Péter Esterházy
Friedenspreisträger 2004
Dankesrede
Ein jeder Festredner ist schrecklich, so werde ich beginnen. Sagte Kornél Esti. In diesem Sommer ist ein Buch von Dezsö Kosztolányi mit dem Titel »Ein Held seiner Zeit, Die Bekenntnisse des Kornél Esti« in der Übersetzung von Christina Viragh bei Rowohlt Berlin erschienen (übrigens mit einem ganz hervorragenden Nachwort).
Die Hälfte meines Lebens war schon vorbei, als mir an einem windigen Frühlingstag Kornél Esti in den Sinn kam. Ich werde eine Festrede halten, drohte er. Oh, nein, nur das nicht, rief ich. Estis altmodisch gelb-dünnen Krawatten und seine krud-grünen Wortspiele waren mir verleidet. Ich fand seine krampfhafte Originalität ermüdend. Fortwährend verwickelte er mich in irgendwelche Skandale. Zum Beispiel riß er beim Spazieren, während wir nebeneinander hergingen, unvermittelt ein Küchenmesser aus der Innentasche seines Jacketts und begann es zur Verblüffung der Passanten am Randstein zu wetzen. Oder er wandte sich sehr höflich an einen armen Blinden, er möge ihm doch das Staubkorn entfernen, das ihm eben ins Auge geflogen sei.
Meine Damen und Herren. Ja, ich werde doch lieber so beginnen, das ist nicht wirklich überraschend, entspricht aber der Tradition und ist daher durchaus zu schätzen, eine schwungvolle, klare, feste, geometrische Konstruktion, Euklid, klassische griechische Proportionen ... wobei ... apropos Griechen ..., meine Damen, meine Herren, aber wo bleiben meine Hermaphroditen?
Meine Damen und Herren, liebe Hermaphroditen! Nein, das lieber doch nicht. Das gäbe vielleicht ein bisschen Gelächter, aber das darf mich nicht verführen ... Meinen grenzenlosen Humanismus muss ich irgendwie auf andere Art zum Ausdruck bringen ... Dann soll es zumindest um Magnifizenzen gehen. Und um Exzellenzen. Wann je werde ich wieder die Gelegenheit haben, sagen zu können: Werte Festgemeinde, Magnifizenzen, Exzellenzen! Dieser Satz spiegelt die Wirklichkeit, was meinen Sätzen nicht oft widerfährt.
Im Zusammenhang mit dieser Spiegelung wüsste ich natürlich gern, ob denn Exzellenzen zugegen sein werden, ob sie zugegen sind. Mich dünkt, Botschafter sind von Haus aus Exzellenzen. Nur sind natürlich nicht immer alle Botschafter in der Paulskirche. Wie interessant!, mir, meinen Sätzen, hilft es, wenn möglichst viele Botschafter zugegen sind, denn umso wahrhaftiger sind dann die Sätze, bei Susan Sontag fand das Gegenteil statt, in ihrem Text war ein Botschafter zugegen, der nicht zugegen war. Denn einer Festrede tut es gut, auf jemanden wütend zu sein. Da steht dann der Mensch des Geistes mit gezücktem Schwert. Auf ungarische Botschafter wütend zu sein, ist komplizierter. Kis ország, nagykövet*, das ist ein unübersetzbares Wortspiel, aber viel haben Sie dabei nicht versäumt.
Als ich von diesem Preis erfuhr, fiel mir nacheinander Folgendes ein: 1. das Krawattenproblem, 2. gelobte ich mir, a) was Kant über den ewigen Frieden geschrieben hat, nicht zu lesen, nein, sagen wir lieber: nicht wieder zu lesen, und b), für den Fall, dass ich es wage, das Wort Keule unbedingt in der Rede unterzubringen.
Und außerdem: Soll ich bei diesem Punkt einen Ehrlichkeitsanfall bekommen? Das wäre äußerst menschlich! Der Ästhetik aber nicht unbedingt förderlich.
