Benno Reifenberg
Auf den Preisträger 1959
Laudatio auf Theodor Heuss
Der Preis des Friedens, der schöne Preis der Tat und der beständigen Gesinnung, er wird heute dem Mann zuerkannt, der während eines Jahrzehnts als der beste Anwalt der deutschen Sache das Wort hat nehmen dürfen. Er vereinigt in sich den Schriftsteller, den politischen Lehrer, den Parlamentarier, den Staatsmann. Theodor Heuss hat in die Bundespräsidentschaft seine Gaben eingebracht, die Fügungen seines Daseins, Hoffnung, Erkenntnis, Ernst und stete Zuversicht. Als er die höchste Würde übernahm, wurde dem Volk die Person sichtbar und bald vertraut. Indem er so sich selbst vervollkommnete, erfüllte sich der Sinn des Amtes. Das Amt erschien notwendig, als Dach des Gemeinwesens, von woher die entscheidende staatliche Rechtfertigung ausstrahlen muß: die Autorität.
Der Preis gilt der Leistung eines ganzen Lebens.
Zuweilen konnte der Redner Heuss sich unterbrechen. Er schaltete den für ihn kennzeichnenden Satz ein: »Und nun spricht nicht der Bundespräsident, sondern Theodor Heuss.« Er sagte auch »der Theodor Heuss« oder schlechthin »der Heuss«. Das ist die schwäbische Objektivität gegen sich selbst. Jedenfalls wollte er so das Subjektive der vorgebrachten Meinung unterstreichen, vor allem wollte er sein persönliches Urteil nicht durch das geliehene Ansehen des Amtes gewichtiger machen. Solche Unterscheidung hatte etwas Launiges, war aber wohlbedacht: Er, dem das Pathetische fernlag und fernliegt, dem jedoch die Sicherheit für Form nie versagt, er spürte genau die Grenze, wo hinter einer individuellen Freiheit sich die res severa öffnet, die ernste Sache des Amtes und seiner die Allgemeinheit bindenden Aussage. Das Erstaunliche blieb, wie er beide Bereiche, indem er sie zu trennen verstand, in der Einheit seiner Person vereinigen konnte. Darin lag das Vollkommene der Amtsführung: Niemals widersprach eine Heuss'sche private Äußerung dem Geist seines Amtes, niemals wirkte bei ihm das Amt als eine Fessel. Sein Nachfolger wird das Beispielhafte des ersten Bundespräsidenten durchaus nicht als Zwang, sondern als Wohltat erfahren: daß dieses höchste Amt die Freiheit der Person voraussetzt.
In gewissem Sinn darf Theodor Heuss die Zeit der Bundespräsidentschaft als ein weiteres Kapitel seiner Vita mit zwar großartigen Ausblicken betrachten, aber doch als eben ein anderes Durchgangsstück der Lebensreise. Er brachte das Stück hinter sich so natürlich und ruhevoll, wie er es einst betreten hatte. Und wahrlich, wie er als Bundespräsident in diesen Reihen bei diesen bedeutenden Anlässen anwesend war, so finden wir ihn heute unter uns, keineswegs als einen vom Gipfel Zurückkehrenden, sondern als diese bestimmte Person, die erinnernd den Blick nach vorne richtet. Er wird reden als der Unverwechselbare, der er ist seit je: Theodor Heuss.
Dennoch: nachdem nun dieses Dezennium der Bundespräsidentschaft abgelaufen ist, worin es ihm vergönnt war, mit Leib, Seele, Geist das Staatsoberhaupt greifbar zu machen, muß Theodor Heuss sich dareinfinden, daß jetzt und später, daß vor der Geschichte mit seinem Namen auch das Amt, dem er Leben eingehaucht hat, aufgerufen sein wird. Er hat dem Amt den Herzton gegeben. Das Ansehen der Person hat sich in das Ansehen des Amtes verwandelt. Das gilt für alle unsere Landsleute und bedeutet Außerordentliches. Erinnern wir uns, daß eine Gruppierung der Parteien in Heuss den Parteiführer emporgehoben hat, daß er gegen einen energiereichen Mann, der die Hoffnung eines großen Teils unseres Volkes war, gewählt worden ist. Aber der erste telegraphische Glückwunsch kam von Kurt Schumacher, und es dauerte nicht lange, da war der Name Theodor Heuss ein Inbegriff der Bundesrepublik, für alle Schichten, für jedermann.
