Der Stiftungsrat für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wählt den Schrifsteller Reinhold Schneider zum Träger des Friedenspreises 1956. Die Verleihung findet während der Frankfurter Buchmesse am Sonntag, 23. September 1956, in der Paulskirche in Frankfurt am Main statt. Die Laudatio hält Werner Bergengruen.
Begründung der Jury
Reinhold Schneider, dem Dichter und Gelehrten, Künder und Mahner, der in seiner Deutung abendländischer Geschichte und Schicksale um eine neue sittliche Ordnung der Welt ringt und im Leben des Einzelnen wie dem der Völker aus seiner christlichen Haltung das Gewissen anruft, verleiht der Buchhandel in Deutschland für das Beispiel seines Lebens und seines Werkes den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Reden
Unabdingbar sieht Reinhold Schneider den Menschen in der Bestimmung, Gottes Wesen gewissermaßen stellvertretend nach Christi Vorbild in der Welt zu verwirklichen.
Arthur Georgi - Grußwort
Arthur Georgi
Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels
Grußwort
Bevor wir das Wort des Friedens sprechen, lassen Sie uns vor der Gewalt des Todes uns beugen und dessen gedenken, der Oberhaupt der Stadt Frankfurt war und Wiedererbauer und Herr dieses Hauses, selber ein tätiger Mensch des Friedens, der Güte und der rastlosen Arbeit an einer würdigen Gegenwart und Zukunft, für den das »inserviendo consumor« keine Forderung, sondern eine Erfüllung bedeutete, den wir schmerzlich vermissen, und der eine Lücke auch in diesem Kreis hinterläßt, vor der der Herzschlag stockt, und dessen Totenfeier voraus wir diese Feier abhalten, deren Bekenntnis auch sein Bekenntnis war, unseres Freundes, wie ich sagen darf, und unseres Schutzherrn: Walter Kolb.
Ich danke Ihnen, daß Sie sich im Gedenken an ihn erhoben haben.
Zugleich in seinem Namen, im Namen des Hausherrn, sowie im Namen des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels begrüße ich Sie, hochverehrter Herr Bundespräsident, Sie, sehr verehrter Herr Minister, die Vertreter der Bundes- und Landesregierung, der ausländischen Staaten, der Kirchen und der Verwaltung, die Vertreter der Stadt Frankfurt, an ihrer Spitze Sie, hochverehrter Herr Bürgermeister, und Sie alle, verehrte Gäste dieser Feier.
Der »Friedenspreis des Deutschen Buchhandels«, zunächst als private Stiftung eingesetzt und seit 1951 vom deutschen Buchhandel getragen, wird heute zum 6. Male verliehen. Er bedeutet die Ehrung einer besonderen Haltung zum Frieden, die in der Persönlichkeit und dem Werk eines Schriftstellers aufleuchtet und fruchtbar geworden ist. Er soll gleichzeitig als Bekenntnis dazu beitragen, Gewalt und Mißachtung der menschlichen Persönlichkeit, Mißverstehen und Zerwürfnis unter den Menschen und Völkern, Haß, Lüge und Mißbrauch der Macht und der Freiheit im Sinne einer menschenwürdigen Ordnung und eines Lebens in Werten des inneren und äußeren Friedens zu überwinden. Der »Friedenspreis des Deutschen Buchhandels« ist kein Literaturpreis, so hoch auch die künstlerische Leistung und Wirkung des Preisträgers sein mag. Er ist auch kein nationaler Preis. Für eine die gesamte menschliche Welt umfassende Idee wird er ohne Ansehen der Nationalität dem verliehen, dem diese Ehrung in besonderem Maße gebührt.
Über die Kreise des Buchhandels hinaus hat er als Bekenntnis dadurch besondere Kraft erhalten, daß es möglich geworden ist, uns alljährlich zu seiner Verleihung mit Ihnen hier zu vereinen und dem Bekenntnis damit einen so allgemeinen Charakter und die Strahlungskraft eines großen Festaktes zu geben. Mit meinem Gruß habe ich Ihnen hierfür namens des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels Dank zu sagen. Ihre Teilnahme vollzieht die Ehrung dort, wo ihr Sinn sich in seiner letzten Bestimmung zu erfüllen hat: in der Öffentlichkeit.
Und so lassen Sie mich Sie, hochverehrter Herr Reinhold Schneider, als den diesjährigen Träger des Friedenspreises an dieser ehrwürdigen Stätte der Paulskirche zugleich im Namen des Buchhandels wie seiner Gäste von Herzen und mit aller Wärme der Verehrung begrüßen.
»Jede Berufung ist ein Anruf, und jeder Anruf muß weitervermittelt werden« sagt Bernanos in dem unausweichbaren Gefühl seiner Bindung und seines Auftrages. Reinhold Schneiders Leben und Wirken ist Berufung durch Anruf in ihrer ursprünglichen, tiefsten Form. Seine Welt ist die der inneren Kräfte, der Seele, des Gemütes und des Geistes und ihrer Auseinandersetzung mit den Erscheinungen und Mächten der äußeren Welt. Beide durchdringen einander unablässig. Kein Leben und Geschehen ohne Anruf eines inneren Besitzes, ohne daß dieser mitwirkt und mitentscheidet, und umgekehrt keine innere Auseinandersetzung ohne Ausstrahlung und Wirkung nach außen in die Welt der Geschehnisse. Aus der Durchdringung beider, ihren Spannungen und Entscheidungen, fügt sich die Geschichte. Ihr innerer Raum in unserem abendländischen Kreis aber ist erfüllt von der geschichtlichen Existenz Christi und seiner Sendung. Unabdingbar sieht Reinhold Schneider den Menschen in der Bestimmung, Gottes Wesen gewissermaßen stellvertretend nach Christi Vorbild in der Welt zu verwirklichen. In der Sprache des Tages bedeutet das Verzicht auf Herrschsucht und Eigenmacht, Selbstentäußerung von Leidenschaft und Gewalt, Ehrfurcht vor der Schöpfung und allem, was zur Schöpfung gehört, und ein Sich-Einfügen in ihren Sinn und Gang, die weder Widerstreit noch Eigenwillen kennen, sondern nur die Vollendung zur Einheit durch Liebe.
Reinhold Schneider sieht aus seinem christlichen Gewissen qualvoll klar die Diskrepanz zwischen Forderung und Wirklichkeit und die für menschliche Kräfte fast unerfüllbare Größe der Aufgabe. Aber er verlangt unerbittlich den Willen zur Entscheidung, die Schärfung des Gewissens, den Wunsch, ja die Notwendigkeit des Bestehens, selbst um den Preis des Unterganges. Im Ausmaß der Verwirklichung liegt für ihn die Rechtfertigung der Existenz. Am einzelnen menschlichen Schicksal wie an dessen Verdichtung zur Geschichte verfolgt er dieses innere und äußere Ringen und den Weg, den die Welt in dieser Auseinandersetzung gegangen ist, und den sie gehen sollte, und er empfindet die Tragik der Verstrickung, die in der grundsätzlichen und täglichen Auseinandersetzung zwischen der menschlichen Natur und der über ihr stehenden Forderung, zwischen Macht und Gnade, liegt.
In einem weitumfassenden literarischen Werk, das im einzelnen auszudeuten und zu würdigen mir nicht zusteht, sichtet er immer neu den Kern seines Auftrages, den Menschen den Blick für ihr Verhalten frei und fest zu machen und sie in ihre Verantwortung zu stellen.
Auch wer sich von dem religiösen Kern der Bezogenheit Reinhold Schneiders nicht unmittelbar angerührt fühlt, wird ergriffen von der ihm innewohnenden sittlichen Kraft. So ist zu erklären, daß Reinhold Schneider als Denker und Mahner, Gelehrter und Dichter durch seinen Anruf der seelischen und ethischen Kräfte über seine unmittelbare Aussage hinaus allgemein symbolgebende Bedeutung und Wirkung gewonnen hat, und zwar nicht nur in besonders empfänglichen Zeiten äußerer und innerer Not aus überdeutlich gewordenen Gründen menschlichen Versagens, sondern zu jeder Stunde, und daß in Zeiten der Gewalt, wie sie erst jüngst hinter uns liegen, seine Bücher und Briefe und seine in primitiven Umdrucken kursierenden Gedichte sowie seine bis zum Erleiden kompromißlose Haltung und sein aufrichtend helfendes Wirken zu einer in alle Lebensbezirke hineingreifenden Kraft und Hoffnung wurden und zu einem Siegel menschlicher Gemeinsamkeit. Bücher wie »Das Inselreich«, »Las Casas vor Karl V.«, seine Deutung portugiesischer, spanischer, deutscher und päpstlicher Geschichte und nicht zuletzt sein Buch »Macht und Gnade« wirkten in diesen Jahren als Gewißheit für die Notwendigkeit und die Möglichkeit einer neuen Welt.
Wie Reinhold Schneider den Menschen in allererster und entscheidender Linie in seiner Sendung sieht und ihn danach beurteilt, wie er den Anruf beantwortet, der an ihn ergeht, so ist auch für uns Buchhändler von entscheidender Bedeutung, uns der Verpflichtungen bewußt zu sein, die über die Tagesanforderungen unseres Berufes hinaus in dem Wesen unserer Aufgabe als Mittler des Geistes liegen. Nicht nur gilt es, behilflich zu sein, die Geheimnisse des Daseins zu erschließen und die Formen des Lebens zu erweitern sowie für Erkennen und Wissen die Fähigkeiten und Kräfte, die Neigung und das Vermögen zu steigern, sondern vor allem auch durch unsere Arbeit an der Prägung der menschlichen Seele und der menschlichen Haltung teilzunehmen. Auf diesem Wege, das Leben in die immerwährende Bewährung zu stellen und dem Menschen aus dem Frieden seiner Seele den Frieden der Welt zu erschließen, sind Sie, hochverehrter Herr Reinhold Schneider, durch Leben und Werk Beispiel, Verpflichtung und Mahnung. Das haben wir Ihnen mit dieser Feier und dieser Ehrung zu danken.
