Der Stiftungsrat wählt den Philosophen und Psychiater Karl Jaspers zum Träger des Friedenspreises 1958. Die Verleihung findet während der Frankfurter Buchmesse am Sonntag, 28. September 1958, in der Paulskirche zu Frankfurt am Main statt. Die Laudatio hält Hannah Arendt.
Begründung der Jury
Karl Jaspers, dem großen Philosophen, dem klaren und unbestechlichen Denker unserer Zeit, der erkannte, daß Denken allein nicht das Sein zu fassen vermag, sondern nur das Unvergängliche leitet, was an innerer Wandlung im Menschen durch das Denken geschieht; dessen Glaube an das Gestaltende zwischen Mensch und Mensch die Philosophie formt und dessen Lebenswerk Anruf zu geistiger Besinnung des Einzelnen wurde, verleihen wir den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Reden
Karl Jaspers macht die geistige Kraft deutlich, die Kopf und Herz offenhält, die allem Recht, aller Moral, aller Religion erst einen verläßlichen Sinn gibt und in der alles Gewaltsame aufhört. Er vertraut auf die Macht des Einzelnen, der sich seiner sittlichen Verpflichtung bewußt ist.
Reinhard Jaspert - Grußwort
Reinhard Jaspert
Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels
Grußwort
Im Namen des deutschen Buchhandels darf ich Sie, die Freunde und Förderer des Buches, herzlich willkommen heißen und Ihnen danken dafür, daß Sie mit uns diese höchste Feierstunde unseres Arbeitsjahres begehen wollen. Ihnen gegenüber, hochverehrter Herr Bundespräsident, den wir als den Repräsentanten eines neuen geistigeren Deutschlands achten, möchte ich unserer Freude Ausdruck geben, Sie in unserer Mitte zu haben. Ich begrüße die Herren der ausländischen Missionen, die Herren Abgeordneten des Bundestages und die Herren der Bundesregierung, die immer ein offenes Ohr für die Entwicklung der Literatur hatten, die Herren der Landesregierungen, deren Hilfe wir oft genug bedürftig waren und besonders auch die Herren des Frankfurter Magistrats, die uns eine neue Heimat gaben. Mein Gruß gilt zumal den Herren Bibliothekaren, unseren besten Freunden und Mitstreitern um die Vermittlung des guten Buches und zugleich meinen Kollegen, den Buchhändlern, die heute aus allen Ländern zu uns gekommen sind.
Der Friedenspreis, den wir heute vergeben, soll ein reifes Lebenswerk krönen helfen; er ist jedoch kein üblicher Literaturpreis, der für eine literarische Leistung verliehen wird. Der l'art pour l'art-Standpunkt scheint mir in der heutigen Zeit keinen Inhalt mehr zu haben. Was wir dringender brauchen, sind Maßstäbe, an denen wir die geistigen Werte des uns gebotenen Wissens messen können. Natürlich möchte der Buchhandel mit der Nennung einer der Geistesgrößen, deren Werke er herausbrachte und deren Ideen er den Menschen zugänglich machte, der Öffentlichkeit gegenüber bekennen, was er für reif und bedeutsam hält. Aber dieses Bekenntnis, das aus dem Glauben an die Gedanken und Ideen des Philosophen erwachsen ist, erschöpft nicht den Sinn des Preises, den wir als Friedenspreis zu vergeben haben. Es sind, mehr noch und für uns wichtiger, die Fragen der ethischen Haltung, die wir für uns, den deutschen Buchhandel, als Jahr für Jahr zu erneuernde Verpflichtung in dieser Feierstunde ansehen.
Der Buchhandel trägt das Wort der Autoren weiter und verschafft ihm Gehör in allen Sprachen. Es wäre aber ein Irrtum, anzunehmen, daß jede Meinung, wenn sie nur publikumswirksam wäre, sich auch zur Veröffentlichung eignete. Die Verleger - soweit sie sich als Verleger bezeichnen dürfen (diese Unterscheidung ist hier ebenso notwendig wie etwa bei dem Begriff der Demokratie, den es in ebensovielen verschiedenen Denkarten gibt) - diese Verleger also glauben auch heute noch, mit jedem ihrer Bücher eine Aufgabe zu erfüllen, eine Mission zu haben, die über die wirtschaftlichen Erfordernisse ihres Berufes weit hinausgeht. Sie wollen beitragen zur Bildung des Menschen, die sich gewiß nicht in der reinen Vermittlung von Wissen erschöpft, sondern zu Reife, innerer Freiheit und Menschlichkeit führen soll.
Bücher sind dazu geschaffen, ein Werk im Geiste zu errichten. Ich sehe die zunehmende Verbreitung des Buches in der Welt als ein gutes Zeichen an, denn sie führt uns näher an dieses Ziel. Wie vielen Menschen geben doch Bücher die Stunden jener Einkehr, die den Weg zur Wahrheit bereiten, den jeder für sich allein gehen muß. Und sich zur Wahrheit aus eigener Erkenntnis und selbständiger Entscheidung durchzuringen, dazu bedarf es eben der Freiheit als der Voraussetzung, für deren Erhaltung mir kein Opfer zu groß schiene.
Die Bemühungen um die Erkenntnis dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält, werden heute fast selbstverständlich mit dem Kampf um politische Macht, ja selbst um die Wege zur Vernichtung menschlichen Lebens zusammengeworfen. Aber nicht die gebrauchsfertigen Pläne der Realpolitiker, die uns immer wieder angeboten werden, schaffen eine neue Ethik, die wir heute brauchen. Nach dem Verlust unserer Bildungsgrundlage nach zwei furchtbaren Kriegen ist das Wichtigste, aus uns selbst heraus erneut eine sittliche Haltung zu finden, die unser ungeheuer angewachsenes Wissen aufzunehmen und einzuordnen vermag in ein umfassendes Weltbild, in eine Einheit aus Glauben und Wissen. Ich sehe darin zugleich das einzige Mittel zur Überwindung des Materialismus. Unser Bildungsgut hat sich von Grund auf verändert, nicht nur, wie viele noch meinen, erweitert. Die Naturwissenschaften trugen in dieser Entwicklung wohl zur Befreiung aus Enge und Gebundenheit bei, sie gaben uns aber nicht, wie manche erwarteten, Antwort auf die entscheidenden Fragen des Daseins. Es gilt klarzustellen, welche neuen Maßstäbe dafür zu gelten haben.
Ich war kürzlich in der Schweiz als Gast bei einer der Bundesfeiern, bei denen der Gründung dieser alten Demokratie gedacht wird. Es hat mich stark angerührt, wie die Schweizer auch heute noch dem Wort trauen, das ihr Grundgesetz einleitet und das ihnen über 600 Jahre der Freiheit, der geistigen und politischen Freiheit, gesichert hat und das lautet: Im Namen Gottes, des Allmächtigen. In unserer aufgeklärten Welt, die sich das christliche Abendland nennt, scheut man sich fast, als Laie ein solches Wort auszusprechen. Aber erhält nicht alles Beginnen in ihm einen Sinn und sollten wir nicht darin den Maßstab aller Dinge in der Hand haben, der jedem von uns den Grad eigener Verantwortung zumißt? Sagt nicht Karl Jaspers dazu: Wenn alles versinkt, bleibt Gott?
Der Träger unseres Friedenspreises, einer der klarsten und konkretesten Denker unserer Zeit, hat erkannt, daß die Möglichkeit der Menschen, sich gegenseitig auszurotten, unwiderruflich ist. Karl Jaspers baut aber gegenüber dieser Realität auf das Wirken aus eigener Verantwortung. Er macht die geistige Kraft deutlich, die Kopf und Herz offenhält, die allem Recht, aller Moral, aller Religion erst einen verläßlichen Sinn gibt und in der alles Gewaltsame aufhört. Er vertraut auf die Macht des Einzelnen, der sich seiner sittlichen Verpflichtung bewußt ist.
Ich glaube, wir sollten uns mit ihm an die alte Wahrheit erinnern, daß das Gute wie das Böse nur im Menschen selbst zu suchen ist. Den Mut zur Hoffnung auf den Beginn eines glücklichen Zeitalters können wir nur finden in einer von uns allen innerlich getragenen neuen Ethik, in die wir unser Leben einzuordnen haben. Dies ist der Maßstab und der Sinn der Verantwortung, in die sich der Buchhandel in dieser Feierstunde stellt durch die Verleihung des Friedenspreises an den Philosophen Karl Jaspers.
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Reinhard Jaspert
Grußwort des Vorstehers
Um den Raum der humanitas, der seine Heimat wurde, zu erschließen, bedurfte Jaspers der großen Philosophen, und diese Hilfe möchte man meinen, hat er ihnen vergolten, indem er mit ihnen »ein Geisterreich« gründete, in welchem sie noch einmal als sprechende - aus dem Totenreich her sprechende - Personen auftreten, die, weil sie dem Zeitlichen entronnen sind, zu immerwährenden Raumgenossen im Geistigen werden können.
