Frank Schirrmacher
Sein Anteil
Laudatio auf Martin Walser
Müssen, frage ich den Börsenverein und den Stiftungsrat, Friedenspreisträger eigentlich friedfertige Leute sein? Wäre das die Voraussetzung einer Laudatio, so spräche zu Martin Walsers Gunsten immerhin, daß er ein leidenschaftlicher Leser ist. Leser sind wie Träumer - solange sie lesen, können sie nichts Böses tun. Und Walser ist ein Leser wie kaum ein zweiter. Ehe er einen Zug besteigt, so berichtet er, versieht er sich mit Büchern, die selbst 24stündigen Verspätungen standhalten. Darum kommt dieser Autor oft vor allen anderen an.
Im Kriegsgefangenenlager entdeckte er Stifter. »Alle Schriftsteller, die er las«, stand dort in einer Erzählung, »beschrieben seine Krankheit.« Fortan ließ Walser sich nie mehr von der Erkundung dieser Krankheit abhalten. Denn der Egoismus des Lesers ist ein brauchbares Gegenmittel zu den Egoismen der Weltgeschichte. »Auf jeden Fall«, so hat er sich später erinnert, »konnte im Sommer 1945 endlich ungestört weitergelesen werden.« Als wenn dies das erste wäre, das einem zu der Jahreszahl einfiele! Aber es war nun einmal das erste: Nachsommer im Gefangenenlager.
Für das Lesen, meint er, gebe es keine besseren Gründe als für das Atmen, »trotzdem macht mir das Lesen oft mehr Vergnügen als das Atmen, ja es macht mir sogar das Atmen wieder vergnüglicher.« Seit ihm Adalbert Stifter im Gefangenenlager das Atmen ermöglichte, weiß Walser von der Macht, die Leser über die Wirklichkeit haben. Es ist keine namenlose Macht. Er hat ihr den Titel seines schönsten Essaybandes gegeben, einer literarischen Seelenexpedition, die von nichts anderem als von Lese-, also von Lebenserfahrungen handelt, der Band heißt »Liebeserklärungen«.
Für die Friedfertigkeits-Vermutung spricht außerdem, daß Walser nicht nur ein Lesender, sondern auch ein Schreibender ist. Auch Schreibende können, solange sie schreiben (und es noch niemand liest), nichts Schlimmes anrichten. »Durch Schreiben«, sagt er, »kann man das Denken verlangsamen.« Das heißt: Man kommt erst dann an, wenn alle anderen sich schon verlaufen haben. Man sieht schärfer als andere Übriggebliebenes, Unerledigtes, Hinterlassenschaften. Der Schreibende bringt Fahrpläne und Termine durcheinander, er ist ein notorisch Verspäteter. Wie Kafkas Landarzt, den das Fehlläuten der Nachtglocke aus aller Wirklichkeit klingelt, begegnet der Schreibende der Welt in der Vergangenheitsform. Es ist diese kleine Verrücktheit, die es ihm erlaubt, Geschichten zu erzählen.
Der in allen Fragen der Literatur immer wieder zu Rate zu ziehende Franz Fühmann hat die Lebensäußerungen des Schriftstellers einmal bündig so beschrieben: »Der Hund bellt, die Katze miaut, der Dichter schreibt.« Das klingt viel friedfertiger, als es ist. Jeder merkt das, der liest, was Walser schreibt.
Wie geht dieser Romancier mit seinen Figuren um! Welche Ich-Konflikte, Selbstverluste, Seelenkämpfe werden da angezettelt! Da gibt es Liebeserklärungen, die wie Kriegsausbrüche sind. Da führen verbitterte Beamte Winterschlachten gegen ihren eigenen hessischen Ministerpräsidenten und verlieren übrigens immer. Da versenken Freunde ihre Freunde im Bodensee. Diesem Personal wird alles schwer und vieles unvergnüglich, und am schwersten und unvergnüglichsten wird ihm das Atemholen.
