1983 wurde der ukrainische Schriftsteller und Philosoph Manès Sperber (1905-1984) mit dem Friedenspreis ausgezeichnet. Die Verleihung fand am Sonntag, den 16. Oktober 1983, in der Paulskirche zu Frankfurt am Main statt. Alfred Grosser verlas für den erkrankten Friedenspreisträger die Rede. Die Laudatio hielt Siegfried Lenz.
Begründung der Jury
Den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verleiht der Börsenverein im Jahre 1983Manès Sperber,dem Schriftsteller, der den Weg durch die ideologischen Verirrungen des Jahrhunderts mitgegangen ist und sich von ihnen befreite.
Er hat sein Leben lang die Unabhängigkeit seinen eigenen Urteils bewahrt und, unfähig zur Gleichgültigkeit, den Mut aufgebracht, jene nicht existente Brücke zu betreten, die sich nur vor dem ausbreitet, der seinen Fuß über den Abgrund setzt. Wir ehren Manès Sperber in Dankbarkeit.
Reden
Günther Christiansen
Grußwort des Vorstehers
Wo die Wahrheit in Bedrängnis gerät, wo man uns in trügerische Paradiese hineinzwingen will, wo die Gesetze der Moral außer Kraft gesetzt werden und eine anmaßende Macht den einzelnen zur Unmündigkeit verurteilt, kann man mit Manès Sperber rechnen, mit seinem Einspruch, mit seinem Widerstand, der beglaubigt wird durch jede Erfahrung am eigenen Leib.
Siegfried Lenz - Laudatio auf Manès Sperber
Siegfried Lenz
»Von der Gegenwart des Vergangenen«
Laudatio auf Manès Sperber
Es fällt mir schwer, ein Bild zu vergessen, ein für sich sprechendes, ein lebenserhellendes Bild: Ein kleiner Junge, mit Kieselsteinen bewaffnet, steht auf dem Dach einer Scheune, er nimmt Maß und wirft Stein für Stein gegen den Himmel, erbittert, fordernd und schließlich enttäuscht darüber, daß keines seiner Wurfgeschosse das Ziel erreicht. Gott öffnet keine Klappe, wie der Junge es erwartet, er droht nicht von oben, er empört sich nicht über das ungehörige Bombardement, er läßt sich nicht herausfordern. Traurig, ohne seine Wünsche und seine Weltbeschwerden an die höchste Adresse gebracht zu haben, steigt der Junge wieder herab, vermutlich einig mit sich, daß er diese Aktion bei nächster Gelegenheit wiederholen wird, und nicht nur bei nächster Gelegenheit, sondern, wenn es sein muß, ein Leben lang.
Sie, lieber Manès Sperber, waren einmal dieser Junge, der kühn kalkulierte, daß man auf dem Scheunendach dem Himmel ein erhebliches Stück näher ist und daß man notfalls Gott verstimmen müsse, um bei ihm Gehör zu finden. Für die Audienz jedenfalls, die mit Hilfe von Kieselsteinen beschleunigt zustande kommen sollte, hatte der junge Manès schwerwiegende Gründe: Nichts weniger lag ihm am Herzen, als Gott an sein Versprechen zu erinnern, den Messias zu schicken, endlich. Begabt mit aller erdenkbaren Empfindsamkeit, hielt der Junge den ersehnten Augenblick für gekommen, die Situation der Welt war reif, seiner Ansicht nach, sie rechtfertigte vollauf die Einlösung des Versprechens, und so nahm er sich den Mut zur Mahnung. Nicht Empörung stimulierte sein einstweiliges Handeln, nicht Auflehnung, nicht formulierte Anklage, sondern Sehnsucht: Es muß anders werden, so kann es nicht bleiben. Dort in Zablotow, in dem ostgalizischen "Städtel«, in einer verlorenen »Civitas Dei«, die geprägt war von Gesetzestreue und Hunger, von Heilserwartung und Häßlichkeit, nahm ein Junge seine Zuflucht zum Handeln, weil er »die Herrschaft der fehlenden Dinge« nicht mehr ertrug. Unterwandert vom Zweifel am religiösen Gesetz, setzte er sich über rituelle Tabus hinweg, er tat es nicht den »permanenten Betern« gleich, die umfassenden Trost in blühender chassidischer Weisheit fanden; seine Antwort an das früh begriffene Unglück der Diaspora war die phantasievolle Aktion. Handeln für ein definierbares, wenn auch kaum erreichbares Ziel: Dies bestimmt den Schriftsteller, den Psychologen, den Menschen Manès Sperber; in der revolutionären Aktion fand er sein Metier, erkannte er das Mittel, das geeignet war, die Verhältnisse zum Wünschenswerten hin zu verändern.
Was dem Handeln zugrunde liegt, was die Aktion als unvermeidlich erscheinen läßt, sind häufig die gleichen Erfahrungen und Erkenntnisse; als klassische Forderung ausgedrückt, heißen sie: mehr Brot, mehr Freiheit, mehr Gerechtigkeit. Handeln im Sperberschen Sinne ist, wenn ich ihn richtig verstanden habe, vornehmlich ein stellvertretendes Handeln: Angesichts fremder Not, als Zeuge von Hunger und Demütigung und endloser Verzweiflung, entscheidet sich der einzelne zur Tat, freilich in der Rolle eines Delegierten, der weder gequält noch ausdrücklich beauftragt ist. Wer sich, von Ungeduld überwältigt, für die revolutionäre Aktion entscheidet, muß diese Spannung ertragen lernen: Er spricht und handelt für Menschen, die ihn vielleicht insgeheim herbeigewünscht, doch mit einem Mandat nicht betraut haben. Hierin liegt das traditionelle Risiko des Revolutionärs, liegt aber auch eine Wurzel seiner späten Melancholie.
Über das Leben von Manès Sperber nachdenkend, erscheint sein ungeduldiges Bedürfnis nach Aktion als etwas Unvermeidliches: das Städtel Zablotow, in dem er 1905 geboren wurde, offenbarte bereits soviel an Leid, an Kummer und fremder Gewalt, daß es ihn nicht gleichgültig lassen konnte. Er selbst, aus einer Familie, die Rabbiner und Gottesgelehrte hervorgebracht hatte, brauchte dabei in windstillen Zeiten wohl nicht allzuviel entbehren: Man hatte ein Haus, man hatte Bedienstete und Pferd und Wagen; es war die Lage der andern, ihr Elend, ihre Hoffnungslosigkeit, die zunächst den Zweifel weckte und später das Handeln nahelegte. Früh wurde sein Glaube durchlöchert, wie er sagte, früh entstanden in seiner von messianischer Erwartung getragenen Glaubenswelt »Enklaven des Unglaubens« - was nicht selten zur Selbstmarter führte.
Mit seltsamer Wachheit erlebte er die Grausamkeiten des Ersten Weltkrieges und gestand sich ein oder wußte schon, daß er sie in seinem Gedächtnis bewahren mußte, um sie eines fernen Tages zu erzählen, und das heißt, öffentlich zu bezeugen: »Ich ganz allein bin entronnen, um es Dir zu melden, Hiob.« In seiner Autobiographie, in diesem außerordentlichen Dokument über die Gegenwärtigkeit des Vergangenen, schreibt Sperber: »Hochgemut oder niedergeschlagen, im Scheine von Erfolgen oder im Schatten der Enttäuschungen - immer, fast immer wollte ich wissen: Wofür, wozu leben? Welcher Inhalt gibt dem Leben einen Wert, der nicht nur für mich, nicht nur für diesen oder jenen einzelnen gilt?« Die »Unfähigkeit zur Gleichgültigkeit«, die er an sich selbst entdeckte, ließ jedenfalls nur das eine übrig: die angemessene Wahrheit der Aktion, und die hat, mag der Handelnde beauftragt oder nicht beauftragt sein, alle im Sinn.
Da Handeln hier von rigoroser Moral inspiriert ist, ist das Gegenteil - folgerichtig - nicht Kontemplation, sondern Gleichgültigkeit: der Entzug, die Verweigerung, die achselzuckende Teilnahmslosigkeit; der Gleichgültige findet sich mit fremdem Unglück ab, er rettet sich in eine Art Versteinerung - für Manès Sperber eine verächtliche Rettung. Es erscheint unausbleiblich, daß der Mann der Tat immer wieder zu dem hinüberblickt, der sich, im Gefühl der Unverantwortlichkeit für die Verhältnisse, zur Tatenlosigkeit entschieden hat; ein Leben lang werden die beiden alternativen Haltungen gegeneinander gestellt und überprüft, sie werden ausgefragt angesichts der Tobsuchtsanfälle der Geschichte, sie werden analysiert auf den Trümmern der Hoffnung, und noch jedesmal, selbst in Augenblicken unaufhebbarer Resignation, zeigen sich Gründe, die das Handeln rechtfertigen. Wie ein Fazit kommt mir der Bekenntnissatz aus dem »Verbrannten Dornbusch« vor: »Die Gleichgültigkeit ist so furchtbar in ihren Folgen, so mörderisch wie die furchtbarste Gewalt.« Manès Sperber hat sie am eigenen Leib erlebt.
