Susan Sontag
Friedenspreisträgerin 2003
Dankesrede
Hier in der Paulskirche vor Ihnen zu sprechen, den Preis entgegenzunehmen, den der Börsenverein des Deutschen Buchhandels in den vergangenen 53 Jahren so vielen Schriftstellern, Denkern und hervorragenden Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens verliehen hat, die ich bewundere – an diesem geschichtsträchtigen Ort und bei diesem Anlass zu sprechen ist eine Erfahrung, die bescheiden macht und zugleich inspiriert. Um so mehr bedauere ich die Abwesenheit des Botschafters der Vereinigten Staaten, Mr. Daniel Coats, der schon im Juni, gleich nach der Bekanntgabe des diesjährigen Friedenspreisträgers, die Einladung des Börsenvereins zu der heutigen Veranstaltung abgelehnt hat und auf diese Weise deutlich macht, dass ihm an einer Bekräftigung der ideologischen Position und des verbitterten Unmuts der Regierung Bush mehr liegt als daran, die Interessen und das Ansehen seines – und meines – Landes zu vertreten, indem er einer normalen Diplomatenpflicht nachkommt.
Botschafter Coats hat es vermutlich deshalb vorgezogen, nicht zu kommen, weil ich mich in Zeitungs- und Fernsehinterviews und in kurzen Zeitschriftenartikeln kritisch über die neue radikale Tendenz der amerikanischen Außenpolitik geäußert habe, wie sie in der Invasion des Irak und seiner Besetzung zum Ausdruck kommt. Er sollte jedoch, wie ich finde, hier sein, weil eine Bürgerin des Landes, das er in Deutschland vertritt, mit einem wichtigen deutschen Preis geehrt worden ist.
Ein amerikanischer Botschafter hat die Aufgabe, sein Land repräsentieren – das ganze Land. Ich dagegen repräsentiere selbstverständlich nicht ganz Amerika und nicht einmal jene ansehnliche Minderheit, die dem imperialen Programm von Mr. Bush und seinen Beratern die Zustimmung verweigert. Mir gefällt die Vorstellung, dass ich nichts weiter repräsentiere als die Literatur, eine bestimmte Idee von Literatur, und das Gewissen, eine bestimmte Idee von Gewissen oder Pflicht. Aber im Gedanken an die Urkunde, die diesen Preis eines wichtigen europäischen Landes begleitet und in der ich als »intellektuelle Botschafterin zwischen den beiden Kontinenten« bezeichnet werde (Botschafterin natürlich nur im denkbar schwächsten, nämlich übertragenen Sinne des Wortes), kann ich nicht umhin, einige Überlegungen zu der vielberufenen Kluft zwischen Europa und den Vereinigten Staaten anzustellen, die angeblich durch das, was mich interessiert und fasziniert, überbrückt wird.
Aber handelt es sich überhaupt um eine Kluft, die sich noch überbrücken läßt? Geht es nicht auch um einen tiefen Konflikt? Zornige, abschätzige Äußerungen über Europa, über bestimmte europäische Länder, sind in der politischen Rhetorik Amerikas heute gang und gäbe; und hier in Europa, zumindest in den reichen Ländern im westlichen Teil des Kontinents, sind antiamerikanische Gefühle weiter verbreitet, lauter und ungehemmter vernehmbar als je zuvor. Was hat es mit diesem Konflikt auf sich? Hat er tiefere Wurzeln? Ich glaube, ja.
Schon immer bestand ein latenter Antagonismus zwischen Europa und Amerika, der mindestens so komplex und ambivalent war wie der zwischen Eltern und Kind. Die Vereinigten Staaten sind ein neoeuropäisches Land, und bis vor wenigen Jahrzehnten war der größte Teil seiner Bevölkerung europäischer Herkunft. Trotzdem waren es immer die Unterschiede zwischen Europa und Amerika, die den besonders scharfsichtigen ausländischen Beobachtern auffielen: dem Franzosen Alexis de Tocqueville, der die junge Nation 1831 besuchte und dann in seine Heimat zurückkehrte, um über «Die Demokratie in Amerika« zu schreiben, auch nach 170 Jahren immernoch das beste Buch über mein Land, das es gibt, ebenso wie D. H. Lawrence, der vor 80 Jahren das interessanteste Buch über die amerikanische Kultur veröffentlichte, das je erschienen ist, seine ebenso einflussreichen, wie irritierenden Studien zur klassischen amerikanischen Literatur. Beide erkannten, dass Amerika, das Kind Europas, auf dem Weg war, sich zur Antithese Europas zu entwickeln oder schon dazu geworden war.
Rom und Athen. Mars und Venus. Jene Autoren, die in letzter Zeit in populären Traktaten die Vorstellung von einem unvermeidlichen Zusammenprall europäischer und amerikanischer Interessen und Werte entwickeln, haben diese Antithesen nicht erfunden. Europäer haben über ihnen gegrübelt - und sie liefern die Palette, das Leitmotiv für einen großen Teil der amerikanischen Literatur des 19. Jahrhunderts von James Fenimore Cooper und Ralph Waldo Emerson bis zu Walt Whitman, Henry James, William Dean Howells und Mark Twain. Amerikanische Unschuld und europäisches Raffinement; amerikanischer Pragmatismus und europäischer Intellektualismus; amerikanische Tatkraft und europäischer Weltschmerz; amerikanische Unverdorbenheit und europäischer Zynismus; amerikanische Gutmütigkeit und europäische Boshaftigkeit; amerikanischer Moralismus und europäisches Kompromisslertum – Sie alle kennen die Melodien.