»Martin Walsers lebhafte Irritationen schon am frühen Morgen«, so schrieb Peter Demetz, »sind mir lieber als die behäbigen Frühstücksgewohnheiten anderer Schriftsteller, mitsamt ihrer dritten Tasse Kaffee.« Das war mit Blick auf die Essays gesprochen, gilt aber mit noch größerem Recht für die Romane. Martin Walser ist nicht der gute Herbergsvater der deutschen Literatur. Dazu gibt es zuviel Aufregung schon beim Frühstück. Dazu fröstelt einem zu sehr in seinen Romanen. Dazu ähnelt die Innenaustattung seiner erzählten Welt zu sehr dem Seelenhaushalt unserer gelebten Welt. Nur daß man bei ihm immer damit rechnen muß, zusammen mit der Nachttischlampe auch die Naturgewalt anzuknipsen. Wie tückisch etwa ist der Lebensfriede in seiner Novelle »Ein fliehendes Pferd«, diesem Meisterwerk einer Besiegung, in dem der Autor zweimal die Natur lebensbedrohlich gegen das Soziale aufruft und jeder Leser merkt, daß die vernichtende Kraft der Natur gar nichts ist im Vergleich zu den entfesselten Gewalten des Sozialen. Walsers literarische Naturkatastrophen, die Unfälle, Krankheiten oder Seestürme, sind Grashalme. Oder besser: Sie sind Hälmchen im Wind im Vergleich zu den orkanhaften Elementargewalten des Sozialen und seiner Ich-Bedrohungen. »Weiterschlafen«, denkt eine seiner Figuren bei Tagesanbruch, weiterschlafen, und hoffen, in einer besseren Wirklichkeit aufzuwachen.
Hört man das Echo? Hört man das Echo, das so alt ist wie die Lebens- und Weltangst des bürgerlichen Zeitalters; eine Angst, wie man weiß, die ein Angst des Tages, des Lichts, des Alltags ist? »Der Morgen dämmerte, das Licht verlosch« - so lautet ein ganz unscheinbarer und sehr beunruhigender Satz in Goethes »Wahlverwandtschaften«, jenem Roman, dessen Spuren man in Walsers literarischem Werk allenthalben nachklettern kann. Die Worte fallen am Scheitelpunkt des Unglücks: Das Kind ist tot, im See ertrunken, die Ehe zerstört, die Liebe, übrigens auch das soziale Überleben unmöglich. In Goethes Geschichte ist zum erstenmal in der deutschen Literatur ganz selbstverständlich davon die Rede, daß der Tag mit seinen Menschen schlimmer werden wird als die Nacht mit ihren Gespenstern. Mehr noch: Hier, im Jahre 1809, stößt man auf die Vermutung, es könnte einmal ein Ende sein, daß ein neuer Tag beginnt.
Diese Erfahrung hat Walser seinen Figuren nicht erspart. Man hat Mitgefühl mit ihnen. Niemand ist zu beneiden, der abends als Leser einschläft und morgens als Walserscher Held im Bett aufwacht. Mit gespieltem Erstaunen hat er einmal bemerkt, daß die meisten seiner Romane in der Frühe beginnen. »In fünfzehnjähriger Schreibarbeit hat sich mir ein Anselm Kristlein in drei Romananfängen immer im Bett präsentiert. Allerdings nie unversehrt... Auch danach habe ich des öfteren die Mühsal des Aufwachens in einer unfreundlichen Welt als Anfang benutzt ... Auf jeden Fall haben es meine Figuren schwer, in den Tag und seine Pflichten hineinzufinden. Es könnte sein, sie schaffen es überhaupt nicht ... Das ist der Schmerz des Synchronisiertwerdens: du mußt funktionieren einen weiteren Tag.«
Es ist natürlich etwas anderes, ob man in einem Roman 1809 oder 1989 die Augen aufschlägt. Am Schlafen und Träumen hat sich in einhundertachtzig Jahren trotz Freud wenig geändert, alles aber am Aufwachen. Goethes Satz war die Vorwarnung. Wenn Franz Horn in Walsers Roman »Jenseits der Liebe« eines Morgens mit unlösbar aufeinandergebissenen Zähnen erwacht, dann weiß der Autor, daß der Leser weiß, woher diese ironische Metamorphose stammt. »Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.« Das ist der berühmte erste Satz aus Kafkas »Verwandlung«, einer Erzählung, die in den Tiefen von Walsers Erzähl- und Essaykunst immer wieder mitspricht. Dieser erste Satz, so hat Walser in seinen Poetikvorlesungen geschrieben, »entsteht aus nichts als aus problematisch gewordenem Selbstbewußtsein«. Hier hat man die Ausgangslage von Walsers Helden. Nur daß seine Figuren wissen oder doch ahnen, was man vor dem Auftreten Gregor Samsas in der Weltliteratur eben nicht wissen konnte, daß man als Mensch buchstäblich über Nacht die Identität verlieren und als Ungeziefer erwachen kann.