Als Geschichtenerzähler kommt man ja nicht darum herum, nach Motiven zu fragen, nach Gründen, die uns so oder so handeln lassen: welche Erkenntnis, welche bewegende Intuition, welch ein Akt der Augenöffnung ging der Entscheidung voraus, keinen beliebigen, sondern einen ganz bestimmten Lebenskurs zu wählen. In dieser Hinsicht bleiben wir bei Manès Sperber nicht im Ungewissen; sein Motiv ist Mitleid, tätiges Mitleid; sein erkanntes Ziel: Man darf Geschichte nicht nur erdulden, man muß sie selbst machen. »Man mußte gegen das Schicksal sein«, bekannte er, »und alles dazu tun, daß wir uns selber Schicksal seien. Ton in des Töpfers Hand, so stand's geschrieben. Wie, sollen wir Ton in der Hand eines blinden Töpfers sein?« Wer so fragt, hat bereits mit seinem Glauben gebrochen, ist ein Abtrünniger; Manès Sperber wurde sich dessen bewußt, als er 13 war. Überzeugt davon, daß die Zeit des Wartens vorbei sei, wurde er Sozialist, er wurde Marxist, er wurde Revolutionär.
Das war später, in Wien, wohin seine Familie im dritten Jahr des Ersten Weltkrieges geflohen war - aus einem Städtel, das Heimsuchungen genug erfahren hatte, dem aber die schlimmste Heimsuchung noch bevorstand. Wien, das aus der Ferne bewunderte, ersehnte, die kunstsinnige, prunkvolle Stadt, die den Jungen in Zablotow nicht losließ, sie hielt damals nur Enttäuschungen für ihn bereit. Es war nicht allein der Sturz in die Armut, den die eigene Familie erlebte; es waren die bedrängenden Erlebnisse, die bei seinen täglichen Streifzügen auf ihn warteten. Er erfährt die Etappe des Krieges in öffentlichen Wärme- und Speisestuben, er trifft Invaliden und Verwaiste, Hungernde und Ratlose, ihm entgehen nicht die verzweifelten Gesten der Menschen, ihre Erbarmungswürdigkeit, ihre Unversöhnlichkeit, doch gleichzeitig wird er Zeuge dekretierter Kriegsbegeisterung und einer erhabenen Mystifikation des Schrecklichen, das sich an den Fronten ereignet. Und er erlebt fassunglos eine besondere Art der Feindlichkeit, die es so im Städtel nicht gab: die Feindlichkeit gegen den Juden. Nicht nur wir machen Erfahrungen, gewisse Erfahrungen machen auch etwas mit uns, sie bringen uns in Zugzwang, sie reduzieren die Möglichkeiten der Wahl und nötigen uns, zu handeln: Handeln als gerichtete Antwort.
In seinem ergreifenden Altersgespräch begründet Jean-Paul Sartre, warum für ihn individuelle Freiheit auch von der Freiheit der anderen abhängt; in ähnlicher Weise empfand Manès Sperber für sich die Abhängigkeit seines Schicksals vom Schicksal derer, die in einem Zustand notorischer Erpressung durch die Umstände lebten: Man kann nicht sein eigenes Leben akzeptieren, ohne sich in Beziehung zu bringen zum Leben anderer. Ein einzelner, ein Ich entdeckt und übernimmt eine elementare Daseinspflicht, und nicht nur dies: Er erkennt, daß das, was geändert werden muß, allein nicht zu schaffen ist, nur ein »Wir« kann das erreichen, und das heißt eine Gemeinschaft, eine Organisation. Manès Sperber schloß sich dem Schomer an, einer jüdischen Pfadfinderorganisation, in der nicht nur wehmütige Volkslieder, sondern auch Marschlieder gesungen wurden, man übte sich im Morsealphabet, im Landkartenstudium, man beschloß, sich zu stellen, keiner Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen, vor allem aber: Man diskutierte; der Meisterdiskutant - und ich weiß, was ich sage, denn ich bin kaum einem begegnet, der den Partner in so sublime, so einträgliche Schwierigkeiten bringt wie Manès Sperber -, der Meisterdiskutant hatte eine vorläufige Heimat gefunden.
Die Ideen der russischen Sozialrevolutionäre wurden diskutiert, Kropotkins Anarchismus und seine »Gegenseitige Hilfe«, Palästinaprobleme selbstverständlich - fast hat es den Anschein, als erwarteten Manès Sperber jeweils die leibhaftigen und intellektuellen Erfahrungen, deren er bedurfte, um seinem Ziel treu zu bleiben. In diesem Sinne erwarteten ihn, den hungrigen Leser, Gorki, Tolstoi und Hamsun, ganz besonders aber erwartete ihn Dostojewski, dessen Philosophie des Mitleids ihn tief beeinflußte und von dem er in seinem biographischen Essay sagte: »Mir wurde gewiß, daß alles, was zur ersonnenen und in Raum und Zeit so fernen Welt Dostojewskis gehören mochte, mich so unmittelbar anging, als wäre ich unversehens in sie geraten und sollte den "Weg zurück nie mehr finden . . . Man steht seinem Werk nicht gegenüber, sondern wird mit verwickelt, hineingerissen . . .« Was er nicht voraussah, das waren die Konflikte, die sich aus der Zugehörigkeit zu einer Organisation ergaben, die am Ende des Krieges zu einer revolutionären Jugendbewegung wurde: Er war Teil einer handelnden Gemeinschaft geworden, er hatte das große Wir-Erlebnis gefunden, doch der familiäre Zusammenhalt - das, was im Städtel so unendlich viel galt - ging verloren. Brüche, Abschied, Opfer: Sie gehören zum Erfahrungshaushalt des Revolutionärs.
Wie und wodurch handelt ein Schriftsteller? Indem er bloßstellt; indem er aufdeckt, was Ideologien verschweigen. Aber auch das kann schriftstellerisches Handeln sein: die Realität so auszulegen, daß niemand sich unbetroffen fühlt, daß wir uns erfahren in unseren Möglichkeiten. Handeln heißt hier ebenfalls: Vorschläge für ein deutliches Leben zu machen, und zwar mit Hilfe sowohl der historischen Analyse als auch des Gegenentwurfs, der über eine enthüllte Gegenwart hinausweist: So war es, so ist es, so könnte es sein. Von Anfang an war der Mann, den wir heute ehren, darum bemüht. Allerdings, mit dem Schriftsteller Manès Sperber, ich meine: mit seiner datierbaren Existenz als Schriftsteller, hat es so seine Eigenheiten: Er hat mehrmals erklärt, daß er verhältnismäßig spät zur Literatur gekommen sei, er hat darauf hingewiesen, daß er 44 war, als sein erster Roman erschien, gleichwohl konnte sich bereits der Gymnasiast veröffentlicht sehen, mit Arbeiten über Dostojewski und Hamsun, und der sehr junge Mann hatte sich mit einem Essay »Zur Psychologie des Revolutionärs« zu Wort gemeldet. Wollte der erfahrene Autor etwa über seine Anfänge nachsichtig hinweggehen?
Keineswegs; Manès Sperber hatte lediglich einen Lebensfahrplan für sich aufgestellt, und der sah vor, daß er bis zu seinem 30. Jahr Psychologe sein wollte; danach sollte der Schriftsteller zu seinem Recht kommen. So streng wollte er seine Wirksamkeiten geschieden sehen; doch hier möchte ich, selbst wenn ich dabei gegen die Festordnung verstoße, ruhig Einspruch erheben, und zwar aus Hochachtung für den jungen Schriftsteller, der gleichzeitig Psychologe war: Schon bei ihm fanden Scharfsinn und Güte, höchste Empfindsamkeit und zwingende Auslegekunst zu einem so erstaunlichen Ausdruck, daß wir wohl die Trennung, die der Eigentümer der Biographie selbst vornahm, respektvoll in Zweifel ziehen dürfen.
Was immer es besagen mag: Revolutionäre waren in der Mehrzahl leidenschaftliche Leser, auch Manès Sperber war es, und in einer Zeit, die fast ausschließlich revolutionärer Lektüre gehörte, fand eine - für seine Selbstbestimmung - folgenreiche Begegnung statt, die Begegnung mit Alfred Adler, dem Begründer der Individualpsychologie. Adler, der »große Errater«, quittierte das erste Referat seines sehr jungen Schülers - »Zur Psychologie des Revolutionärs« - mit einem stimulierenden Kompliment: »Sie haben wie ein Individualpsychologe gesprochen, der noch nicht weiß, daß er einer ist.« Was lag nach diesem Kompliment näher als der Wunsch, einer zu werden, zumal da die Lehre in ihrer Weise dem Ziel diente, dem sich der junge Manès, schwankend noch vor mehreren Wegen, verpflichtet fühlte. So wie der Mensch zum Opfer äußerer Gewalt, so kann er auch zur Beute innerer Gewalten werden: »Jedes Leiden«, schrieb Manès Sperber, »greift den Menschen in seiner einzigen axiomatischen Gewißheit an, nämlich in dem Bewußtsein, eine unerschütterliche Einheit, ein unteilbares Ganzes zu bilden. Er entdeckt, daß es in ihm etwas gibt, das nicht zu ihm gehört. . . Er hielt sich für einen zusammenhängenden Kontinent, nun entdeckt er, daß er nur ein Archipel ist; er glaubte sich Herr über die Zeit und findet nun, daß er von dieser zerstückelt wird.« Die Besessenheit von der Psychologie verdrängte vorübergehend die eingestandene Liebe zur Literatur; von Alfred Adler früh in den geweihten Kreis geholt und mit Kursen beauftragt, gab sein schöpferischster und dann wohl auch ketzerischster Gefolgsmann eine Einführung in die Individualpsychologie und übernahm komplizierte Fälle von Kindern und Jugendlichen. Erziehung zur Gemeinschaft und ein Abbau des Machtstrebens: Dies vor allem erschien dem jungen Psychologen an der Adlerschen Lehre so bedeutsam, daß er ihm eine Monographie widmete (»Alfred Adler, der Mensch und seine Lehre«) und in Übereinstimmung mit dem Meister - das war 1927 - von Wien nach Berlin ging, um dort als Lehrer für Individualpsychologie zu arbeiten.