Man kann zu ihnen unterschiedliche Choreographien entwerfen, und zwei wild bewegte Jahrhunderte lang sind sie in allen erdenklichen Akzentuierungen und Figuren abgetanzt worden. Europafreunde können sich dieser ehrwürdigen Antithesen bedienen, um Amerika mit geschäftstüchtiger Barbarei und Europa mit erhabener Kultur gleichsetzen, während die Europafeinde gern auf das Klischee zurückgreifen, Amerika stehe für Idealismus, Offenheit und Demokratie, Europa dagegen für kraftlose, hochnäsige Überfeinerung. Tocqueville und Lawrence haben jedoch etwas viel Brisanteres beobachtet: nicht bloß eine Unabhängigkeitserklärung gegenüber Europa und seinen Werten, sondern eine Tendenz, die europäischen Werte und die Macht Europas zu untergraben und abzutöten. »Man bekommt nie etwas Neues, ohne etwas Altes kaputt zu machen«, schrieb Lawrence. »Nun war aber Europa das Alte. Amerika sollte das Neue sein. Das Neue ist der Tod des Alten.« Amerika, so prophezeite Lawrence, habe es sich zur Aufgabe gemacht, Europa zu zerstören, und zwar mittels der Demokratie – vor allem mittels der kulturellen Demokratie, der Demokratie der Umgangsformen. Und wenn es diese Aufgabe erfüllt habe, schrieb Lawrence, werde sich Amerika möglicherweise von der Demokratie ab- und etwas anderem zuwenden. (Was dieses andere sein könnte, wird vielleicht in unseren Tagen langsam deutlich.)
Ich bitte um Nachsicht, wenn ich mich hier ausschließlich auf die Literatur berufe. Aber eine Funktion der Literatur – der wichtigen, notwendigen Literatur – besteht ja darin, dass sie prophetisch ist. Im Grunde genommen, haben wir es hier mit dem alten Literatur- oder Kulturstreit zwischen den Alten und den Modernen zu tun.
Die Vergangenheit ist (oder war) Europa, und Amerika wurde auf der Idee eines Bruchs mit dieser Vergangenheit gegründet, die als hinderliche, verdummende Last und – in ihren Formen von Ehrerbietung und ihrem Sinn für Rangordnung, in ihren Kriterien für das, was überlegen und am besten sei - als durch und durch undemokratisch erscheint, als »elitär«, wie man heute meist sagt. Diejenigen, die einem triumphalen Amerika das Wort reden, deuten dabei immer wieder an, dass amerikanische Demokratie auch bedeutet, Europa abzulehnen und sich eine Art befreiendes, heilsames Barbarentum zueigen zu machen. Auch wenn Europa von den meisten Amerikanern heute eher für sozialistisch als für elitär gehalten wird, bleibt es nach amerikanischen Maßstäben doch ein rückschrittlicher Kontinent, der sich hartnäckig an alte Maßstäbe klammert: an den Wohlfahrtsstaat. »Make it new« ist nicht nur ein Motto für die Kultur; es steht auch für einen immer weiter um sich greifenden, weltumspannenden Wirtschaftsapparat.
Wenn nötig, lässt sich jedoch das »Alte« auch umtaufen und als »Neues« deklarieren.
Es ist kein Zufall, dass der energische amerikanische Verteidigungsminister einen Keil zwischen die Länder Europas zu treiben versuchte, indem er auf unvergessliche Art zwischen dem »alten« (schlechten) und dem »neuen« (guten) Europa unterschied. Wie konnte es geschehen, dass Deutschland, Frankreich und Belgien dem »alten« Europa zugerechnet wurden, während sich Spanien, Italien, Polen, die Ukraine, die Niederlande, Ungarn, Tschechien und Bulgarien im »neuen« Europa wiederfanden? Die Antwort lautet: Wer die Vereinigten Staaten bei ihren gegenwärtigen Bemühungen um eine Ausdehnung ihrer politischen und militärischen Macht unterstützt, gehört damit per se in die bevorzugte Kategorie des »Neuen«. Wer mit uns ist, ist »neu«.