Hannah Arendt - Laudatio auf Karl Jaspers
Hannah Arendt
Humanitas
Laudatio auf Karl Jaspers
Der Friedenspreis, zu dessen Verleihung wir uns heute hier versammelt haben, gilt - wenn ich mich auf ein Wort des Bundespräsidenten berufen darf - nicht nur dem »ausgezeichneten literarischen Werk«, sondern zugleich auch »einer Bewährung im tätigen und erlittenen Leben«. Er gilt also einer Person, und er gilt dem Werk, sofern dieses noch gesprochenes und gehandeltes Wort ist, das heißt sich noch nicht abgelöst hat von dem, der es schuf, um seinen ungewissen, immer auch abenteuerlichen Gang durch die Geschichte anzutreten. Daher gehört zur Verleihung des Preises die laudatio, die nicht das Werk betrachtet und lobt, sondern die Person rühmen und preisen soll. Denn in der laudatio muß in der Tat alles, wie die Römer, die in diesen Dingen erfahrener waren als wir, meinten, auf die Dignität der Person bezogen bleiben: in laudationibus ... ad personarum dignitatem omnia referrentur (Cicero, De Oratore I, 141), auf die Würde nämlich, die einem Menschen eigen ist, sofern er mehr ist als alles, was er schafft. Diese Würde zu erkennen und zu feiern ist nicht Sache der Fachkollegen und Experten; sie kann sich nur in der Öffentlichkeit durch ein der Öffentlichkeit ausgesetztes Leben bewähren und beweisen; und die Preisung bestätigt nur das, was diese Öffentlichkeit längst weiß.
Die laudatio kann also nur das auszusprechen versuchen, was Sie alle wissen. Darin liegt ein großer Sinn, weil das Gehörtwerden dem in der Verborgenheit der je einzelnen Gewußten eine Leuchtkraft verleiht, die es als Erscheinung in der Wirklichkeit bestätigt. Aber ich sage Ihnen nichts Unerwartetes, wenn ich gestehe, daß ich dieses »Wagnis der Öffentlichkeit«, wie Jaspers es nennt, nur zögernd und eigentlich verzagend auf mich genommen habe. Es geht mir darin wie vermutlich der großen Mehrzahl von Ihnen auch, die wir ja alle moderne Menschen sind und in der Öffentlichkeit uns nur mit Mißtrauen und Ungeschick bewegen. In unseren modernen Vorurteilen befangen, meinen wir, nur das »Objektive«, das von der Person ablösbare Werk, gehöre in die Öffentlichkeit, die dahinterstehende Person aber und ihr Leben seien etwas Privates und die ihr geltenden Gefühle etwas Subjektives, das, wenn es in der Öffentlichkeit bloßgestellt wird, schon nicht mehr echt, sondern pathetisch wird. Als der deutsche Buchhandel für die Verleihung des Preises eine laudatio für unumgänglich erklärte, hat er eigentlich auf ein älteres und angemesseneres Gefühl für Öffentlichkeit zurückgegriffen, demzufolge es gerade die Person ist, die zu ihrer vollen Verwirklichung der Öffentlichkeit bedarf und in ihr erscheint. Damit verlangt er von uns, daß wir umlernen und auf unsere gewohnten Gleichsetzungen von subjektiv und persönlich, objektiv und sachlich-unpersönlich verzichten sollen. Diese Gleichsetzungen stammen aus dem Bereich der Wissenschaften und sind in ihm sinnvoll. Sie sind offenbar unsinnig im Bereich des Politischen, wo Menschen im wesentlichen als handelnde und sprechende Personen auftreten und wo das Persönliche ganz und gar keine Privatsache ist. Aber auch in dem öffentlichen geistigen Leben, das ja den akademischen Raum umgreift und um ein Beträchtliches übersteigt, sind sie unangemessen.
Um hier angemessen zu reden, müssen wir nicht das Subjektive und das Objektive, sondern das Subjektive und das Personhafte von einander unterscheiden lernen. Das Subjekt legt in der Tat ein objektives Werk der Öffentlichkeit vor und gibt es ihr preis; das Subjektive, hieran, etwa der Arbeitsprozeß, in dem das Werk hergestellt wurde, geht die Öffentlichkeit gar nichts an. Ist dieses Werk nun aber nicht nur akademisch, sondern das Resultat eines »tätigen und erlittenen Lebens«, so erscheint mit dem Werk ein lebendiges Handeln und Sprechen, deren Träger die Person selbst ist. Was hier erscheint, ist dem, der es zeigt, selbst unbekannt; er kann darüber nicht verfügen, wie er über sein Werk verfügt, das er für die Veröffentlichung, das Erscheinen vorbereitete. (Wer bewußt versucht, seine Person ins Werk hineinzuspielen, schauspielert und hat damit die eigentliche Chance des Öffentlichen für sich und andere bereits verspielt.) Das Personhafte entzieht sich der Verfügungsgewalt des Subjekts und ist daher das genaue Gegenteil des Nur-Subjektiven. Aber gerade das Subjektive ist »objektiv« viel leichter zu fassen und steht auch dem Subjekt viel eher zur Verfügung. (In der Selbstbeherrschung zum Beispiel meinen wir ja nichts anderes, als daß wir dieses rein Subjektive an uns in den Griff bekommen können, um über es nach Belieben zu verfügen.)
Ganz anders steht es mit der Person. Sie ist sehr schwer zu fassen und gleicht vielleicht noch am ehesten jenem griechischen daimon, jenem Schutzgeist, der jeden Menschen durch sein Leben begleitet, ihm aber immer nur über die Schultern guckt, so daß er von allen, die einem Menschen begegnen, eher gekannt werden kann als von ihm selbst. Es ist der tiefe, über alles im gewöhnlichen Sinne Politische hinweggreifende Sinn des Öffentlichen, daß dieser daimon, der gar nichts Dämonisches an sich hat, also dieses Personhafte in einem Menschen nur da erscheinen kann, wo es einen öffentlichen Raum gibt. Dies ist ein geistiger Raum, und in ihm erscheint, was die Römer die humanitas nannten und worunter sie etwas zuhöchst Menschliches verstanden, weil es gültig war, ohne objektiv zu sein. Es ist das gleiche, was Kant und dann Jaspers unter Humanität verstehen, das gültige Personhafte, das einen Menschen, der es gewonnen hat, nie wieder verläßt, auch wenn alle anderen Körper- und Geistesgaben dem Ruin der Zeit verfallen. Gewonnen wird die Humanität nie in der Einsamkeit und nie dadurch, daß einer sein Werk der Öffentlichkeit übergibt. Nur wer sein Leben und seine Person mit in »das Wagnis der Öffentlichkeit« nimmt, kann sie erreichen, wobei er riskieren muß, etwas zu zeigen, was nicht »subjektiv« und eben darum für ihn weder erkennbar noch verfügbar ist. Dadurch wird »das Wagnis der Öffentlichkeit«, in dem die humanitas gewonnen wird, ein Geschenk an die Menschheit.
Wenn ich das Personhafte, das mit Jaspers in der Öffentlichkeit erscheint, als humanitas andeute, so möchte ich damit anzeigen, daß keiner wie er uns so helfen kann, unser Mißtrauen gegen die Öffentlichkeit zu überwinden und die Ehre und Freude zu empfinden, die dem zuteil wird, der von allen gehört preisen darf, wen er liebt. Denn Jaspers hat nie das allgemeine Vorurteil der Gebildeten geteilt, daß die Helle des Öffentlichen alle Dinge flach und platt mache, daß in ihm nur das Durchschnittliche zur Geltung komme und daß daher der Philosoph sich aus ihm entfernen müsse. Sie werden sich erinnern, daß Kant der Meinung war, daß der Prüfstein, ob die in einer philosophischen Schrift enthaltene Schwierigkeit echt oder ein bloßer »Dunst von Scharfsinn« sei, in der Fähigkeit zur Popularität liege. Und Jaspers, der in dieser wie eigentlich jeder Hinsicht der einzige Nachfolger ist, den Kant je gehabt hat, hat ja nicht nur, wie auch Kant, den akademischen Raum und seine Begriffssprache mehr als einmal verlassen, um sich an das lesende Publikum überhaupt zu wenden; zweimal, einmal vor mehr als 25 Jahren in der Geistigen Situation der Zeit und jetzt in der Atombombe und die Zukunft des Menschen, hat er unmittelbar in Fragen der Tagespolitik eingegriffen, weil er gleich dem Staatsmann weiß, daß es sich in solchen Fragen um nichts weniger als das nur Alltägliche handelt.
Jaspers' Ja zur Öffentlichkeit ist einzigartig, weil es ein Philosoph ausspricht und weil es sachlich der Grundüberzeugung seines gesamten Philosophierens entspringt: Philosophie hat mit Politik gemeinsam, daß sie alle angeht; dies ist der Grund, daß sie in die Öffentlichkeit gehört, wo nur die Person und ihre Bewährung zählen. Der Philosoph - im Gegensatz zum Wissenschaftler - gleicht dem Staatsmann darin, daß er für seine Meinungen mit seiner Person haftet. Wobei allerdings der Staatsmann noch in der gewissermaßen glücklichen Lage ist, nur dem eigenen Volk verantwortlich zu sein, während Jaspers, zumindest in allen Schriften, die nach 1933 entstanden sind, immer so schreibt und spricht, als müsse er gegebenenfalls sich vor der ganzen Menschheit verantworten.
