1982 wurde der jüdische US-amerikanische Historiker und Diplomat George F. Kennan mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Die Verleihung fand am Sonntag, den 10. Oktober 1982, in der Paulskirche zu Frankfurt am Main statt. Die Laudatio hielt Carl Friedrich von Weizsäcker.
Begründung der Jury
Den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verleiht der Börsenverein im Jahre 1982George F. Kennan,dem Diplomaten, Historiker und Rußland-Experten, der seit fast fünf Jahrzehnten - Geschichte mitgestaltend und Geschichte schreibend - in das weltpolitische Geschehen verwoben ist.
Er hat jenseits der jeweiligen Opportunität und oft genug gegen die Interessen der Mächtigen immer wieder versucht, die Akteure auf der Bühne ost-westlicher Rivalität davon zu überzeugen, daß der Frieden durch politisches Handeln gesichert werden muss und nicht durch militärische Vorkehrungen. Sein Kampf richtet sich gegen das Wettrüsten, seine Hoffnung auf eine Welt ohne Atomwaffen.
Reden
Günther Christiansen
Grußwort des Vorstehers
Kennan hat die außerordentliche Natur der Atomwaffe sofort erkannt. Von Anfang an hat er ihr die Bezeichnung als legitim einsetzbare Waffe verweigert.
Carl Friedrich von Weizsäcker - Laudatio auf George F. Kennan
Carl Friedrich von Weizsäcker
»George F. Kennan, Diplomat und Historiker - die reale Arbeit am Frieden«
Laudatio auf George F. Kennan
Lieber, verehrter Herr Kennan,
Die Ehre ist mir zugefallen, den hier in der Paulskirche Versammelten Ihre Arbeit am Frieden darzustellen. Diese Arbeit ist ein Kampf. Ich wage die Hoffnung auszusprechen, ich dürfte Ihnen in diesem Kampf ein brauchbarer Bundesgenosse sein. Ich bitte Sie, mit der geübten skeptischen Geduld des Historikers eine halbe Stunde lang meiner Darstellung zuzuhören. Dann werden Sie selbst das Wort ergreifen, als der aktive Politiker, der Sie in der diplomatischen und publizistischen Tätigkeit immer gewesen sind.
Meine Damen und Herren,
George F. Kennan hat fünfundzwanzig Jahre lang seiner Nation, den Vereinigten Staaten von Amerika, als Diplomat gedient. Dreißig Jahre lang ist er seitdem als Historiker, vorwiegend als einer der besten Kenner der russischen Geschichte, tätig. Der Schlüssel zum Weltfrieden liegt heute beim Verhältnis zwischen Amerika und Rußland. So haben Schicksal und eigene Wahl Kennan dazu gebracht, mehr als ein halbes Jahrhundert an den realen Bedingungen des Weltfriedens zu arbeiten. Als Publizist hat er die Folgerungen aus dieser detaillierten, handwerklichen Arbeit immer wieder öffentlich gezogen, bis zum heutigen Tag.
Erlauben Sie mir, zuerst in Kürze Kennans Herkunft und Berufsleben zu skizzieren. Danach will ich, im Hauptteil meiner Rede, seine Sicht der Sachprobleme erörtern, denen er begegnet ist, und von denen unser Überleben abhängt.
George F. Kennan ist 1904 in Milwaukee, Wisconsin, geboren, als Nachkomme unabhängiger, puritanischer, schottisch-englischer Siedler, die in Generationen, dem Zug der Freiheit folgend, von der amerikanischen Ostküste schrittweise in den Westen gezogen waren. Ich zitiere aus der Schilderung, die er selbst von seinen Vorfahren gibt: »Die Familie war weder reich noch arm. . . Es gab nicht einen Angehörigen, der nicht lange und hart mit seinen Händen gearbeitet hätte ... Sie akzeptierten ihre Lage als logische Folge ihres leidenschaftlichen Unabhängigkeitsdranges . . . Waren die Zeiten schlecht, und sie waren es oft, dann sandte man Seufzer und Wehklagen nach oben zu Gott, aber nie hinüber nach Washington... Nicht einer meiner amerikanischen Vorfahren hatte je in größerem Maße Untergebene beschäftigt; nicht einer hatte je seine eigene Arbeitskraft einem Unternehmer verkauft, der Gewinn aus ihr schlug. Die klassische soziale Zwangslage, auf die vor allem Marx aufmerksam gemacht hatte und der seine Anhänger eine so überwältigende Bedeutung zuschrieben, traf auf diese Familie nicht zu« (Memoiren I, S. 14-15).
Der begabte und, nach eigener Schilderung, schüchterne Junge kommt an die Universität Princeton, tritt nach dem College-Studium in den diplomatischen Dienst ein, findet eine Chance zu akademischer Weiterbildung innerhalb des auswärtigen Dienstes durch Studium der russischen Sprache und wählt damit, wie sich zeigen sollte, sein politisches Schicksal. Er kommt zum Studium nach Deutschland, zur dienstlichen osteuropäischen Schulung ins Baltikum und, mit der Anerkennung der Sowjetunion durch die Vereinigten Staaten, 1933 an die neuerrichtete amerikanische Botschaft in Moskau. Auf diplomatischen Posten in Prag und dann in Berlin erlebt er den Beginn des Zweiten Weltkriegs. 1944 ist er wieder an der Botschaft in Moskau.
Hier beginnt die kurze, etwa vier Jahre dauernde Ära seines prägenden Einflusses auf die Außenpolitik seines Landes. Als der bei weitem beste Rußlandkenner des diplomatischen Dienstes warnt er in langen Memoranden vor der naiven Vertrauensseligkeit der späten Roosevelt- und beginnenden Truman-Ära gegenüber der sowjetischen Führung. 1947 bis 1950 ist er Leiter des Planungsstabs im State Department. Er hat die politische Führung überzeugt. Nach seinem Entwurf wird der Marshall-Plan zur wirtschaftlichen Gesundung Westeuropas ausgeführt. Sein Name verbindet sich in der Öffentlichkeit mit dem Gedanken der Eindämmung, des »containment« der Sowjetmacht. Aber mit Schrecken nimmt er wahr, daß sein subtiler Entwurf einer politischen Eindämmung umgedeutet wird in den Gedanken militärischer Konfrontation; daß er zum Anlaß des seitdem fortdauernden Wettrüstens wird. Sein Plan eines föderativen Kontinentaleuropa wird 1948 von den englischen, französischen und amerikanischen Regierungen verworfen und durch das, gewiß defensiv gemeinte, Militärbündnis der NATO ersetzt. Er nimmt Urlaub und, nach wenigen Monaten als Botschafter in Moskau 1952, seinen Abschied. Nur noch einmal, unter John F. Kennedy, 1961-63, dient er als Botschafter, diesmal in Belgrad.
Seit 1950 ist seine dauernde Heimat das Institute for Advanced Study in Princeton, wohin Robert Oppenheimer ihn berufen hat. Hier beginnt er das zweite Lebenswerk, die russische Geschichte der neueren Zeit, in einer Reibe voluminöser, akribisch detaillierter und zugleich alle grundsätzlichen Fragen verdeutlichender Bände dargestellt. Stets aber bleibt er als Publizist zugleich der aktuellen Politik nahe, und in den letzten anderthalb Jahren, seit 1981, ist er noch einmal mit großen Initiativen in die Öffentlichkeit getreten. Möge er Erfolg haben!
