, auch die Geschichte des »Dritten Reiches« zu historisieren, seine Taten und Untaten zu entemotionalisieren. Historisierung und Entemotionalisierung, sie wurden reklamiert, um uns letzte Aufklärung über geschichtliche Ereignisse zu bringen.
Doch sind das die Vehikel, die Geschichte besonders erkennbar machen, die ja ein Zweig der Geisteswissenschaft ist? Spricht Geschichte noch zu uns, betrifft sie uns noch, wenn wir uns leidenschaftslos über sie beugen wie über ein Herbarium und kühl und erschütterungslos registrieren, was sich auf dem Grund tut? Und welch eine Art von Verständnis läßt sie übrig, wenn wir uns von ihr amputieren, um dem namenlosen Entsetzen eine wissenschaftliche Fassung zu geben? Ich kann mir nicht vorstellen, daß Unerschütterbarkeit eine Tugend des Historikers sein soll. Wenn Historisierung bedeutet, ein Ereignis als abgeschlossene Akte zu behandeln, als vorbei und erledigt und gereinigt von Schrecken, erweist sie sich als fragwürdiges Mittel geschichtlichen Erkennens. Denn Geschichte ist nie abgeschlossen, sie wirkt in jede Gegenwart hinein, sie überprüft uns, gibt uns etwas auf, sie verstört, erinnert und verpflichtet uns und läßt uns erschauern vor den Möglichkeiten des Menschen. Um den Geist oder Ungeist einer Epoche zu ermitteln - das zumindest glaube ich -, bedarf es weniger einer Entemotionalisierung als zum Urteil bereiter Anteilnahme: denn immer stand, immer steht die Sache des Menschen auf dem Spiel. Das historische Dokument findet jeder, den Geist einer Epoche aber nur der, der nicht absieht von sich selbst. Die Untaten anderer sind kein Argument der Entlastung.
Auschwitz läßt sich nicht im historischen Vergleich erfassen, der, außer willentlicher oder unwillentlicher Verharmlosung, keinen zusätzlichen Aufschluß gibt. Und Auschwitz läßt sich auch nicht verstehen. Gewiß, wir sollten immer zu verstehen suchen, bevor wir urteilen, aber hier, vor diesem Verbrechen, spüren wir, daß dem Verständnis Grenzen gesetzt sind. Im übrigen frage ich mich, wie wohl die Opfer unser Bedürfnis nach Verständnis quittieren könnten, sie und die Überlebenden, die noch unter uns sind. Dolf Sternberger hat gesagt, was in diesem Zusammenhang nur festgestellt werden kann: »Wenn wahrhaftig die Absicht des Verstehens den Sinn von Wissenschaft ausmachte, so müßte man den Schluß ziehen, daß zur Erkenntnis des Phänomens >Auschwitz< die Wissenschaft untauglich ist.«
So seltsam es klingen mag: Auschwitz bleibt uns anvertraut. Es gehört uns, so, wie uns die übrige eigene Geschichte gehört. Mit ihr in Frieden zu leben, ist eine Illusion; denn die Herausforderungen und die Heimsuchungen nehmen kein Ende. Schließlich haben wir es nicht mit der spirituellen Hinterlassenschaft von Hegels Weltgeist zu tun, sondern mit überlieferten unsagbaren Leiden. So ist zu fragen, ob es einen Frieden geben kann, in dem auch die Unversöhntheit einen Platz findet. Ich glaube: ja. Der Friede, der uns entspricht, schließt Verstörungen durch das Gedächtnis nicht aus. Jedoch: Unversöhnt mit der Vergangenheit sind wir um so leidenschaftlicher für den Frieden. Unversöhnt, geben wir der Vergangenheit, was wir ihr schulden, und der Gegenwart, was sie annehmbar macht. »Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt«, sagte Bundespräsident Richard von Weizsäcker in einer unvergessenen Rede, »wird blind für die Gegenwart.«
Geschichte, wir erfahren es, hat kein Ziel, läuft keinem strahlenden Ende zu; achselzuckend geht sie über unsere Taten und Irrtümer und Verhängnisse hinweg, und auf die Lektionen, die sie uns erteilt, ist nicht viel Verlaß. Des alten Gandhi Erfahrungsbilanz: History teaches man that history teaches man nothing, ist schwer widerlegbar. Dennoch, glaube ich, läßt sie etwas zu: die Einsicht nämlich, daß jede Zeit ihre Forderungen stellt und daß wir keine Wahl haben, als diesen Forderungen zu entsprechen. Auch das ist Friedensarbeit.