Freilich, wie es die schon fast musterhafte Meister-Jünger-Problematik vorgibt, konnte es nicht bei lebenslanger purer Missionsarbeit bleiben; irgendwann kommt es bei diesem Modellverhältnis zu Entzug, zu Trennung, zu dem Bedürfnis nach Erweiterung der Lehre und eigener Unabhängigkeitserklärung; einsichtsvolle Meister jedenfalls werden immer darauf gefaßt sein, daß der Schüler sich erhebt, aus dem Schatten tritt, als mehr oder weniger »treuer Ketzer« das Wort nimmt. Von neuen politischen Erfahrungen genötigt, überzeugt von der Triftigkeit marxistischer Analyse, den Aufgaben zustimmend, die diese Analyse nahelegte, und nicht zuletzt als aktives Mitglied einer sich als revolutionär verstehenden Partei antwortete der Psychologe Manès Sperber auf die Herausforderungen seiner Wirklichkeiten; er trat mit dem Entwurf einer politischen, einer marxistischen Psychologie auf, in der sich aus den Grundlagen einer Charakterologie die Möglichkeiten sozialer Praxis eröffnen sollten. Was ihm vorschwebte, war nach eigener, nach damaliger Bestimmung dies: »Unsere dialektisch-marxistische Psychologie ist nicht abgeschlossen, sondern völlig offen nach vorne. Ich kann mir keine Wahrheit vorstellen, der wir uns verschließen müßten, denn ist auch nicht jede Wahrheit revolutionär, so kann doch keine konterrevolutionär sein.«
Ein Herz für den Häretiker, denn wir wissen, was wir ihm durch alle Zeit hindurch zu verdanken haben; von Leidenschaft angestiftet oder von vernunftbegabtem Zweifel, nahm er Nachrede und Einsamkeit in Kauf, um übersehene Wahrheit ans Licht zu bringen. Manès Sperber wußte, was es hieß, gegen die reine Lehre zu verstoßen, indem er sie erweiterte; den Argwohn von Adlers sektiererischen Anhängern hatte er sich schon bald zugezogen, der Einspruch des Meisters erfolgte zu gegebener Zeit. Unterwerfung oder Bruch: Wieder bot sich die für Sperbers Leben so charakteristische Alternative an, doch niemand wird bei ihm erwarten, daß er dem inneren Frieden um den Preis der Einäugigkeit den Vorzug gab gegenüber der Geistesunruhe, die Trennung und Abfall mit sich brachten. Wie einst sein Glaube »durchlöchert« wurde, bis es zur Abwendung kam, so vollzog sich auch, durch Erkenntnis eingeleitet, der Bruch mit dem Lehrer, dem Freund, dem »sozialen Genie« seiner Zeit.
Wer mit Camus die Gewißheit teilt, daß ein Leben gerechtfertigt werden muß, der sieht sich fortwährend vor die Notwendigkeit gestellt, zu handeln; doch seltsam genug, irgendwann kommt ein Tag, an dem er entdeckt, daß Handeln ein schwankender Wert ist, daß es keine fortdauernde Legitimation darstellt, sondern allenfalls eine vorübergehende, eine jeweilige. Und das heißt wohl, daß nicht wir allein die Qualität unserer Handlungen und Entscheidungen festlegen; vielmehr gibt es etwas, das sie mitbestimmt: die historische Konstellation, die Lage der Zeit. Die Friedhöfe unserer Ideale und Idole, die uns einst zur Aktion brachten, beweisen es zur Genüge.
Manès Sperber war nur einer von Tausenden europäischen Intellektuellen, die damals, als die große Wirtschaftskrise die kapitalistische Welt erbeben ließ, nach Antworten auf die allgemeine Not suchten. Ihr Traum: die Welt in einem kraftvollen revolutionären Aufräumen, in einem »letzten Gefecht« nicht nur vorübergehend, sondern ein für allemal von Existenzangst und Unterdrückung zu befreien - mit jenen Mitteln, die die Sache erforderlich machte. Arthur Koestler, Ignazio Silone, Manès Sperber: Sie stimmten, unabhängig voneinander, darin überein, daß »unbedingt etwas geschehen mußte«, daß aber nichts geschehen würde, wenn nicht sie es herbeiführten, und das heißt, die Kommunistische Partei, die ihren Willen zusammenfaßte, die ihnen ein Mekka anbot und das Heil versprach. »Recht haben ist wichtig«, heißt es in »Tiefer als der Abgrund«, aber »nicht allein sein ist viel wichtiger«. Der suchende, der mitleidende Wanderer, immer Ausschau haltend nach den »Hügeln hinter den Hügeln« - ein oft beschworenes Bild - glaubte wiederum, eine Art Heimat gefunden zu haben.. . »Ich beabsichtigte keineswegs«, sagte er, »ein Berufspolitiker oder - um mit Lenin zu sprechen - ein professioneller Revolutionär zu werden, sondern nur ein Militant, ein aktives Mitglied einer revolutionären Partei.«
Nicht allein Manès Sperber, viele seinesgleichen gingen davon aus, daß Geschichte, daß Leben einen Sinn habe, und wenn nicht dies: daß man ihnen dann einen Sinn verleihen müsse; aber welchen? Da in gegenwärtiger Realität nichts dergleichen auszumachen war, kam man überein, für ein sinnerfülltes Dasein in Zukunft tätig zu sein, der Sinn wurde sozusagen zu einer utopischen Größe: Nachdem der Mensch aufgehört haben wird, vom Menschen zu leben, werden wir das letzte strahlende Ziel des geschichtlichen Ganges erreicht haben, das endliche Happyend nach allen leidvollen Weltepochen. Sie handelten im »Namen der Hoffnung«, Männer von enormer Bildung und Erfahrung, die es wohl niemals geglaubt hätten, daß sie eines Tages zu der gleichen Erkenntnis kommen würden wie jener Rubaschow, Koestlers Held aus dem Roman »Sonnenfinsternis«: Nach allen Opfern und Niederlagen erwartet ihn nur das »Achselzucken der Unendlichkeit«.
Von manchem Leben möchte man sagen, daß es bis zu einem gewissen Grade einem Zwangskurs folgt, und das heißt, es folgt der vorgegebenen Spur, den eigentümlichen Markierungen, die Risiken und Unwägbarkeiten sind allemal absehbar. So erscheint es als unvermeidlich, daß Manès Sperber, der auch als Marxist dem Prinzip Zweifel die Treue hielt, in Widerspruch zu einer Partei geriet, die immer recht hatte und die, in behaupteter Irrtumslosigkeit, lediglich genehme Wahrheit dekretierte. Lange hat es gedauert, bis er die Souveränität eigenen Erkennens für sich forderte, denn er hatte zuviel investiert und zuviel auf sich genommen: Schutzhaft in Berlin, Emigration nach Jugoslawien, Armut und Bitternis des Exils in Paris. Ihm entging nicht, in welcher Weise die Partei zum Instrument eines gigantischen Machtapparats gemacht wurde, wie so viele andere litt er unter einer unbegreiflichen Taktik, die als Generallinie ausgegeben wurde, doch vorerst konnte er sich zur Trennung nicht entschließen; er arbeitete am Pariser Institut zum Studium des Faschismus, schrieb Artikel und Essays, übernahm Kurierdienste, hielt Vorträge in diesem und jenem Land - überzeugt davon, daß einer größeren Gefahr für Europa begegnet werden müßte, dem sich selbst entlarvenden Faschismus. Als Moskau endlich darin einwilligte, die Volksfrontpolitik zu unterstützen, wurden Manès Sperber und manche seiner Freunde aus einem Zustand des schmerzhaften Haderns erlöst; sie konnten damit beginnen, sozialistische Gruppen und Organisationen, die bis dahin als Hauptfeind galten, für eine Aktionsgemeinschaft gegen den Faschismus zu gewinnen.