Das geschah in der zweiten Nachkriegsepoche unseres Landes, und solche Einmütigkeit war noch nie gesehen, seit wir uns der Republik, und das heißt heute unverrückbar der parlamentarischen Demokratie, verschrieben haben. Darum zieht der Name Theodor Heuss in die Geschichte ein. Er half den Staat formen. Hierin liegt das Geschenk seiner Gaben, seiner Beharrlichkeit, seiner Tugend. Das ist sein Verdienst. Das bleibt ein Glück unseres jungen Staatswesens.
Indem wir das Wort Glück für dieses unser Deutschland aussprechen, überfällt uns eine Scheu. Wir müssen uns daran erinnern, daß die Zeit nicht so weit zurückliegt, wo wir gezweifelt haben, ob denn mit deutscher Zunge um Teilhaberschaft am Glück gebeten werden konnte. Wir vermögen nicht zu vergessen, was dieser Raum, in dem wir zu schöner, feierlicher Stunde zusammengekommen sind, uns einmal vor Augen geführt hat. Wir sahen das goldene Kreuz oben vom Turm kopflings nach unten hängen, als hätte eine zornige Hand der Kirche, der Stadt, dem Land, dem Volk das Zeichen heruntergeschlagen, als wäre nach solchen Taten, nach solchen Duldungen es nicht angemessen und nicht vergönnt, das Symbol aufzurichten, dessen Sinn wir allzu lange verschmäht hatten, uns zu Herzen zu nehmen. Wir vermögen nicht zu vergessen, wie in diesem ausgebrannten Saal nur die Säulen der Empore, jedes Schmuckes entkleidet, stumm im Kreise standen, als träumten sie in antiker Form um ein leeres Grab. Denn hier war ja nicht nur eine edle Hoffnung als eine Aufwallung vaterländischen Glaubens entschwunden, sondern die Stätte war doppelt leer und war unkenntlich geworden, platt geschlagen vom Marschtritt der Gewalt. Meine Generation hat mit ungläubigem Staunen und einem Gefühl des Unverdienten von sich feststellen dürfen, nach einigen Jahren der Betäubung: Man war nicht gänzlich zu Stein geworden. Denn auch nur der Ansatz einer echten Ordnung in den öffentlichen Dingen rührte uns, jede Regung von Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit und - sagen wir das Wort - jede erste Spur von Anstand griff ans Herz: es war erlaubt, wieder einer Vaterlandsliebe zu vertrauen, die mehr ist als Selbstlob.
Die große Menge, die nach so schlimmen Zeiten anzureden war, wenn eine Mitverantwortung des Volkes den Staat ins Leben rufen und lebendig erhalten sollte, das Volk also, das in diesem Punkt helles Ohr besitzt, hörte aus der Sprache, aus dem Tonfall des Bundespräsidenten Nüchternheit und Wirklichkeitssinn heraus, natürlich auch das Humorige, das Gesellige, Süddeutsche, entscheidend aber die Redlichkeit. Die Menge, menschlich angeredet, ist feinfühliger, fordert das Gute heißer, als man uns glauben machen will. Dieser Redner redete menschlich, er machte der Menge nichts vor, aber er verstand sie zu nehmen, und von ihm ließ sie sich das Wohlgefallen.