Wollen wir uns Kennans Sicht des Friedensproblems unseres Jahrhunderts vergegenwärtigen, so wenden wir uns am besten zuerst seiner Geschichtsschreibung zu. Ich wähle dafür eines seiner Werke aus, den 1979 (deutsch 1981) erschienenen Band »Bismarcks europäisches System in der Auflösung. Die französisch-russische Annäherung 1875-1890«. Es geht hier um die Ursachen des Ersten Weltkriegs und damit, in Kennans überzeugender Sicht, um den Anfang aller seitdem eingetretenen oder drohenden weltpolitischen Katastrophen.
Zuerst ein Wort über seinen Stil als Historiker. Er selbst sagt: »Statt eines größeren wähle ich einen kleineren Ausschnitt der Ereignisse aus und betrachte diesen bis ins kleinste Detail, gleichsam wie durch ein historisches Mikroskop; dabei versuche ich ... zu zeigen, wie solche Geschehnisse abzulaufen pflegen, und vor allem, von welchen Motiven und Vorstellungen Menschen geleitet werden, wenn sie reden und handeln, wie es die Unterlagen enthüllen« (S. 13-14). Ich erlaube mir, als meine subjektive Reaktion auf diese Art der Geschichtsschreibung, stärkere Worte zu wählen. Er weiß, daß nicht zwei Völker, nicht zwei Personen, nicht zwei politische Situationen einander gleich sind. Liest man seine Charakteristiken von Personen, auch in seinen Memoiren, dort z. B. von Stalin, Eisenhower, Oppenheimer, so gewinnt man gewissermaßen eine grenzenlose Bewunderung für die schöpferische Phantasie des lieben Gottes; keinem von uns wäre eingefallen, daß es genau einen jeweils solchen Menschen hätte geben können. In Kennans Art, Personen und Nationen zu charakterisieren, ist eine überwache Sensibilität, eine nichtrastende intellektuelle Neugier, und eine christliche Liebe zu jedem Geschöpf, so wie es wirklich ist, nicht wie er es haben möchte. Diese analytische Qualität freilich mag auch einen Grund seiner politischen Mißerfolge erläutern: instinktiv mutet er den Menschen seine Gerechtigkeit des Urteils zu, und wenige Dinge fürchten sie so sehr wie die Enthüllung der eigenen Fragwürdigkeit, wenn sie von sich verlangen sollen, gerecht zu sein. Aber als Historiker bleibt der Mensch, der Menschen versteht, allen Geschichtstheoretikern überlegen, die allgemeine Gesetze suchen, oder leidenschaftliche Thesen begründen wollen, oder den Reichtum der Wirklichkeit im Brei soziologischer »Begriffe« untergehen lassen.
Dabei ist Kennans Fragestellung so allgemein und so engagiert wie irgendeine. Er ist essentiell engagierter Außenpolitiker; die Geschichtsschreibung ist seine zweite Wahl wie einst bei Thukydides und bei Machiavelli. Der Nachkomme amerikanischer Pioniere, die jahrhundertelang keinen Hegemoniekrieg gesehen hatten, machte sich in den Jahren um 1930, in Deutschland und im Baltikum, die Katastrophe des Ersten Weltkriegs klar. War dieser Krieg notwendig gewesen?
Das Buch, von dem ich soeben spreche, verfolgt einen Strang der zu diesem Krieg führenden Ereignisse: die Vorgeschichte des französisch-russischen Militärbündnisses. Hauptsächlich ist das Buch ein Stück russischer Geschichte unter den Zaren Alexander II. und Alexander III. Mir sprang beim Lesen nichts mit solcher Evidenz in die Augen, wie die strukturelle Gleichartigkeit der zaristischen und der sowjetischen Politik: ebensowohl der Außenpolitik, die, wie Bismarck gesagt hat, gleich einer Flüssigkeit jeden Hohlraum füllt, bis sie an eine feste Wand stößt, wie der Militärpolitik der ängstlichen Überrüstung, der gefühllosen Brutalität gegen Schwächere und nachtragenden Nachgiebigkeit gegen Starke, wie schließlich der Innenpolitik des mißtrauischen Absolutismus. Kennan selbst geht hier den am Ende tödlichen Strukturfehlern der russischen Politik des späteren 19. Jahrhunderts nach: dem Ausweichen aus der ungeheuren sozial- und innenpolitischen Modernisierungsaufgabe in eine nationalistische, panslawistische Expansionspolitik. Die tragischen Helden des Buchs sind Bismarck und der russische Außenminister Giers, die das bestehende außenpolitische System bewahren wollten, weil es den Frieden erhielt und den Interessen ihrer eigenen Nation, wie sie diese sahen, diente. Die französischen und russischen Gegner dieses Systems nahmen den Krieg, der zu seiner Änderung notwendig war, leichten Herzens in Kauf. »Man verstand nicht, daß ein Krieg unter industrialisierten Großmächten in moderner Zeit ein sinnloses, selbstzerstörerisches Unternehmen geworden ist« (S. 461). Zugleich sieht Kennan die Unhaltbarkeit des Stabilisierungskonzepts des alternden Bismarck. Es setzte die Permanenz der außenpolitischen Isolierung Frankreichs und der totalen Unterdrückung Polens, die Stabilität des russischen Absolutismus und der Vielvölkermonarchie Österreichs voraus. Wie war der Krieg zu vermeiden?
Liest man Kennans Buch Seite für Seite durch, so wird wie in einem gut geschriebenen Roman die Spannung aufrechterhalten durch die Hoffnung, in dem tausendfältigen Geflecht menschlicher Entscheidungen werde ein Weg der Vernunft gefunden werden. Man meint zu spüren, daß der Autor selbst sich in dieser Suggestion hält, obwohl er den Ausgang weiß. Er muß in der Tat so schreiben. Als professioneller Diplomat sieht er die verpaßten Möglichkeiten, die offenen Türen, durch die niemand gegangen ist. Aber - so habe ich es beim Lesen empfunden - am Ende liegt das Faktenmaterial vor, das die Selbstsuggestion des Autors lügen straft: der Historiker belehrt den professionellen Diplomaten über die faktischen Grenzen der vernünftigen Politik.
Dies aber, so zeigen uns seine Memoiren, ist die Erfahrung, die der Diplomat Kennan in seiner eigenen Politik gemacht hat.
Den Beginn des Zweiten Weltkriegs hat er aus nächster Nahe mit angesehen, ohne auf die Ereignisse einwirken zu können. Auch ihn erlebte er nicht als unvermeidlich, sondern eher wie ein zwar begreifliches, aber eigentlich wahnsinniges Schicksal. Als genauer, langjähriger Kenner Deutschlands vermied er den Denkfehler, Hitlers Entschlossenheit zum Krieg einer spezifisch deutschen aggressiven Tradition zuzuschreiben. Er sah die Trunkenheit des Nationalismus im 19. Jahrhundert gerade bei denjenigen Nationen, die nicht schon »in der dynastischen Ära ... vor den napoleonischen Kriegen ... Einheit gekannt hatten« (Memoiren I, S. 416). Er sah die Fehler des Friedensschlusses von Versailles 1919, der in der Gesinnung und im Detail zu hart war, um die Deutschen mit der neuen europäischen Ordnung zu versöhnen, und in der Grundstruktur zu weich, zu nationalistisch konservativ, um das Erstarken eines revanchistischen Deutschland mit Gewalt zu verhindern. Man erkennt diese Einsichten in seinem späteren Europaplan von 1948 wieder.