Dennoch - bei aller Bedeutung dieser Aufgabe -, der Bruch war angelegt, er mußte erfolgen, da der skeptische Gläubige nicht aufhörte, auf einer Forderung zu bestehen: auf der Unabhängigkeit des eigenen Urteils. Als in Moskau die großen Schauprozesse begannen, als Unschuldige mit den absurdesten Argumenten zu Schuldgeständnissen gepreßt und in den Tod geschickt wurden, gab es keine Wahl mehr; wer die Wahrheit über diese Hexenprozesse kannte - und viele kannten sie -, mußte sich entscheiden. Pjatakow und Sinowjew, Kamenjew und Rykow und mit ihnen 1000 andere büßten für Verbrechen, die Stalins Geheimpolizei erfunden hatte; - für alle, die sich ihren Verstand bewahrt hatten, eine alptraumhafte Herausforderung. Die Grenze der Selbstverleugnung war erreicht. Der Glaubensabfall von dem »Gott, der keiner war« ging, äußerlich betrachtet, verhältnismäßig still vor sich, fast wie ein Rückzug ins Privatleben. Manès Sperber bekannte indes, daß der Entzug, zu dem er sich als »Hoffnungssüchtiger« entschieden hatte, unerwartete und zum Teil bedrohliche Probleme mit sich brachte: Heimatlosigkeit und Einsamkeit hatte er bereits an sich erfahren, was hinzu kam, das war ein Gefühl der Gegnerschaft gegen sich selbst: Welche Folgen hat mein Irrtum; hab' ich am Ende mit verraten? »Wer sich selber feind wird'-, so schrieb er, »gerät in Gefahr, jeden Ausblick auf die Zukunft zu verlieren.« Es galt, sich in einem Niemandsland von neuem zu bestimmen, eine Zuflucht zu finden, wo man in Übereinstimmung mit sich selbst handeln konnte; diese Zuflucht wurde für Manès Sperber die Literatur.
Freilich, für den schreibenden Einzelgänger, der sich von etlichen Kameraden mit den Worten verabschiedet hatte: »Vergiß mich nicht«, fand sich keine bukolische Einsamkeit, die Zeitgeschichte spürte ihn überall auf, holte ihn immer wieder ein und stellte ihn vor folgenreiche Entscheidungen. Den Zweiten Weltkrieg erlebte er als Freiwilliger, abermals wurde er Zeuge von Not und Untergang, die Spannungen illegalen Daseins blieben ihm ebenso wenig erspart wie die nächtliche Flucht über die Grenze und die Erfahrungen des Lagers. Kaum schafft sich dieses Leben einen Entwurf, da wird schon eine gewaltsame Befristung erkennbar, Gegenwart wird fortdauernd entwertet: eine leidvolle Durchgangsphase, mehr ist sie nicht. Es gibt keinen vollkommenen Sieg, oder, mit Hemingway zu sagen: »Der Sieger geht leer aus«; nach dem Ende des Krieges fand Manès Sperber diese Erkenntnis bestätigt; doch auch sie führte ihn nicht in die Resignation. Als ob seine eigene Vergangenheit an ihn appelliert hätte, übernahm er, womit man ihn und womit er sich selbst beauftragt hatte, er handelte in wesentlicher kulturpolitischer Mission, er handelte mit der Legitimation des Zeugen überall da, wo er Vernunft und Wahrheit bedroht sah, er, der »Spezialist für Niederlagen«, handelte unentmutigt als Aufklärer und Vermittler des nötigen Worts.
Über sein Verhältnis zum Schreiben sagte er selbst: »Ich nehme das Schreiben so ernst wie das Leben und die Drohung des Todes, denn ich bleibe dessen stets gewahr, daß alles künstlerische Schaffen, besonders aber jenes des Dichters, den ganzen Menschen auf die Probe stellt: sein Wesen, sein Wissen und sein Bewußtsein, seine innere Wahrhaftigkeit ebenso wie seine nicht überwundenen Schwächen.« Sperbers Themen, seine Motive und Konflikte: Er brauchte sie nicht mühsam zu wählen, von weither zu beziehen, er verfügte bereits über sie als eine Art erlittenen Besitz, die Erfahrungen des Überlebens reichten allemal aus, um den Zustand der Welt zu beschreiben. Auch wenn es arg allgemein klingt: Für den Schriftsteller stellt sich nur ein Thema, und das ist die Welt in ihrer Unübersehbarkeit; um ihre Spielregeln aufzudecken, um zu zeigen, was sie verwehrt und möglich sein läßt, genügt es durchaus, ihr das Schicksal eines einzelnen in seiner Zeit entgegenzusetzen, ja, durch das Schicksal des geprüften Individuums läßt sich die allgemeine Lage wohl am verläßlichsten darstellen. Man kann schließlich nicht von sich sprechen, ohne auf die ändern einzugehen, sie zumindest mit zu meinen; die Aufbrüche des einzelnen, seine Hoffnungen und Niederlagen weisen unwillkürlich über individuelles Dasein hinaus.
Nach seinen eigenen Worten wollte der Schriftsteller Manès Sperber »nur ein Erinnerer« sein; er sagt »nur« und weiß, daß dies nicht wenig ist; denn erinnern, das heißt ja nicht allein wiederzubeleben, es stellt auch einen Akt der Auflehnung dar gegen das Vergessen werden: Wir finden uns nicht ab mit der Gleichmütigkeit der Geschichte, die über alles hinweggeht. Als Angehöriger eines Volkes, dem das »Aufbewahren« unendlich viel gilt, ist Erinnerung aber - so glaube ich wenigstens - für Manès Sperber noch etwas anderes, nämlich eine besondere Form der Liebe, eine Liebe zu denen, die ihr Unglück stimmlos gemacht hat, deren Opfer vergeblich war. Sein Lebensbericht - die drei Bände »Die Wasserträger Gottes«, »Die vergebliche Warnung« und »Bis man mir Scherben auf die Augen legt« - ist ein einziges Beispiel dafür. Der Autor steigt hinab in das Schattenimperium seiner Zeit, doch er will es nicht damit bewenden lassen, daß alles in seiner Vergangenheit bleibt; er mischt die Zeiten, verschmilzt die Horizonte - die Trauer Galiziens findet ihre Entsprechung in Wien, die Hoffnungen, die Berlin zuließ und vereitelte, werden mit den Hoffnungen der Pariser Jahre verglichen, in einem forschenden Zwiegespräch wird »All das Vergangene« so nah gesehen, daß seine konstituierende Bedeutung für die Gegenwart offenbar wird.
Der Beter und der Wasserträger, der Komplize und der Mentor, der aufrichtig Irrende und der »Engel mit gebrochenen Flügeln«: durch die Kraft der Vergegenwärtigung werden sie für einen Augenblick zu Zeitgenossen, die in unser Leben hineinsprechen. Das Gleichnishafte, das Sperber in allem zu zeigen oder anzudeuten versucht, erhöht unsere Empfindlichkeit für die Situation.
Auch in seinem bedeutendsten epischen Werk, in der Roman-Trilogie »Wie eine Träne im Ozean«, wird deutlich genug, wem die Sympathie des Schriftstellers gehört, wem er sich verbunden fühlt in lebenslänglicher Solidarität: Es sind die Gefährten, die aus Überzeugung die Aktion wählten und erfahren mußten, daß ihre Auflehnung vergeblich war. Es sind die skeptischen Wahrheitssucher, die, wenn auch von der Geschichte besiegt, ein Recht auf ihrer Seite behalten: das Recht, angesichts von Lüge und Gewalt zu handeln. »Wie eine Träne im Ozean«: ein großes Zeugnis europäischer Romanliteratur, ein politisches und philosophisches Werk, eine Gewissenserforschung, ein Zeitporträt ohnegleichen, an dem, so kam es mir mitunter vor, Dostojewskis Leidenschaft ebenso mitgewirkt hat wie die denkerische Luzidität der französischen Moralisten. Die Vorbereitung einer politischen Aktion und das Herz einer Stadt: die bisweilen aphoristisch anmutende philosophische Debatte und das sanfte Liebeserlebnis; die »todbringende Wahrheit« - wie Malraux es nannte - und das Bild einer Landschaft: Die gleiche Meisterschaft verbindet den Ereignisreichtum und die Gestaltenfülle dieses Buches. »Wie so viele Schriftsteller vor ihm«, bemerkte Manès Sperber in einem Vorwort, »hat der Autor seinen Lesern nur eines angeboten - mit ihm seine Einsamkeit zu teilen.« Dies Angebot wurde angenommen, dankbar und nicht ohne Folgen; denn wie der alte Brandes in Kopenhagen sagte: Gut ist das Buch, das mich verändert. Erinnerer wollte er und will er sein; doch der Erinnerer wird nach eigenem Eingeständnis zum »besessenen Erben des Vergangenen«, wann immer er sein Judesein bedenken muß, er wird zum »Erben eines Unglücks«. Unfähig zur Gleichgültigkeit, aber auch unfähig zum Haß, ermißt er jüdisches Schicksal, das heißt jüdisches Leid, er deckt die historischen Ursachen des Antisemitismus auf und begründet, warum er, ein Ungläubiger, immer zum Judentum gehören wird. »Churban oder Die unfaßbare Gewißheit«: Dieser Essayband gibt eine Antwort darauf, warum Zablotow gegenwärtig bleiben muß, warum auch die Ahnen, die Gefährten und Wegbegleiter gegenwärtig bleiben müssen, die despotische Gewalt als Opfer bestimmte. "Ich bin ein europäischer Jude«, sagt Manès Sperber, »der jeden Augenblick dessen bewußt bleibt, ein Überlebender zu sein, und der nie die Jahre vergißt, in denen ein Jude zu sein ein todeswürdiges Verbrechen gewesen ist.« "Churban«, das steht hier für Holocaust und meint die Zerstörungen des Ersten und Zweiten Tempels. Was zerstört ist, vernichtet wurde - es verpflichtet den Nachkommen in besonderer Weise: Er bereitet dem Verlorenen eine Heimat in seinem Gedächtnis.