Heuss kannte die eigenen Möglichkeiten, seine parlamentarische Praxis war gewiß nicht zu schlagen, die Vorstellung des Politischen in den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, geistigen Zusammenhängen hatte er sich in vierzig Jahren erlebter Geschichte, in Kenntnis der Hauptfiguren, im Studium siebenmal sieben geläutert und gehärtet. Aber sollte er dieses Amt übernehmen? »Das unmittelbare Tätertum meines Lebens, wovon zu erzählen wäre, ist verhältnismäßig gering«, so heißt es im Vorwort seiner Jugenderinnerungen. Er wußte, was ein freier Beruf, dessen gefährdete Lage er wie kaum ein anderer kannte, bedeutet, und er war stolz darauf, ihm anzugehören. Er beschreibt einmal, wie er durch den Klosterhof von Maulbronn schlendert und wie man von den Lebensläufen erzählt, deren Anfänge dieser Hof umzäunt hat. Von Kepler und Hölderlin, von Schelling und auch von Friedrich Reinhard; der brachte es einmal zum Außenminister der französischen Republik, später war er Gesandter der Bourbonen am Frankfurter Bundestag, einst Vikar von Balingen, dann Pair von Frankreich. »Über solche Schicksale mag man träumen«, so notiert Heuss, als er vor fünfunddreißig Jahren zwischen den alten Mauern den Atem der Geschichte spürte. Man würde zögern, Heuss als ehrgeizig zu bezeichnen, aber er hatte Phantasie, und warum sollte der Einfallsreichtum der Geschichte nicht für ihn Besonderes im Schilde führen?
Als man ihn zum Bundespräsidenten wählte, war er bewegt, er gedachte seines Vaters, der ihn gelehrt hatte, was Demokratie und was Freiheit meint, und man ist geneigt, an Jean Jacques Rousseau zu denken, den beim Abschied von Hause der Vater umarmt und mit einer Erschütterung in der Stimme, die der Sohn nie vergessen konnte, ihm sagte: Jean Jacques, aime ton pays. Die deutsche Heimat, sie ließ sich nicht nur erdkundlich fassen, sie war Gedankensehnsucht und mußte erst Wirklichkeit werden. Dessen war Heuss gewiß und ist es zeitlebens geblieben. Auch heute, mitten im 20. Jahrhundert, wo manche Bewährungsproben uns noch bevorstehen. Es war da mehr zu schaffen als Einrichtungen, ja mehr als Gesetze und Methoden. Im Parlamentarischen Rat, der ja unsere Bundesrepublik aus der Taufe gehoben hat, war jede der Fragestellungen für Theodor Heuss seit langem durchstudiert und in der Weise des Liberalen nach allen Seiten verstanden und gewertet worden. Er hatte ja nicht umsonst den glühenden Gedanken seines Lehrmeisters verwirklichen helfen und in Berlin an der Hochschule für Politik gelehrt und in wieviel Diskussionen selbst gelernt, im Begreifen, im Ergreifen der Macht »das Vernünftige« zu erstreben. Aber es gab da noch etwas anderes, was tiefer lag. Als man nun die Bundesrepublik beschloß und dabei die von Weimar ein wenig von oben herab traktierte, da hat Heuss den Finger auf die Wunde gelegt und an einen »grandiosen Irrtum« der Weimarer Verfassung erinnert: »Sie glaubte nämlich ... an die Fairneß der Deutschen. Es kennzeichnet die sehr tragische Lage für unser Volk, daß wir für diesen Begriff Fairneß in Deutschland selber kein eigenes Wort besitzen. So geschah, daß der Entwicklungsweg der Demokratie von ... nationalistischer Romantik, von monarchistischer Restauration und dem elenden Verbrechen der Dolchstoßlegende begleitet wurde.«
Das war 1948, am 9. September gesagt, und Heuss hat es dabei bewenden lassen. Aber bei seiner Kenntnis unserer Geschichte hätte er noch mehr aufzählen können, was ihn zu jener Ermahnung veranlaßte: Letztlich war Friedrich Ebert von der Infamie der Dolchstoßlegende zu Tode gehetzt worden. Max Weber, der leidenschaftliche Geist, den die Besten nach 1918 zu Rate zogen, welche Folgerungen Deutschland aus seiner Niederlage zu gewinnen hätte, dieser moderne, unerschrockene Deutsche - von dem Karl Jaspers ganz einfach sagte »er war der größte Deutsche unseres Zeitalters«, Max Weber wurde von den Studenten in München in ihrem romantischen Nationalismus zum Verstummen gebracht; welchen Enttäuschungen war nicht Friedrich Naumann ausgesetzt gewesen; und, um noch tiefer ins Vergangene zu stoßen: wie verkannt ist Friedrich List im eigenen Vaterland geblieben, wie elend in den Selbstmord getrieben.