Wo sich heute auch etwas ereignet: Wir werden zu Mitwissern. Wo etwas in Scherben fällt, wo Mächtige Krieg gegen das eigene Volk führen, wo Heuschrecken einfallen, Delphine Marinedienst leisten, Verträge signiert und Politiker von Politikern geküßt werden: wir sind dabei, wir entgehen nicht der Mitwisserschaft. Und fast täglich nehmen wir Augenschein am Elend, am Elend in den Slums, in den Zonen des Hungers, am Elend in den großen Deltas. Wir glauben uns im Bilde. Gespickt von Information, sagen wir uns, daß die Erde kleiner geworden ist. Sie ist in der Tat kleiner geworden. Wir haben Anlaß zu der Frage: Wieviel trägt und erträgt er noch, der alte, der ramponierte Planet, und wenn wir an den Frieden denken, zu dem ja auch Sattsein und Warmsein gehören: Wie vielen wird, angesichts der Explosion der Weltbevölkerung, die Hoffnung auf ein friedsames Leben bleiben?
Eingedenk der Endlichkeit der Ressourcen und die Zeit vor Augen, in der sich die Weltbevölkerung verdreifacht haben wird, erscheint es mir nicht als ausgeschlossen. daß der Friede bedroht sein könnte durch Ereignisse, die Lenin, doch nicht nur er allein, »gerechte Kriege« genannt hat. Die Herausforderung für alle ist unübersehbar. Wie kann uns ein Krieg als gerecht oder unvermeidlich oder gar als heilig vorkommen, wenn wir im voraus wissen, daß viele sterben müssen. Kein Ziel - um das unmißverständlich zu sagen, das ist meine Überzeugung -, das den gewaltsamen Tod von Mitmenschen rechtfertigt, auch kein sogenanntes großes heiliges Ziel, das Herrschende ausrufen, um die Vernunft zu dispensieren.
Doch wenn wir schon zur Kenntnis nehmen müssen, daß die Möglichkeit eines sogenannten »gerechten Krieges« gedacht wird - und es könnte nur ein Krieg um Brot sein, ums Sattwerden -, dann müssen wir uns beizeiten, nämlich heute, mehr als besorgt zeigen. Um dem sozialen Elend, das auf Milliarden von noch Ungeborenen wartet, als Konfliktquelle entgegenzuwirken, muß heute gehandelt werden.
Als ich geboren wurde, lebten zwei Milliarden Menschen auf der Welt, heute sind es über fünf Milliarden, und um die Jahrtausendwende werden es - nach einem Bericht des amerikanischen Büros für Bevölkerungsstatistik - über sechs Milliarden sein. Daß Milliarden der nächsten Generation nicht damit rechnen können, eine bescheidene Genugtuung in der Arbeit zu finden, kann als sicher gelten. Aber wenn sie schon nicht die Zufriedenheit finden werden, die aus der Arbeit kommt, so werden sie doch genötigt sein zu essen. Da heute schon Millionen Hungers sterben: welche Nahrungsquellen sollen zusätzlich erschlossen werden, damit der Hungertod von Milliarden abgewendet werden kann?
Und wenn es Nahrungsmittel genug geben sollte: woher soll die Energie kommen, um, schlicht gesagt, das Essen zu kochen am Nil, am Ganges, in brasilianischen oder philippinischen Slums? Schließlich kann ich auch nicht die nächste Frage unterdrücken: Welche absehbaren Folgen für die Erdatmosphäre wird der gigantische Energieverbrauch haben? Fragen, die uns nicht friedlich stimmen können. Wir werden den Frieden nicht gewinnen, wenn wir nicht bereit sind, uns des Elends der Dritten Welt anzunehmen, des gegenwärtigen und des noch furchtbareren in der Zukunft.