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Es erschafft einen Raum, in den die Friedlosigkeit nicht zu dringen vermochte, und diesen Raum hat er in den Jahren der Tyrannei, des Blutvergießens und Mordens allen denen offengehalten, die sich ihm vertrauten.
Werner Bergengruen - Laudatio auf Reinhold Schneider
Werner Bergengruen
Auf den Preisträger 1956
Laudatio auf Reinhold Schneider
Sie kennen, meine verehrten Damen und Herren, das Wort des alttestamentarischen Propheten: »Wie lieblich sind auf den Bergen die Schritte der Boten, die den Frieden verkündigen!« Solche Boten des Friedens sind die Männer, die bisher den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels empfangen haben, und um einen wahrhaften Boten des Friedens sind wir heute versammelt.
In Reinhold Schneiders Schriften steht das Wort »Friede« keineswegs an erster Stelle. Aber der Friede strahlt von ihm aus als eine so leuchtende Selbstverständlichkeit, wie es die Atemluft ist oder der Gehorsam der Körpermuskeln. Freilich, wer in der Geschichte daheim ist, hat es nicht so leicht wie der in Ideologien Lebende, jeden Krieg zu verwerfen, denn die Verdammung künftigen Krieges schließt leicht auch die aller gewesenen ein. Der historisch und damit realistisch gerichtete Mensch weiß, daß der Krieg zu den großen Vehikeln der Geschichte gehört - denken Sie an den Abwehrkampf der Griechen gegen die Perser, ohne den es kein Abendland und kein Europa gegeben hätte.
Wie es dem Deuter der Geschichte ziemt, hat Reinhold Schneider innerhalb des historischen Prozesses nicht Partei ergriffen und niemals versucht, Gedanken unserer Tage der Vergangenheit aufzuoktroyieren. So hat er ehrfurchtsvolle Worte für manche große Soldatengestalt der Vergangenheit gefunden und einmal bemerkt, er könne die Berufung des echten Feldherrn so wenig anzweifeln wie die Davids, der Makkabäer, der Jeanne d'Arc. Aber wenn sein liebender Blick sich so gern auf das alte Römische Reich Deutscher Nation und dessen kaiserliche Häupter richtet, so gilt das doch nicht zuletzt dem Selbstverständnis des Sacrum Imperium als eines Friedensreiches, das selten den kriegerischen Ruhm für ein unerläßliches kaiserliches Attribut gehalten, wohl aber ein solches im Ruhm des friedenbewahrenden Kaisers erblickt hat. Immer ist es ihm gegenwärtig geblieben, daß so manche Kaiser des alten Reiches - ich erinnere an die Grabmale im Dom zu Speyer - schwertlos und in fast priesterlicher Gewandung dargestellt wurden - denken Sie zum Vergleich an den vom höfischen Prunk unabtrennbar gewordenen militärischen Pomp der neuzeitlichen Jahrhunderte vom barocken Absolutismus bis an die Schwelle unserer Tage. Unvergeßlich ist mir der Ausdruck von Ergriffenheit, mit dem Reinhold Schneider mir zuhörte, als ich ihm vor Jahren von einem Besuch auf der Rheininsel Kaiserswerth erzählte und von den wahrhaft kaiserlichen Worten, die ich mit Erschütterung - es war im Jahre der Friedlosigkeit und Gewalt 1933 - auf einem am Boden liegenden Portalsturz von der Ruine der Kaiserpfalz fand: Hoc decus imperio cesar Fredericus adauxit justiciam stabilire volens et ut undique pax sit; zu deutsch: »Um diese Zier mehrte Kaiser Friedrich das Reich; er ist gewillt, der Gerechtigkeit einen festen Grund zu geben, auf daß allenthalben Friede sei.« Die Inschrift stammt von Barbarossa.
In der Stiftungssatzung für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erscheint der Gedanke des Friedens verbunden mit dem der Völkerversöhnung. Dies Wort ruft uns den unheilvollen Zustand, der eine Völkerversöhnung erst nötig gemacht hat, in die Erinnerung. Vielleicht werden künftige Jahre uns ein unbelasteteres Wort schenken, das die Möglichkeit eines Sichbefreundens unbefangen ausdrückt. Einstweilen fühlen wir noch, daß die Völker nicht nur der Verständigung, sondern auch der Versöhnung bedürfen und ihrer vielleicht in naher Zukunft mehr bedürfen werden als jemals zuvor, je explosiver und leidenschaftlicher die jungen Nationalismen außerhalb unseres Kontinents, belehrt von dem Beispiel, das ihnen Europa durch anderthalb Jahrhunderte geliefert hat, sich dem für unumstößlich gehaltenen Gesetz der gewaltsamen Lösungen verschrieben zeigen. Für Reinhold Schneiders Welt, die nie am Zwist teilgehabt hat, bedarf es keiner Versöhnung. 1944, also mitten im grauenhaftesten und empörendsten aller Kriege, hat er in seiner Stimme des Abendlandes geschrieben: »Wie der einzelne nicht leben kann für sich selbst, so können auch die Völker nicht für sich selber leben; sie haben den Raum des Wirkens im allverbindenden Reich der Seelen, dem sie mit ihrer eigenen einmaligen Kraft zugewiesen sind; und es ist nicht möglich, daß ein Teil dieses Reiches vom Feinde überwältigt wird, ohne daß die anderen Teile mit betroffen werden.« Darstellend, betrachtend, erzählend wendet Reinhold Schneider sich dem angestammten Volke zu, aber ebenso hat er sich des atlantischen Westens und Südwestens, des Südens und Ostens mächtig gemacht, ja, mit Las Casas trägt er die Leiden der mißbrauchten Völker jenseits des Ozeans und damit die Leiden aller Unterjochten vor den irdischen und den himmlischen Thron. Friede und Freiheit erscheinen uns nicht nur alliterativ, sondern durch ein Korrelatverhältnis vom Wesen her verbunden. Ein Friede, der mehr sein will als die furchtbare Ruhe des gewaltsam aus dem Heiligtum des Lebens Hinausgestoßenen, kann nur in Freiheit gedacht werden. Aber Friede und Freiheit sind untrennbar verbunden auch in ihrer Problematik. Zur Dialektik zwischen dem Frieden und der Macht gesellt sich für Reinhold Schneider, dessen Gedanken ja immer wieder von antithetischen oder antinomischen Spannungsverhältnissen angezogen werden, die »Dialektik zwischen Freiheit und Macht, die einander bestreiten und einander nicht entbehren können; ohne Macht läßt sich Freiheit weder durchsetzen noch behaupten; Macht neigt immer dazu, Freiheit aufzuheben und sie durch den Schein der Freiheit zu ersetzen. Die Lösung kann nur ein Opfer sein: ein Opfer an Freiheit und ein Opfer an Macht; es ist eine immer neu und willentlich zu vollziehende, eine personale Entscheidung, wesenseigen der Geschichte, ausgetragen oder verfehlt in allen Revolutionen.« Und er verweist hier auf den »Anblick der höchsten Freiheit, die sich ans Kreuz gegeben hat.« Weiter sagt er: »Philosophien, Verheißungen, politische Systeme und Träume, die unsere geschichtliche Existenz grundsätzlich für befriedbar halten, greifen, wie mir scheint, die Religion an der Wurzel an; sie eliminieren zum mindesten das Irrationale unseres Daseins in seiner stärksten Erscheinung. Sie werfen die Frage: Wo ist das Reich Gottes?, diese erschütternde europäische Frage, ins Irdische zurück und sagen: in einem Staat, einem Denksystem, einer von uns abschließbaren Geschichtswelt. Und dieser Staat kann nur sein: Zwang, Gewalt, unter welcher Fahne und Ideologie auch immer. Diese Frage aber geht an das Innere des Menschen und zugleich über alles in der Geschichte Mögliche hinaus: und gerade aus dieser Kraft und Richtung ist sie geschichtsbestimmend geblieben.«
Über dem Werk Reinhold Schneiders, der, wie er selbst sagt, nicht an die irdische Lösung der Geschichte glaubt, liegt als ein dunkles Schleiergewebe die Erkenntnis von der irdischen Unvereinbarkeit des Seinsollenden und des Seinmüssenden. So ist dieses Werk durchzogen von einer abgründigen Schwermut wie von einer bald in der Tiefe sich verbergenden, bald zu Tage tretenden, aber immer gegenwärtigen Gesteinsader. Es ist ihm nicht gestattet, einem oberflächlichen Optimismus Raum zu lassen. Sein Geschichtsverständnis ist ein tragisches, nicht ein eudämonistisches, und auch sein Verhältnis zum Frieden ist ein tragisch-heroisches, dem das Opfer mehr gilt als der Triumph. In seiner Rechenschaft und in seinem Christlichen Protest lese ich die Worte: »Der Friede ist da und ist doch völlig verborgen; ebenso wahr wie die Verheißung scheint das Wort zu sein, daß kein Friede auf Erden ist. Ja, dieses Wort ist geradezu ein christliches Wort. Denn der von den Engeln verheißene, von Jesus Christus gestiftete Friede, das Zeichen, an dem die Seinen sich erkennen sollen, widerspricht der Welt durchaus und wird doch in der Welt sein bis zu ihrem Ende. Wir müssen wissen, daß der Friede des Christen ein streitender Friede ist, der Friede von oben - während die Welt im besten Falle einen Frieden von unten anstreben kann, der sich gründen mag auf Klugheit, auf Rechte, Verträge, Interessen. Der Friede Christi ist gegründet im Menschen selbst: Es ist der unvergleichliche Friede des Geistes, der auch von der äußersten Macht der Verneinung nicht erschüttert wird ... Friede auf Erden: gewiß. Wer wünscht ihn nicht? Aber was soll er denn sein, wenn es nicht ein mit äußerster Kraft errungener Friede ist: Friede in uns, der immer wieder erzittert; Friede, den wir in die Welt tragen sollen und noch nicht einmal sicher in uns haben; Friede, von dem wir gestehen müssen, daß er die zweifelhafteste aller Hoffnungen ist, eine Gabe, die uns in den Händen zerbricht, wenn wir sie weiterreichen wollen, ein Glas, das zerspringt, sobald wir es an die Lippen führen ..«