Diese Verantwortung ist für ihn keine Bürde, und sie hat mit moralischen Imperativen nicht das mindeste zu tun. Sie erwächst ihm vielmehr ungezwungen aus einer ursprünglichen Lust am Offenbar-werden-lassen, am Erhellen des Dunklen, und sein Ja zum Öffentlichen ist letztlich nur die Folge davon, daß er die Helle liebt und sie so lange geliebt hat, bis sie seine gesamte Person geprägt hat. In den Werken der großen Autoren kann man fast immer eine durchgehende Metapher finden, die nur diesem Autor eigentümlich ist und in der sich das ganze Werk wie in einem Brennpunkt vereinigen läßt. Eine solche Metapher ist in Jaspers' Werk das Wort »Helle« - von der »Existenzerhellung« über die »Weisen des Umgreifenden«, welche durch Vernunft »zur Helligkeit« gebracht werden, bis zu dem Worte Vernunft selbst, deren Wahrheitsqualität sich als »Weite und Helle« ausweist. Was immer der Helle standhält, sich in ihrem Licht nicht in Dunst auflöst, gehört hier zur humanitas, und die Verantwortung vor der Menschheit für jeden Gedanken auf sich nehmen heißt: in dieser Helle leben und in ihr sich und alles, was man denkt, bewähren.
Sie wissen, daß Jaspers lange vor dem Jahr 1933, wie man sagt, »berühmt« war, so wie andere Philosophen es auch sind; daß er aber erst im Verfolg der Hitlerzeit und vor allem in den Jahren danach eine öffentliche Figur im vollen Wortsinne geworden ist. Nichts wäre falscher, als zu meinen, dies sei lediglich den Umständen geschuldet, die ihn erst in die Verborgenheit der Verfolgten drängten, um ihn dann zum Symbol einer gewandelten Zeit und Gesinnung zu machen. Wenn die Umstände hier überhaupt etwas machten, so haben sie ihn nur an den Platz geschoben, an den er ohnehin seinem Wesen nach gehörte - in das volle Licht der Weltöffentlichkeit. Dies ging nicht etwa so zu, daß er erst etwas erlitt, dann in diesem Leiden sich bewährte, um schließlich, als Not am Mann war, so etwas wie »das andere Deutschland« zu repräsentieren. In diesem Sinne repräsentiert er gar nichts. Er hat immer ganz allein gestanden und war von allen Gruppenbildungen unabhängig, auch von der deutschen Widerstandsbewegung. Es ist das Großartige an dieser Position, die nur von dem Gewicht der Person getragen ist, daß er, ohne irgend etwas anderes zu repräsentieren als die eigene Existenz, die Gewähr dafür bieten konnte, daß auch in der Finsternis der Gewaltherrschaft, in der alles Gute, das es noch geben mag, schlechthin unsichtbar und daher unwirksam geworden ist, die Vernunft nur vernichtet werden kann, wenn wirklich und wortwörtlich alle Vernünftigen totgeschlagen sind.
Seine Unantastbarkeit, das heißt nicht die selbstverständliche Tatsache, daß er inmitten der Katastrophe fest blieb, sondern - was viel weniger selbstverständlich war - daß all dies für ihn niemals auch nur zu einer Versuchung werden konnte, besagte für diejenigen, die von ihm wußten, viel mehr noch als Widerstand und Heldentum: Es besagte ein Vertrauen, das keinerlei Bestätigung bedurfte, ein Zutrauen, daß in einer Zeit, in der alles möglich schien, eines eben doch unmöglich blieb. Was Jaspers damals, als er ganz allein war, repräsentierte, war nicht Deutschland, wohl aber die humanitas in Deutschland. Es war, als könnte er allein in seiner Unantastbarkeit den Raum erhellen, den die Vernunft zwischen den Menschen schafft und garantiert, und als könne die Helle und Weite dieses Raumes auch dann überdauern, wenn nur noch einer in ihm übrig bleiben sollte. Nicht daß dies nun tatsächlich so war oder auch nur so hätte sein können. Jaspers hat oft gesagt: »Der einzelne für sich allein kann nicht vernünftig sein.« In diesem Sinne war er nie allein und hat auch nie von der Einsamkeit sehr viel gehalten. Die humanitas, die er gewährleistet, erwuchs ihm aus dem Raum, in welchem sein Denken beheimatet ist, und dieser Raum war niemals unbevölkert. Was Jaspers auszeichnet, ist, daß er in diesem Raum der Vernunft und Freiheit besser zu Hause ist, sich in ihm mit größerer Sicherheit auskennt als andere, die ihn wohl kennen mögen, aber es nicht aushalten, ständig in ihm zu leben. Weil es die Leidenschaft zur Helle selbst ist, die seine Existenz geprägt hat, konnte es kommen, daß er in der Dunkelheit wie ein Licht war, das aus einer verborgenen Helle leuchtete.
Daß ein Mensch unantastbar, unversuchbar, unbeirrbar sein kann, hat etwas Hinreißendes. Will man es sich psychologisch-biographisch erklären, so darf man wohl an Jaspers' Elternhaus denken, das noch eng verbunden dem hochgemuten friesischen Bauerntum war, dem ein in Deutschland ganz ungewohnter Sinn für Unabhängigkeit eignete. Nun, Freiheit ist mehr als Unabhängigkeit, und erst Jaspers hat aus der Unabhängigkeit das denkende Bewußtsein einer Freiheit entwickelt, in welchem der Mensch sich als sich selbst geschenkt erfährt. Aber die souveräne Selbstverständlichkeit - der »Übermut«, wie er wohl gelegentlich selbst sagt - mit der er, der sich in seiner Existenz so sehr der Öffentlichkeit auszusetzen liebt, gleichzeitig von allen Stimmungen und Meinungen, die jeweils gerade im Schwange sind, unabhängig bleibt, ist doch wohl auch jener heimatlichen Selbstsicherheit geschuldet, jedenfalls aus ihr erwachsen. Er braucht sich gleichsam immer nur in seinen persönlichen Ursprung zurück- und aus ihm heraus wieder in die Weite der Humanität vorzuträumen, um sich zu vergewissern, daß er auch in der Vereinzelung nicht eine Privatmeinung vertritt, sondern eine andere, noch verborgene Öffentlichkeit - einen »Fußsteig«, wie Kant meinte, der sich wohl noch eines Tages zur großen »Heerstraße« verbreitern möchte.
In solcher Unbeirrbarkeit des Urteils und Souveränität der Gesinnung kann eine Gefahr liegen. Eine Haltung, die Versuchungen nicht ausgesetzt ist, kann zur Erfahrungslosigkeit führen oder doch zu einer Unerfahrenheit in dem, was die jeweilige Zeit gerade als Realität anzubieten hat. In der Tat, was könnte den Erfahrungen unserer Zeit ferner liegen als die hochgemute Unabhängigkeit, aus der Jaspers herkommt, die fröhliche Unbekümmertheit um das, was man so sagt und meint, die nicht einmal die Rebellion gegen die Konventionen kennt, weil sie sie immer nur als Konventionen anerkannt, nie als Maßstäbe ernst genommen hat? Was könnte ihr konträrer sein als das dieser Unabhängigkeit heimlich und tief zugrundeliegende Vertrauen in die Menschen, in die humanitas des Menschengeschlechts? Und da wir schon dabei sind, das Subjektiv-Psychologische nachzurechnen: Jaspers war fünfzig Jahre alt, als Hitler zur Macht kam. Das ist ein Alter, in dem die überwiegende Mehrzahl der Menschen längst aufgehört hat, Erfahrungen zu machen, und in welchem gerade die Gebildeten sich zumeist längst so auf ihre Meinungen versteift haben, daß sie in allem wirklich sich Ereignenden nur noch ihre Bestätigung wahrzunehmen vermögen. Nun, Jaspers hat, wie Sie alle wissen, auf die entscheidenden Ereignisse der Zeit, die er so wenig wie irgendein anderer vorausgesehen hat und auf die er vielleicht noch weniger vorbereitet war als manche andere, weder mit einem Rückzug auf seine eigene Philosophie noch mit einer Verneinung der Welt noch mit Verdüsterung reagiert. Man könnte nach 1933, also nach Abschluß seiner dreiteiligen Philosophie,und wieder nach 1945, also nach Abschluß des Buches Von der Wahrheit, von neu einsetzenden Produktivitätsepochen sprechen, wenn man hiermit nicht allzu ausschließlich die Vorstellung einer bei großen Begabungen manchmal eintretenden vitalen Erneuerung verbände. Bei Jaspers aber liegt das Großartige darin, daß er sich erneuert, weil er unverändert bleibt - nämlich der Welt so verbunden wie immer, und den Ereignissen der Zeit mit unveränderter Treffbarkeit und Fähigkeit zur Sorge folgend.