Kennans eigenes Eingreifen in die Weltgeschichte aber beginnt mit der Bekehrung der schulterklopfenden Naivität der amerikanischen Rußlandpolitik in den Jahren um das Ende des Zweiten Weltkriegs. Es ist auch heute noch der Mühe wert, seine in den Anhängen der beiden Memoirenbände abgedruckten damaligen Memoranden nachzulesen. Sie machten klar, daß die russische Tradition des Mißtrauens, die marxistische Doktrin der unversöhnlichen Todfeindschaft von Sozialismus und Kapitalismus und, mehr als alles, die längst eingefahrene Machtpraxis einer herrschenden Gruppe diese amerikanischen Verständigungsträume lediglich als Torheiten des welthistorischen Gegners ausnützen würden. Dabei vermied er, der Kenner Rußlands und des Marxismus, die im Westen bis heute so verbreitete Verwechslung der für den Marxismus unentbehrlichen Hoffnung auf soziale Weltrevolution mit dem Plan einer militärischen Welteroberung durch Rußland. Ich füge hinzu, daß eine solche fundamentale Militarisierung der russischen Politik allenfalls heute, als Ergebnis des Erfolgs im Rüstungswettlauf und des Mißerfolgs in allen eigentlich marxistischen Programmpunkten, eine Chance hat; auch Rußland steht in der Gefahr, auf die Dauer so zu werden, wie seine Gegner es sich seit Jahrzehnten vorgestellt haben. Kennan jedenfalls, in der ihm eigenen historischen Gerechtigkeit, führte die russische Machtpolitik auf das tödliche Mißtrauen eines in grenzenlosen Ebenen stets bedrohten Volkes und seiner wegen ihrer unter den Zaren wie unter den Sowjets unheilbaren Rückständigkeit stets bedrohten Regierung zurück. Aus dieser Mentalität, die kein Gleichgewicht Gleichberechtigter kennt, erklärt er den Erfolg, den eine dem Uramerikaner so zutiefst unbegreifliche Doktrin wie der Marxismus dort hat, »eine Doktrin..., die ökonomische Probleme als auf friedliche Weise unlösbar bezeichnete« (Memoiren I, S. 557).
Kennan beschönigte nichts an der stabilen Machtbesessenheit der Sowjetführung, ihrer Immoralitat, ihrer perfekten Taktik verbunden mit grotesker Fehleinschätzung der Menschen anderer Mentalität, ihres Doppelspiels von Lüge und im Stillen gewußter Wahrheit, ihrer im strikten (Marxschen) Sinn ideologischen Rechtfertigung dieses Verhaltens. Aber aus der Kenntnis ihrer Existenzbedingungen entwarf er ein Programm, wie mit ihr umzugehen sei, ohne die dritte, größte Katastrophe, den dritten Weltkrieg, unwissentlich selbst herbeizuführen. Dabei litt er vielleicht noch weniger an jenem System, das eine von ihm geliebte Nation bis heute unbefreibar beherrscht, als an der Unfähigkeit der Politik seiner eigenen Nation gegenüber jenem System. Man mag sein Verhältnis zu den sowjetischen Machthabern als das des Professionellen zum Gegnerischen, aber kraft seiner Professionalität berechenbaren Professionellen bezeichnen, sein Verhältnis zur amerikanischen Politik (in seiner aktiven Zeit außer unter Marshall und Kennedy) als das des Professionellen zur unberechenbaren Torheit hoffnungsloser Dilettanten, die nichts als ihr innenpolitisches Prestige im Kopf hatten. Dies freilich ist das Leiden des Diplomaten, seit es Diplomatie gibt.
Sein positiver pragmatischer Ausgangspunkt war die Überzeugung, daß sich schon das Zarenreich seit den Teilungen Polens und wieder die Sowjetunion seit 1945 mit der Ausdehnung ihres osteuropäischen Herrschaftsbereichs übernommen habe, und daß Rußland keinerlei Interesse an einem weiteren militärischen Vordringen nach Westeuropa habe und haben könne. Selbstverständlich liege der Sowjetführung an der politischen Schwäche Westeuropas, welche dieses mächtige Wirtschaftsgebiet durch kommunistische Parteien und außenpolitischen Druck von ihr abhängig machen würde. Deshalb sei die wirtschaftliche und politische Regeneration Westeuropas vordringlich; darum der Marshallplan.
Sein weitergehendes politisches Konzept für Europa von 1948 ist am leichtesten von der deutschen Frage her zu erklären. Um die Wiederholung des Fehlers von Versailles zu vermeiden, sah er nur einen Weg. In der Aufsplitterung Deutschlands fand er keine Chance, aber »nur im festen Gefüge eines geeinten Europas würde ein geeintes Deutschland erträglich sein« (Memoiren I, S. 417). Sein Plan sah eine engere Beziehung zwischen Großbritannien und Amerika vor und, scharf getrennt hiervon, aber in freundschaftlicher Beziehung zu beiden, eine kontinentaleuropäische Allianz unter französischer Initiative. Er glaubte, die Sowjetunion, von dieser Struktur militärisch sichtlich unbedroht, werde im Eigeninteresse zum Rückzug aus »unverdaulichen« osteuropäischen Gebieten willens werden; und eben dies werde die Integration eines nicht wiederbewaffneten, aber wiedervereinigten Deutschland in ein wiedervereinigtes Europa ermöglichen.
Solche Gedanken waren damals bei uns verbreitet; ich denke an Schumacher und Heinemann und manche meiner intellektuellen Freunde. Ich bekenne, daß ich an die Realisierbarkeit dieser Gedanken damals nicht habe glauben können, und daß ich Adenauers Westpolitik entschieden befürwortet habe. Kennans Plan konnte ich damals nicht kennen. Heute sehe ich, daß er besser durchgearbeitet war als alle, die ich kannte. Wäre er durchsetzbar gewesen und durchgeführt worden, die Kriegsgefahr wäre heute wahrscheinlich geringer als sie jetzt ist. Gleichwohl vermute ich, daß auch er mich damals nicht überzeugt hätte. Der Grund lag darin, daß ich, als unverbesserlicher Alteuropäer, die Fortdauer des Hegemoniekonflikts der Großmächte, jetzt im Weltrahmen, erwartete, eines Konflikts, dem keine Mäßigung der Außenpolitik auf die Dauer würde entgehen können. Erst der Umsturz alles bisherigen militärpolitischen Kalküls durch die Atomwaffen, genauer gesagt durch die Wasserstoffbombe 1954, ließ mich die Denkbarkeit und damit die Notwendigkeit eines globalen Friedenskonzepts erkennen. Das Verhältnis des Friedens zur Atomwaffe wurde auch für Kennan seit jener Zeit zu einem, schließlich dem vordringlichen Thema. Ihm muß der Schluß meiner Ansprache gewidmet sein.