Und doch trägt ihn inmitten aller Beschwernis solcher Gedanken eine Zuversicht. Sie spricht etwa aus den Worten: »Selten und vielleicht niemals ruht die Welt in den Angeln des Rechts; dennoch besteht sie nur, weil ihr Gewicht sie nach dem Rechte zieht, das sie nicht erreicht; weil das Recht sich in ihr auf erschütternde und überraschende Weise immer aufs neue herstellt, zu schwach, um allordnend zu gelten, aber stark genug, um sich fortzusetzen und irdischem Getriebe die erhaltende Mitte zu bezeichnen.«
Reinhold Schneider nennt den Namen des Friedens, nicht weil er vorteilhafter, sondern weil er heiliger ist als der Krieg. Friede ist ihm nicht eine Forderung der Prosperität und des ungestörten materiellen Wohlbehagens - hier sollten alle Mißverständnisse beseitigt werden -, sondern die Erfüllung eines göttlichen Gebots. Sein Friedensruf ist der Ruf eines Mannes, der seinen Ort nicht in Organisationen und Kanzleien hat, sondern in der Einsamkeit des Geistes; eines Mannes, welcher der Sache des Friedens eher in einer halbverfallenen Kapelle zu dienen meint als in einem prunkvollen Völkerpalast und in lärmigen Kongreßhallen; des Mannes ohne Apparat. Ja, er ruft nicht einmal so sehr zum Frieden auf, sondern zu jener Sinneswandlung, die allein die Voraussetzungen für den Frieden schaffen kann. Er strebt danach, den Frieden in sich zu verwirklichen, soweit dies dem Menschen gewährt ist. Er sagt: »Der Friede muß schon seine Stätte haben, wo die Botschaft wurzeln soll, die diesen Frieden des Hauses in einen unzerstörbaren Frieden erhöhen will.« Es ist uns berichtet, daß Jesus, als er zum letzten Male nach Jerusalem kam und die Stadt vor sich liegen sah, über sie zu weinen begann und daß er ausrief: »Wenn du doch wüßtest, was zu deinem Frieden dient!« - eine Klage, die nie verstummen wird und ein schreckliches Geheimnis in sich begreift. Welches Gemeinwesen kann wissen, was zu seinem Frieden dient, wenn es nicht Menschen umschließt, die den Frieden mit sich selber gefunden haben? Und welcher Mensch könnte das in vollem Umfang von sich sagen? Auch der Bote des Friedens ist nur unterwegs, nie am Ziel, auf mühevoller Wanderschaft, einer Hoffnung nachgehend, die nur in der Unendlichkeit ihre Erfüllung finden kann. Und doch steht als Zeichen des Friedens der Regenbogen ewig über der Welt und ihren Schlachtfeldern, ja, auch über ihren Antinomien, und der Friede auf Erden ist allen Menschen verheißen, die eines guten Willens sind.
Manche von Ihnen, meine Damen und Herren, werden sich erinnern, in irgendeinem ortsgeschichtlichen Museum ein sogenanntes Ächterkreuz gesehen zu haben, und besonders wirst Du, lieber Freund, Dich dessen entsinnen, denn gerade Deine Vaterstadt bewahrt einige solcher Ächterkreuze auf. Ein an der Grenze des städtischen Weichbildes errichtetes Steinkreuz bezeichnete im Mittelalter den Ort, bis zu dem der Ächter, der Geächtete, auf immer oder auf Zeit für gebannt und friedlos Erklärte, sich der ihm verbotenen Stadt nähern durfte. Wie es dem Denken der alten Zeit entsprach, die bei aller Härte auch im Untäter den von Gott geschaffenen und beseelten Menschen erblickte und der ein Wort wie »Menschenmaterial« nie in den Sinn gekommen wäre, schützte dies Kreuz nicht nur die Stadt, sondern auch den Friedlosen selbst, der beim Betreten der Stadt ja sein Leben verwirkt hätte. Der Raum der Friedlosigkeit war abgesteckt durch das Kreuz als Zeichen des Friedens. Ein ähnliches Raumabstecken durch das Kreuz des Friedens meine ich in Reinhold Schneiders Dasein und Werk zu finden. Es erschafft einen Raum, in den die Friedlosigkeit nicht zu dringen vermochte, und diesen Raum hat er in den Jahren der Tyrannei, des Blutvergießens und Mordens allen denen offengehalten, die sich ihm vertrauten. Lassen Sie mich das Wirken des heute Gefeierten in jener furchtbaren Zeit mit diesem Bilde bezeichnen. Unerschrocken und unermüdlich, hat er wortgewaltig mitten im Kriege, mitten unter den Drohungen eines Regimes, das weder Frieden noch Freiheit kannte, mitten im Haß das Wort liebender Einsicht gesprochen, und in wie viele angefochtene, zerrissene Herzen hat er die Botschaft des höheren, unzerstörbaren Friedens hineingegeben! Seine Worte stärkten die Gutwilligen, befestigten die Schwankenden, trösteten die Verzweifelten. Die Herzen der Machthaber konnten sie nicht erreichen. Diese Unerreichbarkeit gehörte zum Wesensbilde der Tyrannei, über das er sich keinen Augenblick getäuscht hat. Und zu diesem Bilde gehörte als Gegenbild des Friedens nicht nur der Krieg, sondern auch die Friedlosigkeit, die sie in sich trug und die sie auferlegen mußte.
Denken wir daran, daß das Wort »Friede« seinen heutigen Sinn erst verhältnismäßig spät angenommen hat. Ursprünglich bezeichnete es das in einer Gemeinschaft bestehende Verhältnis des Rechts und des vom Recht verbürgten Schutzes, friedlos aber hieß der aus der Rechtsgemeinschaft Ausgeschiedene oder Ausgeschlossene. Ein Gran Friedlosigkeit scheint nun der menschlichen Natur eingeschaffen, und sehr wahrnehmbar bekundet es sich als ein Kennzeichen des gegenwärtigen Lebens mit seinen unruhigen Fluktuationen, seinen gewollten oder erzwungenen Unstetigkeiten. Man hat die Friedlosigkeit wie einen Charakterfehler häufig dem Volk des Alten Testaments vorgeworfen und dabei zweierlei vergessen: erstens, daß man selbst ihm diese Friedlosigkeit verhängt und aufgenötigt hatte, und zweitens, daß gerade dieses Volk von alters her den Frieden geliebt und gepriesen hat wie kein anderes, ja, daß es, soweit ich unterrichtet bin, als erstes unter den Völkern und schon lange Jahrhunderte vor der kaiserlich-grandiosen Pax Romana dem Worte Frieden seinen eigentlichen, das heißt seinen religiösen, Sinn gegeben hat.
Und ich möchte es für eine Weiterwirkung solcher Sinngebung halten, daß in der ganzen morgenländisch-islamischen Welt, deren kriegerischen Impetus die Geschichte kennt, doch von einem Menschen zum andern seit je der Gruß »Friede sei mit dir« gegolten hat - ein Gruß, dem auch wir keinen höheren gegenüberzustellen haben.
Dieser Gruß, bedeutungsvoll auch in der Liturgie der christlichen Kirche, klingt uns als ein Aufruf, ausgesprochen oder unhörbar sich mitteilend, aus Reinhold Schneiders ganzem, fast unübersehlich reichem, sprach-, bilder- und gedankenmächtigem Werk entgegen. Man kann sagen, es sei nicht die Sache des Dichters, zu Entscheidungen praktischen Vollzuges aufzurufen. Aber vielleicht ist die Frage, welche pragmatische Entscheidung im einzelnen Falle zu treffen sei, um der Sache des Friedens und aller von diesem hohen Namen mitvertretenen Güter zu dienen, bei der Irrtumsanfälligkeit unserer menschlichen Natur nicht einmal das Bewegendste. Die Einzelentscheidungen mögen ausfallen, wie es ihnen bestimmt ist - denn »wie sie wollen«, mag ich in diesem Zusammenhang nicht sagen - wichtiger ist, daß auch diese Einzelentscheidungen aus der ein für allemal im Gewissen vollzogenen Grundentscheidung ihre Erleuchtung empfangen.
Zu dieser Grundentscheidung ruft der Dichter auf mit dem fort und fort sich erneuernden Hinweis auf das Gewissen und seinen Frieden als den einzigen Ort, da ein jeder seine Entscheidung zu vollziehen hat. Ja, wenn Selbsterforschung und Gewissensprüfung die wichtigsten Voraussetzungen für jede Art von Friedenmachen sind, wer hat feuriger, zorn- und liebevoller hierzu aufgerufen als er?
Als der Westfälische Friede dem dreißigjährigen Leiden ein Ende setzte, dichtete Martin Rinkart, ein sächsischer Prediger, das uns allen vertraute Lied: »Nun danket alle Gott!« und in ihm die Verszeilen:
Der ewig reiche Gott woll uns bei unserm Leben
ein immer fröhlich Herz und edlen Frieden geben.
Dieses Wort vom edlen Frieden hat etwas tief Ergreifendes. Lassen Sie mich einen Augenblick dabei verweilen.
Der Mensch kann, in seiner Eigenschaft als politisches Geschöpf, der Gewalt nicht völlig entraten. Vielleicht aber ist schon viel gewonnen, wenn er das Element des Unedlen spürt, das notwendig in der Gewalt steckt. Ihre Gegenbilder sind Großmut, Hochherzigkeit, Weisheit; und so umschließen sie auch die Fähigkeit des Verzichts, die - und wie selten gehen auf Erden diese beiden Kategorien überein! - zugleich nicht nur ein Gebot der Weisheit, sondern oft genug auch eine Forderung der weltlichen Klugheit ist, die Fähigkeit, nicht um jeden Preis auf der Durchsetzung des eigenen Rechtsanspruchs, der ja unter Umständen auch ein nur vermeintlicher sein könnte, zu bestehen.