Walser ist nicht ausgewichen in das Phantastische. Er hat diesen Befund übersetzt in die Lebenswelt Deutschlands. Seine Romanhelden haben Berufe. Sie müssen Geld verdienen. Sie haben - was Walser immer wieder hervorgehoben hat - Chefs, an die sie nachts denken und von denen sie wissen, daß jene nicht an sie denken.
Diese Chefs sind nicht Gott, aber, und das ist wichtiger, es spielte auch keine Rolle, wenn sie es wären, denn in dieser Welt denkt auch Gott längst nicht mehr an die, die an ihn denken. Es sind gebrochene, lädierte, von »Lebenskoliken« durchgerüttelte Charaktere, Menschen, in denen der Schmerz steckt. Walsers Erzählkunst erlaubt, ihre Verwundungen ganz realistisch zu lesen: Angst vor sozialer Deklassierung und Arbeitslosigkeit, Leiden an Abhängigkeitsverhältnissen vor allen Dingen zum Chef - und sei der, wie in Walser Eckermann-Stück, der beste Chef von der Welt, nämlich Johann Wolfgang Goethe. Hier, in diesem Teil seines Werks, ist die Bundesrepublik Deutschland so deutlich ablesbar, wie die Datumsanzeige in der Armbanduhr: ihre oft ans Panische grenzende Unruhe, ihre Geschichtsangst, ihr Wort- und Meinungswucherungen.
Das ist die Oberfläche seiner Kunst. Unter Tage aber geschieht etwas anderes. Dort, wo er sich, seinem eigenen Wort zufolge, seinen »unterirdischen Himmel«, nämlich die Geschichte, aufspannte, arbeitete sich Walser durch die Schächte seiner Erzählungen, Einreden und Widerworte der Vergangenheit entgegen. Die Unternehmung, anfangs in ihrer Konsequenz von vielen noch gar nicht begriffen, hieß: »Die Verteidigung der Kindheit«. Es ging nicht um irgendeine Kindheit, sondern um die Kindheit eines Menschen, der im Jahre 1945 achtzehn Jahre alt geworden war. Es ging um eine Generation, deren Zeitgenossenschaft zu den prekärsten des Jahrhunderts gehört. Junge Menschen, denen plötzlich Autorität, Vaterwelt, Überlieferung ruiniert waren, und die nun selbst zu Vätern und Autoritäten geworden waren. Eine Generation, die, nachdem sie älter und sogar alt geworden ist, sich vielfach nur mit Mühe ihrer Kindheit versichern kann, weil die Erinnerung an ihre Kindheit sich fast niemals mit dem heutigen Wissen über das außerhalb der Spielzimmer stattfindende Verbrechen in Takt bringen läßt.
Jetzt erst, seit Erscheinen seines Romans »Ein springender Brunnen«, erkennen wir die staunenswerte Lebenslogik dieses Unternehmens, ja fast scheint es nun, als sei manches von dem, was er zuvor geschrieben hat, ein großes Abräumwerk gewesen: Abräumen auch von Worthülsen, Meinungsschutt, überhaupt von fremder, also unfreier Rede. Aufregender und bekämpfter ist der Selbstfindungsprozeß eines mittlerweile siebzigjährigen Mannes kaum je gewesen; frappierender jedenfalls sind literarische und reale Geschichte selten zusammengefallen.
»Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.« Das, so denke ich, muß die Urerfahrung dieser Generation gewesen sein. Erwachend im Jahre 1945 mußte sie feststellen, daß sich ihr Land und meist auch ihre Väter und Familien in den Augen der Welt in etwas Abstoßendes verwandelt hatten. Zurückblickend als erwachsene Männer, in den siebziger und achtziger Jahren, wurden sie gewahr, daß auch ihre Kindheit, das Ich, das sie einmal waren, sich ins Ungezieferartige zu verwandeln drohte. Adornos Satz im Rücken, wonach es kein richtiges Leben im falschen gebe, begann so die Verdunkelung eines ganzen Erlebniskontinents.