Nicht nur die Atombombe,sondern auch Die großen Philosophen stehen ganz und gar im Erfahrungshorizont der jüngsten Gegenwart. Diese bis ins hohe Alter andauernde Gegenwärtigkeit ist wie ein Glück, das nicht mehr auf Leistung zu befragen ist. Es ist das gleiche Glück, daß Jaspers in seinem Leben zwar isoliert werden, aber nicht vereinsamen konnte; und es ruht auf einer Ehe, in der eine ebenbürtige Frau seit der Jugend immer daneben stand. Zwischen zwei Menschen, wenn sie in der Bindung nicht der Illusion verfallen, Eines zu werden, kann schon wieder eine Welt entstehen. Und gerade für Jaspers ist wohl dies Glück, in das er seine und der Frau Herkunft hineinzunehmen und zu bewahren verstand, nie ein nur Privates gewesen, sondern eine Welt en miniature, in der er modellartig erfuhr, wie es in der Welt zuging oder zugehen konnte. Denn in dieser kleinen Welt entfaltete und übte sich seine unvergleichliche Fähigkeit für das Gespräch, die herrliche Genauigkeit des Zuhörens, die ständige Bereitschaft, Rede und Antwort zu stehen, die Geduld, bei der einmal besprochenen Sache zu verweilen; ja mehr noch, die Fähigkeit, das sonst Verschwiegene in den Gesprächsraum zu locken, es sprechwürdig zu machen und so alles im Sprechen und Hören zu verändern, erweitern, verschärfen - oder, wie er selbst am schönsten sagen würde: zu erhellen.
In diesem durch ein ständig sprechendes und hörendes Denken erhellten Raum ist Jaspers zu Hause; er ist seine geistige Heimat, weil er ein Raum in des Wortes buchstäblicher Bedeutung ist, so wie die Denkwege, die seine Philosophie lehrt, Gedankengänge in des Wortes ursprünglicher Bedeutung sind, Gänge nämlich, die einen Raum erschließen. Jaspers' Denken ist räumlich, weil es immer auf die Welt und die Menschen in ihr bezogen bleibt, nicht weil es an einen vorhandenen Raum gebunden wäre, sondern umgekehrt, weil seine tiefste Intention ist, einen »Raum zu schaffen«, in welchem die humanitas des Menschen rein und hell erscheinen kann. Immer »an das Mitdenken dessen (gebunden), was der andere denkt«, ist ein solches Denken auch dann politisch, wenn es von Dingen handelt, die mit Politik nichts zu tun haben, denn es bestätigt immer jene Kantische »erweiterte Denkungsart«, welche die politische par excellence ist.
Um den Raum der humanitas, der seine Heimat wurde, zu erschließen, bedurfte Jaspers der großen Philosophen, und diese Hilfe möchte man meinen, hat er ihnen vergolten, indem er mit ihnen »ein Geisterreich« gründete, in welchem sie noch einmal als sprechende - aus dem Totenreich her sprechende - Personen auftreten, die, weil sie dem Zeitlichen entronnen sind, zu immerwährenden Raumgenossen im Geistigen werden können. Ich wünschte, ich könnte Ihnen eine Vorstellung von der Freiheit, der Unabhängigkeit des Denkens geben, deren es bedurfte, um dies Geisterreich zu gründen. Galt es doch vor allem, die durch Tradition bestimmte Ordnung zu verlassen, in der es ist, als gäbe es ein Nacheinander, eine Folge, in der immer der Eine dem Nächsten die Wahrheit in die Hand legt. Zwar hat diese Tradition schon seit geraumer Zeit ihre inhaltliche Gültigkeit für uns verloren; aber das hinderte nicht, daß das zeitliche Schema des Tradierens selbst uns so zwingend schien, daß es war, als irrten wir ohne seinen Ariadnefaden hilflos in der Vergangenheit umher, ohne die Möglichkeit einer Orientierung. In dieser Situation, in der es um die Stellung des modernen Menschen zu seiner Vergangenheit überhaupt ging, hat Jaspers das, was wir nur noch als zeitliches Nacheinander zu erfahren wußten, in ein räumliches Nebeneinander gehoben, so daß Nähe und Ferne nicht mehr an den Jahrhunderten hängt, die uns von einem Denker trennen, sondern ausschließlich an der in Freiheit gewählten Stelle, von der her wir dies Geisterreich betreten, das so lange währen und sich mehren wird, als es Menschen auf der Erde gibt.
Dies Reich, meine Damen und Herren, in dem Jaspers beheimatet ist und zu dem er uns die Wege eröffnet, liegt nicht im Jenseits und ist keine Utopie, es ist nicht von gestern und nicht von morgen, es ist von dieser Welt. Vernunft hat es geschaffen und Freiheit regiert in ihm. Es ist nicht zu fixieren und zu organisieren, es reicht in alle Länder der Erde und in alle ihre Vergangenheiten; und obwohl es weltlich ist, ist es unsichtbar. Es ist das Reich der humanitas, zu dem ein jeder kommen kann aus dem ihm eigenen Ursprung. Diejenigen, die in es eintreten, erkennen sich, denn sie sind dann wie Funken, aufglimmend zu hellerem Leuchten, verschwindend bis zur Unsichtbarkeit, wechselnd in ständiger Bewegung. Die Funken sehen sich, und jeder flammt heller, weil er andere sieht.
Ich spreche hier im Namen derjenigen, welche Jaspers einmal in dies Reich geführt hat. Wie ihnen zumute ist, hat Stifter schöner gesagt, als ich es könnte: »Es entstand nun ein Erstaunen über den Mann, und es erhob sich eine Lobpreisung desselben.«
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Hannah Arendt
Laudatio
Wollen wir Freiheit und Frieden, so müssen wir in einem Raum der Wahrheit uns begegnen, der vor allen Parteiungen und Standpunkten liegt, vor unseren Entscheidungen und Entschlüssen. Wenn wir frei und wahrhaftig werden, kehren wir ständig zurück in diesen gemeinsamen Raum, in dem wir verbunden bleiben auch dann, wenn wir Gegner sind.
Karl Jaspers - Dankesrede
Karl Jaspers
Wahrheit, Freiheit und Friede
Dankesrede
Die mir verliehene Auszeichnung bedeutet eine hohe Ehre. Denn der deutsche Buchhandel ist eine unabhängige Instanz und durch seine Leistungen seit Jahrhunderten legitimiert.
Unsere Zeit zwingt zur Verwandlung des Verlegers in einen Warenproduzenten, des Sortimenters in einen Verkäufer. In der Tat aber werden beide unsere Bundesgenossen. Gemeinsam schaffen Schriftsteller und Buchhandel den öffentlichen Raum des Geistes, in dem durch das Chaos die Wahrheit sich hervortreibt, und bewirken die wachsende Teilnahme einer lesenden Bevölkerung. Unsere Verleger und Buchhändler sind nicht schon befriedigt durch die abschätzbaren Bedürfnisse eines Publikums und durch die notwendigen Kalkulationen. Sie sind hellhörig, der eine hier, der andere dort, für die Kraft in Gedanke und Dichtung, für die Bereitschaften im Verborgenen, für die Möglichkeiten des Alten und des Neuen, für das, was erhellen, ermutigen, beschwingen kann. Sie bringen Schriften heraus, weil sie wollen, daß deren Denkungsart in der Welt sei.
Von dieser Instanz wird mir die Auszeichnung verliehen, die »Friedenspreis« heißt. Es scheint angemessen, bei seinem Empfang vom Frieden zu sprechen.
Wir alle wollen den Frieden, den äußeren Frieden, daß kein Krieg sei und daß die Massenvernichtungswaffen nie mehr zur Anwendung kommen und daß das Ende durch die Atombombe ausbleibe.
Dieser Friede ist nur möglich als Weltfriede. Heute aber treten die großen farbigen Völker auf, die an Menschenzahl und Bodenschätzen durch ihre schnell fortschreitende Technisierung in wenigen Jahrzehnten dem Abendland überlegen sein werden. Heute ist ferner eine neue, erst im technischen Zeitalter möglich gewordene Staatsform, die totale Herrschaft, entstanden. In dieser Weltlage ist der äußere Friede nur möglich in Gemeinschaft mit jenen gewaltigen Völkern und nur im Umgang mit der totalen Herrschaft. Friedenspolitik ist Weltpolitik. Diese Weltpolitik kann nur Erfolg haben unter Voraussetzungen, die jeder in sich selbst, die wir im eigenen Staate verwirklichen. In dem Maße, in dem wir dies tun, dürfen wir hoffen, daß die anderen uns entgegenkommen. Nie wird uns der äußere Friede als Geschenk durch bloße politische Operationen zuteil werden.
Nicht von der Friedenspolitik als Weltpolitik möchte ich sprechen, sondern von diesen Voraussetzungen. Erstens: Kein äußerer Friede ist ohne den inneren Frieden der Menschen zu halten. Zweitens: Friede ist allein durch Freiheit. Drittens: Freiheit ist allein durch Wahrheit.