Daß eine neue Weltwirtschafts- und auch Sozialordnung dazu beitragen könnten, das Elend zu lindern, ist wohl wahr; von gleicher Bedeutung aber scheint mir ein bevölkerungspolitisches Aktionsprogramm, das unumgänglich ist, wenn wir uns auf diesem engen Planeten in eine friedliche Zukunft teilen wollen. Bevölkerungsprobleme - darin stimmen Experten überein - sind nicht Ursache, sondern Begleiterscheinungen der Unterentwicklung. Diese Probleme zu lösen, stößt auf Schwierigkeiten mannigfacher Art. Eine der subtilsten Schwierigkeiten liegt im religiösen Glaubensbekenntnis. Es ist klar: Wenn sich Geburtenkontrolle und Familienplanung als unentbehrliche Maßnahmen anbieten, um der Bevölkerungsexplosion Herr zu werden, ist ein Konflikt mit religiösen Geboten vorgegeben. Sie sind ein Teil unserer Kultur. Sie bestimmen unser Verhältnis zu Ehe und Familie und regulieren den Alltag ebenso, wie sie die Notwendigkeit der spirituellen Welt bestätigen. Der Widerspruch ist evident. Wie läßt sich ein bevölkerungspolitisches Programm verwirklichen, ohne daß religiöse Glaubenssätze und Wertvorstellungen aus der Welt kommen oder an lebensregulierender Kraft einbüßen?
Daß Glaubenssätze auslegbar sind, wissen wir; selbst einige Suren des Koran sind erstaunlich auslegbar; doch das - die Interpretierbarkeit von Normen und Wertvorstellungen - wird ein globales Programm nicht ins Werk setzen können. Entscheidend ist die Zustimmung der Oberhäupter aller Weltreligionen. In seinem Gespür für die Forderungen der Gegenwart hat Helmut Schmidt Religionsführer und Politiker zusammengebracht zu einem Gespräch über Probleme des Friedens und der Weltbevölkerung. Moslems und Christen, Juden, Hindus und Buddhisten begegneten einander, und was nicht ohne weiteres vorauszusehen war: die Teilnehmer stimmten darin überein, die Entwicklung der Weltbevölkerung als eine der größten Herausforderungen dieser Zeit anzusehen. Verständnis und Einverständnis sind aber nicht genug; was wir brauchen, ist eine neue Politik, die diese ersten Erkenntnisse und Übereinstimmungen aufnimmt, eine wahrhaft ökumenische Politik. Wir brauchen sie nun, denn ihre Wirkung, das läßt sich errechnen, wird mit einer Verzögerung von Jahrzehnten eintreten. Friedenswilligkeit: hier, vor diesem Problem, läßt sie sich beweisen.
Es zeigt sich, daß der Friede, in dem wir leben, aus mehrfachen Gründen unfertig ist, daß wir, sozusagen, am Rande des Friedens leben. Dem Beispiel folgend, das Politiker und Wirtschaftler, Leitartikler und sogar Orthopäden geben, die in kniffligem Innenseiterstreit unsere Gerichte anrufen, liegt die Versuchung nahe, auch selbst einmal ein Hohes Gericht anzurufen, um rechtsverbindlich feststellen zu lassen, was den Frieden ausmacht, was ihm zukommt und was ihn aufhebt. Ich stelle mir vor, daß in solch einem Findungsprozeß die Gesichter des Krieges und die Erscheinungsbilder des Friedens gelassen verglichen, befragt, bewertet, beurteilt werden, mit all der gedanklichen Trennschärfe und der definitorischen Unüberbietbarkeit, die einem Hohen Gericht zu eigen sind. Die Richter, denke ich, wären nicht zu beneiden, denn müßten sie nicht sogleich feststellen, daß einige Kriterien des Krieges - zum Beispiel Gewalt und Bedrohung- auch in dem Frieden enthalten sind, in dem wir heute leben? Und müßten sie nicht andererseits bemerken, daß das, was wir uns im Frieden leisten - vergiftete Erde, verseuchtes Wasser, unzähliger anonymer Tod von Tieren und Pflanzen -, im Ergebnis einer Kriegsaktion gleichkommt? Unsere Zeit läßt keine reine Begriffsbestimmung zu. Selbst die Sprache der Friedensbewegung ist nicht frei von Anleihen aus der Terminologie des Krieges, benutzt Begriffe wie Strategie, Potential, Blockade.
Wir leben im Frieden und sind dennoch der Gewalt ausgeliefert, einer privilegierten, von den Ämtern gesegneten Gewalt, die unsere Welt immer unbewohnbarer macht. Gegen unseren Willen nimmt man uns Seen und Meere, läßt unsere Flüsse sterben, skelettiert die Wälder. Wer sich dagegen auflehnt, sagt ein Gericht, handelt moralisch glaubwürdig, ist jedoch juristisch im Unrecht. Soweit haben wir es gebracht: Wer sich noch eine gewisse Loyalität zur Schöpfung bewahrt hat, kann juristisch im Unrecht sein. Da muß man sich doch nach der Beschaffenheit der Gesetze fragen, die es der Gewalt erlauben, gegen alle die zu handeln, die an der Zerstörung der Umwelt nicht verdienen. Es ist leider wahr - und ein resignierter Politiker hat es zugegeben -: Der Wirkungsraum Wirtschaft ist sehr viel größer als der Wirkungsraum Politik.