»Allmählich wird mir klar«, hat Walser geschrieben, »daß jeder beim Deutschland-Gespräch eine andere Geschichte aufarbeitet. Seine eigene und oft noch seine ganze Familiengeschichte. Nie bollern aus mir die Schlagwörter so unbremsbar heraus wie beim Deutschland-Gespräch.« Damals hat er verstanden, wie unverantwortlich, wie antwortlos diese Versperrung der Kindheitserinnerung ist. Seine Aufgabe bestand darin, den in den Schlagworten mitredenden Bewußtseins- und Familiengeschichten die Zunge zu lösen. Das konnte nur gelingen, wenn man umgekehrt die Schlagworte zum Schweigen bringen würde. Diese lauteten zum Beispiel: Ende der Geschichte, Ende der Nation, deutsche Teilung als verdiente Strafe, »Der Schoß ist fruchtbar noch« und ewig so weiter.
Dies war der Augenblick, in dem Martin Walser über Deutschland zu reden begann. Er sprach über Deutschland wie über eine Familiengeschichte und er sprach so wie außer ihm einzig noch Uwe Johnson. Er zerstörte die Schlagworte, indem er sich auch als Person, öffentlich, fast selber zerstören ließ. Die Aufregung des in den Wonnen des Status quo eingeschlummerten Landes war erheblich. Heute wissen wir, daß aus dieser Operation eine der stärksten Rehabilitierungen des Intellektuellen in der Nachkriegszeit hervorgegangen ist.
Natürlich gab es schon Kindheiten in der Literatur. In unverabredeter Übereinstimmung beschreiben gerade die wichtigsten Romane, die in der Bundesrepublik wie in der DDR erschienen sind, das Dritte Reich aus Kinder- und Jugendperspektive. Aber Walsers Kindheit sieht anders aus. Er beschreibt die Kindheit, die einst war, nicht als Krankheit zum Tode. Auch nicht als eine, die - nach Katastrophe und Untergang - wie durch ein Verwandlungswunder einen antifaschistischen oder pazifistisch-lieblichen Charakter herausbildet. Walsers Figuren wissen nicht, was aus ihnen wird. Der Autor müht sich ab an dem großen Paradoxon seiner Generation: objektiv unschuldig, womöglich sogar glücklich gewesen zu sein und gleichzeitig per Geburtsurkunde Teil eines schuldig gewordenen Ganzen gewesen zu sein.
Weil er über sich reden wollte, konnte und durfte er über das Ganze nicht schweigen. Hier liegt der Schlüssel seines deutschland- und vergangenheitspolitischen Engagements. Wieder einmal war er, der leidenschaftliche Leser, zu früh gekommen und schon war er im Begriff, alle Termin- und Terminologiepläne durcheinanderzuwirbeln. Als fast alle glaubten, die Idee dieses Ganzen, die Nation sei historisch überwunden, die Teilung des Landes, da schuldhaft verursacht, für die Ewigkeit gemacht, trat Walser an die Öffentlichkeit und fragte, warum das eigentlich so sei und welcher Autor über die deutsche Geschichte entschieden habe. Er sprach mit literarischer, nicht mit moralischer Lizenz. »Auch ein Buch, das kein happy end hat«, hat er einmal gesagt, »zeigt durch seine Stimmung, daß es lieber gut ausginge ... Leser und Schreiber wünschen ein besseres Ende jeder Geschichte, das heißt sie wünschen, die Geschichte verliefe überhaupt besser. Nur wenn die große und ganze Geschichte besser verläuft, können die unzähligen einzelnen Lebensgeschichten besser ausgehen. Leser und Schreiber sind also uneinverstandene Leute. Leute, die sich nicht abgefunden haben. Noch nicht.«
Mehr war ja zunächst gar nicht gewollt, als er seinen Bericht »Über Deutschland reden« veröffentlichte: den Zustand beklagen, uneinverstanden, unabgefunden sein, Raum schaffen für die eigene Erinnerung. Doch kaum hatte er mit der Widerrede begonnen, gab es prominente Interventionen, die kurz und bündig mitteilten, dieser Autor gefährde den Weltfrieden. Das hat es damals wirklich geben sollen: Schriftsteller, die den Weltfrieden gefährden. Heute, zehn Jahre später, erhält Walser den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Es ist ein Augenblick großer Gerechtigkeit, nicht der Rechthaberei.