Alle modernen Kriege, auch wenn ihre Motive die herkömmlichen sind, etwa das Streben nach territorialer Vergrößerung oder nach Aneignung knapper Ressourcen, werden als Zusammenstöße von Zivilisationen – als Kulturkriege – inszeniert, wobei jede Seite sich auf ein höheres Recht beruft und die andere Seite für barbarisch erklärt. Der Feind ist unweigerlich eine Bedrohung »unserer Lebensweise« – er ist ein Ungläubiger, ein Schänder, ein Beschmutzer, der höhere oder bessere Werte besudelt. Der derzeitige Krieg gegen die sehr reale Bedrohung, die vom militanten islamischen Fundamentalismus ausgeht, ist dafür ein besonders deutliches Beispiel. Bemerkenswert ist allerdings, dass die gleichen Formen von Geringschätzung in abgemilderter Form auch dem Antagonismus zwischen Europa und Amerika zugrunde liegen. Man sollte sich in diesem Zusammenhang auch daran erinnern, dass, historisch betrachtet, die bösartigste antiamerikanische Rhetorik, die in Europa je zu hören war und die im Wesentlichen auf den Vorwurf hinauslief, Amerikaner seien Barbaren, nicht etwa von der so genannten Linken, sondern von der extremen Rechten ausging. Sowohl Hitler als auch Franco ließen sich mehrfach über ein Amerika (und ein Weltjudentum) aus, das mit seinen niedrigen, auf nichts als Geschäftemacherei gerichteten Wertvorstellungen die europäische Kultur verderben wolle.
Natürlich bewundert ein großer Teil der öffentlichen Meinung in Europa auch weiterhin die amerikanische Tatkraft und die amerikanische Vorstellung von »Modernität«. Und natürlich hat es in Amerika immer Anhänger und Anhängerinnen der kulturellen Ideale Europas gegeben (eine solche steht hier vor Ihnen), die die alten Künste Europas als eine Befreiung und als Korrektiv gegenüber dem betriebsamen Unternehmergeist der amerikanischen Kultur empfanden. Und auf europäischer Seite gab es immer das Pendant zu solchen Amerikanern: Europäer, die sich von den Vereinigten Staaten gerade wegen ihrer Verschiedenheit von Europa fasziniert, verzaubert und zutiefst angezogen fühlen.
Die heutige Sicht der Amerikaner läuft fast auf eine Umkehrung des europhilen Klischees hinaus: Sie betrachten sich als Verteidiger der Zivilisation. Die Barbarenhorden stehen nicht mehr draußen vor den Toren. Sie sind nun drinnen, in jeder reichen Stadt und sinnen dort auf Tod und Zerstörung. Deshalb müssen die «Schokolade fabrizierenden« Länder (Frankreich, Deutschland, Belgien) beiseite treten, während ein Land voller »Willensstärke« – und mit Gott an seiner Seite – die Schlacht gegen den Terrorismus schlägt (der inzwischen mit der Barbarei in eins gesetzt wird). Außenminister Powell zufolge ist es lächerlich, wenn das alte Europa (manchmal scheint auch nur Frankreich gemeint zu sein) eine Rolle in Politik und Verwaltung der von der Siegerkoalition eingenommenen Gebiete spielen will. Dieses Europa verfüge weder über die militärischen Mittel dazu noch über den nötigen Sinn für die Anwendung von Gewalt, und obendrein fehle ihm auch die Unterstützung seiner verwöhnten, allzu friedfertigen Bevölkerungen. Den Amerikanern stehe all dies reichlich zu Gebote. Den Europäern hingegen mangele es an missionarischem – oder kriegerischem – Eifer.
Manchmal muss ich mich kneifen, um sicher zu sein, dass ich nicht träume: der Vorwurf, den viele Menschen in Amerika Deutschland heute machen, diesem Deutschland, das fast ein Jahrhundert lang solche Schrecken über die Welt gebracht hat, man könnte auch sagen: Das neue »deutsche Problem« besteht nun offenbar darin, dass sich die Deutschen vom Krieg abgestoßen fühlen, dass ein großer Teil der öffentlichen Meinung im heutigen Deutschland praktisch pazifistisch ist!
Waren Amerika und Europa denn nie Partner, nie Freunde? Doch, das waren sie. Aber vielleicht waren die Perioden der Einigkeit – der Einmütigkeit – eher eine Ausnahme als die Regel. Eine solche Ausnahmephase war die Zeit vom Zweiten Weltkrieg bis zu den Anfängen des Kalten Krieges, als die Europäer Amerika für seine Einmischung, für seinen Beistand und seine materielle Hilfe zutiefst dankbar waren. Die Amerikaner sehen sich gern in der Rolle des Retters von Europa. Deshalb erwartet Amerika von den Europäern eine immer währende Dankbarkeit, nach der den Europäern im Augenblick jedoch nicht der Sinn steht.
Aus der Sicht des »alten« Europa ist Amerika dabei, die Bewunderung - und die Dankbarkeit - zu verspielen, die die meisten Europäer einmal empfunden haben. Die gewaltige Woge der Sympathie für die Vereinigten Staaten nach dem Angriff vom 11. September 2001 war echt. (Ich selbst kann ihre Intensität und ihre Aufrichtigkeit in Deutschland bezeugen; ich war zu diesem Zeitpunkt in Berlin.) Doch dann folgte eine zunehmende Entfremdung auf beiden Seiten.