Was mir sonst noch gleich eingefallen war, werde ich nicht zugeben, nämlich die Verpflichtung, mich als frischgebackener Friedenspreisträger über alle gegenwärtigen Kriege auf unserem Planeten augenblicklich zu informieren. Welche aktuellen Kriege gerade stattfinden, welche Meinung ich jeweils von ihnen habe. Darüber wird man besser schweigen. »Seit Ewigkeiten bewundere ich Amerika und bin gegen den Krieg im Irak.«
Als ich die Liste der bisherigen Preisträger sah – ich sage es am einfachsten, wie es war – bekam ich plötzlich keine Luft mehr. Mir war, wie einst, als mich mein deutscher Gastgeber abends immer fragte: Na, junger Mann, erzählen Sie mir, was Sie heute 1. in menschlicher, 2. in literarischer, 3. in philosophischer Hinsicht erfahren haben.
Diese Protestanten sind dermaßen ernsthaft, und unablässig denken sie nach, seufzte Kornél Esti.
Mit der Ernsthaftigkeit der Liste konnte ich nichts anfangen, weil ich im ersten Augenblick dachte, etwas mit der eigenen Ernsthaftigkeit anfangen zu müssen. Mit meiner Krawatte oder mit der fehlenden Krawatte. Im Traum stand ich in der Paulskirche, und oh Entsetzen, ich hatte keine Krawatte an und so weiter. Damit wären wir nicht nur gleich im dichten dunklen Wald von Dichtung und Wahrheit, zu beobachten wäre zudem, dass die Tradition nicht etwas von vornherein Bestimmtes ist, sondern nur Interpretation. Denn wo könnte man schon ohne Krawatte eine Rede halten, wenn nicht an dem Ort, der lange die Barfüßer-Kirche genannt wurde. Das heißt, die Fragen nach dem Stil verdecken sozusagen die Sache selbst. Und bedenken wir doch, wie es bei dem Dichter heißt: Das Fehlen Gottes ist gottesförmig, das Fehlen des Vaters vaterförmig – und auch die fehlende Krawatte ist krawattenförmig, nur drückt sie weniger.
Deutsche Preisverleihungen führen die Preisträger in Versuchung, sich selbst so zu sehen, wie sie in der Preisbegründung beschrieben werden. Sag nur, mein lieber guter Vater, sagt mir neulich mein 17-jähriger Sohn, na so was!, hast du wirklich nicht nur deine Heimat (Ungarn) in der Mitte Europas, sondern Europa in der Mitte der Literatur neu situiert? Er spricht mit mir wie ein strenger Vater. Schon gut, sagt er, aber das soll nicht noch einmal vorkommen, ich will nicht wieder hören, dass du der europäischen Depression einen Kontrapunkt gesetzt hast. Jawohl, flüstere ich verschüchtert. Söhne können sehr streng sein. Sie wissen viel, und das wissen sie, und vieles wissen sie nicht, und das wissen sie noch nicht. Ich mag die Strenge an meinem Sohn, aber manchmal hätte ich es gern, sehr gern sogar, wenn er schweigen würde. Si tacuisses philosophus mansisses. Einmal hörte er, noch als Kind, Lateinisch sei eine tote Sprache, und er trauerte richtig um sie: Ist sie gestorben?! Die Arme. Dann fügte er kühl hinzu: Tote Sprachen lernen wir nicht, Papa, ok? Und: Teik it ihsi, deddy.
Als ich mich vor etwa 30 Jahren in der ungarischen Literatur umschaute, und damals war es unmöglich, sich nicht zugleich auch in der Diktatur umzuschauen, da war gar nichts ihsi. Ich sah entsetzlich viel Ernst, die Ernsthaftigkeit der Macht, verlogen bis ins Mark hinein, und es gab eine ehrenwerte ungarische Literaturtradition, die in erster Linie sich selbst ernst nahm, indem sie ihre eigenen moralischen Aufgaben ernst nahm, weil man sie in einer Diktatur vielleicht überhaupt nicht nicht ernst nehmen kann – jedenfalls hatte ich nicht den Eindruck, dass dieser Ernst meiner Veranlagung entsprechen würde.