Ich habe bisher von der Vergangenheit gesprochen. George F. Kennan wird selbst von der Gegenwart und der Zukunft sprechen; und gerade er weiß, wie schwer es ist, in der Gegenwart richtig zu handeln, wenn man ihre Vorgeschichte nicht versteht.
Ich schalte hier eine Bemerkung ein, die nicht in meinem ursprünglichen Manuskript stand. Vor wenigen Tagen konnte man hierzulande in der Zeitung lesen, Kennan habe unbegreiflicherweise heute seine damalige Einsicht in die russische Gefahr verloren. Das ist falsch. Er sah damals wie heute die primär politische Gefahr, der durch politische Gesundung des Westens zu begegnen ist. Er sah damals wie heute die Gefahr nicht in einem militärischen Welteroberungsplan Sowjetrußlands. Er sieht heute die militärische Gefahr eher als Folge dieser möglichen Überreaktion des Sowjetregimes auf seine wirtschaftlich und politisch zunehmend schwache Position. Und er sieht eben darum die militärische Gefahr in einer pompösen westlichen Rüstungspolitik, die den Tiger - oder Bären - in die Ecke treibt, bis er springt.
Kennan hat die außerordentliche Natur der Atomwaffe sofort erkannt. Von Anfang an hat er ihr die Bezeichnung als legitim einsetzbare Waffe verweigert. Schon 1946 sagte er in Vorträgen in der Kriegsakademie (National War College): »Der Lehrsatz vom totalen Krieg war ein Lehrsatz des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts ... Wir würden nun wieder auf die Idee des begrenzten Kriegs zurückgreifen müssen, die im achtzehnten Jahrhundert modern ... war ... . Die Menschheit würde sich damit abfinden müssen, daß Anwendung militärischer Gewalt in Zukunft für die Verfolgung politischer Ziele nur noch relativen, nie mehr absoluten Wert haben könne« (Memoiren I, S. 313). In einem offiziellen Dokument von 1949 forderte er den ausdrücklichen und aufrichtigen Verzicht seines Landes auf einen Ersteinsatz von Atomwaffen.
Die weitere Entwicklung hat seiner Prognose rechtgegeben: wir sind in eine Ära begrenzter Kriege eingetreten. Seine Forderung aber blieb unerfüllt: bis zum heutigen Tage beruht die Abschreckungsstrategie der NATO auf der Drohung, gegebenenfalls Atomwaffen als Erste einzusetzen. Einige von uns Physikern haben schon früh die Abschaffung der Institution des Krieges als einzige permanent haltbare Konsequenz aus der Erfindung der Atomwaffe gefordert; dies aber würde eine radikale Änderung der gesamten politischen Struktur der Welt erfordern. Bis heute hat man umgekehrt auf jeden neuerlichen Einsatz von Atomwaffen verzichtet, um die Institution des Kriegs beibehalten zu können.
Aber dieser Kompromiß ist nicht auf die Dauer haltbar. Man hat, in der Logik der Waffenentwicklung im Wettrüsten, Atomwaffen zu speziellen, begrenztem Einsatz konstruiert. Wer garantiert, daß man sie nicht einsetzen wird? Wer garantiert, daß der Einsatz begrenzt bleiben wird?
Vor wenigen Monaten hat George F. Kennan gemeinsam mit McGeorge Bundy, Robert McNamara und Gerard Smith in einem vielbeachteten Artikel erneut die Forderung des Verzichts auf einen Ersteinsatz der Atomwaffen erhoben. Er ist der einzige der vier, der dies von jeher gefordert hat; die anderen drei, amerikanische Militärpolitiker ersten Rangs, sind durch die Beobachtung des Rüstungswettlaufs zu dieser Folgerung gekommen. Hier ist nicht der Ort, die aktuelle Debatte über die Zweckmäßigkeit dieses Vorschlags auszuspinnen. Nur zwei Bemerkungen zur Sache möchte ich noch machen.
Erstens: die vier Autoren fordern, um die militärische Nötigung zur abschreckenden Drohung mit dem Ersteinsatz von Atomwaffen zu überwinden, eine angemessene konventionelle Rüstung der NATO. Dies ist nach meiner Überzeugung höchstens dann eine Lösung, wenn diese konventionelle Rüstung von solcher Struktur ist, daß sie den Anreiz zu dem wahrscheinlich noch riskanteren (und teureren!) Rüstungswettlauf auf konventioneller Ebene ausschließt. Das wäre, wenn ich richtig sehe, nur dann der Fall, wenn diese Waffen nur in der Verteidigung einsetzbar sind, wie z. B. infanteriegetragene Präzisions-Antitankwaffen. Ein hochwichtiges Thema für Militärexperten.
Zweitens: Das Argument ist schwer widerlegbar, daß im heutigen Abschreckungssystem jede Verminderung der Wahrscheinlichkeit, daß ein ausgebrochener Krieg eskaliert, die Wahrscheinlichkeit dafür erhöht, daß er eines Tages ausbricht. Ich kann dagegen nur sagen, daß die Wahrscheinlichkeit des Kriegsausbruchs schon heute unerträglich hoch ist. Ich füge hinzu, daß in dieser Lage der Versuch einer Schadensbegrenzung ein hart realistisches legitimes Motiv ist.
Kennans Argument, wie er es von Anfang an vorgetragen hat, ist schlicht moralisch und eben darum unangreifbar durch alle diese Finessen des Kalküls. Es ist tief beeindruckend, wie ein erstklassiger nüchterner Fachmann der Außenpolitik, ein Mann von zugleich unanfechtbarer moralischer Haltung, zu dem Schluß kommt, daß mehr gewagt werden muß als das Finassieren im bisherigen System. Wenn viele Menschen die Unausweichlichkeit dieser Folgerung verstünden, so wäre Hoffnung für das Überleben der Welt, der wir angehören.
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Carl Friedrich von Weizsäcker
Laudatio
Tatsache ist, daß dieser Knoten, der vor 37 Jahren hier in Zentraleuropa auf so unglückselige Weise geknüpft wurde, nicht kurzfristig und erst recht nicht durch Krieg zu lösen ist. Hier kann uns nichts anderes helfen als die Geduld, die Beschränkung, die Bereitschaft, mit kleinen Schritten vorwärtszugehen, und die geheimnisvolle, von uns nie ganz zu durchschauende, aber heilende und versöhnende Wirkung des historischen Wandels.
George F. Kennan - Dankesrede
George F. Kennan
»Warum denn nicht Friede?«
Dankesrede
Meine verehrten Damen und Herren, daß ich mir der Bedeutung dieser hohen Ehre bewußt bin und daß ich sie mit den entsprechenden Gefühlen der Anerkennung dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels gegenüber annehme, brauche ich nicht zu betonen. Ob oder inwiefern sie verdient sein mag: darüber kann ich selber nicht urteilen. Ich möchte gern glauben dürfen, daß ich hier als Symbol stehe für die unzähligen anderen, die die enorme Gefahr verstehen, die ein Nuklearkrieg für unsere Zivilisation darstellen würde, und die sich mit Hingabe und Aufopferung für die Verhütung einer solchen Katastrophe eingesetzt haben.