Aber dieses Werk ist nicht allein durch den besonderen Geist des Erinnerns geprägt, ich finde in ihm ebenfalls die charakteristischen Züge einer souveränen Gegenwehr gegen die Zumutungen der »täglichen Weltgeschichte«. In den programmatischen Essays von Manès Sperber zeigt sich: Hier wehrt sich einer mit allen Mitteln des Scharfsinns und der analytischen Beweiskunst, hier teilt einer seine Antworten aus, indem er gelassen Erscheinungen ausfragt, demaskiert, was uns blendet, in Zweifel zieht, was sich nicht rechtfertigen läßt, bestätigt, was verantwortbar ist. Der bestimmende Anstoß für den Essayisten, wie er ihn selbst sieht: ».. . eine aufdringliche Ungewißheit, eine herausfordernde Fragwürdigkeit, in der sich eigenes oder fremdes Leben oder ein bedeutendes, aber widerspruchsvolles Werk oder schließlich ein vieldeutiges Ereignis darstellt.« Allein die Titel seiner Essays machen deutlich, daß das Programm, das er sich einst entwarf, verbindlich für ihn geblieben ist - man kann es auch Treue zu sich selbst nennen: Sie heißen etwa »Zur Analyse der Tyrannis«, «Die Achillesferse« (darunter »Die polizistische Geschichtsauffassung«, »Über den Haß«); sie heißen: »Die falschen Situationen«, »Die falsche Alternative«, »Wallfahrt nach Utopia« oder »Geschick und Mißgeschick der Intellektuellen in der Politik«.
Er hat nicht aufgehört, die Herausforderungen anzunehmen, uns ins Bewußtsein zu bringen, was Ideologie unterschlägt und welche Fallen sie bereithält. Kassandras Stimme ist nicht brüchig geworden; der alte Warner nimmt nach wie vor das Wort, obwohl er oft genug erfahren hat, daß seine Warnungen vergeblich waren. Wo die Wahrheit in Bedrängnis gerät, wo man uns in trügerische Paradiese hineinzwingen will, wo die Gesetze der Moral außer Kraft gesetzt werden und eine anmaßende Macht den einzelnen zur Unmündigkeit verurteilt, kann man mit Manès Sperber rechnen, mit seinem Einspruch, mit seinem Widerstand, der beglaubigt wird durch jede Erfahrung am eigenen Leib.
Ich wünschte, ich könnte hier noch mehr über ihn sagen, über sein Verhältnis zur Sprache und zu Sprachen zum Beispiel, über seine Freundschaften und Begegnungen, über das Geheimnis seines Witzes und sein Talent als Zuhörer; vieles könnte, müßte noch zu seinem Lob erwähnt werden - ich muß mich mit dem Gesagten begnügen.
Manès Sperber erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Er ist für den Frieden tätig gewesen, indem er unnachsichtig für die Erfüllung der Menschenrechte plädierte. Er hat eine Möglichkeit des Friedens gezeigt durch seine Wahrheitsliebe und Menschenliebe - er, der mit vielen seiner Generation durch alle Finsternisse dieses Jahrhunderts gegangen ist.
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Siegfried Lenz
Laudatio
Für einen Europäer meiner Generation, aber auch für die Nachgeborenen, kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Europa sich und zugleich seine unübertrefflichen Werte retten kann, wenn es föderativ vereint und, statt ein Zankapfel zwischen zwei Supermächten zu sein, selbst zu einer Großmacht wird, die weder eroberungs- noch rachsüchtig, jedoch nur aufs äußerste entschlossen bleibt, durch eigene, zulängliche Abwehrkräfte jene abzuschrecken, die sich durch seine Schwäche und den eigenen Hegemonismus ermutigt fühlen können, sich Europas zu bemächtigen.
Manès Sperber - Dankesrede
Manès Sperber
»Leben im Jahrhundert der Weltkriege«
Dankesrede
Alfred Grosser stellte der Rede des Friedenspreisträgers folgende persönliche Bemerkung voran: "Es ist eine traurige, eine große, eine schwierige Ehre, anstatt Manès Sperbers hier zu stehen und seine Rede vorzulesen. Ich bin mir da voll bewußt – wenn ich auch mein Bestes tun werde –, daß es nicht so sein wird, als wenn er da stünde und selbst seine Gedanken vorgetragen hätte.«
Ich bin der zweite Laureat des Frankfurter Friedenspreises, der durch Abstammung wie Wahlverwandtschaft ein Ostjude und trotzdem ein der deutschen Kultur in schmerzlicher Untrennbarkeit verbundener Schriftsteller geblieben ist. Der erste meiner Art ist ein vor acht Jahren in Jerusalem verstorbener chassidischer Religionsforscher, der deutsche Schriftsteller und israelische Universitätsprofessor Martin Buber gewesen. Am 2.7. September 1953 sagte Buber zu Beginn seiner Ansprache über »Das echte Gespräch und die Möglichkeit des Friedens« (ich zitiere das Wesentliche):
»Eine erhebliche Anzahl deutscher Menschen haben auf den Befehl der deutschen Reichsregierung Millionen Juden in einer systematisch vorbereiteten Prozedur umgebracht ... Sie (die Mörder) haben sich dem menschlichen Bereich so dimensional entrückt, daß nicht einmal ein Haß in mir hat aufkommen können. Und was bin ich, daß ich mich vermessen könnte, hier zu vergeben!« (Soweit Buber).
Eine Rundfrage meines verehrten Freundes Hermann Kesten beantwortend, schrieb ich im Jahre 1963 unter anderem dieses: »Im Frühjahr 1943 erfuhr ich aus dem Munde eines Augenzeugen, was in Polen geschah; ein junger Mann berichtete mir, was er in einigen jüdischen Städten Polens selbst gesehen und in Treblinka erlebt hatte ... Mir wurde es gewiß, daß Deutschland mir niemals mehr sein konnte, was es für mich bis dahin, bis zu meinem 37. Lebensjahr, gewesen war .. .«
Selbst damals, in jener entsetzlichen Stunde, empfand ich keinen Haß und keine Rachsucht gegen das Volk, dessen gewählte Führer unschuldige Männer, Frauen und Kinder meines Stammes erniedrigen und sodann ausrotten ließen.
Kein Ressentiment, kein Haß - was also trennt mich von Deutschland?
»Eine Trauer, so grenzenlos, daß das Leben einer Generation nicht ausreicht, sie auszuschöpfen. Ja, in meinem tiefsten Innern glaube ich, daß es während zwei oder drei Generationen für Juden meiner Art unwürdig bleiben wird, sich mit den Deutschen zu idenfizieren.«
Würde ich Ihnen jetzt dies alles nicht ins Gedächtnis rufen, so geriete ich in eine subjektiv und objektiv falsche Situation. Im Gedenken an die Erniedrigten und Ermordeten, als deren untröstlicher Hinterbliebener ich mich bis an mein Lebensende empfinden werde, muß ich mich und Sie an diese nahe Vergangenheit, an diese unfaßbare, unauslöschliche Gewißheit erinnern.
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Als wir in den ersten Monaten des Jahres 1915 von unserer zweiten Flucht vor der russischen Invasion in unser Städtchen am Pruth zurückkehrten, begleitete uns der aus Wien geholte Lehrer. Nun galt es eilig, die verlorene Zeit aufzuholen. Am Vormittag bereitete er mich für einen frühen Eintritt in eine Wiener, also deutschsprachige Schule vor; die zweite Hälfte des Tages aber war der Religion, der Bibel gewidmet. Die frühen Nachmittagsstunden gehörten dem Studium des jeweiligen Wochenabschnitts der Thora, in den späteren lernte ich die Bücher Jesajas und Jeremias ins Jiddische und ins Deutsche zu übersetzen. Jesaja zuerst, dessen unerbittlich fordernde und zugleich hoffnungsvolle Botschaft mich Ungläubigen noch heute angeht, und dann Jeremias, dessen Leiden am eigenen Volke mich entdecken ließ, daß Liebe eine unversiegbare Quelle von Unglück sein kann. Er klagte: »Weñemar: Schalom, schalom! We-en Schalom!« - Man ruft: »Frieden, Frieden, aber es ist kein Friede.«
Seit jenem ersten Kriegswinter begleitete mich diese Klage wie der bedrängende Kehrreim eines Liedes, der seit Jahrtausenden nutzlose Mahnung bleibt.
Wer jenen Krieg auf Seiten der Zentralmächte erlebt hat, wird niemals die Friedenssehnsucht vergessen, die uns alle, Zivilisten wie Frontkämpfer, beherrschte. Sie glich einer tyrannischen, unstillbaren Sucht. Und zur Zeit, als wir, am Ende des zweiten Kriegsjahres, in der Kaiserstadt, in unserer Hauptstadt Wien Zuflucht suchten, da breitete sich auch im Hinterland die Friedenssehnsucht aus. Vom Frieden allein erwartete man die Lösung der Probleme, die mit jedem Tage bedrängender wurden. Damals, mit elf Jahren, wurde ich ein leidenschaftlicher Pazifist, lief in verbotene Versammlungen, sang aufrührerische Lieder aus voller Brust und stimmte in den Chor der Demonstranten ein: »Nie wieder Krieg! Nie wieder Krieg!« - das war und blieb noch lange unsere Parole.