Die Bürger der reichsten und mächtigsten Nation in der Geschichte müssen sich klar machen, dass Amerika geliebt und beneidet, aber auch mit Groll betrachtet wird. Nicht wenige von ihnen erfahren bei Reisen ins Ausland, dass Amerikaner in den Augen vieler Europäer für rauhbeinig, ungehobelt, unkultiviert gelten, und zögern nicht, diese Einschätzungen als einen Ausdruck von Ressentiment gegenüber den Kolonisten von ehedem zu deuten. Und manche kultivierten Europäer, die sich anscheinend besonders gern in den Vereinigten Staaten aufhalten oder dort leben, bescheinigen diesem Land auf eine seltsam herablassende Art die befreienden Vorzüge einer Kolonie, in der man die »daheim« geltenden Beschränkungen und die aus der dortigen Kultiviertheit erwachsenden Bürden abschütteln kann. Ich erinnere mich, wie mir ein deutscher Filmemacher, der zeitweise in San Francisco lebte, eines Tages erklärte, warum er so gern in den Staaten sei: »Weil ihr hier überhaupt keine Kultur habt.« Für etliche Europäer war Amerika die Rettung (auch für D.H. Lawrence, der 1915, als er sich in Amerika niederzulassen plante, an einen Freund schrieb: »Dort kommt das Leben direkt aus den Wurzeln, rauh, aber kraftvoll«). Und umgekehrt: Für Generationen von Amerikanern auf der Suche nach »Kultur« war Europa die Rettung. Ich spreche hier natürlich nur von Minderheiten -privilegierten Minderheiten.
So kommt es, dass Amerika sich heute als Verteidiger der Zivilisation und Retter Europas sieht und sich gleichzeitig fragt, warum die Europäer das nicht begreifen; die Europäer wiederum sehen Amerika als einen rücksichtslosen Kriegerstaat, was die Amerikaner ihrerseits veranlasst, Europa als einen Feind Amerikas zu betrachten: Europa täusche seinen Pazifismus nur vor, so hört man in den Vereinigten Staaten inzwischen immer häufiger, um in Wirklichkeit an einer Schwächung der Macht Amerikas mitzuwirken. Vor allem Frankreich, so glaubt man, sei bestrebt, Amerika auf der Ebene der Weltpolitik ebenbürtig zu werden oder gar den Rang abzulaufen. »Die Operation Amerika muss scheitern« lautet das Motto, das ein Kolumnist der »New York Times« für das französische Vormachtstreben erfunden hat. Stattdessen täte auch Frankeich besser daran, zu erkennen, dass eine amerikanische Niederlage im Irak die »radikalen muslimischen Gruppen von Bagdad bis in die musli-mischen Slums von Paris« in ihrem Djihad gegen Toleranz und Demokratie nur ermutigen würde.
Den Menschen fällt es schwer, die Welt nicht in polarisierenden Kategorien (»die« und »wir«) zu sehen. Diese Kategorien haben in der Vergangenheit die isolationistischen Tendenzen der amerikanischen Außenpolitik so gestärkt, wie sie jetzt deren imperialistische Tendenzen stärken. Die Amerikaner haben sich daran gewöhnt, die Welt als eine Welt von Feinden wahrzunehmen. Diese Feinde sind anderswo, denn gekämpft wird fast immer over there – »drüben«, auch nachdem der islamische Fundamentalismus den russischen und den chinesischen Kommunismus als Bedrohung »unserer Lebensweise« abgelöst hat. Und das Wort »Terrorist« lässt sich noch flexibler verwenden als das Wort »Kommunist«. Es kann eine noch größere Zahl unterschiedlicher Auseinandersetzungen und Interessen unter einen Hut bringen, und das bedeutet: Der Krieg gegen den Terrorismus wird möglicherweise nie enden, denn Terrorismus wird es immer geben (so wie es immer Armut und Krebs geben wird); immer wird es asymmetrische Konflikte geben, in denen die schwächere Seite diese Form von Gewalt anwendet, die sich meist gegen Zivilisten richtet. Die amerikanische Rhetorik, wenn auch nicht unbedingt die Stimmung in der Bevölkerung, bekräftigt diese unerfreuliche Perspektive, denn der Kampf für das Gute endet nie.
Es gehört zum Genius der Vereinigten Staaten, deren tief verwurzelter Konservativismus für Europäer schwer zugänglich ist, dass sie eine Form von konservativem Denken entwickelt haben, die das Neue und nicht etwa das Alte feiert. Das bedeutet aber auch, dass die Vereinigten Staaten in eben jenen Zügen, in denen sie extrem konservativ erscheinen – zum Beispiel in der ungewöhnlichen Macht des Konsensus, in der Passivität und im Konformismus der öffentlichen Meinung (wie Tocqueville schon 1831 bemerkte) und der Medien – auch auf eine Weise radikal und sogar revolutionär sein können, die für Europäer ebenso schwer zugänglich ist.
Zum Teil erklärt sich diese Rätselhaftigkeit aus dem Zwiespalt zwischen offizieller Rhetorik und Lebenswirklichkeit. Ständig pochen Amerikaner auf »Traditionen«; im Mittelpunkt jeder politischen Rede stehen Lobgesänge auf die »Familienwerte«. Dabei ist die amerikanische Kultur dem Familienleben sehr abträglich und allen anderen Traditionen ebenfalls – ausgenommen jene, die in persönliche »Identitäten« umdefiniert werden können und sich in die umfassenderen Muster von individueller Erkennbarkeit bei gleichzeitiger Bereitschaft zur Kooperation und Offenheit für Erneuerung fügen.