Da es aber hier, verdienter- oder unverdienterweise, um meine Person geht, möchte ich zunächst ein paar Worte über mein eigenes Engagement in der Sache des Friedens sagen.
Erstens ist dies ein Engagement gewesen, das sich hauptsächlich auf die nördliche Hemisphäre und besonders auf die Beziehungen zwischen den großen Industrie- und Militärmächten dieses Erdteils bezieht. Ich muß allerdings gestehen, daß ich nicht an die Möglichkeit eines baldigen universellen Friedens glaube. Dies ist gewiß ein schönes Ideal, auf dessen Verwirklichung alle hinarbeiten müssen. Doch schaudere ich jedes Mal, wenn ich die Behauptung höre, der Frieden sei unteilbar und könne nirgends bestehen, bis er überall besteht. Die Franzosen sagen: »Le mieux est l'ennemi du bien«; und tatsächlich: Das Ideale, zur unentbehrlichen Voraussetzung für eine Verbesserung gemacht, wird leicht zum Feind des Praktisch-Erreichbaren.
Die Beziehungen zwischen den großen Nuklearmächten scheinen mir in vielerlei Hinsicht das Kernproblem des Friedens zu sein. Und so muß ich um Nachsicht bitten, wenn ich mich heute darauf beschränke, einiges zu diesem Kernproblem zu sagen, und zwar besonders zu den zwei Fragen, die in meiner beruflichen Erfahrung und publizistischen Tätigkeit die größte Rolle gespielt haben: erstens das Verhältnis meines eigenen Landes und der anderen westlichen Länder zur Sowjetunion und zweitens das Problem der Kernwaffen.
Mit diesem letzten Problem habe ich mich nicht als Fachmann beschäftigt, denn dazu habe ich keine Qualifikation, sondern nur als ganz gewöhnlicher Bürger und Zeitungsleser, der, wie so viele andere, Kinder und Enkelkinder hat, für deren Zukunft er Sorge tragen muß, und der sich als Mitglied und Erbe einer Zivilisation fühlt, ohne die sein eigenes Leben und alles, was er am Leben schätzt, keinen Sinn hätte. Aus diesen einfachen Beweggründen heraus hat sich meine eigene Einstellung zu den Kernwaffen gebildet. Ich werde versuchen, diese Einstellung kurz zu beschreiben.
Von vornherein mußte ich bestreiten, daß diese Massenvernichtungsmittel - die sogenannten Kernwaffen - wirklich Waffen sind, daß sie diese Bezeichnung verdienen. Eine Waffe ist etwas, womit man versucht, auf Ziele und Vorstellungen eines Gegners einzuwirken. Sie ist nicht etwas, womit man blindlings die ganze Zivilisation dieses Gegners (und wahrscheinlich auch die eigene) restlos zerstört. Ich kann nicht glauben, daß aus der Weiterentwicklung oder gar dem Gebrauch dieser Waffen - nicht einmal zu Zwecken der Abschreckung - etwas Positives entstehen könnte.
Aufgrund dieser Einstellung habe ich von vornherein nicht umhin können, auf die totale Abschaffung der Kernwaffen - natürlich nicht durch einseitigen, sondern durch vielseitigen Verzicht - zu hoffen. Solange sie aber nicht abgeschafft werden konnten, habe ich mich mit besonderem Nachdruck dafür eingesetzt, daß wir solche Waffen nicht zur Basis unserer Verteidigungsbereitschaft machen, - daß wir also militärische Planungen und unsere politischen Dispositionen nicht von ihnen abhängig machen sollten. Hier liegt natürlich die tiefere Bedeutung der Frage des Ersteinsatzes dieser Waffen, denn einer, der behauptet, sich ohne die Möglichkeit dieses Ersteinsatzes nicht verteidigen zu können, gesteht damit eine gewisse, wenn auch begrenzte Abhängigkeit von ihnen ein.
Nun werden, wie Ihnen wohl bekannt ist, diese Gedankengänge von den führenden NATO-Regierungen - besonders meiner eigenen wie auch der englischen und der deutschen - nicht geteilt; ihre Ablehnung ist sogar erst neulich mit besonderer Deutlichkeit zur Sprache gebracht worden. Besonders in Verbindung mit der Lage hier in Zentraleuropa bestehen jene Regierungen darauf, daß von einem Verzicht auf die Kernwaffen keine Rede sein könne, solange nicht ein genereller Gewaltverzicht, ein Verzicht, der sich auf alle Waffengattungen erstrecken würde, von sowjetischer Seite vorläge. Es würde, ihrer Auffassung nach, nicht genügen, den Nuklearkrieg auszuschalten, solange nicht der Krieg schlechthin ausgeschaltet werden könnte; im Gegenteil, ein solches Vorgehen - so jedenfalls die offizielle Haltung - würde nur die Gefahr eines mit konventionellen Waffen geführten Angriffs, bei der die westliche Seite angeblich hoffnungslos unterlegen wäre, erhöhen. Und zur Erläuterung dieser Ansicht wird gesagt: Zu einem stabilen und friedlichen Verhältnis zum Osten gehöre, neben der politischen Entspannung, das militärische Gleichgewicht; und ein solches Gleichgewicht sei ohne die Kernwaffen nicht herzustellen und nicht zu erhalten.
Zu dieser Behauptung möchte ich folgendes bemerken. Erstens scheint es mir, daß, wenn überhaupt von einem militärischen Gleichgewicht gesprochen werden könnte, so wäre das ausgerechnet nur dann möglich, wenn die Kernwaffen nicht im Spiele wären. Warum? Weil abgesehen davon, daß die Zahl dieser Waffen auf beiden Seiten jetzt in solche phantastische Höhen gewachsen ist, daß die bloße Existenz dieser kaum faßbaren Zerstörungskraft für die ganze Menschheit eine inakzeptable Gefahr darstellt, - abgesehen davon ist das wirkliche Verhältnis zwischen den nuklearen Streitkräften der beiden Seiten sehr schwer - ja fast unmöglich - festzustellen. Wozu noch kommt, daß dieses Verhältnis, selbst wenn es einmal ermittelt werden könnte, nicht stabil ist und nicht stabil sein kann. Es wird ständig untergraben und verändert durch die rasche Entwicklung neuer Technologien, so daß nicht einmal das, was heute als Gleichgewicht erscheinen möchte, morgen diese Eigenschaft noch behalten würde.
Angesichts dieser Tatsachen scheint mir die Haltung der westlichen Nuklearregierungen - dieses ängstliche Festklammern an den Kernwaffen - nur so zu verstehen zu sein, daß die Welt, oder wenigstens ihre nördliche Hälfte, verurteilt ist, auf unabsehbare Zeit hinaus auf eines Messers Schneide zu balancieren, diesseits derer nichts anderes als ein unsicherer, angeblich nur auf nuklearer Abschreckung fußender und durch ständige Vermehrung der Kernwaffen immer fragiler werdender Waffenstillstand zu sehen ist, und jenseits derer sich nur der Abgrund der totalen nuklearen Katastrophe auftut.