1.Kein äußerer Friede ohne den inneren
Friede ist nicht Kampflosigkeit. Aber der Mensch kann den Kampf verwandeln aus gewaltsamem Kampf in den geistigen und in den liebenden Kampf. Der gewaltsame Kampf erlischt in der Kommunikation. Statt Überlegenheit im Sieg ist das Ergebnis die gemeinschaftliche Wahrheit. Durch solchen Kampf miteinander kommt erst jeder zu sich selbst. Der liebende Kampf stellt alle Mittel der Gewalt, auch die Mittel der intellektuellen Gewaltsamkeit, die als stärkere Rationalität der stärkeren Muskelkraft entspricht, dem Partner in gleicher Weise wie sich selbst zur Verfügung und hebt damit ihre tödliche Wirkung auf. Was einst im Kampf auf Leben und Tod Ritterlichkeit und ihre Spielregeln waren, dem sind in der täglichen Praxis der liebende Kampf und seine Ordnung zu vergleichen.
Der Friede beginnt im eigenen Haus. Der Weltfriede beginnt mit dem inneren Frieden der Staaten. Im innenpolitischen geistigen Kampf um die Herrschaft muß die Gesinnung der Friedlosigkeit, die die Gewalt wollen würde, wenn sie nur könnte, verschwinden. Denn die Friedlosigkeit der Innenpolitik macht auch den Frieden in der Außenpolitik unmöglich.
2. Friede allein durch Freiheit
Der innere Friede der einzelnen Menschen und des einzelnen Staates ist durch Freiheit. Weil nur Freiheit zum Frieden fähig ist, sagte Kant: Nur Staaten mit »republikanischer Regierungsart« können den Frieden schließen, der kein bloßer Waffenstillstand, sondern ohne Vorbehalt als Dauer gemeint ist. Unter republikanischer Regierungsart verstand Kant nicht eine Staatsform (wie Monarchie, Aristokratie, Demokratie), sondern die Regierungsart der Freiheit, die wir heute Idee der Demokratie nennen. Sie ist nicht zu verwechseln mit einer technischen Verfassungsform, die vermeintlich einmal als die richtige gefunden und identisch übertragbar wäre.
Was aber ist Freiheit? Äußere Freiheit eines Staates und innere Freiheit durch seine Regierungsart haben Bestand durch die existentielle Freiheit der einzelnen Menschen. Daher die Vieldeutigkeiten im Worte »Freiheit«: Äußere politische Freiheit kann auch ein despotischer Staat haben. Eine freie demokratische Verfassung kann auch ein Volk innerlich unfreier Menschen haben.
Freiheit beginnt als Freiheit des einzelnen, gewinnt gemeinschaftliche Gestalt in der republikanischen Regierungsart, behauptet sich gegen Unterdrückung durch fremde Staaten. Im Ganzen dieser drei Momente ist Freiheit wirklich.
Erst die Freiheit, dann der Friede in der Welt! Die umgekehrte Forderung: »erst Friede, dann die Freiheit« täuscht. Denn ein durch Zufall oder durch Despotie oder geschickte Operation oder durch Angst aller Beteiligten für den Augenblick bestehender äußerer Friede ist nicht ein im Grunde des Menschen selbst gesicherter Friede. Er würde aus dem faktischen Unfrieden der Unfreiheit der einzelnen bald wieder zum Kriege führen.
Auch die Demokratie als Verfassungsform ist noch keineswegs Freiheit. Sie kann der Willkür, der Zügellosigkeit Raum geben. Eine Demokratie, plötzlich eingerichtet, nicht von einem Volke hervorgebracht, daher auch noch nicht verstanden, ist nur eine Chance, daß das Volk eines solchen Staates die Idee der Demokratie erwerbe und dadurch in seinen Bürgern frei werde. Leicht wird die nur formale Freiheit verspielt. Wenn die Kämpfe der Parteien aus solidarischer Verbundenheit in den selbstzerstörerischen Prozeß treiben, dann wird der freie Staat zur Kulisse, die morgen mitsamt allen seinen Politikern und Parteien umgeworfen werden mag. Die nur formale Demokratie selber erzeugt die totale Herrschaft, so daß Hitler mit Recht triumphieren konnte: »Ich habe sie mit ihrem eigenen Wahnsinn geschlagen.«
Die Weltlage ist drohend: Heute ist der Weltfriede die einzige Rettung. Aber immer gab es Kriege. Wie soll das Ungeheure möglich werden, daß keine Kriege mehr geführt werden? - Für unser Wissen nicht durch die Magie eines übergeordneten Geschehens, auf das sich zu verlassen bequem und verantwortungslos wäre, auch nicht allein durch eine rational erdenkbare Apparatur, die das Erwünschte herstellen möchte, sondern durch unsere täglich bewährte Freiheit. Der Unbedingtheit dieser Freiheit kommt dann vielleicht die transzendente Macht zu Hilfe, die wir in unsere Voraussicht nicht einstellen können, deren unbestimmbare Möglichkeit uns jedoch ermutigen darf, wenn der bloße Verstand ratlos wird.
3. Freiheit allein durch Wahrheit
Freiheit aber ist nicht aus dem Nichts. Sie ist nicht Willkür, nicht beliebiges Meinen. Erst in der Hingabe an Wahrheit ist erfüllte Freiheit möglich. Kein Friede ohne Freiheit, aber keine Freiheit ohne Wahrheit. Hier liegt der entscheidende Punkt. Freiheit ist leer, wenn nicht die Wahrheit gemeint ist, der sie entspringt und der sie dient.
Was ist Wahrheit? Seit dem Altertum handeln Philosophen immer wieder »von der Wahrheit«. In neueren Zeiten denken sie sich ein in ihre Fragwürdigkeiten, in ihre Dialektiken und Umstürze, bis zu der Paradoxie, ob die Unwahrheit selber zu einem Moment der Wahrheit werden könnte. Mit der Wirklichkeit unserer Wahrheit sind wir immer nur auf dem Wege. Niemand hat sie, wir alle suchen sie.
Wollen wir Freiheit und Frieden, so müssen wir in einem Raum der Wahrheit uns begegnen, der vor allen Parteiungen und Standpunkten liegt, vor unseren Entscheidungen und Entschlüssen. Wenn wir frei und wahrhaftig werden, kehren wir ständig zurück in diesen gemeinsamen Raum, in dem wir verbunden bleiben auch dann, wenn wir Gegner sind.
Wahrheit liegt nicht zuerst im Inhalt, sondern in der Weise, wie dieser gedacht, aufgezeigt und diskutiert wird: in der Denkungsart der Vernunft. Diese Wahrheit hört auf in der Vereinzelung trotzigen Soseins und Sowollens, mit der Blindheit der Seele und Taubheit des Geistes, mit dem Abbruch der Kommunikation. Das sehen wir alltäglich. Ein Beispiel waren Erscheinungen beim jüngsten Kampfe gegen die Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen.
Wie man entscheiden solle, darüber sind damals wie heute verschiedene Meinungen sinnvoll möglich. Unvernünftig aber und unwahr ist es, ohne Durchdenken aller Gesichtspunkte in der weltweiten politischen Situation aus ungeklärten Motiven nun, statt unter Bedingungen vielmehr absolutistisch die Ausrüstung mit Atomwaffen abzulehnen oder zu fordern. Was geschieht? Nicht mehr freie Diskussion auf gemeinsamem Boden, vielmehr Verkündigung des einzig möglichen Weges zum Heil unter ausschließlicher Heranziehung der zum Nein oder Ja passenden Gründe.
Es entsteht eine vergiftete Atmosphäre: aus nicht durchhellter Angst, - aus dem Drang, daß endlich etwas geschehen soll, - im Bewußtsein eines »wir«, dem nur eine Meinung wahr und jede andere empörend ist, - aus verneinenden Antrieben: es muß anders werden -, aus Ressentiments. Man steht wie vor einer Wand, gegen die man redet, ohne gehört zu werden.
Hier war die Denkungsart wesentlicher als der besondere Inhalt. Es ist gewiß ein ungeheurer moralischer Unterschied, ob der Inhalt ist: »Deutschland erwache, Juda verrecke«, »Volk ans Gewehr« (mit der Vorstellung von einem erst Europa und dann die Welt beherrschenden deutschen Reich), oder ob er ist: »Gegen den Atomtod«, »Friede um jeden Preis« (mit der Vorstellung von Rettung im Weltverhängnis durch eigene Gewaltlosigkeit). Wenn wir aber an Wahrheit und Freiheit als Voraussetzungen des Friedens denken, erschreckt uns noch mehr als jeder Inhalt diese Denkungsart, die stärker ist als der Inhalt, sei dieser eine menschenfeindliche Lüge oder eine noch gutgemeinte Verschleierung der Wahrheit. Der Inhalt ist austauschbar. Die Unwahrheit der Denkungsart bleibt dieselbe.