Großmut, Hochherzigkeit, Weisheit sind aber nun Schätze, die nur um einen Preis zu haben sind: um den des Friedemachens in der eigenen, von Leidenschaften erfüllten, von Leidenschaften überschäumenden Seele. Ich weiß wohl, daß diese Tugenden leichter dem einzelnen eingeboren sein können als den Gemeinschaften, den Volksschichten, den Berufen und Ständen, den Völkern, Ländern und Staaten. Und doch glaube ich auch zu wissen, daß die Geschichte, auf die Länge gesehen, sie gerade nicht nur vom einzelnen, sondern auch von jenen Gemeinschaften fordert, in denen der einzelne sich repräsentiert findet. Es steckt wohl in uns allen eine oft genug vergewaltigte Ahnung davon, daß auch Entscheidungen staatlicher Natur von den Ausstrahlungen des edlen Teiles im Menschen getränkt sein sollen, während äußerlich immer noch der uralte Kannibalenaberglaube herrscht, im Grunde sei die perfideste Politik die bewunderungswürdigste - (es versteht sich, solange sie Erfolg hat). Es ist merkwürdig, daß selbst die deutlichsten Beispiele vom Scheiternkönnen, ja Scheiternmüssen einer Politik, die gewisse Perfiditätsgrenzen - mit Großmut wollen wir diese nicht allzu eng ziehen - überschritten hat, die Menschen kaum von diesem Aberglauben abbringen können.
In Deinem ganzen Werk, lieber Reinhold, dem geschichtsbetrachtenden, dem erzählenden, dem dramatischen, begegnen uns diese Persönlichkeiten, es seien nun Heilige, Herrscher, Staatsmänner, Feldherren, Dichter, von denen der aller irdischen Bedingtheit und Beschränkung zum Trotz immer wieder unternommene Versuch ausgeht, jene Tugenden aus der Domäne des Individuums in die Gemeinschaft hinüberzustrahlen und sie dort aufleuchten zu machen. Diese wahren Boten des Friedens sind nicht die Weichlichen, die Empfindsamen oder gar Weinerlichen, denn im Kampf um den Frieden können nur die heroischen Seelen zählen und gewinnen. Es sind die Edlen, die Großmütigen, die Hochherzigen. Aber Du, der gesagt hat: »auf Erden will ich nichts mehr als verehren«, Du hast ja den Glauben an das mögliche Aufblitzen des Edlen inmitten unserer menschlichen Kläglichkeit, den Glauben an die Möglichkeit großer und der Verehrung würdiger Gestalten, die berufen sind, das Vergebliche, aber Notwendige zu tun. Ich glaube, es ist in Deinem Sinne gesprochen, wenn ich sage, an den Berührungspunkten von Vergeblichkeit und Notwendigkeit entzünde sich alles Große auf Erden. Und von dort her hat auch ihre Würde jene Botschaft des Friedens, die aus Deinem Leben und Lebenswerk in das Leben Deines Volkes einströmt.
Wir danken Dir dafür, daß Du uns den Raum abgesteckt hast, den eins Deiner Sonette mit den Worten bezeichnet:
Des Herzens Heiligkeit,
darin der Friede unversehrbar ruht.
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Werner Bergengruen
Laudatio
Es könnte eine Gnade sein, daß uns Deutschen, uns allein, die nationale Geschichte in Scherben vor den Füßen liegt: vielleicht sollen wir anfangen in der Richtung auf einen neuen Gedanken, in der Richtung auf das Leben der Welt.
Reinhold Schneider - Dankesrede
Reinhold Schneider
Der Friede der Welt
Dankesrede
Indem ich für die hohe Ehre danke, die mir der deutsche Buchhandel erweist, möchte ich an die Worte erinnern, die Albert Schweitzer an dieser Stelle vor fünf Jahren gesprochen hat. Er sagte, man könne diesen Preis nur als neue Verpflichtung entgegennehmen. Denn niemand werde von sich behaupten wollen, daß er genug für den Frieden getan habe. Gewiß, es kann ja niemand genug für ihn tun. Und daß bis heute nicht genug für ihn geschehen ist - oder geschehen konnte -, kann niemand bestreiten. Wir leben ja nicht im Frieden, sondern im Waffenstillstand. Ich möchte damit die scharfe Unterscheidung anwenden, die Kant gelehrt hat in dem an lügenhaften Vertrags- oder Friedensschlüssen ertragreichen Jahre 1795. Ein Friedensschluß, erklärte er, bedeute, daß zwischen den Vertragschließenden alle Ursachen zu einem künftigen Kriege, auch die ihnen nicht bekannten, vernichtet seien. Von dieser Definition geleitet, kam er am Ende seiner Schrift zu dem Schluß, daß die Geschichte bisher keinen Friedensschluß gesehen habe, sondern eigentlich nur Waffenstillstände.
Nun ist das im einzelnen nicht ganz richtig, wohl aber, was den Frieden der Welt angeht. Einzelne Kriegsherde sind ausgebrannt oder für immer gelöscht worden: die zwischen den Schweizer Kantonen, also Zürich und Luzern, zwischen Oldenburg und Bremen, Meiningen und Sachsen-Gotha, den Staaten der USA und südamerikanischen Republiken, den deutschen Bundesstaaten, zwischen England und Schottland, Dänemark und Schweden, Spanien und Portugal und hoffentlich deren noch weit mehr, für immer. Das Ergebnis solcher Friedensschlüsse aber, darin hat Kant recht, besteht zu einem Teil - die Schweiz ausgenommen - darin, daß sich die Mächte zu vergrößern suchten, um nicht behobene Hostilitäten auf ausgedehnteren Schlachtfeldern auszutragen. Ich will auf Urteile verzichten. Man kann in diesem Prozeß einen Zwang des Geschichtlichen sehen, der bisher unüberwindlich war. Ich möchte hier überhaupt nur sprechen von der furchtbaren, fast ausweglosen Not, die die Sache des Friedens heute ihren Verfechtern bereitet, vorausgesetzt, daß sie diese Sache nicht als Devise, nicht in irgendeinem pragmatischen Sinne im Dienste einer Macht oder als fromme, unverbindliche Phrase nehmen, sondern todernst um ihrer selbst und der unteilbaren Welt willen, im Sinne Immanuel Kants und als eine Aufgabe, die, wie er sagt, »nach und nach aufgelöst« werden muß. Wir sind ja in eine Phase eingetreten, in der Friede nur noch im Sinne Kants als Vernichtung jeder möglichen Kriegsursachen verstanden werden kann: die Gnade dieser Stunde ist, daß eine Bedrohung ohne Beispiel die Welt als ein Ganzes erweist und die Räume, in denen sich Kriege und die ihnen vorausgehenden Experimente abspielen, nicht mehr abgegrenzt werden können. Friede kann nur noch Friede der Welt und Ewiger Friede sein; ist er das nicht, nun so hat Kant, darin Leibniz folgend, sein ironisches Vorwort bereit von dem Schilde eines holländischen Gastwirts, auf dem, über dem Bilde eines Friedhofes, das Wort Ewiger Friede steht. Ausdrücklich meint der Königsberger Philosoph, der den modernen Ausrottungskrieg und den Todeskampf der Erdteile miteinander vorausgesehen hat, damit den »großen Kirchhof der Menschengattung«, um deren Bestand er also ernstlich in Sorge war, nachdem er die Entdeckung gewisser »höllischer Künste« gemacht hatte, die sich nicht lange innerhalb der Grenze des Krieges halten, sondern in den Friedenszustand übergehen, und nachdem er sich auch über den Zusammenhang zwischen Krieg und Wirtschaft klargeworden war.
Es handelt sich also um das Existenzproblem der empirischen Welt. Nun ist dem Frieden mit nichts weniger gedient als mit gewissen, wenn auch wohlgemeinten pazifistischen Verheißungen und Programmen, die meinen oder vorgeben: Die Regierungen brauchten nur ihre Völker anzuhören und ihren Willen zu tun und die Waffen niederzulegen, dann werde ewiger Friede sein. Daneben aber gibt es einen starken, männlichen, wissenden, mit der Geschichte vertrauten Pazifismus, der eine Auszeichnung europäischer Tradition ist, von Erasmus und Sebastian Franck über Crucé, Penn, Sully, Leibniz, Kant, auch Saint-Pierre und Rousseau, und weiter zu Friedrich Wilhelm Förster, zu der Botschaft Hermann Hesses und dem Denken Leopold Zieglers und zu Albert Einstein, und es ist gar nicht einzusehen, warum Europa diese Überlieferung, die eine Ehre seiner Freiheit ist, verleugnen soll. Denn ohne sie erschiene Europa in der Entscheidung über eine brennende Menschheitsfrage nicht frei. Größere Bilder stehen dahinter: Dantes Weltmonarch, der Papa Angelicus des Joachim von Floris und der Spiritualen, die das mittelalterliche Reich krönende, seinen Sinn aussagende Friedensverkündung Kaiser Heinrichs III. im Münster zu Konstanz im Jahre 1043, sein Friedens- und Vergebungsgelöbnis vor dem Kreuze auf dem Felde der Ungarnschlacht an der Raab - er erschien barfuß als büßender Sieger -, endlich der tragische Friedensstaat des Gotenbischofs Ulfilas, der sich nördlich der unteren Donau immerhin erstaunliche Zeit gehalten hat.