Wie anwesende Gewalt unseren Frieden kennzeichnet, so enthält er auch Elemente der Bedrohung, die nicht vereinbar sind mit dem Zustand, den wir uns unter vollkommenem Frieden vorstellen. Es sind globale Bedrohungen. Die Weltklima-Konferenz in Toronto kam zu dem Fazit, daß die Gefahren, die uns aus der Atmosphäre drohen, durchaus mit einem Atomkrieg vergleichbar sind. Was sich - von Industrie und Landwirtschaft verschuldet - in der Atmosphäre anreichert und zu einer Klimahülle verdichtet, ist geeignet, katastrophale Folgen für das Leben auf der Erde auszulösen: Durch Erwärmung des Erdklimas werden Wüsten wachsen, die Polkappen schmelzen und die Meere so ansteigen, daß ganze Länder überflutet werden. Falls Industrie und Landwirtschaft sich so entwickeln wie bisher, kann es bereits in fünfzig Jahren zu dieser dramatischen Erwärmung des Erdklimas kommen. In der Sprache der Wissenschaft spricht man von einer »erstrangigen nicht-militärischen Bedrohung der internationalen Sicherheit«. Die ersten Anzeichen für die Katastrophe glaubt man bereits entdeckt zu haben: in außergewöhnlichen Dürreperioden und tödlichen wandernden Algengürteln. Das Ende des Lebens, so glaube ich, ist vorstellbar geworden.
Die Schöpfung stirbt langsam. Sie muß nicht im atomaren Blitz untergehen, der die Ozeane zum Kochen, die Gebirge zum Schmelzen bringt. Sie kann an unserer Verachtung der Schöpfung und an unserem Egoismus zugrunde gehen. Mit Appellen ist nichts zu erreichen, wir kennen ihr Elend, ihre Wirkungslosigkeit. Wenn überhaupt, dann kann nur eine tatkräftige und phantasievolle Politik etwas ändern, die bereit ist, sich zunächst den Wirkungsraum zurückzuholen, den Wirtschaft und Industrie ihr abgenommen haben. Es gibt kein Abonnement auf die Ewigkeit, und es gehört nicht einmal viel Phantasie dazu, sich die Erde unbelebt vorzustellen, von Staub bedeckt, den kalte Winde vor sich hertreiben. Ein Grabstein für diese Zeit könnte die Inschrift tragen: Jeder wollte das Beste - für sich.
Wir leben im Frieden, in einem unfertigen, notdürftigen, immer gefährdeten Frieden. Die Kräfte bedenkend, die ihm entgegenstehen, die Belastungen zählend, denen er ausgesetzt ist, die Aufgaben prüfend, die er uns stellt, möchte ich das, womit wir dem Frieden heute dienen können, mit wenigen Worten sagen: Widerstand, Widerstand gegen die, die den Frieden bedrohen mit ihrem Machtverlangen, mit ihrer Selbstsucht, mit ihren rücksichtslosen Interessen.
Ich danke dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels für die Zuerkennung dieser hohen Ehre. Ich danke meinem Freund Yohanan Meroz, der aus Jerusalem, unser aller Hauptstadt, gekommen ist, für den Zuspruch. Und ich danke Ihnen, meine Damen und Herren, dafür, daß Sie mir die Ehre Ihrer Anwesenheit gegeben haben.