Dazu bestünde auch gar kein Grund. Man täusche sich nicht: Die Rede, heute vorgetragen, würde vermutlich die gleichen Reaktionen hervorrufen wie damals. Nur die öffentliche Reizapparatur ist ein wenig anders justiert. Daß Walser gerne in Leipzig oder Dresden das Theater besuchen würde, ginge heute natürlich nicht mehr mit höhnisch anschwellendem Echo durch die Presse, wie es damals geschah, als das herabsetzende Gelächter und Achselzucken der Realisten sich an der anstößigen Schrulle dieses Schriftstellers nicht genugtun konnte. Auch das hat es damals wirklich geben sollen: daß der Wunsch, als freier Mensch das Dresdner Theater zu besuchen, fast ein Verbrechen war, weil er die Ignoranz über so viele Regeln der Nachkriegsordnung einschloß. Doch das Undenkbare des Jahres 1988 ist zur Fahrplanroutine des Jahres 1998 geworden. Im Grunde müßte diese Verschiebung des Realitätsbegriffs das Vertrauen in unsere eigene Vorstellungskraft kompromittieren - und das wäre gewiß nicht das unproduktivste Erbe des Jahres 1989.
Weil sich zwar die Welt, nicht aber die Vorstellung gewandelt hat, ist Walsers Rede bis heute unerledigt geblieben. Man muß sich in ihr nur ein wenig aufhalten, um herauszufinden, daß der Vers, den er sich auf Deutschland machte, uns noch immer aus dem Tritt bringt. Er schreibt: »Darüber müssen einmal Geschichtsschreiber sich wundern: wie viele bedeutende Leute Jahrzehnte nach der Erledigung des Faschismus ihren Zorn und ihr gutes Gewissen lebenslänglich durch antifaschistische Regungen belebten.« Er schreibt, bedeutungsvoll, weil es auf den erst Jahrzehnte später, nämlich soeben erschienenen Roman seiner Kindheit anspielt: »Das erworbene Wissen über die mordende Diktatur ist eins, meine Erinnerung ist ein anderes. Allerdings nur so lange, als ich diese Erinnerung für mich behalte. Sobald ich jemand daran teilhaben lassen möchte, merke ich, daß ich die Unschuld der Erinnerung nicht vermitteln kann. Ich habe nicht den Mut oder nicht die Fähigkeit, Arbeitsszenen aus Kohlenwaggons der Jahre 1940 bis 43 zu erzählen, weil sich hereindrängt, daß mit solchen Waggons auch Menschen in KZ's transportiert worden sind. Ich müßte also reden, wie man heute über die Zeit redet. Also bliebe nichts übrig als ein heute Redender. Einer mehr, der über damals redet, als sei er damals schon der Heutige gewesen«.
Solche Sätze kränken die moralische Selbstgewißheit. Sie sagen doch nichts anderes, als daß man es sich in den fünfzig deutschen Nachkriegsjahren mit ihrer schon seit langem immer routinierter wirkenden Gewissensnot womöglich zu leicht gemacht hat, als man dachte, es sich und dem Land besonders schwer zu machen.
Nur im Vorbeigehen, aber desto wirkungsvoller, weist Walser auf ein fast frivoles Paradoxon. Denn während es in der ersten Jahrhunderthälfte, nach einem Wort Thomas Manns, für einen durchschnittlichen Deutschen unzählige Verführungen zum Schlechten gab, schenkte ihm die zweite Jahrhunderthälfte unzählige und unzählig verführerische Möglichkeiten, gut zu sein. Bessere Deutsche gab es nie, als die, die Welt vor sich selbst und vor Deutschland warnten. »Wir nicken«, schrieb Walser 1988, »vor lauter Angst sonst für Nazis gehalten zu werden.«
Das war der Grund seiner Verneinung, seines Kopfschüttelns, in dem sich nicht nur Widerspruch und Verblüffung, sondern immer auch geradezu physischer Schwindel ausdrückte: Er wollte die Betondecke des fugen- und folgenlosen öffentlichen Gewissens aufbrechen. Er wollte zeigen, daß es keine moralischen, sondern nur rhetorische Akte sind, wenn man sich öffentlich für Deutschland schämt oder wenn man - umgekehrt - seinen Stolz, ein Deutscher zu sein, auf dem T-Shirt spazierenführt. Und er wollte sagen, welchen Preis uns das alles kostet; welchen Preis an Geschichtsbewußtsein und Sprechfähigkeit zuerst.