Es ist im Grunde staunenswert, daß ein Wissender wie Theodor Heuss nicht verzweifelt auf ein öffentliches Wirken in Deutschland verzichtet hat. Privates mag eine Rolle spielen: Seiner Person hat der Zuspruch und das Gedenken Friedrich Naumanns viel bedeutet, sein Weg ist ohne die Strecke, auf der Frau Elly Heuss-Knapp ihren Mann begleitete, nicht zu denken. Damals, im Parlamentarischen Rat, sagte er jedenfalls »gegenüber der Wirklichkeit sind wir illusionsloser geworden, meine Generation ist durch die Schule der Skepsis hindurchgegangen. Doch ein Stück Glauben für unseren Beruf müssen wir mitbringen, sonst verliert unser Handwerk von Beginn an die innere Würde.« Dem Amt des Bundespräsidenten waren in Weimar Entscheidungsfunktionen zugefallen - auf Max Webers und auf Friedrich Naumanns Raten, die ein Stück der monarchischen Verantwortung gegenüber dem Parlament errichtet wissen wollten. Heuss war sich darüber im klaren: vom Präsidenten der Bundesrepublik mußte eine andere Art von Autorität gewonnen werden. Er handelt nicht. Aber er denkt laut. Und damit trennt er Recht von Unrecht, nennt er die Sorgen beim Namen, ermutigt er berechtigte Hoffnungen. Im alten China gab es eine Einrichtung, wonach der legitime Herrscher die Begriffe richtigstellt. Seine, des Oberhauptes gedankliche Klärung genügte, um die Ordnung wieder herbeizurufen. Die Legitimation des Bundespräsidenten beruht auf der Vereinigung, um nicht zu sagen auf der Wahlverwandtschaft, die hier Amt und Person eingehen müssen. Vom Gesetz her, von den verfassungspolitischen Möglichkeiten her ist der Bundespräsident fast waffenlos, scheinbar nur Zierde. In Wahrheit ist der Einfluß des Bundespräsidenten genau so mächtig wie Verstand und Rechtlichkeit, die ihn beseelen. Es gibt über diesen Gegenstand der Kompetenz einen Briefwechsel, der nicht veröffentlicht wurde, der aber wohl einmal in unsere Verfassungsgeschichte eingehen wird.
Was es mit der Richtigstellung der Begriffe auf sich haben mag, wird einleuchten, sobald wir uns an Beispiele erinnern, wann Theodor Heuss diese Macht ausgeübt hat. Die Rede von Belsen hat unserem Gewissen erlaubt, mit sich ins reine zu kommen, sie bleibt epochemachend für unser Verhältnis zur jüngsten deutschen Geschichte, sie war schonungslos, und deshalb gab sie Trost. Zu Krieg und Schicksal, zu Unglück und Unmenschlichkeit wurden die Begriffe richtiggestellt, als am Buß- und Bettag 1957 der Bundespräsident, Gast des italienischen Staates, nicht nur den Kranz auf dem Friedhof der deutschen Soldaten vor den Toren Roms niederlegte, sondern nach eigenem Wunsch auch die ardeatinischen Grotten aufsuchte und schweigend vor dem Ort stand, wo dreihundertvierunddreißig Geiseln erschossen worden sind. Die Begriffe wurden richtiggestellt, als am 4. Oktober 1954 zum erstenmal das deutsche Staatsoberhaupt auf einem Gewerkschaftskongreß erschien und der Bundespräsident hier in Frankfurt seinen Zuhörern das Recht ihrer Organisation zum Schutz der »Ware Arbeit« bestätigte, zugleich aber ihnen schilderte, daß und warum das Wort »Proletariat« seinen Sinn verloren habe.