Wer sich ernstlich mit den Taten und Lehren solcher Männer und ihren Schriften befaßt, der wird kaum einem den Vorwurf machen können, daß er welt- und geschichtsfremd gewesen sei; nicht einmal ganz wird es für den vielverspotteten Abbé Saint-Pierre zutreffen, der zum mindesten das Verdienst hat, das Problem im achtzehnten Jahrhundert neu aufgeworfen und Rousseau und Kant zur Äußerung herausgefordert zu haben. (Wer den Frieden will in der Geschichtswelt, kann dem Vorwurf der Torheit nicht entgehn. Es ist fast unvermeidlich, daß er in Gesellschaft von Narren gerät. Aber besser auf einem Narrenschiff reisen als auf einem Flugzeugträger.) Nun, der Abbé Saint-Pierre, immerhin Beichtvater des Herzogs von Orléans, Mitglied der Akademie, aus der ihn erst der Zorn Ludwigs XIV. hinausjagte, Teilnehmer am Kongreß zu Utrecht, hatte, wie Kurt von Raumer in seinem wichtigen Buch über den Ewigen Frieden erzählt, um das Jahr 1708 auf einer Reise in Frankreich einen Wagenunfall. Die Achse war gebrochen, und er konnte sich an die Straße setzen und warten und nachdenken: Warum ist die Achse gebrochen? Weil die Straße miserabel ist. Warum ist die Straße miserabel? Weil der König Krieg führt.
Das ist doch eine symbolische Situation. Wir sitzen neben dem verunglückten Wagen. Denken wir wirklich nach? Wir reparieren zu schnell. Und dann rasen wir weiter, auf der miserablen Straße mit der geflickten Achse. Wir müssen uns klar sein, daß der Wagen nur noch einmal verunglücken kann. Und dann tödlich. Eine Aussicht auf den dritten Unfall besteht kaum.
Nun hat es mit den genannten Zeugen des Friedens eine eigentümliche Bewandtnis: Dante etwa forderte Kaiser Heinrich VII. auf, erst einmal Florenz zu bestrafen, bevor er die Weltmonarchie vorbereite, Leibniz suchte die kriegerische Kraft europäischer Völker nach außen zu wenden, nach Ägypten oder gegen die Türken, nach Nordamerika, Penn verdankte seine Kolonie den kriegerischen Verdiensten seines Vaters, des Admirals, der die Holländer schlug. Kant bestritt es keineswegs, daß der Krieg an der Ausbreitung der Kultur einen bedeutenden Anteil hat; ja, er gestand, immer in seinem leise ironischen Ton, der Krieg scheine auf die menschliche Natur gepfropft zu sein und sogar als etwas Edles. Ein so radikaler Antimilitarist wie Albert Einstein antwortete einem ihn befragenden jungen belgischen Pazifisten, es verstehe sich von selbst, daß sie ihr Land, wenn es überfallen werde, verteidigen müßten. Tolstoi, den wir in diesem Zusammenhange nicht vergessen dürfen, legte einem jungen Pilger das Ja oder Nein auf sein eigenes Gewissen. Dostojewskij hat in der ganzen Sache vielleicht das tiefste Wort gesprochen, nämlich, daß nicht der sich als stark erweise, der Blut vergieße, sondern der, dessen Blut vergossen werde. Das sei das Gesetz des Blutes auf Erden. Aber die ganze Wertwelt Dostojewskijs, eine radikalere Umwertung als die von Nietzsche erstrebte, ist, nach allem Anschein, entschwunden, jedenfalls ohne jegliche erkennbare Auswirkung; und seine Prophetie schwebt in den Wolken. Aber auch der Prophet des russischen »neuen Worts« an die Welt hat den russisch-türkischen Krieg des Jahres 1877 als eine heilige Sache leidenschaftlich bejaht. Er konnte es Tolstoi nicht verzeihen, daß er diesen Krieg, von dem er selber die Wiedergeburt des Slaventums erwartete, verwarf, weil er nicht eine Sache des russischen Volkes sei. Doch auch Tolstoi stellte den echten Soldaten, den er ja kannte, über den Heuchler und ließ das Nein an der Waffe nur gelten als personale Fatalität.
Krieg und Frieden sind auf eine wahrhaft tragische Weise ineinander verschlungen, und ohne den Einsatz für den Krieg ist der Gang menschlichen Forschens und Denkens unbegreiflich. Ich möchte erinnern an die Statue der heiligen Felicitas in Lüdinghausen: Als Beschützerin ihrer sieben Söhne stützt sie sich mit der Rechten auf das Schwert; in der Linken hält sie den Palmzweig. Auch dient niemand dem Frieden durch Beleidigung oder Herabsetzung des Soldaten. Ich liebe und verehre die großen Feldherren, die ihren Namen wirklich verdienten; den portugiesischen Kronfeldherrn Nun' Alvares, der seine Tradition behauptete und dann, nachdem seine Tat getan war, ein Kloster baute in Lissabon; und ebenso teuer ist mir spanischer Rittersinn und Wagemut, sind mir die schwedischen Feldherrnkönige und Marschälle, Turenne, Prinz Eugen, Clausewitz, der Graf zur Lippe, Friedrich, Scharnhorst, Radetzky, Moltke, Schlieffen. Höhere Ehre vielleicht gebührt dem Namenlosen, dem unbekannten Soldaten, der die Schuld dieser Welt mitgetragen und Blut vergossen hat und dessen Blut wieder vergossen worden ist: das Opfer der Geschichte, das keinen Ausweg fand. Mit dem Generaloberst Beck aber erscheint eine neue Gestalt: der Feldherr, von dem ein unverantwortbarer Befehl verlangt wird, dem sein Gewissen befiehlt, auch die Ehre zu opfern. Er steht nicht allein, sondern für eine Gruppe edler Männer, die in den bisher gültig gewesenen Ehrbegriffen erzogen worden waren. In einer ganz bestimmten Situation mußten sie erkennen, daß die Pflicht nicht mehr heilig, der Sieg nicht mehr Ruhm, der Befehl nicht mehr gültig war; daß die Darstellung äußerster Freiheit von ihnen gefordert wurde. Die höchste Freiheit des Menschen aber ist die: sich zu opfern. Wohl denen, die glaubten! Sie gehorchten verheißungsvoller Notwendigkeit. Sollte man aber die nicht noch mehr bewundern, die nicht glaubten; die nur das Gesetz hatten in ihrer Brust, das Preußentum Immanuel Kants?
Wer wollte denn ernstlich griechische Kultur verstehen können ohne Angriff und Abwehr der Perser und die heillosen Bürgerkriege; wer die Römer unter der Verleugnung Cäsars, des Pompejus, des ungeheuren Kampfes mit östlichen Völkern, der unserer Kultur Thema und Inhalt gegeben hat bis zu diesem Tag; wer sollte wünschen, daß Karl Martell und Karl der Große und Otto I., Heinrich der Fromme nicht geboren worden, daß Wien nicht verteidigt worden wäre? Wer verzichtet auf die Ära Ludwigs XIV., den ehernen und zugleich betörenden Versklang ihrer Tragiker, dessen Resonanz Ludwigs Kriege sind, wer auf die Tragödie zwischen Kaiser und Papst, in der letzte Menschheitsfragen dramatisch gegeneinanderstanden - wer auf den Hohenfriedberger Marsch? Zu unserem großen Unglück gehören die terribles simplificateurs. Europa verdankt seinen Feinden fast ebenso viel wie eigener Kraft. Was die Türken wider ihren Willen zur Erweckung und Festigung europäischen Bewußtseins und Gemeinschaftsgefühls getan haben, ist kaum zu ermessen. Mit den Arabern steht es kaum anders. Übrigens verhält es sich mit dem Schriftsteller an seiner bescheidenen Stelle ähnlich, sofern er, was ja nicht immer der Fall ist, sich als soziale Existenz empfindet und der Öffentlichkeit gegenüber ein Gewissen hat: er verdankt nächst seinen Freunden seinen Feinden das Beste, und ich möchte nicht vergessen, auch diesen Dank abzustatten.
Mit all dem möchte ich sagen, daß der Verfechter des Friedens einer Geschichte, einer Kultur, einer Leistung gegenübersteht, die ihm durchaus widersprechen. Die zum Frieden strebende Tradition, von der ich zuerst sprach, und die kriegerische sind gar nicht auseinanderzuwirren. Aus dieser Verstrickung folgt namenloses Leid, und dennoch Größe und eben: Europa: das heißt die Welt, die wir lieben, das Klima, außerhalb dessen wir nicht atmen können. In Europa stellte sich bisher dar: der Mensch zwischen unvereinbaren Forderungen, der Mensch, der sich immerfort anficht und zerstört und in dieser Zerstörung wissender, böser, verwegener, europäischer wird: ein tragisches Phänomen.
Es ist durchaus zu verstehen, daß sich der Lebensinhalt der heute lebenden europäischen Generation auf die Spannung zwischen Westen und Osten zusammenzieht: Das ist ein uraltes Motiv, und vor hundert Jahren etwa hat ihm Mommsen prophezeit, daß es ebenso viel Zukunft vor sich habe wie hinter sich Vergangenheit. Europa aber wird sich, wie ein jeder Kulturzusammenhang, eine jede große geistiggeschichtliche Form, nur behaupten aus dem Ganzen seines Wesens, seiner Existenz. Die zweite Komponente ist im Augenblick fast aus unserem Bewußtsein geschwunden; ich meine die Spannung zwischen Norden und Süden, die sich in den Zügen Karls des Großen nach Katalonien, der Normannen nach Byzanz und Sizilien, im Kampfe zwischen Kaiser und Papst ausgetragen hat. Innozenz III. erbebte noch vor dem Sturm aus Mitternacht, der Macht Heinrichs VI., und Gustaf Adolf war der selbst den Papst schreckende Löwe aus Mitternacht. Die Mittelmeerkultur fühlte sich vom Norden wie von der Vernichtung bedroht. Natürlich haben wir es in diesem Zusammenhang nicht mehr mit kriegerischen Aufgaben zu tun; aber etwas ist doch geblieben: Kant und Thomas von Aquin oder gar Bonaventura, Kierkegaard und die spanische Mystik, Wittenberg und Rom und Genf. Das ist ein unschätzbares, ein unvergängliches Erbe. Europa besteht nicht allein in der Defension, in der Abwehr des Ostens; es trägt die Fülle fruchtbarer Konflikte in sich selbst; und wenn es dieser nicht bewußt bleibt, wird es die Kraft seiner Existenz in der Geschichte nicht vollziehen. Und wie soll es sich dann behaupten? Man kann Europa ganz anders sehn. Ich denke nicht daran, andere Perspektiven zu bestreiten. Für mich, von dem Sie ja wohl nicht mehr als ein Bekenntnis erwarten, hat es die Gestalt des Kreuzes.