Überflüssig noch einmal von den Protesten und Sanktionen zu reden, die Text und vor allen Dingen Autor auf sich gezogen haben. Walser selbst hat davon berichtet. Nur eine Reizreaktion ist erwähnenswert, weil sie bis heute die Wirkungsgeschichte von Walsers »Deutschen Sorgen« beeinträchtigt und in die falsche Bahn gelenkt hat. Ich meine jenes befremdete Überrascht-Tun, das damals von einer Wandlung, Wende, ja Wesensveränderung des Schriftstellers sprach, und damit übrigens, wo es um Kollegen ging, in vielen Fällen die fristlose Kündigung der Freundschaft avisierte. Ohne Zweifel hat es Metamorphosen in Walsers Werk gegeben, Korrekturen, Ausstreichungen und Verbesserungen. Aber dieses nun gerade, die Frage nämlich, was es heißt, eine deutsche Geburtsurkunde zu besitzen, hat sich bei ihm nicht geändert.
Vor und nach dem Bau der Mauer richtet der 34jährige zwei Gedichte an Bertolt Brecht, die er freilich erst Jahrzehnte später zum Druck freigibt. Im Jahr 1962 schreibt er seinen Traktat »Vom erwarteten Theater«. Darin stehen die noch im Brecht-Sound formulierten apodiktischen Sätze: »Ein deutscher Autor hat heute ausschließlich mit Figuren zu handeln, die die Zeit von 33 bis 45 entweder verschweigen oder zum Ausdruck bringen. Die deutsche Ost-West-Lage verschweigen oder zum Ausdruck bringen. Jeder Satz eines deutschen Autors, der von dieser geschichtlichen Wirklichkeit schweigt, verschweigt etwas.« Hat man das denn damals nicht gelesen? Hat man denn nicht gemerkt, daß das Verbindende dieser beiden Aufträge das Adjektiv »deutsch« ist?
Wie steht es mit seinem Essay zu den Auschwitz-Prozessen, 1965 erschienen, nur zwanzig Jahre also nach Kriegsende, das durchaus alarmistisch endet, nämlich mit dem Argwohn, die Menschen des Jahrhundertendes, also wir, könnten wieder, »auf Ideen kommen«? Darin aber steht folgender Satz: »Die monströse Wirklichkeit von Auschwitz darf wohl auch über die Vorstellungskraft jenes Bürgers gehen, der geduldig zusieht, wie Juden und Kommunisten aus seiner Umgebung verschwinden ... Wenn aber Volk und Staat überhaupt noch sinnvolle Bezeichnungen sind für ein Politisches ... dann ist alles, was geschieht durch dieses Kollektiv bedingt... Dann ist keine Tat mehr bloß subjektiv. Dann ist Auschwitz eine großdeutsche Sache. Dann gehört jeder zu irgendeinem Teil zu der Ursache von Auschwitz. Dann wäre es eines jeden Sache, diesen Anteil herauszufinden.«
Das war sein Vorhaben. Ich denke, es ging ihm fortan in seiner literarischen und essayistischen Arbeit tatsächlich darum herauszufinden, was dieser eigene Anteil gewesen war. Wer aber das eigene, auch noch so imaginäre Dabeisein bei der Katastrophe auszuloten bereit ist, muß sich, ob er will oder nicht, als Teil des Ganzen, also als Mitgesellschafter einer Nation begreifen.
Nein, hier hat sich nicht einer über Nacht verwandelt und ist mit wehenden Fahnen ins feindliche Lager übergelaufen. Walser hat die DDR nicht anerkannt. Aber er hat, was oft unterschlagen wird, auch die alte Bundesrepublik nicht anerkannt. Er hat an den sechziger und siebziger Jahren gelitten, wie fast alle seine Kollegen. Man betrachte sein »Deutsches Stilleben« von 1984, in dem - gegen alle herrschende Meinung - der Satz steht: »Ich würde mich sehr freuen, wenn in diesem Augenblick Honecker in Bonn wäre.« Der Versuch seiner damaligen Zeitgenossen, Walser in die Bibliothek des Revanchismus einzuordnen, war nicht nur ungerecht, er war auch unbelehrt und dumm. Er hat nicht - wie manche seiner Gegner meinten - Königsberg zurückhaben wollen und auch nicht Breslau, und selbst dem Wort Wieder-Vereinigung hat er die Vorsilbe »wieder«, die das Neue zur Wiederholung macht, bestritten. Er hat nichts anderes als seine Biographie zurückhaben wollen, und weil er diese Zurückgewinnung mit den Mitteln der Literatur betrieb, wurde seine Selbstverteidigung viel mehr als die Bewußtseinsverteidigung seiner Generation.