Kann es wirklich so sein, daß man diesen Zustand einfach auf unbestimmte Zeit weiter andauern lassen will, und dies mit der einzigen Begründung, daß wir die Kernwaffen zur Abschreckung brauchen? Ich kann das nicht glauben. Den betreffenden Völkern wäre meines Erachtens nicht zuzumuten, daß sie dauernd in einer solchen Unsicherheit leben sollten. Die anti-nukleare Bewegung mit all ihrer Naivität, mit all ihren Entgleisungen, mit ihrer gelegentlichen Primitivität, ist die natürliche Reaktion auf diesen Zustand.
Andererseits, wenn gesagt wird, und besonders hier in Deutschland, daß ein konventioneller Krieg unter den heutigen Bedingungen auch nicht zu ertragen wäre, und daß deshalb ein bloßer Verzicht auf die Kernwaffen nicht genug sei - daß er unser Problem nicht lösen würde -, so kann ich mich dem nur aus ganzem Herzen anschließen. Als Historiker habe ich mehrmals die Meinung vertreten, daß der Schaden, der Europa während zweier Weltkriege zugefügt wurde, viel tiefer und anhaltender war als vielfach angenommen, und ich habe auch meine Zweifel daran geäußert, daß dieser wunderbare alte Kontinent zum dritten Mal in einem einzigen Jahrhundert einen solchen Zerstörungssturm über sich ergehen lassen könnte, ohne so viel von seiner Substanz einzubüßen, daß das, was übrigbliebe, kaum der Rettung wert wäre. Es scheint mir auf der Hand zu liegen, daß also ein solcher genereller Friede dringend notwendig ist und nicht weniger notwendig wäre, wenn die Kernwaffen nicht mehr im Spiele sind. Zwar habe ich, wie auch viele andere, gedacht, es wäre zweckmäßiger und erfolgversprechender gewesen, diese größere und schwierigere Frage des allgemeinen europäischen Friedens erst dann in allem Ernst anzugehen, wenn die Kernwaffen, mit allen damit verbundenen psychologischen Begleiterscheinungen, beseitigt worden seien.
Wenn es aber so ist (und angesichts der Haltung der westlichen Regierungen glaube ich nicht, daß in absehbarer Zeit etwas daran zu ändern sein wird), - wenn es wirklich so ist, daß keine ernsthaften Bemühungen, die nukleare Gefahr zu beseitigen, gemacht werden dürfen, bis ein genereller Friede vorliegt, so ergibt sich daraus für mich eine einzige unerbittliche Konsequenz: Und zwar, daß ein neuer Versuch unternommen werden muß, weit ernster, realistischer, folgerichtiger und entschlossener als alles, was bisher gemacht worden ist, den Krieg schlechthin als vorstellbare Möglichkeit der unmittelbaren europäischen Zukunft auszuschließen; das heißt, einen Zustand herbeizuführen, in dem ein neuer europäischer Krieg so unwahrscheinlich geworden wäre, daß man sich endlich von diesem entsetzlichen und maßlos gefährlichen Krampf der militärischen Verdächtigungen und Vorbereitungen, der uns heute in seinen Klauen hält, befreien und sich den positiven Aufgaben zuwenden könnte, die auf beiden Seiten der ideologischen Trennungslinie so dringend und so gebieterisch auf ihre Behandlung warten.
Denken Sie bitte nicht, daß ich mir nicht der enormen Schwierigkeiten dieses Unternehmens bewußt wäre. Ich weiß: Es handelt sich hier um nichts weniger, als einer Reihe von Völkern und Regierungen zum Bewußtsein zu bringen, daß für sie der Krieg - diese oft besungene Institution der europäischen Vergangenheit, diese durch Jahrhunderte akzeptierte Sanktion des nationalen Interesses oder Begehrens - daß der Krieg nicht mehr eine realistische Methode der Einwirkung auf andere Regierungen, ja nicht einmal mehr ein sinnvolles Mittel der Verteidigung ist, daß man vielmehr lernen muß, sich über alle ideologischen oder politischen Hemmungen hinwegzusetzen und sich auf andere Mittel der Einwirkung zu beschränken.
Ist denn so etwas möglich?
Vielleicht wird Sie meine Antwort überraschen. Denn diese Antwort ist: warum denn nicht?
Ich sehe keinen politischen Konflikt zwischen dem Osten und dem Westen, der die vitalen Interessen der einen oder der anderen Seite so empfindlich bedrohen oder betreffen würde, daß seine Lösung im gewünschten Sinne die Katastrophe gar eines konventionellen Krieges, geschweige denn eines nuklearen Krieges, wert wäre. Die Sachlage, mit der wir hier zu tun haben, ist uns allen bis zum Überdruß bekannt. Der Zweite Weltkrieg hat zu einem Zustand geführt - der Spaltung Deutschlands und Zentraleuropas -, der keine der beiden Seiten voll befriedigt, den keine als die permanente, definitive Ordnung Europas akzeptieren möchte, wobei aber die Ansichten, wie dieser Zustand abzuändern wäre, weit auseinandergehen. Abgesehen aber von dem gefährlichen diesen Zustand begleitenden Rüstungswettkampf ist der Zustand an und für sich nicht unerträglich. Unerwünscht und unbehaglich schon - unerträglich aber nicht. Man lebt ja schon 37 Jahre mit diesem Zustand und ohne Krieg. In verschiedener Hinsicht ist es sogar gelungen, ihn zu lindern; und nichts weist darauf hin, daß mit genügender Geduld und gutem Willen er nicht auch in Zukunft weiter gelindert werden könnte.
Der einzige Grund für unsere Verzweiflung oder Ungeduld, der einzige Anhaltspunkt für die Annahme, daß dieser Zustand nicht viel länger zu ertragen wäre und daß ein neuer Krieg deshalb nicht zu vermeiden sei, liegt in der hier im Westen leider weit verbreiteten Ansicht, daß das Sowjetregime im Grunde genommen aggressiv veranlagt sei, daß bei ihm nicht die Konsolidierung und wirtschaftliche Entwicklung des schon existierenden Machtgebiets, sondern der Drang nach militärischer Expansion die höchste Priorität genießt, so daß dieses Regime ausschließlich durch militärische und besonders nukleare Abschreckung von dem bewaffneten Angriff auf andere Länder und Gebiete abgehalten worden ist und abgehalten werden kann.
Ich kenne keine andere Ansicht, die im Laufe der letzten Jahre mehr Verwirrung und Unheil gestiftet hat als diese primitive, ernstlich vereinfachte, irreführende idée fixe. Man muß bei weitem nicht ein Bewunderer des sowjetischen Systems sein, um einzusehen, daß aus der Moskauer Perspektive die Dinge meistens auch nicht so einfach liegen, und daß es eine ganze Reihe von Gründen und Erwägungen geben könnte - ganz abgesehen von der militärischen Abschreckung -, warum eine Invasion Westeuropas und die Entfachung eines neuen Weltkrieges den Sowjetführern nicht als im sowjetischen Interesse liegend erscheinen sollten. Tatsache ist, daß weder für die NATO-Länder noch für die Mitglieder des Warschauer Paktes ein neuer Krieg die gewünschte Lösung bringen würde oder könnte. Wenn er auch einzelne Probleme zu lösen versprechen würde (wenn so etwas überhaupt vorstellbar ist), so würde er, auch für die militärisch zunächst erfolgreiche Seite, nur neue und weit schlimmere Probleme heraufbeschwören. Die Sowjetführer scheinen das sehr gut zu verstehen.