Die vielleicht wichtigste Quelle des neuen (und des nicht ganz so neuen) amerikanischen Radikalismus ist eben jene, die man früher immer als eine Quelle konservativer Werte angesehen hat: die Religion. Viele Beobachter haben darauf hingewiesen, dass der größte Unterschied zwischen den Vereinigten Staaten und den meisten europäischen Ländern (den nach der aktuellen amerikanischen Nomenklatur »alten« wie den »neuen«) wahrscheinlich darin besteht, dass die Religion in der Gesellschaft und im öffentlichen Diskurs der Vereinigten Staaten nach wie vor eine zentrale Rolle spielt. Es handelt sich hierbei allerdings um eine Religion nach amerikanischem Muster: eher um die Idee von Religion als um Religion selbst.
Gewiss, als während des Präsidentschaftswahlkampfs im Jahre 2000 ein Journalist auf die Idee kam, den Kandidaten George Bush nach seinem »Lieblingsphilosophen« zu fragen, bekam er eine Antwort, mit der sich jeder Kandidat irgendeiner großen Volkspartei in jedem europäischen Land lächerlich gemacht hätte – »Jesus Christus«. Aber Bush wollte damit natürlich nicht sagen, dass sich seine Regierung im Falle seiner Wahl an irgendwelche von Jesus entwickelten Grundsätze oder gesellschaftlichen Programme gebunden fühlen würde, und es hat ihn auch niemand so verstanden.
Die Vereinigten Staaten sind in einem sehr allgemeinen Sinne eine religiöse Gesellschaft. Das heißt, es kommt nicht darauf an, welcher Religion man angehört, solange man überhaupt eine hat. Die Vorherrschaft einer Religion oder gar eine Theokratie (ob allgemein christlich oder von einer bestimmten christlichen Konfession geprägt) wäre unmöglich. Religion muss in Amerika eine Sache der freien Wahl des Einzelnen bleiben. Diese moderne, vergleichsweise inhaltsleere Vorstellung von Religion, die der Freiheit des Konsumenten strukturell ähnlich ist, bildet die Grundlage für den Konformismus Amerikas, für seine Selbstgerechtigkeit und seinen Moralismus (den die Europäer herablassend häufig als Puritanismus missdeuten). Gleichgültig, welche historischen Glaubensgrundsätze die verschiedenen religiösen Gruppierungen in Amerika zu vertreten behaupten – alle predigen etwas Ähnliches: den Willen zur inneren Besserung, den Wert des Erfolgs, Solidarität in der Gemeinde und Toleranz gegenüber den Entscheidungen anderer. (Lauter Tugenden, die dem reibungslosen Funktionieren des Konsumkapitalismus förderlich sind.) Die bloße Tatsache, dass man religiös ist, sichert das Ansehen, trägt zur Aufrechterhaltung der Ordnung bei und liefert eine Garantie dafür, dass sich die Vereinigten Staaten ausschließlich mit guten Absichten auf ihre Mission einlassen, die Welt zu führen.
Was da verbreitet wird – ob man es nun Demokratie oder Freiheit oder Zivilisation nennt –, ist sowohl Teil eines Work-in-Progress als auch der Kern des Fortschritts selbst. Nirgendwo auf der Welt ist der aufklärerische Traum vom Fortschritt auf so fruchtbaren Boden gefallen wie in Amerika.
Sind wir also wirklich so weit auseinander? Wie sonderbar, dass in einem Augenblick, da Europa und Amerika einander kulturell so ähnlich sind wie noch nie, der Zwiespalt zwischen ihnen tiefer ist als je zuvor.
Und dennoch – trotz aller Ähnlichkeiten zwischen dem Alltag der Bürger in den reichen europäischen Ländern und dem Alltag der Amerikaner – ist die Kluft zwischen der europäischen und der amerikanischen Erfahrung tatsächlich vorhanden. Sie ergibt sich aus wichtigen historischen Unterschieden, aus unterschiedlichen Vorstellungen von der Rolle der Kultur und aus Unterschieden in den wirklichen und den imaginären Erinnerungen. Der Antagonismus – denn es besteht ein Antagonismus – lässt sich in der unmittelbaren Zukunft nicht lösen, allem guten Willen vieler Menschen auf beiden Seiten des Atlantik zum Trotz. Und doch kann man diejenigen nur verurteilen, die diese Unterschiede noch vergrößern wollen, während wir doch tatsächlich so viel gemeinsam haben.
Die Vorherrschaft Amerikas ist eine Tatsache. Aber Amerika, wie inzwischen auch seine derzeitige Regierung einzusehen beginnt, kann nicht alles allein machen. Die Zukunft unserer Welt – unserer gemeinsamen Welt – ist synkretistisch, unrein. Wir können uns nicht voneinander abkapseln. Wir fließen immer mehr ineinander.