In dieser vielfachen Ernsthaftigkeit war es nicht schwer, unernst, und zwar auf eine konstruktive Art unernst zu sein. Eigentlich ist es einfach, über eine Diktatur zu lachen. Moralisch gesehen ist das trivial, wir sind die Guten, sie die Bösen. Vom Schriftstellerischen her – da gibt es schon ein Stück Arbeit, die vor allem daraus besteht, das Selbstmitleid zu vermeiden. Aber letzten Endes ist die Sache einfach, weil wir über den anderen lachen. Und damals, Mitte der 70er Jahre, war das Lachen etwas Seltenes; damals lachte kaum jemand.
Das Lob der Faulheit und Liederlichkeit, jauchzte Esti. Gäbe es doch einen echten, guten, liederlichen Schriftsteller. Nur sind die Liederlichen alle schlecht, und die Guten sind alle ernst. Todernst, im Grunde ihres Herzens sind sie überhebliche Moralhüter, genau wie du. Ein kleines Land kann anscheinend nur Schriftsteller hervorbringen, die kaum oder bestenfalls mittelmäßig liederlich sind, doch nie echte, tapfere, gute liederliche Schriftsteller.
In manchen ehrgeizigen Augenblicken hatte ich mir heimlich immer schon gewünscht, ein richtiger, tapferer, guter, liederlicher Schriftsteller zu sein.
Ottos Mops klopft. Otto: Komm, Mops, komm! Ottos Mops kommt. Ottos Mops kotzt. Otto: Ogottogott. Worte Ernst Jandls, und Jandl schwebt mir auch jetzt als Memento vor, damit ich mich von der schönen Ernsthaftigkeit dieses Augenblicks nicht verführen lasse und den Mops mit seinem tragischen Schicksal nicht gegen die üblichen Analysen von bedeutenden europäischen Fragen eintausche.
Irgendwo auf halbem Weg zwischen Mops und Analyse mag die Keule liegen. Also die Keule. Wie interessant, das Schicksal der Wörter zu sehen, das wundersame Leben der Wörter. Wie sehr sie ihre Vergangenheit mittragen, und wie uns das einschränkt, einschränkt und bereichert! Auf das Ewig Weibliche fällt uns sofort die entsprechende Fortsetzung ein, weil sie uns nicht nicht einfallen kann, sie zieht uns hinan, und bei Otto das Ogottogott, und zum Beispiel werden wir nie wieder ehrliche deutsche Arbeit sagen können, ohne dabei gleichzeitig zu hören: jüdische Geldmacherei. Wobei es durchaus ehrliche Arbeit gibt, die man deutsch nennen könnte.
Bei einer Friedenspreisrede stolpern wir sogar bei dem Wort Lammkeule. Klaus Trebes, der große Frankfurter Koch, empfiehlt: Eine Milchkeule hohl entbeinen, bis auf den Haxenknochen, dann eine Paste zubereiten aus Knoblauchzehen, Schalotten, Zitronenthymian, Pinienkernen, Weißbrotbrösel mit Olivenöl, natürlich Zitrone; einen Teil der Paste in den Hohlraum füllen, wo vorher der Knochen saß. Und dann: Die Keule in Form binden, würzen, etc. Also: Die Keule in Form binden!
Wovon ist hier die Rede? Ich lasse mich durch die Wörter vorantreiben. Eine Tante – bei so genannt großen Familien sind nicht Väter und Mütter entscheidend, sondern die zauberhaften Tanten und Onkel, die entfernten Neffen, Nichten und Cousins – eine solche entfernte, zauberhafte Tante sagte einmal: Ich lese keine Bücher, die man, die man zusammenfassen kann. Und ich, ich möchte keine solchen Bücher schreiben. Und keine solchen Reden halten. Die Wörter treiben mich voran.
Die Keule aber habe ich nicht nur aus Neugierde eingebracht, um zu sehen, wie das Wort hier und heute in der Paulskirche funktioniert (in jenem Dorf, wohin meine Familie 1951 zwangsausgesiedelt wurde, hielt man um diese Zeit am Vormittag die Große Messe, sie hieß szagosmise, Riechmesse, wie Riechfläschchen, wahrscheinlich wegen des Weihrauchs, es handelte sich um eine katholische Kirche, dort könnten so genannte Zivilisten keine Predigten halten wie hier, dort könnte das nur ein Priester, dann aber sehr lang) – das ist mein Beruf, ich setze die Wörter hin und her und schaue zu, was dann passiert -, also nicht nur deshalb, sondern weil mich diese Keule, diese Keulen-Angelegenheit auch persönlich berührt, mich als Ungarn, als Ost-Europäer, als Europäer. Und als Turnlehrer. Ich rede nicht aus der Aktualität heraus über die Deutschen, sondern weil, wer über Deutschland spricht, über Europa, wer über die deutsche Problematik, über die eigene spricht.