Die Beispiele ließen sich vermehren. Man wird dabei entdecken, daß in allen Äußerungen, die vom Amt des Bundespräsidenten verlauteten, eine Erkenntnis und eine Nutzanwendung verborgen lag, und daß sie auch nicht davor zurückschreckten, auf die Spannungen hinzuweisen, die sich nicht völlig auflösen lassen, etwa die von Macht und Recht. Theodor Heuss hat - und sehr verkehrtermaßen waren manche davon betroffen - im März dieses Jahres vor der Führungsakademie der Bundeswehr die Pflicht der Selbstverteidigung erläutert. Er trat für den Grundgedanken der demokratischen Wehrpflicht ein. Das hatte er schon im Parlamentarischen Rat getan und war sich darin treu geblieben. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte er sich dem radikalen Pazifismus versagt. Und wenn manche von uns damals, 1919, vermeinten, nun sei kein Grund mehr denkbar, um dessentwillen je wieder die Waffen in die Hand zu nehmen wären, so hat ein totalitäres Regime, das unsere Sprache sprach, den europäischen Nachbarn um Deutschland die Sklaverei aufzuerlegen gedacht und uns vor Augen geführt, daß es sehr wohl ein höchstes Gut gibt, daß sehr wohl die Freiheit den Einsatz des Lebens verlangen darf. Hier öffnet sich mehr als ein deutsches Dilemma, es ist das Dilemma der westlichen Welt überhaupt. Auch in diesen Tagen der sensationellen Begegnungen: die Freiheit muß bereit sein können, sich zu verteidigen.
Dem Erstaunen, das diese Rede hervorrief, mag Äußerliches zugrunde gelegen haben. Vielleicht haben manche das Zivile mit Hemdsärmeligkeit verwechselt und damit durchaus verkannt. Nun ist der Auftritt, die Gestik dieses Bundespräsidenten jedermann bald vertraut gewesen: die Freundlichkeit dieses Lächelns, dieses Zuhörenkönnen, das Wohlbehagen verschenkt. Alle kannten den sanft erhobenen Zeigefinger ernster oder launiger Belehrung, die auch der reizenden Gestalt einer Königin väterlich freundlich zuteil geworden ist. Andererseits konnte niemand leugnen, daß beim Abschreiten von Fronten das Gesicht des Herrn Bundespräsidenten wie ein Haus mit zugeklappten Läden wirkte; deutlich war zu erkennen, daß er da einen Akt der Pflichterfüllung ausführte, gemäß der alten Vorschrift »Mut bei allen Dienstobliegenheiten«. Dem elementaren Gefühl für das Lebendige, Bewegte muß der Ruf »Stillgestanden!« und das Erstarrte der Kader widersprochen, ja Unbehagen erweckt haben. In solchen Augenblicken konnte man meinen, der Bundespräsident würde am liebsten durch eine einfach natürliche Handbewegung die kommandierte Unbeweglichkeit auflösen. In diesem unbefangenen Draufzugehen, mit dem er so vielen geholfen hat, aus einer schwierigen Situation herauszufinden, steckt sein Hauptgestus. Er wurde überall verstanden, und auf ihn hat die Volkstümlichkeit geantwortet. Wie dringlich Heuss auch, in der Nachfolge Friedrich Naumanns, daran gelegen ist, der deutschen Politik von unten her durch Lehre und Schulung eine verständige, willensstarke, ja passionierte Generation heranzubilden, die Auswahl wäre nach der Begabung und nach dem Charakter zu treffen. An eine Elite ist nicht gedacht. Das ist nicht sein Wort, vermutlich würde es ihn irritieren. Er für seine Person ist da, wo er wirkt, auch zu Hause. Er fühlt sich wohler als Bürger einer freien Gesellschaft; wenn überhaupt, wäre das Vornehme dort zu suchen. Vielleicht regt sich so das süddeutsche Daseinsgefühl. Kein Hochmut, aber ein demokratisches Selbstbewußtsein ist überzeugt, da wo man mit den Landsleuten zusammensitzt und diskutiert, lebt man in der Freiheit der Gleichen.