Die zwei Strömungen aber, geistiger, geschichtlicher Kräfte - nicht wir haben das so gefügt -, kreuzen sich in Deutschland; man könnte, wenn man es wagen wollte, einen geographischen Ort zu suchen, sagen: in der Gegend der Wartburg, wo die Heilige aus Ungarn ihr verzehrendes Liebeswerk übte und Martin Luther sich dem Teufel stellte und dem deutschen Wort. Nicht weit davon, in Hochheim bei Gotha, ist Meister Eckhart geboren worden, und von Eisenach und Weimar brauche ich nicht zu sprechen. Dieser immense Gehalt muß sich doch noch auf irgendeine Weise existentiell in der Geschichte vollziehen lassen - sonst ist ja die Felge aus dem Rad geschleudert und die Achse gebrochen. Mit nationalen Prätentionen hat das nichts zu tun. Es sind nur noch existentielle. Wenn man von einem Volke einen neuen Einsatz verlangt, so muß man ihm ein Bild geben, das es führt, was auch vorausgegangen sein mag. Die meisten westeuropäischen Völker haben noch solche Bilder kontinuierender Geschichte. Wieweit sie berechtigt sind, kann und darf ich nicht entscheiden. Das deutsche Volk aber hat, soweit ich sehe, und es ist ja sehr schwer, Zerrissenes zu übersehen, ein solches Bild nicht mehr. Was soll denn nun den schlichten Mann, der Blut vergießt und dessen Blut vergossen werden wird, begeistern? Für ihn ist doch Europa, das wir inständig ersehnen, noch gar nicht da.
Ein Schriftsteller kann sich nicht damit abfinden, daß er nur für einen Teil seines Volkes, die Hälfte oder zwei Drittel, schreiben kann. Natürlich denkt er nicht daran, daß alle ihn lesen. Aber er möchte doch aus allen den und jenen erreichen, dem er vielleicht etwas sagen kann. Das Gebiet der Sprache ist doch für ihn geschlossen, unteilbar. Und nun bemerkt er, daß die Sprache sich teilt; daß diesseits und jenseits etwa die Wörter: Person, Freiheit, Staat, Macht, Volk, Arbeiter und Arbeit, Glaube, Geschichte, Kunst, Forschung, Erziehung, Freude, Natur, Spiel, Erholung, deutsch, europäisch wenigstens in offiziellen Verlautbarungen eine widerspruchsvolle Bedeutung erlangen. Und unabwendbar - wir haben das ja schon erlebt - kommen die von den Machthabern oder ihren Beauftragten geprägten Münzen in Umlauf: Es ereignet sich eine Entfremdung, die unannehmbar bleibt. Unter der väterlichen Aufsicht gewisser deutscher und nichtdeutscher Stellen, die um meine geistige Selbständigkeit besorgt waren, habe ich mir erlaubt, eine Zeitlang in östlichen Zeitungen diese Akzentverschiebung zu verfolgen, und zwar mit tiefem Kummer. Was aber ist schmerzlicher, als an einem Herbstabend - wenn man etwa aus den glänzenden nordischen Hauptstädten kommt - im kalten regenschweren Nebel durch das Brandenburger Tor zu fahren, von dem die andere Fahne weht, über den Platz, wo das Schloß stand und unter dem noch immer, wer weiß wo, die alten Kurfürsten begraben liegen, in fremdes Land, das doch Heimat ist!
Eine Macht wie diejenige, in der sich heute, in einem gewissen Grade, die Ideen Feuerbachs, des Karl Marx, Hegels darstellen, manifestiert sich nicht ohne geschichtliche Berufung und Legitimation, ganz abgesehen davon, daß sie von uns in die europäische Geschichte zurückgerufen worden ist. Ich meine nicht die sittliche Legitimation. Ich trenne diese so scharf von der geschichtlich-politischen, wie Kant sie getrennt hat, der ausdrücklich forderte, daß der Staat »moralische Person« sei und als moralischer Politiker, nicht politischer Moralist, unnachgeblich verlangte, daß das Recht des Menschen heiliggehalten und alle Politik vor ihm die Knie beuge. Auch wird keine Idee so in der Geschichte vollzogen, wie sie gedacht wurde, und keiner der genannten drei für die heutige Lage mitverantwortlichen deutschen Denker, unter denen Hegel einen ganz eigenen hohen, selten verstandenen Rang hat, würde sich mit der gegenwärtigen Gestalt seiner Auswirkung einverstanden erklären. Ich möchte mich genau ausdrücken: Die Legitimation, die Berufung scheint mir in der Durchführung der Technisierung und der mit ihr zusammenhängenden Regelung der Arbeits- und Lebensverhältnisse zu liegen, die, wie ich glaube, unumgänglich war und von einem jeden anderen System auch vollzogen werden mußte. Das hier Erstrebte, Geleistete oder Erwartete kann nicht ignoriert werden. Es ist Weltgeschichte und ist wahrscheinlich die Grundlage bisheriger Konstanz.
Aber unsere Vorstellung von Freiheit, vom Sinn des Lebens ist eine völlig entgegengesetzte. Und die Frage ist also nun: wie die beiden konträren Machtgestalten sich einigen können über den Frieden der Welt. Die Einigung ist in der gegenwärtigen Phase in hohem Grade unwahrscheinlich, und es wäre ganz verkehrt, sie mit heiterer Zuversicht zu erwarten. Wenn wir uns aber hier versammelt haben, so doch wohl, um den Glauben an die Macht geistiger Veränderungen zu bezeugen, die Johann Gottfried Herder aus Mohrungen in Ostpreußen - als führende Kraft der Geschichte erkannt hat.
Herder? Geschichtsbetrachtung? Philosophie? Aber die Führung liegt ja gar nicht mehr in solchen Händen. Die führende Geistesmacht dieser Epoche ist die Naturwissenschaft. Sie entscheidet nicht allein die künftigen Lebensformen, sondern auch das Denken, und um dieselben Dimensionen, um die sich unsere Vorstellung des Kosmos von der des Mittelalters entfernt hat, wurden auch die Möglichkeiten geschichtlich-politischen Handelns in neuen Raum, ins Unbekannte versetzt. Nun aber ist es eine Fiktion, daß die im höchsten Grad bewundernswerte Leistung der Naturwissenschaft, die eigentlich geniale, in der Sternstunde stehende dieser Jahrzehnte, eine freie sei, also wirklich führen könne: frei ist nur das sittliche Bewußtsein. Und der Preis dieser Freiheit ist immer der Tod, die Bereitschaft dazu. Die Proteste der Forscher, ihre Angst und ihre Warnungen vor den Folgen ihrer Entdeckungen sind ergreifend und gewiß durchaus ernst gemeint. Es fehlt ihnen aber in gleichem Maße die Durchschlagskraft wie den Warnungen der Kirche: weil nämlich die Bereitschaft oder auch nur die Möglichkeit unbedingten Neins in ihnen nicht enthalten ist. Sie liegen im Kraftfeld moderner Staatsmacht, weil ohne sie moderne Forschung gar nicht durchgeführt werden kann. Das ist keine Anschuldigung, zu der ich in keiner Weise berechtigt wäre, sondern nur Bezeichnung eines tragischen Zusammenhangs. Die Forscher, die, fast unausbleiblich, auch Konstrukteure sind, tragen nur die Kontinuität der Geistesgeschichte aus. Und es ist mit Recht gefragt worden, ob und wo die Forschung auf ihrem Heranzug von der Antike her denn hätte haltmachen sollen. Niemand ist ganz frei. Auch die Forscher sind es wahrlich nicht. Das auszusprechen, den Mut hatte Albert Einstein, im Jahre 1950, in einer nach Lucca gerichteten Botschaft, die »Zur Erniedrigung des wissenschaftlichen Menschen« überschrieben ist. Er gesteht darin, daß der moderne Forscher selber - ich zitiere - »die Mittel zu seiner äußeren Versklavung und zu seiner Vernichtung von innen her geschaffen hat«. Er muß sich - wörtlich - »von den Trägern der politischen Macht einen Maulkorb anhängen lassen«. »Er erniedrigt sich«, wörtlich, »sogar so weit, daß er auf Befehl die Mittel für die allgemeine Vernichtung der Menschheit wieder zu vervollkommnen hilft«. Er wird gezwungen, als Soldat sein eigenes Leben zu opfern und fremdes zu zerstören, auch - wörtlich - »wenn er von der Sinnlosigkeit solchen Opfers überzeugt ist«. Dieser Feststellung setzt der große Forscher und Mensch das Bekenntnis entgegen, daß man einen innerlich freien und gewissenhaften Menschen zwar vernichten, aber nicht zum Sklaven machen kann; daß doch Aussicht ist, die gegenwärtige gefahrvolle internationale Situation wesentlich zu verbessern: kraft unvernichtbarer sittlicher Freiheit. Aber der hier von einem Berufenen und Bewährten aufgedeckte Sachverhalt, der durchaus einleuchtet, sollte inständig beherzigt werden: Er bedeutet eine nicht unerhebliche Einschränkung aller Erklärungen der Sachverständigen über die Wirkung moderner Waffen, welche Erklärungen einmal aufwühlen, dann wieder einlullen, meisterlich stilisiert, fast von kurialer Vollkommenheit, was die Kunst gleichzeitigen Gebens und Nehmens angeht. Aber dahinter ist entsetzliche Not: die des zwischen Ja und Nein gekreuzigten Menschen unserer Tage, unseres Westens, des Menschen, der tut und tun muß, was er nicht will und was doch nicht wegzudenken ist, dessen Wertwelt - zu seiner Ehre! - immerfort sein Gewissen beunruhigt.