In der gesamten politisch freien Welt ist Unwahrheit unsere größte Gefahr. Wir dürfen nicht behaupten, daß die sogenannte freie Welt heute wirklich frei sei. Sie hat vor der totalen Herrschaft nur den Vorzug dieser Chance, frei zu werden. Sie wird nur bestehen bleiben, wenn sie diese Chance mit ganzem Ernst ergreift. Die Idee der Demokratie - der republikanischen Regierungsart - droht verlorenzugehen in einer formal werdenden Demokratie, die zu einem Mittel von Manipulationen von Politikern und Wirtschaftsinteressenten entartet.
Wir dürfen auch nicht behaupten, daß der Wirtschaftszustand der freien Welt in Ordnung sei. Die moderne Wirtschaft, die ihrer Herkunft nach expansiv ist, muß sich in ihrer Struktur und ihrem Ethos von Grund aus wandeln, wenn die Expansion an der Enge der endgültig verteilten Erde ein Ende gefunden hat.
Das scheint vielen ein unlösbares Problem. Etwa: Vorübergehende Aushilfsmittel, zum Beispiel durch finanztechnische Operationen, durch teilweise Planungen, durch staatliche Ankurbelungen, durch den Umfang der Abzahlungsgeschäfte usw., werden das Unheil dieser Wirtschaft nur hinauszögern. Der Marxismus erwartet Arbeitslosigkeit und Hunger, bei denen nichts übrigbleibt als die totale, terroristische Planwirtschaft. Gegen diese Erwartung hilft nicht die Unwahrheit des gedankenlosen Optimismus, es werde mit der Expansion in grenzenlosem Fortschritt schon weitergehen.
Im Gang der Dinge selbst entsteht indessen durch Verschleierung eine Grundunwahrheit. Die Expansion wird ersetzt durch Arbeitsbeschaffung mittels Zerstörung, das heißt durch Steigerung der Konsumtion bis zur Vernichtung jedes Bleibenden. Der Prozeß von Produzieren und Konsumieren, selbständig geworden, baut nicht mehr eine Welt, in der der Mensch zu Hause ist, läßt keine Dauer haltbarer Güter zu. Nach völliger Zerstörung, 1945, konnte dieser Prozeß durch Arbeitswillen und Tüchtigkeit eines Volkes schnell und wirkungskräftig wiederhergestellt werden, als ob nichts geschehen wäre.
Voraussetzung dieses Treibens wird ein Menschentypus, dessen Dasein sich verzehren läßt in diesem quantitativ zu steigernden Produzieren und Konsumieren, in einem Leben zwischen der träger werdenden Arbeitslust und der leerer werdenden Freizeit, mit einem Selbstbewußtsein, das auf dem Prestige beruht, durch Anschaffungen und ständige Neuanschaffungen auf möglichst hoher Ebene dieses ständig zerstörenden Produktionsprozesses mitzuleben. Daher der Anspruch auf Radio, Fernsehapparat, Auto, Reisen, elegante Kleidung, gesellschaftlichen Betrieb, luxuriöse Wohnung usw. Und alles muß sich, aus einem ruhelosen Drang zum Neuesten, dem Produktionsbedürfnis der Industrie entgegenkommend, schnell ändern.
Da nichts Bleibendes ist, gehört die ständige Inflation zu dem bodenlosen, weder Wirklichkeit noch Wahrheit findenden Prozeß selber, der auch nichts Wertbeständiges braucht, vielmehr es nicht erträgt.
Die Analysen der entartenden Demokratie und des Wirtschaftsprozesses in der freien Welt werden von einsichtigen Schriftstellern heute vollzogen, um an unsere Wahrhaftigkeit zu appellieren und die Gegenkräfte in unserer Freiheit wachzurufen.
Wir Deutsche insbesondere haben unsere Wahrhaftigkeit als Voraussetzung des Friedens zu gewinnen. In der Bundesrepublik haben die Arbeitskraft und Tüchtigkeit der deutschen Unternehmer, Angestellten und Arbeiter die verantwortungsbewußte Sachlichkeit der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Erhard, Schäffer, Vocke nach der totalen Katastrophe das Erstaunlichste ermöglicht. Unbeirrbar ist die Außenpolitik des Bundeskanzlers, der die relative Souveränität der Bundesrepublik erreichte, bedingungslos dem Abendland verbunden. Das deutsche Wirtschaftswunder und die Errichtung des neuen Staats sollen nicht durch Nörgeleien verkleinert werden.
Aber: Leistung allein genügt nicht. Die Hauptsache ist damit noch gar nicht geschafft. Der Stolz auf die Leistung trügt. Er darf nicht ablenken vom Wesentlichen.
Aus der Anstrengung des Arbeitsbetriebes und aus der Vergessenheit zur Besinnung kommend, fragen daher Deutsche: Woher unser Ungenügen im Gefühl von Unwahrheit im Grunde? Was fehlt? Was wurde versäumt?
Ich weise auf Versäumnis an Wahrheit hin, an Beispielen, in der Kürze durch bloße Behauptungen, die ich als Fragen zu verstehen bitte:
1. Die politische Erziehung ist noch kaum in Gang gekommen und scheint in der Propaganda zu den Wahlterminen vollends verloren. Die Idee der Demokratie verlangt die Fühlung der Staatsmänner mit dem Volke. Ohne das ist Demokratie nur als parteiliche Vorbereitung und als Manipulation der Abstimmungen da. Einem freien Volke aber liegen gemeinsam mit den Regierenden die Leitbilder und die Vorstellungen und Ideen offen. Diese sind gedanklich ausgeprägt und haben Bestand durch die eingeübte Denkungsart und die ständig bewegte Teilnahme der Bevölkerung an den Entschlüssen.
2. Wahrhaftigkeit verlangt das gemeinsame Grundwissen von der Herkunft unserer Lage aus dem Wilhelminischen Deutschland, über dessen Sturz zur Demokratie des Kollapses und zum Nationalsozialismus. Nur durch bewußte Umkehr der politischen Denkungsart können wir unsere Freiheit gewinnen. Bloße Naturwesen vergessen und fangen von vorn an. Wir aber sind Menschen und werden nimmermehr wahrhaftig, wenn wir nicht vor Augen haben, was getan wurde.
Heute gibt es junge Deutsche, die sich beklagen: In der Schule höre die Geschichte mit dem Ersten Weltkrieg auf. Sie zweifeln an der Redlichkeit der Erwachsenen. Schon der Jugend aber müsse gezeigt werden, was geschehen ist und daß wir Menschen die Folgen der Handlungen unserer Eltern und Voreltern im Guten wie im Schlimmen übernehmen müssen. Eltern dürften ihre Kinder nicht bewahren wollen vor schrecklichen Kenntnissen. Vergessen verhindert mit der Wahrheit die politische Erziehung.
3. Wir sind dieselben Deutschen im Westen wie im Osten. Unsere politische Freiheit ist nicht unser Verdienst, die Unfreiheit im Osten ist nicht Schuld der Deutschen dort. Uns hier ist die Freiheit vom Sieger geschenkt, den Deutschen dort die totale Herrschaft aufoktroyiert. Beide Regime haben ihren Grund im Willen der Besatzungsmächte.
Im Westen ist uns durch den Willen der Sieger die Chance gewährt, eine Demokratie zu werden. Unsere Demokratie ist nicht geboren aus der hochgemuten Gesinnung eines Befreiungskampfes, sondern uns verordnet, als wir ein Haufen überlebender Deutscher waren.
Wissen wir schon, was Freiheit ist? Einige Europäer haben in opfervollen Kämpfen die politische Freiheit hervorgebracht. Daher nannte Kant die Ereignisse in Holland und der Schweiz, in England und Amerika die wichtigsten Ereignisse der neueren Geschichte. Deren politische Folgen genießen wir heute. Aber nur wenn wir wissen, daß wir die Demokratie bisher allein als Verfassungsform äußerlich, noch keineswegs als Wirklichkeit der demokratischen Idee innerlich in unseren Herzen und Köpfen haben, ist die Möglichkeit da, daß wir Demokraten werden.
4. Wo die neue politische Konzeption noch ausbleibt, da herrschen zum Ersatz der Vergangenheit entnommene Fiktionen.
Wir hatten ein preußisches Kleindeutschland, den Bismarckstaat, der sich unwahrhaftig als das zweite Reich auf das erste mittelalterliche Reich bezog. Dieser Staat, fälschlich mit dem Titel »Reich« versehen, brachte uns weder politische Freiheit noch politische Erziehung, aber eine staunenerregende wirtschaftliche Blüte durch führende Teilnahme an der technischen Entwicklung des Zeitalters, eine apolitische herrliche Liberalität des Lebens, eine großartige wissenschaftliche Entfaltung, eine epigonenhafte Bildung. Es liegt ein Glanz über diesem Staat, dessen Täuschung Nietzsche und andere einzelne früh erkannten, zuletzt Theodor Mommsen in seinem ergreifenden Testament mit Bitterkeit aussprach.