Volkstümlichkeit, ein schönes Wort für eine gute Sache, hatte lange Zeit unser Mißtrauen erregt, es stand im Schatten der Volksverführung, und die Menge, die dem Rattenfänger nachhetzte, machte den alten Spruch zuschanden, daß Volksstimme Gottesstimme sei. Auch da hat das Erscheinen von Heuss den Begriff richtiggestellt. Man respektierte nicht nur das innere Recht des Staatsoberhauptes, sondern die seit langem so beschädigte Achtung vor dem weißen Haar wurde von den jungen Zuschauern und Zuhörern unmittelbar empfunden. Mehr noch: die große Menge vernahm mit Wohlgefallen, daß für sie ein Schriftsteller das oberste Amt innehatte. Ja, sie erlebte nicht ganz bewußt, doch deutlich, ohne Beschwer, aber mit einer gewissen Aufmerksamkeit, einen geistigen Menschen. Und die Menge verzeichnete mit Genugtuung: sie konnte ihn verstehe... Solche Wirkung war schon dem jungen Parteipolitiker zugefallen. Wenn er bei den Parteiveranstaltungen in der Heimat als Redner herangezogen wurde, galt er gleich als der »Professor«, womit weniger der akademische Grad gemeint war als eben das Gescheite an dem schlanken Herrn, von dem sich etwas lernen ließ. Das galt auch für die Berliner Zeiten, wo die junge Generation sich bei Heussens Vorträgen einstellte; selbst wenn sie ihm nicht folgte, spürte sie doch, bei ihm galt es, das Vernünftige zu durchdenken. Den jungen Leuten war das Untragische an ihm angenehm, die Schlagkraft, das Nüchterne, der Humor. Er lehrte Zusammenhänge verstehen: von wirtschaftlichen Sorgen, gesellschaftlichen Spannungen, menschlicher Qualität und von den - Gesundungsaussichten der Epoche. Mit der Erziehung zur Politik wurde Ernst gemacht: Selbstkritik war nicht Selbstzerstörung, sondern Weg zur Läuterung. Es war die boshafte Dummheit der Nationalsozialisten, Weimar unter anderem auch mit dem Betrug anzugreifen, das Intellektuelle ereigne sich nur auf Kosten des Gefühlsmäßigen. Am Ende war »intellektuell« ein Schimpfwort geworden, und das Gefühl, was dann übrigblieb, war blinde Wut. Wie ein Spuk liegen diese Verwirrungen hinter uns. Der Schriftsteller, der Journalist, das Staatsoberhaupt - er hat am Ende jedermann gelehrt, von der Rangordnung des Geistigen nicht mehr gering zu denken.
Selten ist es einem Schriftsteller in diesem Maß vergönnt gewesen, als Staatsmann zu verwirklichen, was ihm beim Schreiben am Herzen gelegen hatte. Er verfügte über Spürsinn für die Individualität, über eine durchdringende Kraft, Geschichte als Menschenwerk zu verstehen und die Leidenschaft für die Praxis im politischen Felde. Bis 1933 erstrebte er unmittelbar politische Wirkung, zumal von der Hochschule der Politik aus. Professor Rüstow hat daran erinnert, die erste Flugschrift von Theodor Heuss trug den Titel Kapp und Lüttwitz. Das Verbrechen gegen die Nation. Das war 1920. Die letzte, von 1932, trug den Titel Hitlers Weg. Danach verstand Heuss, noch drei Jahre Die Hilfe, die von Naumann gegründete, die Substanz der Epoche kommentierende Wochenschrift, vor den Augen der Massendirigenten durchzusteuern. Von 1938 bis 1943 schrieb Heuss Biographisches, nun von der Politik ins Breite der geistigen Bereiche gehend. Sein Buch Deutsche Gestalten galt der Mannigfaltigkeit der Geister, der Beharrlichkeit des Willens und den lauteren Charakteren. Inmitten der Niedergeschlagenheit, in die uns das innerdeutsche Verhängnis der dreißiger Jahre versinken ließ, erinnerten diese deutschen Gestalten an Humanität. Wir haben auf der Zeitung den Zugriff dieser glücklichen Hand bewundert. Viele halb vergessene Figuren ergaben vereint den kräftigen Aspekt des 19. Jahrhunderts als des großen Abenteuers der Menschheit. Der Journalist, von dem zu reden mir hier vielleicht erlaubt sein mag, kam in der Sicherheit zum Vorschein, wie in diesen Lebensläufen der schöpferische Augenblick erkannt worden ist, das punctum saliens, von wo aus der technische Scharfsinn eines Mergenthaler oder das kühne logische Denken eines Robert Mayer, oder die entschlossene Güte eines Bodelschwingh ans Licht trat und Wirkung wurde. Heuss hat selbst viele bedeutende Menschen erlebt und kraft seines Gedächtnisses behalten. Er ist ein großer Erinnerer. Vielleicht springt aus dem Erinnernkönnen das Bewegliche seines Schreibens, die Hauptquelle zu einer ganz eigentümlich vielfältigen Gegenwärtigkeit. Wo überall wäre Theodor Heuss nicht zu Hause? Daher rührt auch seine Fähigkeit des Unterhaltens: Mit einer Anekdote gibt er Farbe und Tonfall. An der Seite von Theodor Heuss lebt eine unglaubhaft große Schar von Figuren, er braucht sie nur anzurufen, und sie erscheinen auch uns, als hätten wir sie leibhaftig vor Augen. Dabei schreibt er eher nüchtern, aus dem innersten Bezirk verlautet fast nichts, aber man lese, wie das Ende von Friedrich List dargestellt wird, um zu wissen, wie stark der Autor mitempfindet. Er lernte Geschichte und Menschen nicht nur nach Glück und Unglück, sondern auch nach Verdienst und Schuld zu bewerten. Das gibt seinem Urteil Leuchtkraft. Das Nachdenkliche kann bei ihm in einem erlösenden Wort gipfeln, es überrascht, trifft - es ist wie ein Aufblicken.