Wenn von der Nation und insbesondere von der nationalen Identität die Rede ist, stellen die Deutschen meist überaus ungarische Fragen. Die Keule erinnert mich daran, wie viele Fragen sich die Deutschen bereits gestellt haben, und zwar beispielhaft, und sie erinnert mich an die nicht gestellten Fragen.
Von jener Arbeit an der Sprache, auf die die Keule hinzielt, hat mein Land und haben die neuen Europa-Länder – da haben wir das wundersame Leben der Wörter: den Ausdruck »neue Länder« verwende ich hier nicht im Sinne der Rumsfeldschen Aussage – von jener Arbeit also haben diese Länder so gut wie nichts erledigt. Warum nicht? Halt so. Wir hatten keine Lust. Weder Lust, noch Kraft. Mit uns passiert irgendwie alles so schnell, zu schnell. Der Weltkrieg und eine Diktatur waren zu Ende, gleich darauf hat eine neue Diktatur begonnen. Als sie zu Ende war und wir hätten begreifen können, was es bedeutet, in einem freien, souveränen Staat zu leben, musste man bereits darüber nachdenken oder hätte darüber nachdenken sollen, was es bedeutet, auf einen Teil dieser Souveränität freiwillig zu verzichten. Wir schaffen es nicht, dem Leben mit unseren Gefühlen nachzukommen. Die Probleme, falls wir sie überhaupt beim Namen nennen können, kehren wir unter den Teppich, und gleich darauf weisen wir die Unterstellung zurück, etwas unter den Teppich gekehrt zu haben. Was für ein Teppich, wir haben ja gar keinen, behaupten wir, den haben die Kommunisten gestohlen.
Die Kommunisten, das heißt, die anderen.
Und schon sind wir bei der uralten Frage angelangt: Wer ist ein Ungar, was ist ein Ungar – sprich: ein Deutscher.
Das deutsche Selbstmitleid ist differenzierter als das ungarische, es steckt mehr Arbeit dahinter, und die verbietet zum Beispiel, über sich selbst in einer nationalistischen oder rassistischen Sprache zu reden.
Kein Zufall, dass es für Vergangenheitsbewältigung im Ungarischen kein Wort gibt. Das Wort fehlt, weil die Tätigkeit fehlt, die Wörterbücher empfehlen umschreibende Begriffe. Das sollte ich, fällt mir gerade ein, vielleicht nicht kritisch hervorheben, denn womöglich geht es hier darum, dass die ungarische Sprache das, was die deutsche vergessen hat, noch weiß, dass man nämlich die Vergangenheit nicht bewältigen kann – daraus aber zieht die ungarische Sprache womöglich die falsche Folgerung, dass die Vergangenheitsbewältigung als Arbeit, als europäische Pflichtarbeit, nicht möglich sei.
Niemand kann die eigenen Probleme allein lösen. Es ist unter anderem eine Konsequenz der bereits gestellten deutschen Fragen, dass wir unsererseits keine Fragen stellen, die sich auf uns beziehen, und unter anderem können die Deutschen wegen unseren nicht gestellten Fragen die noch fehlenden Fragen nicht stellen.
Die Deutschen haben die eigenen Vergehen beim Namen genannt, die eigenen Leiden haben sie nicht beim Namen genannt.
Die eigenen Missetaten durch die deutschen Missetaten zu verdecken, ist eine europäische Gewohnheit. Der Hass gegen die Deutschen ist Europas Fundament in der Nachkriegszeit.