Die These aber, daß der Feind mit der böseren Waffe niedergehalten werden könne oder müsse, ist entweder Wahn oder Unaufrichtigkeit. Denn die Welt ist ja längst ein Ganzes geworden; Erfindungen teilen sich lautlos mit, und namentlich die Gedanken des Teufels sind kaum mehr auf die ihnen von Verrätern oder Spionen gebotene Reisevermittlung angewiesen. Sie laufen ungehemmt um die Welt.
Geschichtliche Katastrophen pflegen Devisen voranzulaufen oder vorangeschickt zu werden, die die Situation entstellen, indem sie diese vereinfachen. Eine solche ist die Alternative: Freiheit oder Leben? Ein jeder Mündige hat das Recht, seinen Tod der Versklavung, einer ungemäßen, unwürdigen Lebensweise vorzuziehen - sofern er in dieser Sache mit seinem Gott in Frieden ist; ein jeder das Recht, sein Leben für die Verteidigung der Seinen, der geliebten Heimat, der Kultur, der er verdankt, was er ist, hinzugeben. Diese Alternativen beleben aber nur den Vordergrund der Bühne, auf der das Drama dieser Zeit spielt. Der amerikanische General James Gavin hatte das Verantwortungsbewußtsein und den Freimut, auf eine Frage zu erklären, daß in einem totalen Atomkrieg mit mehreren hundert Millionen Toten zu rechnen sei. Wo? Nun, das wird in einem gewissen Grade die Windrichtung entscheiden. Dort eben, wohin der Wind weht. Das würde doch wenigstens den Tod von hundert Millionen Kindern bedeuten, die nach Freiheit und Unfreiheit nicht gefragt werden können. Und diese entsetzliche Last bedrückt heute diejenigen, die sich in Wahrheit verantwortlich fühlen und mit Geschichte vertraut sind; das heißt, die wissen, daß ein Staat, eine Ideologie, die am äußersten Rande um ihre Existenz kämpfen, mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit auf die letzte sie vielleicht noch verteidigende Waffe verzichten werden. Der Herr der zwölf Jahre hätte es gewiß nicht getan.
Natürlich geht es in der ganzen Sache nicht um das Getötetwerden, sondern um das Töten. Und der Fall ist doch immerhin denkbar, daß eine Frau, eine Mutter weniger zittert vor dem Ausbleiben des Mannes, des Sohnes, als vor seiner Heimkehr mit vom Gebrauch der modernen Waffen befleckter Hand, zerstörter Seele, zerrüttetem Geist. Der Mensch, der auf diese Weise tötet, zerstört sich selbst. Die Welt, wie wir sie vor uns sehen, ihre Arbeit, ihre Tendenz scheint bereits einen Befehl, einen Gehorsam vorauszusetzen, die nicht verantwortbar sind und also mit unserer überkommenen Vorstellung vom Soldaten und seiner Ehre nichts mehr zu tun haben. Es kann ja sein, daß künftig Abmachungen diese Tatsache in Frage stellen. Heute kann davon keine Rede sein.
Es wäre einfach, wenn wir zwischen Freiheit und Leben zu entscheiden hätten. Aber es ist nicht so. Ich selber - nehmen Sie das bitte nicht als subjektive Anmaßung, sondern als bescheidenen Versuch, Irrtümern und Mißdeutungen zu begegnen, die die Folge oberflächlicher Beschäftigung und Kenntnis sind -, ich wäre sehr froh, wenn ich Pazifist sein könnte. Aber ich bin das nicht und habe das, ich weiß nicht wie oft, erklärt: Für mich spielt alles Geschichtliche unter einem Gewitterhimmel, und die furchtbaren Worte, die im Evangelium von den Letzten Dingen dieser Welt gesagt sind, dröhnen mir in den Ohren. Wie inständig wünsche ich, es werde nicht so kommen! Aber es ist eben gesagt - und wir haben die Welt nicht gemacht -, und in der Erschütterung darüber möchte ich gerne einen Ort halten in der Nähe der Gefolgschaften des heiligen Toren von Assisi, der bekanntlich auch den ihm sich anschließenden Laien Eid und Waffe verboten hat. Das ist eine rein personale Entscheidung, aus der nichts für meine Mitmenschen folgen kann. Aber ich neige mich in dieser Frage der demütigsten und - für mich - zugleich größten Autorität der den Aposteln folgenden Zeit; sie steht mir höher als alle Abschwächungen, die ein so bedenklicher Radikalismus später erfahren hat; höher als die ihr widersprechende herrschende Lehre und Moraltheologie, von der es ein jeder, der Geschichte und die Stellung des repräsentativen Christentums in ihr kennt, gar nicht erwarten und fordern kann, daß sie sich dem Heiligen von Assisi anschließen werden. Denn die Welt, wie sie ist, würde darauf antworten mit erbarmungslosem Haß und zugleich der Vernichtung aller religiösen Repräsentationen und Darstellung, auch der Liebeswerke, weil nämlich damit ihrem ganzen Gefüge, dem politischen wie dem wirtschaftlichen, ein unerträgliches Nein entgegengesetzt würde.
Aber auch wer sich in diesem Sinne entschließt, kann sich in keiner Weise entlastet fühlen. Er lebt ja doch in einem Staatsverbande, der anders gesonnen ist und vielleicht sein muß und dessen Schutz er genießt. Er ist immer Bruder seiner Brüder und immer unter der Schuld seiner Welt und Zeit.
Auf dem Radarschirm in der Kapitänskajüte ist deutlich der Umriß des Todesschiffes zu sehen, das von seinem Kurse nicht abweichen wird. Biegen wir aus? Was soll denn nun geschehen und getan werden? Es müßte geschehen, was noch niemals geschehen ist, wenn die Welt, die wir kennen und lieben, gerettet werden soll. Das heißt: es müßte zum ersten Male seit Anfang Friede geschlossen werden im Sinne Kants. Aber Kant machte eine Vorbedingung, nämlich die, daß mitten im Kriege ein Vertrauen auf die Denkungsart des Feindes übriggeblieben sein müsse; sonst könne kein Friede geschlossen werden, und die Feindseligkeit müsse in Ausrottungskrieg ausschlagen.
Nun, dann also Waffenstillstand. Der läßt doch noch eine Hoffnung. Wir können ja noch arbeiten im Vertrauen auf die Macht geistiger Veränderungen. Solche Veränderungen realisieren sich in der Geschichte in Existenzen, als Menschen, die Gedanken des Friedens leben, erleiden, an ihnen scheitern. Kaiser Heinrich III., von Schlachtfeld zu Schlachtfeld getrieben, bekannte den Frieden vor dem Kreuz. Das heißt: ohne Opfer ist kein Friede. Und das echte Opfer allein würde dafür zeugen und die Friedenslüge vernichten oder den Willen zum Frieden glaubwürdig machen. Wir können in dieser unserer Zeit noch Natur empfinden. Ob das künftigen Geschlechtern beschieden oder zugänglich sein wird, weiß ich nicht. Wir können noch eine Mondnacht an den unberührten Schilfufern des Mälar erleben oder über die im Sonnendunst schwelende Stille finnischer Kiefernwälder fliegen; uns einen Abend gönnen in einem rebenüberdachten Garten des nördlichen Portugal beim Rascheln der Palmen und sanftmütigen Schritt der hoch bejochten Ochsen oder einen Morgen im Angesichte des Schwarzwalds, wenn die Bauern die Ställe offenhalten und der Hauch durch die Täler herunterweht in die Stadt: auch das steht auf dem Spiele mit allem, was lebt und webt, mit der schuldlosen Kreatur. Und also, in Gottes Namen, wollen wir versuchen, den Frieden zu tun. Kein Schriftsteller, der seine Sache ernst nimmt, wird sich einbilden, daß er Staaten und Völkern etwas vorschreiben kann. Auch weiß er wohl, daß für die Lenker der Staaten und Völker Gesetze gelten, von denen er frei ist: er nun wirklich, in seiner geistigen Entscheidung, nicht in seiner Beziehung zur Öffentlichkeit, eine einigermaßen freie Existenz. Als solcher kann, möchte er nur, aus der ganzen Kraft seines Herzens ein Zeichen sein, und zwar der Liebe: gegen alle Wahrscheinlichkeit muß an der Stelle, wo wir angelangt sind, eine Hoffnung sich erheben, ein Bemühen entfacht werden, die den heute gedachten, vollzogenen Gedanken des Todes entgegen sind. Alle Katastrophen der Geschichte haben sich im Geistigen und Sittlichen ereignet, ehe sie sich in materiellen Machtkämpfen dargestellt haben. Sie sind also angewiesen auf ein bestimmtes Klima des Denkens, Glaubens, Wünschens; wo sie dieses nicht spüren, brechen sie nicht vor. Um dieses Klima geht es in dieser Stunde unheimlichen Waffenstillstandes. Wir sollten der drohenden Katastrophe dieses Klima verweigern. Wer seiner Sache sicher ist, kann opfern, ausharren, hoffen. Geschichtliche Berufungen, Legitimationen wechseln, zerfallen, wenn ihr Ziel erreicht ist; nicht das Sittliche, das personaler Freiheit anvertraut ist. Es könnte eine Gnade sein, daß uns Deutschen, uns allein, die nationale Geschichte in Scherben vor den Füßen liegt: vielleicht sollen wir anfangen in der Richtung auf einen neuen Gedanken, in der Richtung auf das Leben der Welt. Wer erwartet, daß sich die Geschichtswelt mit einem Schlage verändert? Aber eine Änderung ist überhaupt nicht zu erwarten, wenn sie nicht in einzelnen plötzlich geschieht, wie der Sturz des Paulus vom Pferde, wie im Abbé Saint-Pierre, dem sein Reiseunfall Stoff und Zeit zum Nachdenken schenkt. Wenn der Krieg im Kriege nicht aufhöre, woher dann Friede kommen solle, hat Schiller gefragt. Nun, der Krieg hat im Krieg nicht aufgehört. Aber in gewisser Weise haben wir ja noch Krieg: das heißt, wir können noch immer versuchen, ihn in uns und vom Menschen zum Menschen zu beenden. Voraussetzung im Innern ist soziale Gerechtigkeit, die Achtung vor einer jeden reifen Überzeugung, die Würdigung der Arbeit und jeder echten Leistung.