Die große Biographie über Friedrich Naumann offenbart auf bewegende Weise die Verehrung für einen noblen Menschen, für seine Energie, der sich verändernden Welt einen neuen politischen Sinn zu entreißen. Ohne Friedrich Naumann, so sagte Heuss nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten, »wäre ich nicht, was ich bin. Naumann hat mich gelehrt, daß die soziale Sicherung die beste politische Sicherung ist.« Es war eine große Konzeption: aus Untertanen Bürger machen.
Niemand hat wie Heuss diesen mühevollen Aufstieg begleiten, mit Naumann die vermeintlichen Auswege und die Umkehrungen nachgehen können. Aus dem felsenfesten Vertrauen auf Friedrich Naumanns sittliche Macht erklärt sich die auf Theodor Heuss zurückgehende in diesem Jahr gegründete Stiftung, die den Namen seines Meisters trägt.
Es gibt keinen Glückwunsch, kein Telegramm des Beileids, keine noch so gelegentliche Äußerung von der Hand des Schriftstellers, die nicht für den besonderen Anlaß das besondere Wort fände und also das richtige. Das Wort erscheint rasch, und die Sprache ist der Intelligenz und dem Takt des Schreibenden gefügig. Hier entspringt die rednerische Begabung, die Theodor Heuss kennzeichnet: nicht seinen Zuhörern allein, sich selber sucht er den Kern der Sache darzulegen. Er gibt sich während des Sprechens Rechenschaft -, an welchem Punkt er angelangt ist, warum er diesen Punkt erwähnen mußte. Seine Reden wirken oft wie ein innerer Monolog, wie sie ja auch oft von der Frage unterbrochen werden: »Warum sage ich das?« Er fragt sich selbst, und die ihm zuhören, erleben mit ihm, wie erregend das Suchen nach dem Richtigen ist. Vielleicht liegt hier die Redlichkeit des liberalen Denkens verborgen, daß auch das Gegenargument bedacht sein will, daß man sich nicht mit dem einfachen Behaupten begnügen kann. Als Professor Einaudi, zum Präsidenten der Republik Italien gewählt, von seiner parlamentarischen Tätigkeit Abschied nehmen mußte, fiel ihm der Abschied schwer, denn nun würde er die reinste Freude des Geistes entbehren, von den Argumenten des Gesprächspartners eines Besseren belehrt zu werden, die Wohltat eines weiseren Mannes zu verspüren. Diese Moral, zu der das öffentliche Leben des Parlaments sich erheben kann, mag auch für Theodor Heuss gültig sein.