Der nicht verarbeiteten, stumpfen ungarischen Nationalerinnerung – ein Wort wie Nationalgericht, Nationalgarde, Nationaleinkommen –, dieser Erinnerung gefällt es, sich ausschließlich und fortwährend als Opfer zu sehen (das ist ein allgemeiner osteuropäischer Reflex). Die deutsche Nationalerinnerung ist wesentlich weiter, sie nennt die eigene Verantwortung beim Namen. Da sie aber die Verantwortung anderer nicht nennen kann (sobald sie das versucht, wird sie auf hysterisches Misstrauen stoßen) und weil wir, die anderen, die eigene Verantwortung nicht benennen – wirft diese offensichtliche Ungerechtigkeit das deutsche Selbstmitleid an. Was vereint sein sollte, zerfällt in Selbsthass und Selbstmitleid, neben der Unwahrheit des Nur-Mörders steht die Unwahrheit des Nur-Opfers – und hinter diesen beiden Dingen das ungeklärte »wir«, die ungeklärte Nationalerinnerung. Dieses nicht Geklärte sehnt sich dann ebenfalls hysterisch nach einer »Normalität«.
Da es übrigens normale Länder nicht gibt, weil die Normen überall verraten wurden, überall gab es zum Beispiel »volle Boote«, ist die Sehnsucht nach Normalität nur der Wunsch, an der Amnesie, mit der andere Länder den eigenen Verrat behandeln, teilhaben zu dürfen; eine solche niederträchtige Großzügigkeit ist Deutschland wirklich untersagt, was wirklich diskriminierend ist.
Eine gesamteuropäische Übereinstimmung unseres Wissens über uns selbst als Mörder und Opfer ist noch nicht entstanden.
Um zu sehen, dass es einen anderen, der die Keule über unseren Köpfen schwingt,nicht gibt, müssen wir auf nichts als das Mitgefühl und das persönliche Erleiden bauen, das ist die Voraussetzung; Mitgefühl und persönliches Erleiden – alle Hände sind unsere Hände, es gibt keine fremden Hände, folglich gibt es keine Keule.
Eine Übereinstimmung von unterschiedlichen Erfahrungen, vom unterschiedlichen Wissen, ist wirklich ungeheuer schwer. Das ist mir auch anhand des eigenen Lebens bekannt, und ich will nicht behaupten, dass ich das Übereinstimmen bereits hinter mir hätte.
Ohne Erinnerung gibt es keine Moral, habe ich in einem Roman gelesen. Aber ohne Vergessen gibt es keine Erinnerung. Wir können uns nur erinnern, wenn wir vergessen können. Manchmal können uns die paradoxen Funktionen der Literatur dabei helfen. Etwas kollektiv zu wissen und zur Kenntnis zu nehmen, macht das persönliche Vergessen möglich. Bücher erzählen Geschichten, damit man die eigene Geschichte nicht erzählen muss. Wenn man über etwas nicht länger reden will, sagt man im Ungarischen: Schleier darüber. Diese Wendung ist genauer als das deutsche Schwamm drüber, weil der Schleier das, was vorhanden ist, nicht wegwischt. Ein bisschen sehen wir das Verdeckte noch, aber nicht so unmittelbar, dass es weh tun könnte. Oder es tut weh, aber es geht nicht gleich um Wunden.
Ein Roman hat keine verbesserte Ausgabe, weil es sie nicht geben kann. Das Leben eines Menschen hat keine verbesserte Ausgabe, weil es sie nicht geben kann. Auch die Geschichte hat keine verbesserte Ausgabe. Daran zeigt sich meiner Ansicht nach – und das ist keine allzu tiefschürfende Entdeckung – das Wunderbare des Lebens.