Am Ende wird sich alle Verständigung – alle Aussöhnung –, zu der wir gelangen können, daraus ergeben, dass wir gründlicher über den ehrwürdigen Gegensatz zwischen »Altem« und »Neuem« nachdenken. Der Gegensatz zwischen »Zivilisation« und »Barbarei« beruht im Wesentlichen auf mehr oder minder willkürlichen Setzungen; sich in Gedanken auf ihn ein- und dogmatisch über ihn auszulassen, führt in die Irre, auch wenn sich bestimmte Realitäten in ihm spiegeln. Der Gegensatz zwischen »alt« und »neu« dagegen ist echt und unaufhebbar und steht im Zentrum dessen, was wir unter Erfahrung verstehen.
»Alt« und »neu« sind die ewigen, unumstößlichen Pole aller Wahrnehmung und aller Orientierung in der Welt. Ohne das Alte kommen wir nicht aus, weil sich mit ihm unsere ganze Vergangenheit, unsere Weisheit, unsere Erinnerungen, unsere Traurigkeit, unser Realitätssinn verbinden. Ohne den Glauben an das Neue kommen wir nicht aus, weil sich mit dem Neuen unsere Tatkraft, unsere Fähigkeit zum Optimismus, unser blindes biologisches Sehnen, unsere Fähigkeit zu vergessen verbinden – diese heilsame Fähigkeit, ohne die Versöhnung nicht möglich ist.
Unser Innenleben misstraut dem Neuen. Ein stark entwickeltes Innenleben wird sich dem Neuen besonders heftig widersetzen. Es heißt, wir sollen uns entscheiden – zwischen dem Alten und dem Neuen. In Wirklichkeit müssen wir uns für beides entscheiden. Was ist das Leben, wenn nicht ein ständiger Austausch zwischen Altem und Neuem? Mir scheint, man sollte immer versuchen, sich solche starren Gegensätze auszureden.
Alt gegen Neu, Natur gegen Kultur – vielleicht ist es unvermeidlich, dass sich die großen Mythen unseres Kulturlebens nicht nur in der Geschichte, sondern auch in der Geographie abspielen. Und dennoch sind es Mythen, Klischees, Stereotypen - sonst nichts; die Wirklichkeiten sind sehr viel komplexer.
Ich habe einen großen Teil meines Lebens darauf verwendet, polarisierende, Gegensätze aufbauende Denkweisen zu entmystifizieren. Auf die Politik übertragen bedeutet dies, für das einzutreten, was pluralistisch und säkular ist. Wie manche Amerikaner und viele Europäer würde ich viel lieber in einer multilateralen Welt leben – einer Welt, die nicht von einem einzigen Land dominiert wird (auch nicht von meinem eigenen). In einem Jahrhundert, das von Anfang an ein weiteres Jahrhundert der Extreme, der Schrecken zu werden verspricht, könnte ich mich nun für eine ganze Reihe von Haltungen aussprechen, die einer Verbesserung unserer Verhältnisse dienlich sein können - und ganz besonders für das, was Virgina Woolf die »melancholische Tugend der Toleranz« nennt.
Lassen Sie mich stattdessen vor allem als Schriftstellerin zu Ihnen sprechen, als Verfechterin des Projekts Literatur – denn nur aus ihm ergibt sich, was mir an Autorität zu Gebote steht.
Die Schriftstellerin in mir misstraut der guten Staatsbürgerin, der »intellektuellen Botschafterin«, der Menschenrechtsaktivistin - also den in der Verleihungsurkunde genannten Rollen, so sehr ich mich ihnen verpflichtet fühle. Die Schriftstellerin in mir ist skeptischer, mehr von Selbstzweifeln erfüllt als jene Person, die versucht, das Richtige zu tun (und zu unterstützen).
Eine Aufgabe der Literatur besteht darin, herrschende Gewissheiten in Frage zu stellen und Gegenthesen zu entwerfen. Und selbst wenn die Kunst also solche nicht oppositionell ist, tendieren die verschiedenen Künste doch zur Widersetzlichkeit. Literatur ist Dialog, Bereitschaft, auf etwas oder jemanden einzugehen. Man könnte die Literatur auch als das Archiv der Bereitschaft von Menschen bezeichnen, auf das einzugehen, was im Entwicklungsprozess der Kulturen und in ihren Wechselbeziehungen lebendig und was todgeweiht ist.
Schriftsteller können etwas gegen die Klischees vom Getrennt- und Verschiedensein tun – denn Schriftsteller sind nicht nur Mythenvermittler, sondern auch Mythenbildner. Die Literatur bietet nicht nur Mythen, sondern auch Gegenmythen, so wie das Leben Gegenerfahrungen bietet - Erfahrungen, die uns in dem, was wir zu glauben, zu fühlen, zu denken glaubten, verstören.
Ein Schriftsteller, so scheint mir, ist jemand, der der Welt seine Aufmerksamkeit widmet. Jemand, der zu verstehen versucht, zu welcher Bosheit Menschen fähig sind, und der darauf einzugehen versucht, ohne sich durch solches Verstehen korrumpieren zu lassen, ohne darüber zynisch oder oberflächlich zu werden.