Walsers Politik steht auf poetischen Füßen. Und ehe die Politiker diese Festellung ironisch kassieren, seien sie daran erinnert, daß Walser aus diesem Grunde einer der wenigen Realpolitiker der achtziger Jahre wurde.
Daß er die Nation rehabilitieren, die Inflationierung des Faschismus-Vorwurfs außer Verkehr setzen, das Geschichtsgefühl wecken wollte, geschah aus künstlerischer Notwendigkeit: es geschah, weil er sonst über sich selbst hätte lügen müssen. »Etwas sagen«, schrieb er damals, »heißt bei mir, etwas verschweigen. Sollte man auch unsere öffentliche Meinung mit diesem Vorbehalt zur Kenntnis nehmen? Es genügt das Gebot: Du sollst nicht lügen.«
Walsers Nachdenken über Deutschland wurde von keiner Ideologie angetrieben, sondern es war eine produktionsethische Notwendigkeit - Bedingung eines Bewußtseinsprozesses, den er für das nur langsam aus dem Schlaf seiner Zufriedenheit erwachende Land stellvertretend vorwegnahm. Walser hatte ja einst in Friedrich Beißners Hölderlin-Oberseminaren gesessen und damals gelernt und nie wieder vergessen, daß Literatur einer Nation in der Lage ist, einen Begriff ihrer besseren Möglichkeit zu geben. »Der Anstoß Hölderlins«, schrieb er damals, »ist bis heute schöne Literaturgeschichte geblieben. Das heißt, es gelingt uns offenbar nicht, ihn zu verstehen.« Was werden wir von Walser verstehen, was werden Walsers eigene Anstöße sein, da ihm, wie selten einem Dichter zuvor, die Wirklichkeit recht gegeben hat?
Einer läßt sich jetzt schon erkennen. Denn kaum ein anderer hat dem vereinigten Land so Überraschendes abgehört wie Martin Walser. Er war der Erste, der die Entwicklung der neuen Bundesländer als Teil der eigenen Geschichte begriffen hat. Als Chronist der Unvorhersehbarkeit entlastet er die Literatur und ihre Leser von dem Albdruck, wissen zu müssen, was morgen kommt. Deshalb ist sein Blick auf die Gegenwart Dresdens, Leipzigs oder Rostocks so frei. Seine poetische Gerechtigkeit besteht darin, daß er die Unvorhersehbarkeit der Geschichte auch dem 9. November 1989 einschreibt. Niemand, so muß man ihn verstehen, hat das Recht, den Menschen der ehemaligen DDR vorzuwerfen, daß sie nicht wußten, daß die Mauer fällt. Unnachgiebig beharrt er darauf, daß man Biographien nicht das bessere Wissen von heute nachtragen darf. Auch das ist Unschuld der Erinnerung. Walser, der recht behalten hat, aber immer weiß, wie leicht einem der Irrtum fällt, verachtet dieses neueste ideologische Konstrukt, das vorgibt, immer schon gewußt zu haben, daß DDR und Ostblock zum Untergang bestimmt waren. Er sagt: Wir haben es nicht wissen, wir haben es uns nur wünschen können.
Lesende, Schreibende, sage ich, sind friedfertige Menschen, Träumer, solange sie träumen, auch. Zuweilen schreibt Martin Walser solche Traumtexte auf. Eine dieser geträumten Geschichten macht blitzartig klar, warum es nicht nur Walsers Sache ist, was Walser erzählt: warum seine poetische Weltermittlung wichtiger sein wird als alle unsere täglichen und täglich wechselnden Meinungen über die Welt. Einmal träumt ihm, es riefe Salvador Dali an. Selbst im Traum ist das für Walser eine Sensation. Dali hat eine glasklare Botschaft: »Malen Sie das Jahr 2000!« ruft er dem Schriftsteller zu, »oder das Jahr 2000 malt Sie.« Das ist, wie jeder merkt, keine Bitte, sondern ein Ultimatum. Erzähle, heißt das, oder du wirst erzählt werden. »Es ist zu spät«, entgegnet der Dichter dem Maler. Und fügt, nach kurzem Nachdenken, hinzu: »Ebendeshalb darf es nicht zu spät sein.« Hier, in diesem fiktiven Traumgespräch, redet mit fast schlaftrunkener Stimme das, was dieser große Utopieskeptiker sich an Utopie allein noch gestattet. Denn es geht bei diesem Ultimatum nicht um Science-fiction, es geht ganz entschieden nicht um Zukunft, sondern um Vergangenheit. Male, oder du wirst gemalt werden - Das heißt: Das kommende Jahrhundert legt schon die Perspektive an, ordnet schon die Staffage, verteilt womöglich schon die Plätze für das Panaromabild unserer Zeit. Die Utopie heißt: Es ist vielleicht gerade noch genug Zeit, eine weitere Geschichte zu erzählen.