Diese nicht nur autobiographische Bemerkung stelle ich meiner Ansprache voran, weil ich im Laufe meiner Ausführungen voraussichtlich Zweifel an meinem Pazifismus von heute erwecken werde. Seit langen Jahren ersetze ich die üblichen Friedensanpreisungen durch die Frage: Warum konnten die Erfahrungen jener Jahre nicht verhindern, daß etwa 20 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg ein zweiter folgte, der von unserem Kontinent ausging und schließlich die ganze Welt mitriß?
Ja, ich habe bereits in meiner Kindheit den Krieg hassen gelernt und ihn zu hassen nie aufgehört. Doch gerade im Hinblick auf jene Jahre wie auf die gegenwärtige Lage und auf die aggressivsten Kundgebungen der heutigen Pazifisten kann ich mich nicht als einer der ihren ansehen.
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Verehrte Anwesende, ich werde nunmehr nicht über den Frieden, sondern über den Krieg sprechen. Wir stimmen wohl überein; Es gibt keinen guten Krieg, jedoch kann es einen guten, öfter noch einen schlechten Frieden geben, den man heuzutage als »kalten Krieg« bezeichnet. Immanuel Kant, unser aller Lehrer, hat im Jahre 1795 in seiner Schrift »Zum ewigen Frieden« das Postulat aufgestellt: »Es soll kein Friedensschluß für einen solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt zu einem künftigen Krieg gemacht worden ist.« In der Tat ist ein schlechter Friedensschluß der Vater jedes neuen Krieges. Andererseits gibt es überall, wo man an den Gott der Bibel glaubt, den Begriff vom »ewigen Frieden«, den Jesajas als den Zustand prophezeit hat, der auf den »letzten aller Tage« folgen würde. Nun, weder vorher noch seither, das heißt seit 2500 Jahren, hat es auf dem Planeten wohl auch nur ein Jahr ohne Krieg gegeben, hingegen gar manchen Waffenstillstand, den man gerne als Frieden bezeichnete. »Es ist kein Friede!« klagte Jeremias mit Recht. Soll man daraus folgern, daß der Krieg die gewöhnliche, stets wiederkehrende Form der Beziehungen zwischen den Völkern ist? Wer wollte darauf antworten? . . .
Um es völlig klarzumachen: Ich bin entschiedenst gegen jeden Krieg, gleichviel, auf welchen Glauben oder welche Ideologie sich die Angreifer berufen mögen. So konfliktreich der Friede auch sein mag, der auf den Zweiten Weltkrieg gefolgt ist, so muß man dennoch jeden Versuch ablehnen, mit einem Krieg eine Änderung der Verhältnisse herbeizuführen, die vor allem dadurch entstanden sind, daß die freien Staaten sich mit einem totalitären Staate hatten verbinden müssen, den Hitlers wahnwitziger Angriffskrieg in ihr Lager geworfen hatte. Nachher mußte Europa seine Grenzen weit zurückstecken. Polen, ein kulturell okzidentales Land, ist nicht mehr europäisch; die Tschechoslowakei, seinerzeit eines der fortgeschrittensten demokratischen Länder Mitteleuropas, ist es nicht mehr. Ungarn, Rumänien, Bulgarien sind es nicht mehr. Sie alle haben ihre nationale Unabhängigkeit verloren.
Im Unterschied zu meinem Freunde Raymond Aron, dem unbestechlich luziden Wahrheitssucher, dem Philosophen, Soziologen und politischen Denker, der vor Jahren ein grundlegendes Buch über »Frieden und Krieg« und später ein zweibändiges Buch über »Clausewitz -Den Krieg denken« publiziert hat, spreche ich hier über den Krieg nur als ein aufmerksamer Zeitgenosse und ein Individual- und Sozialpsychologe, der seit langen Jahren der Frage nachsinnt, warum sich seine Zeitgenossen so leicht mit einem zweiten Weltkriege abgefunden haben, als ob sie gar nichts aus dem ersten gelernt hätten. Von da an gelangte ich zur umfassenderen Frage, die das allgemeine Verhältnis der Menschen zum Krieg betrifft, und suchte die Antwort bei den jüdischen Propheten, bei den Dramatikern der Antike, bei Homer, Thukydides, bei den griechischen und römischen Historikern, bei christlichen Autoren und Kriegssoziologen von heute. Seit Jahrtausenden bieten sich viele Antworten an, doch nicht die Antwort, die allein dem Sachverhalt gerecht wäre. Was ich als Psychologe hinzufügen kann, ist natürlich keineswegs ausreichend . . .
Hier eine Einsicht, die sich mir seit Jahren aufdrängt: Sie betrifft das Verhältnis des Menschen zu seinem tyrannischen Alltag, den er als Versklavung und als Entkernung seines Wesens empfindet. Ihm sucht er, bewußt oder unbewußt, zu entweichen. Ja, seit Jahrtausenden suchen Menschen aller Stände der täglichen Wiederkehr des Gleichen zu entfliehen - gleichviel wohin. Gewiß, man kann in intimen Erlebnissen, in Liebe und Freundschaft, aber auch in intimen Zwistigkeiten Abwechslung, Flucht und Ausflucht suchen, aber nur das große Abenteuer, ein allgemeines Moratorium des Alltags, kann eine völlige Umwälzung der Lebensweise und der alles regelnden täglichen Ordnung herbeiführen. Riesenbrände, Überschwemmungen, Erdbeben und andere Naturkatastrophen und schließlich das von Menschen selbst herbeigeführte, religiös, ideologisch, national, sozial oder sonstwie begründete und gerechtfertigte Unheil: der Krieg.
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Während der ersten Tage eines Krieges herrscht in den kriegführenden Ländern eine Stimmung vor, die schlechthin unbeschreiblich ist, weil sie merkwürdige Euphorien und Urängste, Gefühle persönlicher Befreiung und allgemeiner Verknechtung vermischt.
Nein, meine verehrten Anwesenden, ich glaube natürlich nicht, daß diese merkwürdige psychologische Folge eines Kriegsausbruches und die vielen Nebenerscheinungen, die ein länger dauernder Krieg mit sich bringt, Begeisterung für einen Krieg erzeugen. Jedoch bleibt unleugbar, daß die vernünftige Ablehnung des Krieges nicht immer vorherrscht, ja, daß kriegsfröhliche Stimmungen aufkommen, die keineswegs nur politisch, religiös oder sozial ausreichend begründet sind.
Von dem besonders intensiven, verführerischen Erlebnis der Kriegs-Kameradschaft haben bedeutende Schriftsteller, die im Ersten Weltkrieg an der Front gewesen sind, eindringlichst erzählt: so Ernst Jünger, Erich Maria Remarque, Ludwig Renn und so viele andere. Empfindsame Leser mußten den Eindruck gewinnen, daß sie selbst nie recht verstehen würden, worum es da wirklich ging-
Nun, jeder von uns ahnt, daß es Erlebnisse gibt, von denen man alles weiß, ohne das Wesentliche erfassen zu können, solange man nicht selbst durch sie hindurchgegangen ist. Etwa: die Mutterschaft, die Vaterschaft, eine lange Gefangenschaft in der Einzelzelle, ein langes Exil - ja, all das muß man selbst erlebt haben, um es verständnisvoll zu erfassen. So bleibt auch im flächigen Bild des Krieges für den Außenstehenden vieles unsichtbar, das in den überlebenden Soldaten ständig nachwirkt. Unter anderem eine merkwürdige Erlebnisstimmung -die des wieder auferstandenen Lazarus, über dessen zweites Leben manche Dichter nachgesonnen haben.
Viele von Ihnen, die mich jetzt hören, können sich mühelos an die Flucht vor den Luftbombardements erinnern und an den Augenblick, da sie aus den Schutzkellern wieder ans Tageslicht traten. Denken Sie an die seltsam euphorische Stimmung, in der Sie mitten unter Trümmern jedes Mal aufs neue beinahe übermütig zu leben begannen, wie von allem Schrecken wundersam geheilt. Es handelt sich da um das merkwürdige Triumphgefühl des Spielers, der nach vielen Verlusten die Nacht mit einem nicht mehr erhofften Gewinn beendet.
Welche Schlüsse sollen wir aus alledem ziehen? Meine Damen und Herren, ich habe eingangs gestanden, daß ich keinerlei Kriegstheorie entwickelt habe und keineswegs begründen kann, warum Völker sich seit Jahrtausenden immer wieder »auf die Schlachtbank führen lassen«, um mit Schiller zu sprechen. Aber ich kann nicht aufhören, über diese Dinge nachzusinnen und in dem Unerklärlichen, Nichtverstandenen, Widersprüchlichen des menschlichen Verhaltens nach einer Erhellung der conditio humana zu suchen.