Über das Wunderbare und die Normalität habe ich in einem Roman Folgendes gelesen:»Nach Auffassung meines Vaters ist das Leben: mit kleinen Einschränkungen wunderbar. Denn nach Auffassung meines Vaters ist in Auschwitz zu sterben: normal, natürlich, auf der Hand liegend. Der Mensch wird verschleppt getötet: das heißt dann, es ist alles in Ordnung, alles läuft nach Plan, wenn es einen Plan gibt, wenn es keinen Plan gibt, dann geht es unter Zustimmung aller vor sich (ab und an ein kleines Zögern). In Auschwitz nicht zu sterben ist nicht normal, nicht natürlich, also wundervoll. Das Wundervolle bezieht sich dabei nicht darauf, dass es von geringer Wahrscheinlichkeit ist, obwohl es von geringer Wahrscheinlichkeit ist. Der Grund dafür kann sein: ein Fehler, ein Zufall, das sogenannte Glück (Mazl) sowie die unberechenbare Hysterie des richtungslosen Lebenswillens. Ebenfalls nicht normal, nicht natürlich, also wundervoll ist es: gar nicht nach Auschwitz zu kommen (also in Nicht-Auschwitz zu sterben oder nicht zu sterben). Das ist sehr häufig der Fall, deswegen ist es irreführend. Das Wundervolle der Welt ist: schwer. Womit ich nicht sagen will, sagte mein Vater, dass, wenn die Welt ohne Fehler normal wäre, es leichter, schwerer oder genauso wäre wie dieses Wundervolle.«
Ottos Mops kotzt. Ogottogott. Also die Keule etwas abkühlen lassen, mit Eiweiß bestreichen etc.
Ich komme aus einem Land, sagte oder sagt oder würde Kornél Esti sagen, wo die Überheblichkeiten einer grobschlächtigen osteuropäischen Spaßgesellschaft und der drohende, kleinliche Bärenernst entleerter Traditionen unmittelbar nebeneinander existieren.
Mittlerweile hat sich vieles verändert, und verändert haben sich auch die Proportionen des Ernstes und des Unernstes. Die Diktatur ist zu Ende, zu Ende die zweipolige Welt, doch ist das alte Bild nach wie vor schön, es ist uns nach wie vor lieb, als Don Quijote lächerlich gegen die Windmühlen des Ernstes anzukämpfen. Das ist selbst dann noch ein schönes Bild, wenn wir inzwischen wie Sancho Panza aussehen. Als gäbe es nicht einmal mehr Windmühlen, mit einem Mal ist alles funny geworden. Alle lachen über alles, es ist ungehörig, auch nur irgend etwas ernst zu nehmen. Die Losung sagt ja: Alles geht. Nichts geht. (Diese symmetrische Satzstruktur ist auch auf Ungarisch sehr schön. Minden megy. Semmi megy. Nur bedeutet dieses Nichts geht gerade das Gegenteil, azt már nem mondom, vagy csak ezen a titkos és cinkos nyelven, hogy te is hegy, én is hegy, nekem ugyan egyre megy**. Ein Versfragment von Sándor Weöres.)
Alles über nichts – Kornél Esti zog den Hals ein, all-überall hörte er dieses neue Gelächter.
Das ist mein persönliches Problem, das ist das stilistische Problem, das ich Tag für Tag lösen muss, das Problem, das jeder einzelne Satz von mir enthalten muss. Er muss nicht nur mit dem leeren Ernst und dem gehaltvollen Unernst rechnen, sondern auch mit dem neuen vielfältigen Unernst. In dieser neuen Ordnung von Ernst und Unernst muss der Satz seinen Platz finden. Er muss aussprechen können, dass doch nicht alles geht, und das muss er ohne den muffig anmaßenden Schulmeisterton sagen; er muss Ja und Nein sagen können, während man weiß, dass die wichtigen Wörter der Literatur eher das Vielleicht und das Möglicherweise sind, vielleicht.
Der Satz muss die Bequemlichkeit der falschen Freiheit und der falschen Ordnung vermeiden, ohne sich für einen Hüter der Wahrheit zu halten. (Die falsche, unechte Freiheit hatte den 11. September schon am nächsten Tag vergessen, die falsche, unechte Ordnung benutzt dieses Datum, um ihre alten, autoritären Pläne zu legitimieren. Aber vielleicht trifft das nur bei uns in Ungarn zu. Wir reden und reden darüber und haben den Tag vergessen.) Unser Leben geht weiter wie eh und je. Wie denn sonst?!
Es gibt viele Arten des Ernstseins: schön, hässlich, humorlos säuerlich oder gehoben, es gibt den feigen Ernst, der sich vor der Freiheit fürchtet, und es gibt den notwendigen Ernst, der gerade aus der Freiheit erwächst. Aber der Ernst ist keine Heimat für mich, das ist nicht der Ort, wo ich zu Hause bin, deshalb möchte ich weiterhin dem europäischen Unernst die Ehre erweisen.