Tatsache ist, daß dieser Knoten, der vor 37 Jahren hier in Zentraleuropa auf so unglückselige Weise geknüpft wurde, nicht kurzfristig und erst recht nicht durch Krieg zu lösen ist. Hier kann uns nichts anderes helfen als die Geduld, die Beschränkung, die Bereitschaft, mit kleinen Schritten vorwärtszugehen, und die geheimnisvolle, von uns nie ganz zu durchschauende, aber heilende und versöhnende Wirkung des historischen Wandels.
Warum denn nicht Friede?
Gewiß würde dieser Friede von beiden Seiten sehr viel verlangen: sehr viel an Mut, an Phantasie und vor allem an Selbstüberwindung. Gewiß würde jede von den zwei Seiten auf vieles verzichten müssen, was ihr zur Gewohnheit geworden ist, was sie gelernt hat, als für ihre Sicherheit oder ihr Selbstgefühl unersetzlich zu betrachten. Die sowjetische Seite müßte zum Beispiel von vielem wegzukommen lernen: von dem Hang zur Geheimniskrämerei, von ihrer fast ins Absurde getriebenen Spionomamie, von der Überzeugung, daß Sicherheit am besten durch die größtmögliche Verheimlichung einheimischer Zustände vor fremden Augen zu erreichen sei, von dem dauernden Bestreben, die eigene Bevölkerung von jeglichem Kontakt mit der Außenwelt abzuschirmen. Auf der Basis eines so furchtsamen Mißtrauens, das zu einer kleinen, schwachen Staatengemeinschaft besser passen würde als zu einer großen Weltmacht, wird, wie ich fürchte, kein verläßlicher Friede zu errichten sein.
Aber auch von uns hier im Westen wird nicht weniger verlangt, wenn wir auf dem langen Weg zum Frieden weiterkommen wollen. Erstens müßten wir dieser verheerenden Militarisierung der öffentlichen Diskussion über das ost-westliche Verhältnis ein Ende machen - ein Ende dieses ewigen Geredes darüber, was wir den Russen und diese uns Schreckliches antun könnten in einem vermutlich bevorstehenden Krieg. Auch müßten wir damit aufhören, Absichten und militärische Vorbereitungen eines möglichen Gegners immer in drohendstem und erschreckendstem Lichte vor unserer Öffentlichkeit erscheinen zu lassen - ja, im allgemeinen müßten wir von der allzu oft betriebenen systematischen Verteufelung eines anderen großen Volkes und seiner Regierung ablassen - einer Verteufelung, die, wenn ihr nicht bald Einhalt geboten wird, den Krieg tatsächlich unvermeidlich machen wird, indem sie ihn unvermeidlich erscheinen läßt.
Darüber hinaus wird meines Erachtens von uns verlangt, daß wir uns sofort und völlig jeglicher Art wirtschaftlicher Kriegsführung enthalten. Für das Bestreben, die ganze wirtschaftliche Entwicklung eines anderen Volkes zu verhindern oder zurückzusetzen, dürfte sowieso in der Politik eines demokratischen Staates in Friedenszeiten kein Platz sein. Dies sind Mittel, mit denen man einen neuen Krieg vorbereitet, nicht aber Mittel, mit denen man ihn verhütet.
Und schließlich würde von uns verlangt, daß wir hier im Westen uns über unsere Prioritäten klar werden. Was ist eigentlich für uns das Wichtigste? Ist es dies: in der ganzen Natur des in Rußland vorherrschenden politischen Systems jetzt schon und von außen her eine grundsätzliche Änderung zu erwirken, oder vielleicht die Sowjetführer zu der völligen Aufgabe ihrer Hegemonie in Osteuropa zu zwingen und dieses letzte, ohne dabei auf ihre Sicherheitsinteressen Rücksicht zu nehmen? Oder gilt unsere erste Priorität der Suche nach einem wirklichen Frieden? Wenn es das letzte ist, dann müßte, wenigstens von amtlicher Seite, in diesen Fragen der Menschenrechte und der nationalen Unabhängigkeit Zurückhaltung geübt werden. Es handelt sich hier, ich wiederhole, nicht um das, was wünschenswert wäre, sondern um das, was am wichtigsten ist. Dies soll nicht heißen, daß die westliche öffentliche Meinung ihren Gefühlen manchen Vorgängen gegenüber, die sich im Osten abspielen, keinen Ausdruck verleihen sollte. Es soll aber heißen, daß die westlichen Regierungen ständig im Auge behalten müssen, daß mit einem neuen Krieg nicht einmal denjenigen geholfen wäre, die vielfach als Opfer kommunistischer Willkür betrachtet werden; und sie sollten darauf achten, es nicht dazu kommen zu lassen, daß manche Probleme, die wahrscheinlich mit der Zeit ihre natürliche Lösung finden würden, aus mangelnder Geduld auf westlicher Seite für alle Beteiligten zu neuem Unglück treiben.
Außerdem gibt es noch einiges, was gleichzeitig von beiden Seiten verlangt wird: das wäre in erster Linie die Bereitschaft, auf einen weitgehenden, alle Waffengattungen einschließenden Abbau der in Zentraleuropa stationierten Streitkräfte sowie der Raketen, die auf dieses Gebiet gerichtet sind, einzugehen - einen Abbau, der unter anderem diese unendlich schwierige und schicksalshafte Frage des Doppelbeschlusses gegenstandslos machen würde. Der Zustand eines wirklichen Friedens ist nicht denkbar, solange sich diese enormen Ballungen militärischer Macht einander im Zentrum Europas unmittelbar gegenüberstehen. Ich weiß, es wird gerade jetzt über gewisse Teile der Gesamtprobleme in Genf und Wien verhandelt. Die Wichtigkeit dieser Verhandlungen wäre schwer zu überschätzen. Wenn auf beiden Seiten die beteiligten Unterhändler und ihre Vorgesetzten sich nicht von dem falschen Grundsatz leiten lassen, daß Zweck der Übung ist: den Gegner zu dem größtmöglichen Abbau seiner Arsenale zu zwingen, während die eigenen unversehrt weiter bestehen, wenn sie statt dessen alle einsehen wollen, daß die Risiken eines vernünftigen Ausgleichs oder gar einer Einlenkung in einzelnen Punkten viel geringer sind als die Risiken eines Scheiterns der ganzen Unternehmung, dann bezweifle ich nicht, daß diese Verhandlungen nicht nur erfolgreich vor sich gehen, sondern auch das Fundament legen werden für den weitgehenden generellen Abbau, wovon ich eben gesprochen habe.
Und nun - eine letzte Forderung an beide Partner, die manche von Ihnen vielleicht überraschen wird. Ich glaube nicht, daß ein richtiger Friede zustande kommen und bestehen könnte, wenn nicht beide Seiten von diesem wahrhaftig schmachvollen, vom tiefsten Zynismus und gemeinster Korruption begleiteten Massenexport von Waffen in andere Länder und besonders in die Entwicklungsländer der Dritten Welt Abstand nehmen. Für diesen Handel, der meistens nichts anderes bewirkt als die Korrumpierung und Debauchierung der betreffenden Länder, der sie zur Verschwendung von Mitteln verleitet, die dringend - bis zur Verzweiflung dringend - für positive Zwecke benötigt werden. Für diesen ungeheuren Mißbrauch kann es keine Berechtigung geben. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Mächte, die sich weiterhin in Konkurrenz miteinander an diesem Handel beteiligen, in der Suche nach einem europäischen Frieden eine glaubwürdige Rolle spielen können.