Das ist der produktive Impuls auch für die jüngere Generation, die längst im Begriff ist, dem vereinigten Land neue Geschichten einzuschreiben - Geschichten, wie ich hinzufüge, die jetzt, wo das Land wieder Geschichte hat, uns Lesern des Staunen und Fürchten lehren werden. Doch während wir mutig nach vorne ausschreiten, verdunkelt sich unseren Rücken eine Jahrhunderterfahrung, von der wir ahnen, daß bald niemand mehr da ist, sie zu erzählen. Walser ist Repräsentant jener letzten Generation, die von der Jahrhundertkatastrophe weiß. Deutschland wird jetzt von einer Generation regiert, die den Krieg nicht mehr bewußt erlebt hat. Daß man 1945 achtzehn Jahre alt war, das erscheint uns Nachgeborenen wie die Abstammung aus dem Holozän. Deshalb, so könnte man hinzufügen, besteht um so dringender Auskunftspflicht. Schlegel, der bei Ausbruch der Französischen Revolution keine achtzehn Jahre alt war, Hölderlin, der 19 Jahre alt war, Büchner, der vom Grauen der Junirevolution mit siebzehn hörte - sie alle sind zeitlebens von dieser Zeitgenossenschaft nicht mehr losgekommen, sie haben fast manisch versucht, die Geschichte auf einen anderen, besseren Sinn abzuhorchen. Der englische Historiker lan Kershaw, der soeben den ersten Teil seiner maßstabsetzenden Hitler-Biographie veröffentlicht hat, formuliert in seinem gewaltigen Werk einen einzigen geschichtsphilosophischen Satz - es ist ein sehr sprechender Exkurs ins Pathos, den sich dieser nüchterne Wissenschaftler erlaubt: »Nur über die Geschichte können wir für die Zukunft lernen. Und deshalb ist keine Phase der Geschichte von größerer Bedeutung als die Epoche, die Adolf Hitler beherrscht hat.»
Daß wir verabscheuen, was war, und es moralisch verdammen, das gehört zu den einfachsten Übungen des Deutschlandgesprächs. Was aber zu begreifen wäre und was nur Geschichten begreiflich machen können, ist, wie Unglück und Verbrechen um einen herum wachsen können, ohne daß man davon etwas bemerkt. Oder noch konkreter: wie viel oder wie wenig man eigentlich von sich und den anderen bemerkt, wenn Geschichte in die Extremlage gerät. Oder ganz konkret: wie ein Gastwirtssohn aus Wasserburg am Bodensee in Hitlers Deutschland zu seiner Identität und seiner Sprache finden konnte und nichts weiß von Diktatur und Demokratie, von dem Ausmaß des umgehenden Verbrechens, dem unaufhaltsamen Untergang in Ruinen, von Bundesrepublik und von DDR; nicht weiß also, daß der Morgen mit seinen Verwandlungen droht. Walser zeigt, was es heißt, in einer Geschichte zu leben, deren Ende man nicht kennt. Also zeigt er: was es heißt, in der Gegenwart zu leben.
»Alle Schriftsteller, die er las, beschrieben seine Krankheit«. So stand es bei Stifter. Will also einer geheilt werden von der Ansteckung durch die Ideologien, konsultiere er Walsers Literatur. Man muß es ja nicht nur bei ihm versuchen, aber man sollte die Chance nicht verpassen. Es gibt viele, die auf diese Heilung schwören, auch wenn Walsers Methoden zugegebenermaßen unorthodox sind. Man muß in Kauf nehmen, daß man verwandelt erwacht; es fröstelt einen zuweilen und das Leben wird riskanter. Könnte sein, man setzt sich dabei auf's Spiel. Aber: Lesen wird wieder zum Vergnügen. Und das Atmen auch.
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