Literatur kann uns sagen, wie die Welt beschaffen ist.
Literatur kann uns Maßstäbe geben, kann uns ein tiefes Wissen vermitteln, das in der Sprache und im Erzählen Gestalt annimmt.
Literatur kann unsere Fähigkeit stärken, um Menschen zu weinen, die nicht wir selbst sind und nicht zu uns gehören.
Wer wären wir, wenn wir kein Mitgefühl für jene aufbringen könnten, die nicht wir selbst sind und die nicht zu uns gehören? Wer wären wir, wenn wir uns selbst nicht – wenigstens zeitweise – vergessen könnten? Wer wären wir, wenn wir nicht lernen könnten? Wenn wir nicht verzeihen könnten? Wenn wir nicht etwas anderes werden könnten, als wir sind?
Gestatten Sie mir, Ihnen bei der Entgegennahme dieses großartigen Preises, dieses großartigen deutschen Preises, etwas über meinen eigenen Lebensweg zu erzählen.
Ich bin zwei Wochen, ehe Hitler zur Macht gelangte, auf die Welt gekommen – als eine Amerikanerin der dritten Generation von polnisch-litauisch jüdischer Herkunft. Ich bin in der amerikanischen Provinz (in Arizona und Kalifornien) aufgewachsen, weit weg von Deutschland, und doch war Deutschland in meiner Kindheit ständig gegenwärtig – durch das Ungeheuerliche, das von Deutschland ausging, und durch die deutschen Bücher und die deutsche Musik, die ich liebte und die meine Maßstäbe von Erhabenheit und Intensität prägten.
Aber noch vor Bach und Beethoven, vor Schubert und Brahms gab es ein paar deutsche Bücher. Ich denke an einen Lehrer in der Grundschule einer kleinen Stadt im Süden Arizonas – Mr. Starkie, der uns Schülern mit seinen Geschichten, wie er in der Armee des Generals Pershing in Mexiko gegen Pancho Villa gekämpft hatte, ehrfürchtigen Respekt einflößte. Diesem ergrauten Veteranen eines früheren imperialistischen Unternehmens der Vereinigten Staaten hatte es der Idealismus der deutschen Literatur offenbar angetan – in Übersetzungen –, und als ihm mein ausgeprägter Lesehunger auffiel, borgte er mir seinen »Werther« und seine Ausgabe von »Immensee«.
Wenig später geriet ich während meiner kindlichen Leseorgie an andere deutsche Bücher, unter ihnen Kafkas »In der Strafkolonie«, wo ich das Grauen und die Ungerechtigkeit kennen lernte. Und ein paar Jahre später, als ich in Los Angeles die High School besuchte, fand ich das ganze Europa in einem deutschen Roman wieder. Kein anderes Buch war in meinem Leben so wichtig wie »Der Zauberberg« – der ja von nichts anderem als dem Zusammenstoß unterschiedlicher Ideale im Innersten der europäischen Zivilisation handelt. Und so ging es weiter, ein langes, von deutscher Kultur gleichsam durchtränktes Leben lang. Auf die Bücher und die Musik, die in Anbetracht der kulturellen Wüste, in der ich lebte, fast eine klandestine Erfahrung waren, folgte die reale Erfahrung. Ich bin nämlich auch eine späte Nutznießerin der deutschen kulturellen Diaspora, denn ich hatte das Glück, einige der Flüchtlinge kennen zu lernen, die Hitler ins Exil getrieben hatte - einige jener Schriftsteller, Künstler, Musiker und Gelehrten, die Amerika seit den 30er Jahren aufnahm und die dieses Land und vor allem seine Universitäten so sehr bereichert haben. Lassen Sie mich zwei nennen, die ich, als ich auf die 20 zuging und in den Jahren danach als Freunde betrachten durfte – Hans Gerth und Herbert Marcuse; dann auch diejenigen, mit denen ich an der University of Chicago und in Harvard studierte, Christian Mackauer, Paul Tillich und Peter Heinrich von Blanckenhagen und in privaten Seminaren Aron Gurwitsch und Nahum Glatzer; und Hannah Arendt, die ich kennenlernte, als ich Mitte zwanzig war und nach New York zog - lauter Muster an Ernsthaftigkeit, an die ich hier erinnern möchte.
Doch nie werde ich vergessen, dass meine Auseinandersetzung mit deutscher Kultur und deutscher Ernsthaftigkeit bei dem obskuren, exzentrischen Mr. Starkie begann (ich glaube, seinen Vornamen habe ich nie gehört), der mich unterrichtete, als ich zehn war, und den ich später nie wiedersah.
Das bringt mich auf eine Geschichte, mit der ich schließen möchte – und ich finde, das trifft sich gut, denn in erster Linie bin ich weder eine Kulturbotschafterin noch eine eifernde Kritikerin der Regierung meines Landes (dieser Aufgabe widme ich mich nur als gute amerikanische Staatsbürgerin). Ich bin eine Geschichtenerzählerin.