Die Essenz des Liberalen also beruht auf dem gemeinsamen Wahrheitfinden. Indem man die Zahlen der Partei aufrechnet, werden wir wohl verleitet, auf eine politische Schwäche des Liberalen zu schließen. Jedoch bedenkt man, wie das Recht, die Notwendigkeit der Diskussion heute fast niemand mehr abzustreiten wagt, dann werden wir in dieser liberalen Methode eher das Salz unseres parlamentarischen Lebens herausschmecken. Vielleicht erscheint diese Wertung zu optimistisch, denn waren nicht die Siege der Radikalen auf Unbedingtheit zurückzuführen? Freilich hat der Nationalsozialismus sich durch das Reden die Menge unterworfen wie nie zuvor eine Partei, aber man müßte genauer sagen: durch den Lautsprecher seiner ein und einzigen Rede. Sie diente dazu, der Menge das Denken abzugewöhnen und sie solcherart durch Monotonie zu erniedrigen. Die Wirkung einer Heuss'schen Rede erzielt das Bessere: sie behält immer die Menschen im Auge, aus denen schließlich die Masse zusammengesetzt ist; seine Rede respektiert die Masse, wie der Gärtner den Boden achtet, dem er das Saatgut anvertraut.
Auf bewundernswerte Weise, die heute in Deutschland kaum ihresgleichen hat, erfüllt sich bei ihm das Wort von der »freien Rede«. Sie ist wahrhaft »ansprechend«, sie räumt in schwierigen Bezirken ordnend auf, die Zuhörer erleben den Doppelsinn von »aufgeräumt«, es ist, als schauten sie in ein helles, aufgeräumtes Zimmer, und alsbald fühlen sie sich selbst »aufgeräumt«, das heißt, heiter. Ein Mann, der so zu sprechen weiß, vertraut sich seinen Hörern an, die ihm mit Vertrauen antworten. Es mag das schwierigste Thema angeschlagen sein - eine Rede von Heuss läßt ihn und seine Hörer beisammenrücken, jeder fühlt sich als Person geladen, als wäre man an einem Tisch, ja daheim, und es dürfte gar keine Zweifel geben, daß man sich bei gutem Willen verständigen und eins werden könne. Zuweilen, wenn ein Gedankengang zu Ende gebracht ist, senkt sich die Baßstimme, als sinne sie dem eben Gesprochenen nach, und jedermann spürt, da wäre vielleicht noch etwas anzufügen, um was aber jedermann selbst sich zu bemühen habe. Da waltet der gleiche Takt, der instinktiv und also zuverlässig arbeitet, Heuss ist in der Verurteilung einer Tat, eines Menschen entschieden. Aber sein Urteil triumphiert nicht, und es ist sprachlich auf kennzeichnende Weise zurückhaltend. Wenn er eine Sache scharf tadelt, spricht er davon, sie sei »wüst« gewesen; darf er wohlwollend für ein Ungeschick sein, ist zu hören, der und der Einfall sei »rührend«.
Folgerichtig gebraucht Heuss in seinen Reden die »Ich«-Form. Sein ungemeines Wissen vermittelt sich am liebsten nicht als Vortrag oder Vorlesung, sondern im lebendigen Gegenüber, bei dem der Redner das Wagnis auf sich nimmt, doch auch die Zuhörenden von der leisen Spannung erregt sind, wie es diesmal ausgehen werde. So wittert um den Mann, der aus dem Gewölk der Geschichte zu den überraschendsten Schattenbeschwörungen greifen kann, dennoch die Helle des Gegenwärtigen. Was ihn angeht, ist auch unsere Sache, nicht einen Augenblick würde er zu der heutigen und der herannahenden Generation einen Abstand entstehen lassen, etwa den der Altersweisheit, der sentimentalen Hinwendung zum Rückblicken.
Er hat einmal geschildert, wie oft er als Bub auf den Kiliansturm zu Heilbronn gestiegen sei, da oben zu singen begonnen habe, und wie verwundert er war, daß die Stimme echolos verhallte. Seitdem ist er weit gereist, er hat in seinem Skizzenbuch sich manche Ansicht der schönen Welt notiert, manchen Turm bestiegen und Fernsichten erlebt und auch auf der Stelle gestanden, von wo die vielen Schichten, die Höhen und die Tiefen Deutschlands sich gut überschauen lassen. Die aufmerksamen Augen sind ihm geblieben, heute kommt ihm, dem Mann, der für sein Teil die Eintracht, den Frieden im Innern mit wachen Sinnen gefördert und erhalten hat, der schöne Preis des Friedens zu. Als Echo, und ganz vernehmlich, lang anhaltend. Verehrter, lieber Theodor Heuss, der Klang Ihres Namens wird nicht verhallen in diesem unserm Vaterland.
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