Wenn ich auf einem Podest stehe, fällt mir automatisch Ernst Herbeck ein, der Geisteskranke und Dichter und sein Gedicht über die Einsamkeit:
Die Einsamkeit ist ähnlich
eine Versammlung und
dann, wenn ein Herr eine
Rede hält.
Sie soll interessant sein,
um die Einsamkeit zu
überwinden. Danke!
Die Ernsthaftigkeit ist mir natürlich durch die Ernsthaftigkeit des Friedenspreises eingefallen. Durch den Friedenspreis der deutschen Buchhändler.
An Buchhändler kann ich nur romantisch denken. Mit Vorliebe nennen wir heute alles, was mit Büchern zusammenhängt, außergewöhnlich und heroisch. Und hoffnungslos. Es ist heroisch und hoffnungslos, Bücher zu schreiben, heroisch und hoffnungslos, Bücher herauszugeben. Und natürlich ist es heroisch und hoffnungslos, Bücher zu verkaufen; so ist es wirklich, trotzdem repräsentiert der gute Buchhändler diesen wirklichen Heroismus als etwas Natürliches. Das heißt, er verfolgt keine Kulturmission, sondern verrichtet seine Arbeit wie jemand, der seinen Beruf liebt und versteht. Der Alltag als Festtag – das ist mein romantisches Bild von diesem Beruf. (Wie viele, viele kleine Buchhandlungen heutzutage schließen müssen, soll mir jetzt ja nicht einfallen und dass... lassen wir das: heroisch und hoffnungslos.)
Und dann möchte ich von hier, »vom Ort des Wortes« aus, allen Buchhändlern danken, allen Buchhändlern der Welt, vom Nordpol bis zum Südpol plus Hódmezövásárhely – schweren Herzens sogar denen, die noch kein einziges Buch von mir verkauft haben. Was ich natürlich zutiefst missbillige und beileibe nicht nachahmenswert finde.
Als vor mehr als einem halben Jahrhundert deutsche Frauen und Männer diesen Preis gegründet haben, wusste noch jeder genau, was Frieden und was Krieg ist. Man musste nicht nachdenken, musste keine Wettbewerbe ausschreiben, um geistreiche Definitionen zu erhalten, man musste nicht bequem darüber spekulieren, ob denn das Fehlen des Friedens wohl friedensförmig sei oder eher kriegsförmig und dass wohl das Fehlen des Krieges sicher nicht friedensförmig sei, das alles brauchte man nicht, es reichte, dass sich Körper und Poren erinnerten. Manchmal ist der Körper weiser als der Kopf. (Oder gehört auch der Kopf zum Körper?)
Das Entsetzen des Krieges kenne ich nicht, ich kenne nur das Entsetzen des Friedens. Ich bin ein Kind des Friedens, ein Nachkriegsmensch, der noch nie etwas aktiv für den Frieden getan hat. Der von Zeit zu Zeit, was auch eine Frage des Glücks ist, über die Diktatur lachte. In besonders glücklichen Augenblicken auch über sich selbst. Ich wurde 1950 geboren, quasi post festum. Und wenn ich, sagen wir einmal, davon, wie die Welt 1945 aussah und was damals Deutschland bedeutete, ein Bild haben möchte , wenn ich wissen möchte, wie sich damals die Mischung aus Chaos, Hoffnungslosigkeit und Leichengestank ausnahm, wie das freudlos kalte Entsetzen des Überlebens aussah, ein Bild, aus dem die Natur des Krieges zu entziffern wäre, das Gefühl, fremd und schuldig zu sein, – dann würde ich mich für einen Autor entscheiden, der sicher keinen Friedenspreis bekommen könnte: für Louis-Ferdinand Céline. Was für ein beschissener Mensch, was für ein großer Schriftsteller!