Also zurück zu der Zehnjährigen, die sich von den Mühen des Kindseins ein wenig erholte, wenn sie über Mr. Starkies zerlesenen Ausgaben von Goethe und Storm hockte. Zu der Zeit, von der ich hier spreche, 1943, wusste ich, dass es im Norden von Arizona ein Lager mit Tausenden deutscher Kriegsgefangener gab, natürlich lauter Nazi-Soldaten, so stellte ich mir vor, und weil ich auch wusste, dass ich jüdisch war (nur nominell, meine Familie war seit zwei Generationen vollkommen weltlich orientiert und assimiliert - aber »nominell« war für Nazis, wie ich wusste, schon genug), hatte ich einen Albtraum, der immer wiederkam: Nazi-Soldaten waren aus ihrem Gefängnis ausgebrochen und hatten sich bis in den Süden des Bundesstaates zu dem Bungalow am Rand der kleinen Stadt, wo ich mit meiner Mutter und meiner Schwester wohnte, durchgeschlagen und wollten mich nun umbringen.
Es folgt ein Sprung in die 70er Jahre, als meine Bücher im Hanser Verlag zu erscheinen begannen und ich den vortrefflichen Fritz Arnold kennen lernte, der dem Verlag seit 1965 angehörte und der bis zu seinem Tod im Februar 1999 mein Lektor bei Hanser blieb.
Bei einem unserer ersten Treffen erklärte mir Fritz, er wolle mir erzählen, was er während des Krieges getan hatte. Wahrscheinlich glaubte er, dies sei eine Voraussetzung dafür, dass zwischen uns Freundschaft entstehen könnte. Ich versicherte ihm, dass er mir keinerlei Erklärungen schuldig sei, und dennoch berührte es mich, dass er dieses Thema ansprach. Fritz Arnold (1916 geboren) war übrigens nicht der einzige Deutsche seiner Generation, der, kurz nachdem man Bekanntschaft geschlossen hatte, unbedingt erzählen wollte, was er während der Nazi-Zeit getan hatte. Und nicht alle Geschichten waren so harmlos wie die, die ich von Fritz zu hören bekam.
Fritz erzählte mir also, er habe Literatur und Kunstgeschichte studiert, zuerst in München, später in Köln, und sei dann gleich zu Beginn des Krieges als Obergefreiter zur Wehrmacht eingezogen worden. Auch seine Eltern waren natürlich alles andere als nazifreundlich – Karl Arnold, sein Vater, war der legendäre politische Karikaturist des »Simplicissimus« –, aber die Emigration kam anscheinend nicht in Frage. Mit Grausen trat er seinen Militärdienst an und hoffte, niemanden zu töten und nicht getötet zu werden.
Fritz gehörte zu denen, die Glück hatten. Das Glück, anfangs in Rom stationiert zu werden (wo er dankend ablehnte, als ein Vorgesetzter ihn zum Unteroffizier befördern wollte) und später in Tunis; das Glück, hinter der Front Dienst zu tun und nie auch nur einen einzigen Schuss abfeuern zu müssen; und schließlich das Glück, wenn man es so nennen darf, dass ihn 1943 die Amerikaner gefangen nahmen und zusammen mit anderen deutschen Gefangenen auf einem Schiff über den Atlantik nach Norfolk in Virginia schafften, von wo er mit einem Zug quer durch den Kontinent befördert wurde, um den Rest des Krieges in einem Gefangenenlager zu verbringen - bei einer kleinen Stadt im Norden Arizonas.
Nun hatte ich das Vergnügen, ihm etwas zu erzählen - seufzend vor lauter Verwunderung, denn mir begann dieser Mann schon sehr sympathisch zu werden –, und es war der Beginn einer großartigen Freundschaft und einer intensiven Arbeitsbeziehung ... ihm also zu erzählen, dass, während er als Kriegsgefangener in Nord-
arizona saß, ich im Süden des Staates gelebt und mich vor den Nazi-Soldaten gefürchtet hatte, die nun dort – hier – waren und vor denen es kein Entrinnen gab.
Dann erzählte mir Fritz, wie er die fast drei Jahre seiner Gefangenschaft in Arizona überstanden hatte. Er hatte Zugang zu Büchern bekommen und die ganze Zeit englische und amerikanische Klassiker gelesen und wiedergelesen. Und ich erzählte ihm, wie mich in Arizona als Schulkind, das endlich erwachsen werden und in eine größere Wirklichkeit hinaustreten wollte, die Bücher gerettet hatten – Übersetzungen und in Englisch verfasste Bücher.
Zugang zur Literatur, zur Weltliteratur bedeutete: dem Gefängnis der nationalen Eitelkeit, der Spießbürgerlichkeit, dem zwanghaften Provinzialismus, dem stupiden Schulunterricht, der Unvollkommenheit des Schicksals, dem Unglück entkommen. Literatur war der Pass, der Zutritt in ein reicheres Leben, in die Sphäre der Freiheit gewährte.
Literatur war Freiheit. Und vor allem in einer Zeit, in der die Werte des Lesens und des Innenlebens so massiv in Frage gestellt werden wie heute, gilt: Literatur ist Freiheit.
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