Nun sind dies alles nur einige Beispiele dessen, was notwendig wäre, wenn die Suche nach einem wirklichen Frieden erfolgreich sein sollte. Sie stehen freilich im Konflikt mit sehr vielem an Gewohnheiten - an Anschauungen, an Vorurteilen -, aus dem heraus die Politik der verschiedenen Regierungen heute geleitet wird. Sie stellen aber den Mindestpreis dar für einen Frieden, den wir nur um so dringender brauchen und weiter brauchen werden, solange wir nicht gewillt sind, auf die Kernwaffen zu verzichten. Gemessen an den heutigen Einstellungen der betreffenden Regierungen und ihrer politischen Gefolgschaft, ist dieser Preis zweifellos ein sehr hoher. Gemessen an den Gefahren, die uns bedrohen, solange wir nicht geneigt sind, diesen Preis zu zahlen, ist er äußerst niedrig.
Warum denn - zum Schluß noch einmal - warum denn nicht Friede? Wollen wir nicht, können wir nicht uns gleich an die Arbeit machen?
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George F. Kennan
Dankesrede des Preisträgers
Chronik des Jahres 1982
+++ Nachdem argentinische Truppen im April die Inselgruppe »Islas Malvinas« erobern, die Großbritannien 1833 besetzt und in »Falklandinseln« umgetauft hat, schickt Premierministerin Thatcher mehr als 40 Schiffe der Royal Navy in das Krisengebiet. +++ Währenddessen gewinnt die Sängerin Nicole mit dem Lied Ein bißchen Frieden den »Grand Prix Eurovision de la Chanson«. +++
Nach einigen Wochen stehen die Falklandinseln wieder unter britischer Oberhoheit. Im Falklandkrieg starben mehr als 900 Soldaten, mehr als 1 800 wurden verwundet. Die Zahl der Veteranen, die sich, traumatisiert von diesem Krieg, das Leben nahmen, erreichte fast die Zahl der Gefallenen. +++ Israelische Truppen marschieren im Juni im Libanon ein, von wo aus palästinensische Terroraktionen gegen Israel immer wieder ihren Ausgang nehmen. Unter großen Verlusten der libanesischen Zivilbevölkerung bringen die israelischen Truppen die Südhälfte des Landes unter ihre Kontrolle. +++ Die Friedensbewegung erreicht einen weiteren Höhepunkt: Als am 10. Juni in Bonn ein NATO-Gipfeltreffen stattfindet, demonstrieren in der Stadt rund 400 000 bis 500 000 Menschen für den Frieden. +++ Nach einem konstruktiven Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Helmut Schmidt wählt der Bundestag am 1. Oktober Helmut Kohl zum sechsten Bundeskanzler der Bundesrepublik. +++ Mitte November wird der Vorsitzende der verbotenen polnischen Gewerkschaft Solidarnoœæ, Lech Walesa, nach elfmonatiger Internierung freigelassen. +++
Biographie George F. Kennan
Der am 16. Februar 1904 in Milwaukee / Wisconsin geborene Historiker George F. Kennan ist seit 1926 im diplomatischen Dienst der USA tätig und eignet sich während seiner Arbeit in mittel- und osteuropäischen Ländern einen großen Erfahrungs- und Kenntnisreichtum an. Er arbeitet in Hamburg und Talinn, anschließend in Riga, Berlin und Moskau.
Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wird er von Prag nach Berlin versetzt und nach der deutschen Kriegserklärung an die USA für einige Zeit inhaftiert. Zwischen 1944 und 1946 ist er Berater des amerikanischen Botschafters in Moskau und maßgeblich an der Erarbeitung der amerikanischen Politik der Eindämmung gegenüber den kommunistischen Staaten beteiligt. 1951 geht er als Botschafter nach Moskau. Mit seinem ein Jahr später veröffentlichten Buch American Diplomacy 1900–1950 findet er auch als Geschichtsschreiber große Anerkennung.
1953 tritt er aus dem diplomatischen Dienst aus und lehrt bis 1961 in Princeton Geschichte. Seine kritischen Äußerungen zur Entwicklung der Beziehungen zwischen USA und UdSSR nehmen in dieser Zeit zu. Kennan wird zu einem Befürworter der Mitte der 60er Jahre einsetzenden Politik der Entspannung zwischen den Blöcken.
In den 80er Jahren erhebt er seine Stimme gegen den nuklearen »Overkill« und begleitet bis zu seinem Tod die US amerikanische Außenpolitik mit kritischem Blick.
George F. Kennan stirbt am 17. März 2005 im Alter von 101 Jahren.
Auszeichnungen
1982 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
1976 Pour le Mérite
1962 Mitglied der American Academy of Arts and Letters
1957 Pulitzer-Preis
1952 Mitglied der American Philosophical Society
1952 Mitglied der American Academy of Arts and Sciences
Laudator Carl Friedrich von Weizsäcker
Der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker wird am 28. Juni 1912 in Kiel geboren. Er studiert ab 1929 Physik, Astronomie und Mathematik und promoviert 1933 bei Werner Heisenberg. Nach seiner Habilitation im Jahr 1936 arbeitet Weizsäcker am Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik in Berlin und wechselt 1942 als Professor an die Straßburger Universität. Die 1937 nach ihm benannte Weizsäcker-Formel verschafft ihm internationale Reputation als Atomphysiker. Während des Zweiten Weltkriegs ist er Mitarbeiter am deutschen »Uran-Projekt«. In abgehörten Gesprächen während der Internierung äußern er und Otto Hahn Freude darüber, dass sie glücklicherweise nicht vor den USA »die Bombe« produziert, sondern deren Entwicklung verlangsamt hätten.
1946 geht Weizsäcker, der sich fortan als leidenschaftlicher Kriegsgegner bekennt und auf die Verantwortung des Wissenschaftlers für die Folgen seiner Arbeit hinweist, an das Max-Planck-Institut für Physik in Göttingen und lehrt danach von 1957 bis 1969 in Hamburg Philosophie.
Er gehört zu den Initiatoren der »Göttinger Erklärung« 1957, in der die deutschen Atomphysiker ihre Beteiligung an der Herstellung, der Erprobung und dem Einsatz von Atomwaffen öffentlich verweigern.
1970 gründet er in Starnberg das Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt, das er bis 1980 leitet. Ab 1986 sieht er in der Sonnenenergie die zukünftige Energiequelle und geißelt die Atomwirtschaft als überflüssig. Für die SPD entwirft er Thesen zur Friedenspolitik, für den Kampf gegen den Hunger in der Welt und für eine neue Energiepolitik. Eine Kandidatur als Bundespräsident lehnt er mehrmals ab.
Carl Friedrich von Weizsäcker stirbt am 28. April 2007 im Alter von 94 Jahren.