Der deutsche Buchhändler, der deutsche Schriftsteller sind dem Geistesleben eines Volkes verpflichtet, das, wider Willen geteilt, sich auf den Brückenköpfen der abgerissenen Brücke gegenübersteht. Es gibt ohne Zweifel noch viele nicht genutzte Möglichkeiten, der drohenden geistigen Entfremdung und Sprachentzweiung entgegenzuwirken. Zum mindesten auf privatem Wege könnte und muß sehr viel mehr geschehen, wie auch die geistige Isolierung und drohende Stagnation West-Berlins vom einzelnen noch viel ernster genommen werden müßte. Das ist nicht Sache der Regierungen allein, sondern eben eines jeden.
Freilich ist es wahr: Friede als solcher ist nicht der höchste Wert; sittlich-personale, geistige, religiöse Werte sind ihm übergeordnet. Friede aber als geschichtliche Darstellung glaubensstarker Liebe zu Gott, der Menschheit und aller Kreatur könnte wohl der höchste Wert sein. Wir sind hier nicht weit vom Grabe Arthur Schopenhauers, und heute ist der 23. September, der Tag, an dem vor vierundneunzig Jahren der Tote im Schmuck eines Lorbeerkranzes hier zur Leichenkammer getragen wurde. Er war übrigens mit Kant der Meinung, daß man einen jeden Krieg mit einem Bußtag beschließen müsse. Er hat Liebe als Mitleid definiert, und was das Kreatürliche angeht, so hat er recht. Wir haben Grund zu einem grenzenlosen Mitleid mit der gegenwärtigen Welt und aller Kreatur.
Unsere Aufgabe ist: durch unser ganzes Sein und Wirken eine nach Tyrannis strebende Ideologie, eine höchst unzureichende, auf längst überholten Voraussetzungen ruhende Auffassung von Mensch und Geschichte durch eine überlegene Erkenntnis und Haltung zu beantworten. Die Antwort finden wir leicht, und sogar in Rußland selbst, in dem Geiste, der es vor einem Jahrhundert ahnend und freilich auch irrend geführt hat: in dem, was Dostojewskij als Ergründer der Menschenseele von der ins Metaphysische reichenden Tiefe, dem Ankergrund der Menschenseele, gesagt hat: Es ist der Abgrund der Liebe und des Bösen, dem kein Programm beizukommen vermag. In diesem Sinne ist Geschichte Manifestation des Menschen, des sich wandelnden und bleibenden, in Abhängigkeit und Freiheit zwischen Himmel und Hölle.
Und mit dem letzten Wort komme ich abschließend zu dem Königsberger Lehrer der Völker zurück - wie sehr wünschte man, daß er unser Lehrer wäre! Er hat seiner von ungeheurer Anstrengung ermüdenden Kraft ein Jahr nach Veröffentlichung der Friedensschrift ein letztes Wort vom Frieden abgerungen. Da er ihn, wie er wohl wußte, in der Welt nicht herbeiführen konnte, so versuchte er es wenigstens auf seine ironisch-gütige Weise, in der Anmut seiner Humanität, mit der Verkündung eines ewigen Friedens in der Philosophie. Hier spricht er am Ende von der Lüge, die er ausdrücklich vom Vater der Lüge, also dem Fürsten der vorhin erwähnten Hölle - aber, nach dem Evangelium, auch der Welt - ableitet. Der Friede, sagt er, wäre nicht nur bewirkt, sondern für alle Zukunft gesichert, wenn das Gebot »Du sollst nicht lügen« Grundsatz werden würde. Und somit bleibt einem jeden von uns das wichtigste Friedenswerk überlassen - und es steht einem jeden frei, die Resonanz zu beobachten, die das Geschehen in uns und um uns, in der ganzen Welt, im Räume solchen Ernstes, solcher Sittlichkeit hat.
Und das ist ja der Inhalt der uns von dieser Stunde auferlegten Einsicht, daß geschehen muß, was noch nie geschehen ist, wenn die Welt, die wir vor uns sehen, die wir lieben, der wir dienen möchten, gerettet werden soll.
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Reinhold Schneider
Dankesrede des Preisträgers
Chronik des Jahres 1956
+ + + Die Volkskammer der DDR beschließt Anfang des Jahres 1956 die Schaffung der Nationalen Volksarmee. Auf dem XX. Parteitag der KPdSU enthüllt Parteichef Chruschtschow die von Josef W. Stalin begangenen Verbrechen. Walter Ulbricht erklärt im März, »Stalin ist kein Klassiker des Marxismus«. + + + Vertreter der USA und der Bundesrepublik unterzeichnen am 18. Februar ein Abkommen über die friedliche Nutzung der Atomenergie. + + +
+ + + Im April nimmt der Bundesnachrichtendienst (BND) offiziell seine Tätigkeit auf. + + + Am 7. Juli verabschiedet der Bundestag das Wehrpflichtgesetz. Damit wird die künftige Bundeswehr eine Wehrpflichtarmee. Außerdem wird ein ziviler Ersatzdienst für Kriegsdienstverweigerer eingerichtet. + + + Ein Arbeiteraufstand in der polnischen Stadt Posen wird Ende Juni durch Armee Einheiten niedergeschlagen. Nach offiziellen Angaben kommen dabei 53 Menschen ums Leben, rund 300 werden verletzt. + + + Mit einer Studentendemonstration beginnt im Oktober der Volksaufstand in Ungarn. Als sich auch die Arbeiter dem Protest anschließen, greift, wie drei Jahre zuvor in Ost-Berlin, die Sowjetarmee ein. Anfang November wird der »Ungarische Volksaufstand« durch ihre Truppen und Panzer blutig niedergeschlagen. Hunderte von Ungarn werden hingerichtet, viele Tausende verhaftet, und fast 200 000 Menschen fliehen in den Westen. + + + Israelische Streitkräfte greifen Ende Oktober Ägypten an und besetzen innerhalb kürzester Zeit die gesamte Sinai-Halbinsel. Sie reagieren damit auf die ägyptische Verstaatlichung des Suezkanals. Auf Druck der USA und der UdSSR wird der Konflikt im November beigelegt. + + +
Biographie Reinhold Schneider
Nach dem Abitur und einer kaufmännischen Ausbildung wagt es der am 13. Mai 1903 in Baden-Baden als Sohn eines Hoteliers geborene Reinhold Schneider 1928, freier Schriftsteller zu werden. Seine geschichtsphilosophischen Werke, zum Beispiel über den spanischen König Philipp ii., die Hohenzollern, das britische Inselreich und Kaiser Lothar, umkreisen das Verhältnis von Religion und Macht, von Geschichte und menschlicher Existenz, das sich Schneider nicht anders als tragisch vorzustellen vermag.
Die während des Zweiten Weltkrieges verfassten Widerstandsschriften (Essays, Betrachtungen, Gedichte) werden teilweise auf illegalem Wege veröffentlicht, abgeschrieben, vervielfältigt und von Hand zu Hand gereicht. Sein Buch Las Casas vor Karl v. (1938) gilt bis heute als ein mutiger und öffentlicher Protest gegen die nationalsozialistische Verfolgung der Juden. Als Schneider im Jahr 1945 wegen Hochverrats und »Defätismus« angeklagt wird, bewahren ihn das Ende des Krieges und der Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes vor einer Verurteilung.
In der Zeit des Kalten Krieges bringt ihn sein in Ost und West ansetzendes radikalpazifistisches Engagement in Konflikt mit tonangebenden politischen Kreisen in der Bundesrepublik. 1954 gibt er zusammen mit Helmut Gollwitzer und Käthe Kuhn Abschiedsbriefe und Aufzeichnungen des Widerstands 1933–45 unter dem Titel "Du hast mich heimgesucht bei Nacht" heraus.
Reinhold Schneider stirbt am 6. April 1958 im Alter von 54 Jahren.
Auszeichnungen
1956 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
1948 Gedenkpreis der Badischen Landesregierung
Bibliographie
Der grosse Verzicht
1950
Spiel vom Menschen
1949
Belsazar
1949
Der Kronprinz
1948
Aar mit gebrochener Schwinge
1948
Schwermut u. Zuversicht
1948
Worte der Besinnung. Aus dem Werk
1948
Erworbenes Erbe. Zum Gedächtnis der Droste
1948
Der Mensch und das Leid in der griechischen Tragödie
1947
Macht und Gewissen in Shakespeares Tragödie
1947
Herz am Erdsaume
1947
Die neuen Türme
1946
Fausts Rettung
1946
Die Heimkehr des deutschen Geistes
1946
Die neue Ehre
1946
Kleists Ende
1946
Von der Würde des Menschen. Essays
1945
Der Dichter vor der Geschichte
1943
Der Überwinder
1942
Der Abschied von Frau Chantal
1942
Die dunkle Nacht
1941
Das Vaterunser. Nach dem Grossen Krieg
1941
Macht u. Gnade
1940
Theresia von Spanien
1939
Das Erbe im Feuer
1939
Auf Wegen deutscher Geschichte
1939
Las Casas vor Karl V., Szene aus der Konquistadorenzeit
1938
Das Inselreich, Gesetz und Grösse der britischen Macht
1936
Die Hohenzollern
1933
Philipp II.
1931
Portugal, Ein Reisetagebuch
1931
Das Leiden des Camöes oder Untergang und Vollendung der portugiesischen Macht
1930