Céline könnte uns auch daran erinnern, dass die Literatur kein Friedensstifter ist, beziehungsweise dass man die Literatur nicht einfach unmittelbar benutzen kann – obwohl man ständig in Versuchung ist, sie für das Schöne und Gute zu benutzen und sie sich als eine Brücke zwischen den Völkern und Kulturen vorzustellen, als würden zwei Völker, die auf den Bücherregalen dieselben Bücher haben, einander nicht umbringen. Und als sei der, der liest, ein guter Mensch. (Ganz zu schweigen von dem, der schreibt.)
Aber die Sprache der Literatur ist nicht die der Verständigung, sondern die des Schöpferischen. Aus nichts etwas machen – das ist nichts für Gentlemen. Die Literatur ist kein Haustier, sie ist nicht gezähmt, theoretisch zumindest nicht. Die Literatur ist nicht für Literaturpreise geschaffen. Die Literatur gehört nicht zur Rechtmäßigkeit, nicht zur Toleranz, sondern zur Leidenschaft und zur Liebe. Mit der Liebe aber wird man keine Gesellschaften bilden, dafür ist sie nicht zuverlässig genug. Die Literatur ist kein Botschafter des Friedens; sollte der Botschafter überhaupt jemandem gehören, dann der Freiheit. Die Freiheit aber will mal den Frieden, mal den Krieg.
Ich hätte gerne auch das Kuttelgulasch in dieser Rede auftreten lassen, dafür bleibt jetzt keine Zeit mehr, ein bißchen über den Eintritt in die EU wäre auch recht gewesen, und das Wort möge hätte eine größere Rolle spielen sollen. Ich bin einfach glücklich, wenn in einem deutschen Text einmal möge auftaucht.
Die Liste der Friedenspreisträger hat mich im ersten Augenblick umgeworfen. Ich habe sie aus einem falschen Blickwinkel gesehen. Bei dieser Liste geht es nicht um Eitelkeiten, es geht nicht darum, wer sich auf der Liste befindet und wer nicht. Diese Liste sagt vor allem, dass es diese Liste gibt, und sie ist nicht einfach eine Bestsellerliste, sondern eine allgemeine Übereinkunft, also eine Tradition. Das alles ist immer weniger selbstverständlich.
Diese Liste belegt zwar nicht unmittelbar das Vorhandensein und die Beständigkeit eines nicht näher bestimmten Geistes, aber sie erinnert betont und glaubwürdig an diesen Geist, in dessen Mittelpunkt das Buch steht. Nebenbei bemerkt habe ich mich typisch europäisch geirrt, denn zunächst wollte ich schreiben: den europäischen Geist. Das war sicher kein Zufall, ich sehe nicht recht über Europa hinaus. Ein Selbstlob ist das nicht. Selbstkritisch ist es aber auch nicht gemeint. Und dieses Erinnern macht das Schreiben möglich. Auf die Schnelle könnte ich kaum erklären, warum ich schreibe, Sándor Petöfi und Sartre kannten in dieser Hinsicht bessere Antworten – aber es ist dieses Erinnern, das das Schreiben ermöglicht.
Mein Dank bezieht sich auf diesen Hintergrund, daher ist mein Dank nicht einfach höflich. (Wobei die Höflichkeit nicht zu unterschätzen ist.) Dieser Ernst ist für mich also ein fröhlicher Ernst, keine bedrückende Erbschaft, an der man sich lächerlich und bedauernswert messen müsste, dieser Ernst bedeutet eine Chance, eine Möglichkeit und Zeit, time, wie es bei Mick Jagger so schön heißt: time is on my side. (Yesitis, Yesitis.)
Jetzt, angesichts des Ortes, an dem wir uns befinden und angesichts der Zeit: Sonntagmittag, kann ich sagen, dass sich die Riechmesse ihrem Ende nähert, daher: Gehet in Frieden – spreis. Also sprach Kornél Esti.
Ich – was das auch immer bedeuten mag – danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Aus dem Ungarischen: Zsuzsanna Gahse
Die mit Sternchen versehenen Sätze wurden ungarisch gesprochen, unter anderem, weil sie praktisch unübersetzbar sind. Die annähernde Übersetzung:
* kleines Land, Großbotschafter
** Alles geht. Nichts geht. Aber dann will ich nicht auch noch sagen oder höchstens in dieser Gaunersprache: du auch Berg, ich auch Berg, obwohl mir das einerlei ist.
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