Heute unter neuen Weltmächten in völlig verwandelter Weltlage ist der Bismarckstaat ganz und gar Vergangenheit. Wenn wir leben, als ob er noch einmal wieder wirklich werden könnte, lassen wir Gespenster das Blut der Gegenwart trinken und uns verhindern, die realen Gefahren und die großen Möglichkeiten der Zukunft zu begreifen.
Daß das Rassenbewußtsein der Farbigen gegen die Weißen in wenigen Jahrzehnten oder schon früher das Abendland vor die Frage stellt, sich als Ganzes solidarisch zu behaupten oder verschlungen zu werden, macht unseren politischen Nationalismus verderblich. Gewicht hat allein die dringend ersehnte Konföderation der abendländischen Staaten, ob groß oder klein. Alle sind als einzelne klein.
5. Unsere zwei großen Parteien in der Bundesrepublik haben beide einen politisch unwahrhaftigen Grund. Die eine gründet sich auf den von ihr faktisch preisgegebenen Marxismus und gerät dadurch in die Konfusion ihres Denkens. Die andere Partei nennt sich christlich, während sich doch eine politische Partei auf den biblischen Glauben nicht redlich gründen läßt; das bringt in diese Partei etwas existentiell Verwirrtes.
Mit der politischen Selbsterziehung würden die großen Parteien aufhören, Weltanschauungsparteien zu sein. Sie würden auf dem gemeinsamen Boden des Staats republikanischer Regierungsart stehen und das politische Gewissen für die gemeinsamen Bedingungen der Freiheit haben. Der Kampf würde durch politische Argumente stattfinden und durch die Glaubwürdigkeit der politischen Persönlichkeiten. So würde das Volk nicht mehr düpiert. Aufhören würde das Ungenügen an den Parteien, die durch eine winzige Schicht von Parteipolitikern die Regierung des Landes fast wie ein Fremdkörper an sich genommen haben. Bei den Wahlen verschwände das Gefühl des Zwangs, zwischen zwei Übeln unwillig wählen zu müssen. Die Oppositionspartei würde ein mitwirkender Faktor eigener Verantwortung. Von beiden Seiten würden die politischen Probleme aus der Sache entwickelt, nicht wahltaktisch konstruiert.
Welch große Aussicht, wenn auf der einen Seite eine Sozialdemokratie, befreit vom Dogma einer marxistischen Weltanschauung, in klarer Vorstellung der Weltlage, die Außenpolitik Adenauers zu der ihren machte, die Wirtschaftspolitik, die das Wirtschaftswunder ermöglichte, in den Grundzügen akzeptierte, und nun mit dem ganzen Ernst sozialer Gerechtigkeit für die Solidarität des Operierens aller Glieder der Arbeit, nicht für einen Kampf von nicht mehr existierenden Klassen sich einsetzte!
Und wenn auf der anderen Seite die konservative Partei, befreit von restaurativen Äußerlichkeiten, befreit von der unter konfessionellen Prinzipien unter Ausfall der freien Geistigkeit erfolgenden Ämterpatronage, die sozialistischen Prinzipien ihrerseits in den auf konkrete soziale Gerechtigkeit zielenden Grundzügen akzeptierte, aber nun mit dem ganzen Ernst die geistige Überlieferung hütete, sie selber durch die Wirklichkeit ihrer Menschen bezeugt, und wenn sie dem gesamten Volk überzeugend fühlbar machte, daß ohne diese Überlieferung auf dem Grunde der griechisch-römischen Antike und der Bibel die Substanz unseres Wesens verlorengehe!
Ich muß aufhören mit diesen Beispielen als Hinweisen auf Punkte, an denen die Wahrheit nicht einfach, sondern Aufgabe redlicher Besinnung, nicht gleichgültig, sondern folgenreich ist. Ich muß verzichten auf die Fragen größter Sorge, deren praktische Beantwortung über das innere Schicksal unseres Volkes entscheidet, die Frage der Erziehung von der Volksschule bis zur Universität, und die Frage der Wehrmacht. Immer gilt das gleiche: daß wir in allem wahrhaftig werden bis in den Grund ist Vorbedingung, daß überhaupt Friede wird, soweit dieser an uns liegt.
Im ganzen für uns Deutsche: noch haben wir nicht den Boden gemeinsamen Vorstellens und Wollens. Können wir die Wahrheit unseres Selbstbewußtseins wiederfinden aus dem Anspruch der von uns gewählten Ahnen, die wir unterscheiden von denen, die uns verführten?
Auf dem Gebiete des mittelalterlichen Reiches mit den deutschsprachigen Dialekten und der deutschen Schriftsprache gibt es heute Österreich, die Bundesrepublik, die Deutsche Demokratische Republik, gibt es Holland und die Schweiz, die nebst Österreich durch ihren Willen und durch glückliche Fügung nicht in das preußische Kleindeutschland einbezogen waren. Die deutsche Substanz hat sich politisch in vielen Gestalten gezeigt.
Das apolitische, tiefere deutsche Selbstbewußtsein kann mit dem politischen Bewußtsein eines einzelnen deutschen Staates nicht identisch werden. Unser deutsches Selbstbewußtsein kann wegen des diskontinuierlichen deutschen Ganges von Katastrophe zu Katastrophe sich nicht an einem Staat und seiner Geschichte aufrichten, wie einst das römische und in neueren Zeiten das englische Selbstbewußtsein und wie Teile des mittelalterlichen deutschen Gebietes in den großen historischen Kontinuitäten Hollands und der Schweiz. Es ist vor allem nicht zu binden an den ephemeren, weder geistig noch sittlich-politisch begründeten, vielmehr damals von Historikern mit unredlichen Anschauungen bekleideten Bismarckstaat.
Die Neugründung unseres uralten deutschen Selbstbewußtseins liegt in der Gemeinschaft vorpolitischer Substanz, in der Sprache, im Geist, in der Heimat. Aus dieser Substanz entspringt die je besondere staatliche Aufgabe, heute auch in der Bundesrepublik.
Vielleicht liegt die Zukunft in einer der nationalstaatlichen wesensfremden Gestaltung: Das Selbstbewußtsein der Völker überhaupt würde apolitisch. Das politische Selbstbewußtsein des einzelnen Bürgers dagegen bezöge sich allein auf den Staat, seine Verfassung, seine Verläßlichkeit für die Freiheit durch republikanische Regierungsart. Staatsangehörigkeit ist eine politische Qualität und politische Verantwortung, die Volkszugehörigkeit aber nicht. Völker würden dann noch mehr als heute und bewußter durch die Welt verbreitet, nur je an einer Stelle konzentriert leben. Die Staaten sind territorial gebunden, die Völker nicht. Überall wird es Engländer, Chinesen, Deutsche, Juden usw. geben. Und im Laufe von Generationen können selbst Völker durch einzelne ihrer Glieder sich ineinander verwandeln.
Das bisherige Ausbleiben eines verbindenden apolitischen Selbstbewußtseins und daneben als etwas anderes eines politischen Staatsbewußtseins ist unser deutscher Schmerz. Wo Deutsche in optimistischen Fiktionen leben oder in dumpfer Angst oder in der gedankenlosen Ruhe eines materiell sich scheinbar stets verbessernden Daseins, da ist kein Ansatz für deutsches Selbstbewußtsein und für staatliches Verantwortungsbewußtsein. Solcher Ansatz liegt noch eher in der deutschen Verzweiflung, die sich so verquer äußert, im Zorn und im grimmigen Lachen, die die Liebe verbergen, weil der Gegenstand der Liebe, den sie doch in sich tragen, verloren scheint.
In einem deutschen Selbstbewußtsein aus unserem geschichtlichen Grunde mindestens eines Jahrtausends, nicht nur des letzten, so sehr in Frage zu stellenden Jahrhunderts, würde die Wahrhaftigkeit, soweit sie an uns liegt, ihren Boden finden.
Alle vorgetragenen Aspekte von Unwahrhaftigkeit unseres Zustandes waren nur Hinweise, auf welchen Wegen unter anderen, fragend, versuchend, wir zur Wahrheit gelangen können, die Bedingung unserer Fähigkeit zum Frieden ist.
Wir Schriftsteller arbeiten an der Denkungsart. Diese kann konkrete Entscheidungen vorbereiten, die Entscheidungen selber aber sind Handlungen. Der Schriftsteller erhebt zwar den Anspruch der Wahrheit, aber, da er nicht handelt, wirkt er unverbindlich. Wenn die großen Journalisten durch ihr Denken der Meinungsbildung des Tages Ausdruck geben oder sie erzeugen, so geben die Schriftsteller, die sich der geistig-politischen Situation der Zeit zuwenden, nicht einmal konkreten Rat. Man schilt sie darum.
Aber der Schriftsteller erstrebt anderes und mehr: Er arbeitet an den Vorstellungen, Motiven, Leitbildern, an der gemeinsamen geistigen Welt. Wohl mag er wie in einen leeren Raum sprechen, in dem der Sturm sein Wort verweht schon im Augenblick, wo es gesprochen wird, ohne Widerhall. Wenn er darunter nicht leidet, ist es ihm nicht ernst. Wenn er es nicht erträgt, ist er Schriftsteller nicht durch die einzige Legitimation, die er kennt: seine Gewißheit, daß gesagt werden solle, was er sagen will.