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Immanuel Kant formulierte als zweiten Definitiv-Artikel »Zum ewigen Frieden«: »Das Völkerrecht soll auf einen Föderalism freier Staaten gegründet sein.« Dieser Satz enthält das Wesentliche, worauf es heute ankommt: Die Vorbedingungen zu einer Föderierung freier Völker in Europa, die selbst dem Skeptiker und Pessimisten ebenso möglich wie wünschenswert erscheinen muß, sind nunmehr gegeben - jetzt, da ein Krieg um die Vormachtstellung sinnlos geworden ist, jetzt, da ein Krieg in Europa nur noch für alle ein vernichtender Bürgerkrieg sein würde. Ja, der Krieg ist sinnlos geworden, sofern er es nicht seit jeher gewesen ist. Der Erste Weltkrieg war das wahnwitzigste Abenteuer der Menschheit. Das beweist nicht nur sein tatsächlicher Verlauf und die Ungeheuerlichkeit des Blutverlustes, den er insbesondere den europäischen Nationen, Siegern wie Besiegten, zugefügt hat, sondern auch die zerstörerische Unordnung, die er zurückgelassen hat. Und trotzdem, trotz alledem . . . Wird der Krieg von uns allen als völlig sinnlos empfunden?
Die Pazifisten sprechen gewöhnlich wenig vom Kriegserlebnis, sondern ständig vom zerstörerischen Wahnwitz, von der fortdauernden Apokalypse und vom Grauen der Atomwaffen. Und wer könnte daran zweifeln, daß die Atomwaffen das Ungeheuerlichste darstellen, was der Mensch bisher erfunden hat, um Menschen zu töten und ihre Wohnstätten zu vernichten?
So ist es durchaus begreiflich, daß man zahllose Menschen, Männer und Frauen, dazu bringen kann, gegen die Atomwaffen Proteste zu unterschreiben, in Massenversammlungen gegen sie zu demonstrieren, die Mitbürger vor der Gefahr eines Atomkrieges zu warnen und die Erzeugung und Aufstellung von Raketen zu verhindern.
Meine Damen und Herren, der Pazifismus ist in Europa keineswegs eine neue Erscheinung. Im vorigen Jahrhundert haben beinahe in allen Hauptstädten der Welt internationale Kongresse gegen den Krieg stattgefunden. Die bedeutendsten Intellektuellen der Zeit sind mit dabeigewesen: Ich nenne nur einen, der weltberühmt geblieben ist: den französischen Dichter Victor Hugo. Man weiß andererseits, daß die pazifistische Gesinnung sowohl in den marxistischen wie in den anarchistischen Arbeiterbewegungen aller Länder vorgeherrscht hat. Man hat nicht vergessen, daß die Zweite Internationale, die anerkannte Führung der gesamten sozialistischen Arbeiterbewegung, der politische Wegweiser der Gewerkschaften und eines großen Teils der Konsumvereine gewesen ist. Nun, bis zum letzten Augenblick haben die Arbeiterparteien gegen die Kriegspolitik aller Staaten protestiert. Riesige Massen demonstrierten in den europäischen Hauptstädten gegen den Krieg. Auf den gleichen Straßen marschierten wenige Tage nach Kriegsanbruch Männer und Frauen, um ihre patriotische Begeisterung laut werden zu lassen und um die an die Grenzen abgehenden Soldaten zu bejubeln.
Doch es geht, wie ich eingangs betont habe, nicht nur um die vernichtende Kraft der Waffen - in jedem Krieg geht es um legalisierten, ja anbefohlenen Mord an unschuldigen Menschen, ob man sie nun mit Hieb- und Stichwaffen, mit Hinterladern oder Repetiergewehren tötet, mit Kanonen oder mit Bomben, mit Gasen oder Kernwaffen vernichtet. Es kommt darauf an, unermüdlich zu erforschen: Warum, wozu Krieg? Warum, wieso er auch jenen Zeitgenossen erträglich erscheint, die während vieler Jahre vor ihm als dem furchtbarsten Unglück zu warnen nicht aufgehört haben. Wer anstatt über die Quelle und die Gründe der Kriegsgefahr nachzudenken, seinen leidenschaftlichen Protest nur auf die Waffen, und waren es die mörderischsten, reduziert, vermeidet, bewußt oder unbewußt, die Suche nach dem Feuerherd und erliegt der heute weitverbreiteten Neigung, die Mittel mit den Zielen zu verwechseln.
Ja, ich wiederhole es: Ich bin gegen jeden Krieg, ausnahmslos. Aber ich weiß, ich wußte es auch im Jahrzehnt des Dritten Reiches, daß ein totalitäres Regime sich gefährdet glaubt, solange es nicht seine grenzenlose Macht über die unmittelbaren und mittelbaren Nachbarn - und eines Tages über den ganzen Planeten - ausbreitet.
In den 30er Jahren wurde meinesgleichen von Goebbels und seinen Tintenkulis als Kriegshetzer beschimpft, sooft wir davor warnten, den stetig wachsenden Forderungen Hitlers nachzugeben und durch Kapitulation am Ende den Krieg unvermeidlich zu machen. Und nun leben wir seit Jahrzehnten in der Ära pseudo-ideologischer Erpresser. Jeder aber sollte wissen, daß Erpresser um so mehr verlangen und um so bedrohlicher werden, je öfter man ihnen nachgegeben hat.
Meine Damen und Herren, ich spreche hier, im Herzen eines Erdteils, dessen innere Zwiste im Verlaufe von 25 Jahren zwei Weltkriege hervorgerufen haben. Wie so manchem von denen, die von Ihnen seit 1951 preisgekrönt wurden, geht es auch mir vor allem um diesen unseren Erdteil, der mehr als nur im geographischen Sinne unsere Heimat ist. Ist diese selbst ungefährlich geworden, so bleibt Europa heute weit mehr gefährdet, als je vorher. Ja, dieses alte Europa verdient es nicht, unterzugehen. Es hat aufgehört, eine Kolonialmacht zu sein, keinerlei Eroberung kann es mehr locken - endlich könnte dieser kriegswütige Erdteil zu einer vorbildlichen Friedensmacht werden. Bleibt jedoch ein Faktum von unüberschätzbarer Bedeutung: Es teilt den gewaltigen Kontinent mit einem totalitären Imperium, dessen Herrscher ihre Diktatur so lange für gefährdet halten, solange sie sich nicht bis zu den Ufern des Atlantischen Ozeans, ja, wenn möglich, über die ganze Erde ausbreitet.
Das liegt offenbar im Wesen des Totalitarismus, der Zwang, sich die ganze Welt Untertan zu machen - all das mir ideologischen Verbrämungen, die zwar mit den Jahren zweifellos ihren Zauber und ihre Werbekraft verloren haben, aber nunmehr durch unheimliche Atomwaffendrohungen wirksamst unterstützt werden. Und daß dem so ist, beweisen, ohne es zu wollen, jene, die heute durch die Hauptstädte demokratischer Länder ziehen, um dagegen zu protestieren, daß in Europa Abwehrmittel gegen die Erpressung, gegen die Drohung mit Atomwaffen zur rechten Zeit aufgestellt werden.
Ich will Sie in diesem Zusammenhang eindringlichst daran erinnern, daß während langer Jahrhunderte alle Bemühungen, die europäischen Völker in einem Staatenbund zu vereinigen, daran gescheitert sind, daß stets aufs neue der Kampf zumindest zweier Völker - der Deutschen und der Franzosen - um die Vorherrschaft in Europa Zwietracht säte. Frankreich und Deutschland wissen nun, daß sie ihr Heil keineswegs in einer nationalen Hegemonie über Europa finden könnten. Heute ist man diesseits und jenseits des Rheins davon überzeugt, daß nur dank dem Einverständnis aller das freie Europa gerettet werden könnte.
Wer jedoch glaubt und glauben machen will, daß ein waffenloses, neutrales, kapitulierendes Europa für alle Zukunft des Friedens sicher sein kann, der irrt sich und führt andere in die Irre. Wer für die Kapitulation vor jenem bedrohlichen Imperium eintritt, das seit dem Zweiten Weltkrieg mehrere europäische Staaten in Satelliten verwandelt hat, irrt sich und führt andere in die Irre.
Für einen Europäer meiner Generation, aber auch für die Nachgeborenen, kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Europa sich und zugleich seine unübertrefflichen Werte retten kann, wenn es föderativ vereint und, statt ein Zankapfel zwischen zwei Supermächten zu sein, selbst zu einer Großmacht wird, die weder eroberungs- noch rachsüchtig, jedoch nur aufs äußerste entschlossen bleibt, durch eigene, zulängliche Abwehrkräfte jene abzuschrecken, die sich durch seine Schwäche und den eigenen Hegemonismus ermutigt fühlen können, sich Europas zu bemächtigen.
Da ich - wie so viele andere - stets dazu geneigt war, unsere Zivilisation mit unerbittlicher Strenge zu kritisieren, will ich heute um so lauter darauf bestehen, daß Europa sich trotz allem selbst retten kann, wenn es sich nicht dazu verführen läßt, sich gerade in einer Zeit aufzugeben, in welcher der Mut zur Menschlichkeit und zur Wahrheit den Mut zur Selbstbehauptung voraussetzt.
Wie auch immer die Beziehungen zwischen Amerika und Rußland sich gestalten mögen, Europa wird sich nicht dank masochistischer Wehrlosigkeit, sondern nur dann aus deren Konflikten heraushalten können, wenn es selbst eine Supermacht geworden sein wird, so abschreckend wie jene Riesenstaaten. Das ist unsäglich traurig, jedoch unvermeidlich, weil diese Welt noch während mehrerer Jahrzehnte der Gefahr und der Lockung des Selbstmordes ausgesetzt bleiben wird. Wir alten Europäer aber, die den Krieg verabscheuen, wir müssen leider selbst gefährlich werden, um den Frieden zu wahren.