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Siegfried Lenz
Dankesrede des Preisträgers
Chronik des Jahres 1988
+++ Das Jahr 1988 steht im Zeichen von »Glasnost« und »Perestroika«. +++ Nach langjährigen Verhandlungen wird im Februar das Abkommen zur Lösung des Afghanistan-Konflikts unterzeichnet. Es sieht den vollständigen Abzug der sowjetischen Soldaten und die Rückkehr der rund fünf Millionen Flüchtlinge in ihre Heimat vor. Ende Juni fordern führende sowjetische Politiker und Wirtschaftsfachleute auf einer von Parteichef Gorbatschow geleiteten Pressekonferenz tiefgreifende Reformen, ohne die der Demokratisierungsprozess in der UdSSR nicht vorangebracht werden könne. +++
Im August wird der seit 1975 andauernde Bürgerkrieg in Angola durch einen Waffenstillstandsvertrag zwischen Angola, Südafrika und Kuba für beendet erklärt. Zwei Wochen später tritt auch im Ersten Golfkrieg zwischen Irak und Iran ein Waffenstillstand in Kraft. +++ Bei einer Flugschau auf dem amerikanischen Luftwaffenstützpunkt Ramstein in der Pfalz kommen Ende August durch den Absturz dreier Flugzeuge einer italienischen Kunstflugstaffel 70 Menschen ums Leben. +++ Durch die Wahl Michail Gorbatschows im Oktober zum Vorsitzenden des Obersten Sowjet und damit zum sowjetischen Staatsoberhaupt wird die Reformpolitik in der UdSSR gefestigt. +++
Die Wahlsiegerin der pakistanischen Parlamentswahlen, Benazir Bhutto, wird im Dezember zur neuen Ministerpräsidentin Pakistans ernannt und ist damit die erste Frau an der Spitze eines islamischen Landes. +++
Biographie Siegfried Lenz
Siegfried Lenz, geboren am 7. März 1926 in Lyck / Ostpreußen, wird nach dem Abitur 1943 zur Marine einberufen. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs desertiert er und versteckt sich die letzten Kriegsmonate in Dänemark.
Nach dem Krieg beginnt er in Hamburg ein Philosophie- und Literaturstudium, das er jedoch 1948 abbricht, um als Volontär, später als Feuilletonredakteur bei der Zeitung Die Welt zu arbeiten. Seit 1951 ist Siegfried Lenz als freier Schriftsteller tätig.
Bereits sein erster Roman Es waren Habichte in der Luft (1951) handelt von der Erfahrung totalitärer Herrschaft – eins seiner wichtigsten literarischen Themen, mit denen er eine sozialkritische Perspektive entwickelt, gebrochen durch existentielle, manchmal gar pessimistische Motive. Sein 1968 veröffentlichter Roman Deutschstunde macht ihn weltberühmt.
Lenz engagiert sich politisch für die SPD und begleitet 1970 zusammen mit Günter Grass Bundeskanzler Brandt zur Unterzeichnung des deutsch-polnischen Vertrages nach Warschau. Auch seine jüngste Erzählung Schweigeminute (2008) wurde zu einem Bestseller.
Siegfried Lenz ist am 7. Oktober 2014 im Alter von 88 Jahren in Hamburg gestorben.
Auszeichnungen
2010 Nonino-Preis
2009 Lew-Kopelew-Preis
2006 Goldene Feder Ehrenpreis für „sein literarisch unvergleichliches Werk“
2005 Preis der Hermann-Ehlers-Akademie
2004 Hannelore-Greve-Literaturpreis
2004 Ehrenbürger von Schleswig-Holstein
2003 Heinrich-Heine-Professur der Universität Düsseldorf
2002 Johann-Wolfgang-von-Goethe-Medaille in Gold
2002 Ehrenbürger von Hamburg
2002 Corine – Ehrenpreis des Bayerischen Ministerpräsidenten für das Lebenswerk
2002 Bremer Hansepreis für Völkerverständigung
2001 Weilheimer Literaturpreis
2001 Ehrensenatorenwürde der Universität Hamburg
1999 Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main
1998 Samuel-Bogumil-Linde-Preis
1998 Mercator-Professur der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg
1997 Hermann-Sinsheimer-Preis
1995 Jean-Paul-Preis
1989 Heinz-Galinski-Preis
1988 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
1987 Wilhelm-Raabe-Preis für Exerzierplatz und Gesamtwerk
1985 Manès-Sperber-Preis
1984 Thomas-Mann-Preis
1979 Andreas-Gryphius-Preis
1970 Lessing-Ring und Literaturpreis der deutschen Freimaurer
1970 Gerhart-Hauptmann-Preis für Zeit der Schuldlosen
1962 Literaturpreis der Stadt Bremen für Zeit der Schuldlosen
1961 Kulturpreis der Landsmannschaft Ostpreußen
1953 Lessing-Preis der Freien und Hansestadt Hamburg (Stipendium)
Bibliographie
Fundbüro. Hamburger Ausgabe, Band 15
Hrsg. v. Katerina Kroucheva, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2020, ISBN 978-3-455-40605-4, Gebunden, 368 Seiten, 48.00 EUR
Deutschstunde. Roman. Jubiläumsausgabe
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2018, ISBN 9783455004496, Gebunden, 592 Seiten, 25.00 EUR
Der Überläufer. Roman
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2016, ISBN 9783455405705, Gebunden, 368 Seiten, 25.00 EUR