Täglich überfallen ihn die entmutigenden Urteile:
Es gibt Skeptiker, die zu wissen meinen, daß nichts wahr ist. Sie halten sich für Realisten. Sie sind Pessimisten, die am Ende nur Unheil und Zufall sehen und alles, was darüber hinaus gedacht wird, für Utopie halten. Es gibt die These: Die Menschen sind nun einmal so, sie waren immer so, sie können nicht anders werden.
Diese entmutigenden Behauptungen sind unbeweisbar, aber auch unwiderlegbar. Es ist Sache des Entschlusses, nicht Sache der Verstandeserkenntnis, woraufhin man leben wolle.
Wer Vernunft will und erwartet, kennt nicht weniger als die Skeptiker, Realisten, Pessimisten den Strom der Lüge in der Welt. Aber er erfährt auch, daß irgendwann Vernunft ihm entgegenkommt, wenn er selbst vernünftig wird.
Niemand weiß, was die Welt im Ganzen ist, wohin sie geht. Die Reinheit dieses Nichtwissens ermöglicht erst, was wir Wahrheit nennen oder Vernunft oder Gottesdienst.
Daß wir auf dem Weg zur Wahrheit sein können, genügt, um Mut zu gewinnen durch den Zusammenhang, von dem wir ausgingen: Friede ist nur durch Freiheit, Freiheit nur durch Wahrheit möglich. Daher ist die Unwahrheit das eigentlich Böse, jeden Frieden Vernichtende: die Unwahrheit von der Verschleierung bis zur blinden Lässigkeit, von der Lüge bis zur inneren Verlogenheit, von der Gedankenlosigkeit bis zum doktrinären Wahrheitsfanatismus, von der Unwahrhaftigkeit des einzelnen bis zur Unwahrhaftigkeit des öffentlichen Zustandes.
Das letzte Wort bleibt: Die Voraussetzung des Friedens ist die Mitverantwortung eines jeden durch die Weise seines Lebens in Wahrheit und Freiheit; die Frage des Friedens ist nicht zuerst eine Frage an die Welt, sondern für jeden an sich selbst.
Wie können wir Deutsche an unserem Ort durch uns selbst für den Frieden der Welt wirken? Das Politische ernst nehmen als das Schicksal, an dem jeder, durch Tun oder Nichttun, mitwirkt! Im Politischen aber die Wahrhaftigkeit uneingeschränkt erstreben und erkämpfen! Wahrheit kann uns den inneren Frieden bringen. Sie kann uns in den bevorstehenden Prüfungen die Pflichten und Rechte unserer winzigen Machtstellung zeigen. Sie kann es verwehren, uns schuldig werden zu lassen an neuen Katastrophen. Sie allein wird uns ermöglichen, im kommenden Gang der Menschheit uns als das zu behaupten, wodurch wir uns und der Welt zur Freude da waren und da sein können.
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Karl Jaspers
Dankesrede des Preisträgers
Chronik des Jahres 1958
+ + + Im Libanon eskalieren 1958 die Spannungen zwischen dem christlichen (etwa 52 Prozent) und dem muslimischen (etwa 48 Prozent) Bevölkerungsteil des Landes, ein Bürgerkrieg bricht aus. + + + Ende März beschließt der Bundestag die Ausstattung der Bundeswehr mit Atomwaffen im Rahmen der NATO, sollte es nicht zu einer allgemeinen Abrüstungsvereinbarung kommen. In mehreren Städten finden Massenkundgebungen gegen die Ausrüstung der Bundeswehr mit Kernwaffen statt. + + +
+ + + Bei der Verabschiedung des Haushalts im Juli durch den Bundestag ist der Verteidigungsetat erstmals der größte Posten. + + + Die Erklärung der Unabhängigkeit der Republik Guinea ist der Beginn der Auflösung Französisch-Westafrikas und leitet somit das Ende der Kolonialzeit in Afrika ein. + + + Der ungarische Politiker Imre Nagy wird Mitte Juni unter Bruch des ihm gegebenen Versprechens freien Geleits hingerichtet. Sein Tod löst weltweit Empörung aus. + + + Im November kündigt die Sowjetunion das Besatzungsstatut für Groß-Berlin auf und fordert eine entmilitarisierte Freie Stadt West-Berlin innerhalb von sechs Monaten. Im Fall der Nichterfüllung würden die sowjetischen Berlin-Rechte an die DDR übertragen werden. USA, Großbritannien und Frankreich protestieren gegen das Ultimatum: Das Statut der Stadt dürfe nur im Zusammenhang mit der Deutschlandfrage erörtert werden. + + + Der amerikanische Film Der große Diktator (1940), eine Parodie auf Adolf Hitler, wird Ende August erstmals in der Bundesrepublik gezeigt. + + + Der Literaturnobelpreis wird Boris Pasternak zugesprochen. Dessen einziger Roman Doktor Schiwago wird jedoch von der sowjetischen Regierung offiziell als »zu unpolitisch« kritisiert, weshalb er den Preis zurückweisen muss. + + +
Biographie Karl Jaspers
Der am 23. Februar 1883 in Oldenburg geborene Karl Jaspers lehrt nach seinem Medizin- und Jurastudium an der Heidelberger Universität zunächst Psychiatrie, dann Philosophie. Die Nationalsozialisten verhängen ein Lehrverbot gegen ihn, da er es ablehnt, sich von seiner jüdischen Frau zu trennen.
Gleich nach Kriegsende liest er in Heidelberg über die geistige Situation in Deutschland, ein Thema, das er schon 1931 behandelte. Er engagiert sich als politischer Denker, wobei er sich mit der Frage der deutschen Schuld auseinandersetzt und die Doktrin der atomaren Abschreckung kritisiert. Auch die Bedrohung der menschlichen Freiheit durch die moderne Wissenschaft und durch politische Institutionen wird in seinen Werken ausführlich thematisiert.
1948 entschließt er sich, einem Ruf nach Basel auf den Lehrstuhl für Philosophie zu folgen. Besonders in den 60er Jahren erhebt Jaspers wiederholt seine politische Stimme und fordert eine radikale Umkehr zur Wahrheit und zum Ernst persönlicher Verantwortung. Er stellt die Wiedervereinigungsforderungen infrage, lehnt eine Verjährung der NS-Gewalttaten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Menschheit ab und kritisiert die zwischen Ost- und Westdeutschland herrschende Unfähigkeit zum Dialog.
Jaspers gilt als wichtigster Vertreter der Existenzphilosophie und beeinflusst mit seinen Werken die moderne Theologie, Psychiatrie und Philosophie. Er sucht nach einem neuem Ansatz des Denkens, das in eine Sackgasse geraten sei – nach einer Lehre, die dem Menschen und seinen Bedürfnissen gerechter werde als die herrschenden Erkenntnistheorien.
Karls Jaspers stirbt am 26. Februar 1969 im Alter von 86 Jahren.
Auszeichnungen
1959 Erasmuspreis
1958 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
1947 Goethepreis der Stadt Frankfurt
Bibliographie
Wohin treibt die Bundesrepublik
1966
Aus dem Ursprung denkende Metaphysiker
1966
Hoffnung und Sorge
1965
Die maßgebenden Menschen. Sokrates - Buddha - Konfuzius - Jesus
1964
Nikolaus Cusanus
1964
Kleine Schule des philosophischen Denkens
1964
Lebensfragen der deutschen Politik
1963
Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung
1962
Die Idee der Universität
1961
Freiheit und Wiedervereinigung
1961
Die Atombombe und die Zukunft des Menschen
1958
Die großen Philosophen
1956
Schelling, Größe und Verhängnis
1955
Wesen und Kritik der Psychotherapie
1957
Die Frage der Entmythologisierung
1954
Lionardo als Philosoph
1953
Über das Tragische
1952
Rechenschaft und Ausblick.Reden und Aufsätze
1951
Vernunft und Widervernunft in unserer Zeit
1950
Einführung in die Philosophie
1950
Vom Ursprung und Ziel der Geschichte
1949
Der philosophische Glaube
1948
Von der Wahrheit
1948
Vom europäischen Geist
1946
Die Schuldfrage
1946
Nietzsche und das Christentum
1946
Existenzphilosophie
1938
Descartes und die Philosophie
1937
Nitzsche: Einführung in das Verständnis seines Philosophierens
1936
Vernunft und Existenz
1935
Philosophie
1937, Bd 1: Philosophische Weltorientierung. Bd 2: Existenzerhaltung, Bd 3: Metaphysik
Max Weber, Politiker, Forscher, Philosoph
1932
Die geistige Situation der Zeit
1931
Die Idee der Universität
1923
Strindberg und van Gogh
1922
Psychologie der Weltanschauungen
1919
Allgemeine Psychopathologie
1913