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Und nun noch zwei Nachbemerkungen: die erste bezieht sich auf die Amerikafeindschaft vieler Europäer, auf ihre aggressive Undankbarkeit, die wohl die niederträchtigste Form individueller wie nationaler Selbstbehauptung ist. Jene, für welche die europäische Kultur mehr ist als ein beinahe unerträglicher Überanspruch; für jene, die mit allen Fibern am geistigen Reichtum Europas hängen, bleibt der Unterschied zwischen diesem alten Kontinent und dem Amerika von heute, jener alten europäischen Kolonie, sehr bedeutsam. Es geht da kaum um Wertung oder Entwertung, sondern vielmehr um eine Identitätsfrage. Weder Rußland noch Amerika wären geworden, was sie sind, wenn Europa ihnen während langer Jahre nicht als Vorbild, als geistige Heimstätte oder als abschreckendes Beispiel gedient hätte.
Wer nun behauptet, daß Europa heute durch die Vereinigten Staaten von Amerika gleichermaßen wie durch das sowjetische Imperium gefährdet wird, ist in meinen Augen durch aggressive Undankbarkeit verblendet. Andererseits ist es wahr, daß Europa seinen Schutz nur den eigenen Kräften und keiner Supermacht anvertrauen darf.
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Hölderlin läßt Hyperion in seinem letzten Brief an Belarmin schreiben: »Wie der Zwist der Liebenden sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder.«
Dieses Wort setze ich an das Ende einer Ansprache, in der viel von Krieg und Gefahren die Rede ist. Und ich schließe mit einem durchaus unmodischen Bekenntnis zur Zukunft:
Ich bin ein alter Revolutionär, der den Hoffnungen, die er begraben mußte, treu geblieben ist. Ja, ich glaube nach wie vor, daß die Welt verändert werden kann und verbessert werden wird. Im Unterschied zu vielen meiner Zeitgenossen bin ich davon überzeugt, daß der Mangel, an dem so viele Menschen an allen Orten, besonders aber in Asien, Afrika und Amerika, leiden, abgeschafft werden kann und daß man dank der friedlichen Nutzung der Atomkernspaltung und Atomkernverschmelzung sogar die Sahara in einen blühenden Garten und das furchtbare Hungergebiet Sahel in ein fruchtbares Land satter Menschen verwandeln wird. Ja, ich glaube an die Botschaft meines Ahnen: an das Kommen des ewigen Friedens, an die Verwandlung der Schwerter in Pflugscharen.
Das ist nicht die Hoffnung eines Gläubigen oder eines utopischen Ideologen, sondern die Zuversicht eines post-purgatorischen Optimisten, der, wie so viele Europäer, durch das Fegefeuer gegangen ist und - deshalb oder trotzdem - entschlossen bleibt, nichts von dem zu vergessen, was er während der langen Lehr- und Wanderjahre erfahren mußte.
Es mag sein, meine Damen und Herren der Jury, daß Sie mir auch deswegen Ihren Preis verliehen haben. Dafür herzlichen Dank und Ihnen, mein sehr lieber Siegfried Lenz, meinen tiefgefühlten Dank, meine alte, sich stets verjüngende Freundschaft.
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Manès Sperber
Dankesrede des Preisträgers
Chronik des Jahres 1983
+++ Bei den vorgezogenen Bundestags-Neuwahlen im März 1983 erreicht die CDU / CSU mit der FDP die Mehrheit. Erstmals ziehen die Grünen mit 5,6 Prozent der Stimmen in den Bundestag ein. +++ Ende April kündigt das Magazin Stern die Entdeckung und Veröffentlichung von Tagebüchern Adolf Hitlers an und beginnt mit deren Abdruck. Konrad Kujau, der dem Magazin die Hitler-Tagebücher verkauft hat, wird Ende Mai festgenommen und gesteht, sie selbst geschrieben zu haben. +++ Das Jahr steht im Zeichen der weltweiten Friedensbewegung, denn die politische Situation wird zunehmend vom atomaren Wettrüsten zwischen den USA und der UdSSR beherrscht. +++
Ende April wenden sich die katholischen Bischöfe der Bundesrepublik mit dem Hirtenwort »Gerechtigkeit schafft Frieden« gegen den Rüstungswettlauf. In der Bundesrepublik beteiligen sich an den Ostermärschen bis zu 700 000 Rüstungsgegner. Den Höhepunkt der Friedensbewegung bilden Ende Oktober eine 108 Kilometer lange »Menschenkette« sowie eine Großkundgebung in Bonn. Im November treffen in der Bundesrepublik die ersten Pershing-ii-Raketen im US-Militärdepot Mutlangen ein. +++ Am 1. Mai finden in mehreren polnischen Städten Demonstrationen für die verbotene Gewerkschaft Solidarność statt. Gegen die Demonstranten geht die Polizei mit Wasserwerfern und Schlagstöcken vor. Gewerkschaftsführer Lech Walesa wird im Dezember mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. +++ Der Schweizer Künstler Harald Nägeli, der »Sprayer von Zürich«, wird Ende August festgenommen. Die Behörden der Bundesrepublik liefern Nägeli, der mit auf Häuserfassaden gesprayten Strichmännchen gegen die Kälte der Betonstädte protestiert, aber seine Graffiti auch in Venedig hinterlässt, nicht aus, sondern setzen ihn wieder auf freien Fuß. +++ Sowjetische Abfangjäger schießen am 1. September eine südkoreanische Verkehrsmaschine ab, die mit einem US-Aufklärer verwechselt wird, als sie in den sowjetischen Luftraum eindringt. Dabei kommen 269 Menschen ums Leben. +++ Im Oktober wird bekannt gegeben, dass ein Drittel des deutschen Waldes erkrankt ist. Die Schäden sollen sich gegenüber 1982 vervierfacht haben. +++
Biographie Manès Sperber
Manès Sperber, geboren am 12. Dezember 1905 in Sabolotow / Ukraine, wird schon im Alter von 16 Jahren, nach der Flucht der Familie nach Wien, durch die Bekanntschaft mit Alfred Adler, dem Begründer der vergleichenden Individualpsychologie, geprägt. Er entscheidet sich für ein Psychologiestudium und beschäftigt sich fortan vor allem mit der Frage nach Macht und Gewalt.
Zwischen 1927 und 1933 lehrt der überzeugte Kommunist Sperber an verschiedenen Hochschulen in Berlin. 1933 muss er vor den einsetzenden Judenverfolgungen in Deutschland fliehen und gelangt über Jugoslawien und die Schweiz nach Paris. Angesichts der stalinistischen Säuberungsprozesse wendet er sich 1937 vom Marxismus-Leninismus ab. Als französischer Soldat nimmt er am Zweiten Weltkrieg teil und flüchtet nach der Niederlage Frankreichs in die Schweiz.
1950 erscheint sein erster Roman Der verbrannte Dornbusch, der seinen literarischen Ruhm begründet. Als skeptischer Humanist und unerbittlicher Kritiker totalitärer Systeme wird Sperber einem großen Publikum bekannt. In seinem 1972 veröffentlichten Buch Leben in dieser Zeit. 7 Fragen zur Gewalt lehnt er alle Formen politischer Gewalt als untaugliche Lösungsversuche ab.
Manès Sperber stirbt am 5. Februar 1984 in Paris im Alter von 78 Jahren.
Auszeichnungen
1983 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
1983 Ehrenring der Stadt Wien
1979 Prix européen de l’essai
1979 Buber-Rosenzweig-Medaille
1977 Großer Österreichischer Staatspreis für Literatur
1977 Franz-Nabl-Preis
1975 Georg-Büchner-Preis
1974 Literaturpreis der Stadt Wien
1973 Hansischer Goethe-Preis
1973 Ehrendoktorwürde der Sorbonne Paris
1971 Österreichisches Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst, I. Klasse
1971 Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste
1967 Remembrance Award der World Federation of Bergen-Belsen Associations
Laudator Siegfried Lenz
Siegfried Lenz, geboren am 7. März 1926 in Lyck / Ostpreußen, wird nach dem Abitur 1943 zur Marine einberufen. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs desertiert er und versteckt sich die letzten Kriegsmonate in Dänemark.
Nach dem Krieg beginnt er in Hamburg ein Philosophie- und Literaturstudium, das er jedoch 1948 abbricht, um als Volontär, später als Feuilletonredakteur bei der Zeitung Die Welt zu arbeiten. Seit 1951 ist Siegfried Lenz als freier Schriftsteller tätig.
Bereits sein erster Roman Es waren Habichte in der Luft (1951) handelt von der Erfahrung totalitärer Herrschaft – eins seiner wichtigsten literarischen Themen, mit denen er eine sozialkritische Perspektive entwickelt, gebrochen durch existentielle, manchmal gar pessimistische Motive. Sein 1968 veröffentlichter Roman Deutschstunde macht ihn weltberühmt. Auch seine jüngste Erzählung Schweigeminute (2008) wurde zu einem Bestseller.
Lenz engagiert sich politisch für die SPD und begleitet 1970 zusammen mit Günter Grass Bundeskanzler Brandt zur Unterzeichnung des deutsch-polnischen Vertrages nach Warschau.
1988 erhält der Autor den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Siegfried Lenz ist am 7. Oktober 2014 im Alter von 88 Jahren in Hamburg gestorben.