Heinrich Lübke
Auf den Preisträger 1960
Laudatio auf Victor Gollancz
Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels hat dem englischen Schriftsteller und Verleger Victor Gollancz den Friedenspreis 1960 zuerkannt. Damit ehrt er nicht nur ein außerordentliches Werk; er zeichnet den Menschen Victor Gollancz aus, dessen berufliches Leben und Wirken stets im Einklang stand mit seiner inneren Überzeugung, der auch dann, wenn seine Worte der öffentlichen Meinung widersprachen, furchtlos der Wahrheit diente; den redlichen Menschenfreund, der sich in Wort und Schrift einsetzte für Frieden und Freiheit in der Welt; den warmherzigen Freund Deutschlands, der zwar gegen das Unrecht kämpfte, das im deutschen Namen begangen wurde, der dem deutschen Volke aber ein hilfsbereiter und erfolgreicher Anwalt war.
Victor Gollancz wird es verstehen, daß ich die Würdigung seines Werkes aufbaue auf den in seinen Schriften vertretenen Grundgedanken und deren besonderer Auswirkung auf sein persönliches Verhältnis zu Deutschland. Ich beginne da, wo er mir nach dem Zusammenbruch Deutschlands zuerst begegnete.
Wir Deutsche waren Besiegte. In den Augen vieler galten wir als Menschen minderen Rechts, als Parias, die den Stempel der Schuld auf ihren Stirnen trugen und so von der übrigen menschlichen Gemeinschaft weitgehend ausgeschlossen waren. Alles, was unser geschichtliches und kulturelles Wollen und Können ausgemacht hatte, auch die Zeugnisse einer großen und ehrenhaften Vergangenheit, schienen fragwürdig geworden. Der Krieg hatte unsere materiellen Lebensgrundlagen zerstört. Die in Trümmer gelegten Städte - Berlin, Breslau und Dresden, Königsberg und Freiburg, die Industriezentren an Rhein und Ruhr und Frankfurt - waren Brutstätten der Verzweiflung geworden.
Was Gollancz in jenen Jahren 1946/47 in Deutschland sah - und er begnügte sich nicht mit oberflächlichen Eindrücken - hat er im Januar 1947 zusammengefaßt in seinem Buch »In Darkest Germany«. Mit diesen Bildern aus Elendsquartieren, in denen Menschen wie Tiere hausten, aus überfüllten und mit unzulänglichen Mitteln ausgestatteten Krankenhäusern, in denen die Menschen Hungers starben, aber auch mit seinen Schilderungen von Deutschen, die trotz aller Widrigkeiten daran gingen aufzubauen, hat er sich an das Gewissen des englischen Volkes gewandt. Und viele seiner Landsleute, die bislang verständliche Haßgefühle gegen die Deutschen hegten, auch solche, die damals Einfluß auf das deutsche Schicksal hatten, begannen nachzudenken, zu begreifen und zu helfen. Gollancz' Buch wurde von vielen gelesen. Die erste Auflage war bereits im ersten Monat ihres Erscheinens vergriffen, eine zweite folgte ihr und bereits einen Monat später eine dritte. Die Berichte, oft aus der Unmittelbarkeit des eben empfangenen Eindrucks niedergeschrieben, sind glänzende Analysen. Gleichzeitig sind sie aber auch Anklagen und unüberhörbare Forderungen, den Menschen im Deutschen zu sehen und ihn entsprechend zu behandeln.
Aus Zeitgründen entnehme ich diesem Buch nur ein einziges Zitat. Über die Jugend in Deutschland schreibt er: »Die Haltung der jungen Menschen schwankt zwischen einem verständnislosen Staunen, noch mit freundlichen Gefühlen für die Engländer - das ist die Minderheit - und Bitterkeit, Zynismus und wachsender Feindseligkeit uns und unserem Wirken gegenüber. ... Und sie fragen, ob Demokratie Hungerrationen und Mangel an den dringendsten Lebensnotwendigkeiten bedeute, oder ob sie bedeute, daß man Menschen aus ihren Wohnungen treibt und ihnen ihre Möbel wegnimmt, ob sie bedeutet, daß man Schiffswerften in die Luft sprengt, Fabriken schließt und Zehntausende von Arbeitern auf die Straße setzt. ... Zugrunde liegt dem allen die Angst vor der Zukunft. Wieder und wieder hat man mir gesagt: >Es ist uns nicht wichtig, wie hart unser Leben sein wird, wenn wir nur auf etwas hoffen können.<«
Es ist Victor Gollancz damals gelungen, die Trägheit der Herzen und die Verdunkelung der Gehirne in weiten Kreisen der englischen Bevölkerung zu überwinden. Wir haben es ihm zu danken, daß der Bann damals wenigstens teilweise gebrochen und auch das Verbot der Fraternisierung aufgehoben wurde. Gerade hierin sah er die schlimmste Sünde gegen die Menschlichkeit.
Victor Gollancz hat sich aber nicht damit begnügt, die großen Linien einer verantwortungsvollen Deutschlandpolitik aufzuzeigen, die auf Versöhnung und Gerechtigkeit aufgebaut sein sollte. Er hat jeden Fall der Rücksichtslosigkeit oder ungerechter Behandlung, der ihm vorgetragen wurde, aufgegriffen, gleichviel, ob es um die Verelendung der Jugend, den Hunger der Menschen, die Demontage verbliebener Arbeitsmöglichkeiten für Deutsche oder um die Kriegsgefangenen ging. Indem er dem einzelnen helfen wollte, versuchte er, dem ganzen deutschen Volk menschenwürdige Lebensbedingungen zu schaffen, und indem er Deutschland vor der Verelendung bewahren wollte, suchte er, Europa zu retten. So dürfen wir auch die Gründung der Organisation »Save Europe now« verstehen. Sie sollte das Gewissen der Europäer wecken und das Gefühl einer europäischen Gemeinsamkeit aufbauen.
In den zwei Bänden seiner Autobiographie finden wir viele Zeugnisse dieses Willens zur Brüderlichkeit allen Menschen gegenüber und des Bewußtseins der Verpflichtung, allen Notleidenden zu helfen. Gleichzeitig findet in diesen Werken die literarische Begabung Victor Gollancz' ihren sichtbarsten Niederschlag. Manchmal läßt er den gesponnenen Faden seiner Erzählung oder seiner Reflexion einfach fallen, weil ihm plötzlich eine Blume oder ein Regenbogen in die Augen springt. Er kann sich verwundern über alltägliche Naturerscheinungen, wie es nur Kinder oder Weise vermögen. Bezeichnenderweise sagte Goethe einmal: »Wer sich nicht mehr verwundern kann, hört auf, ein Weiser zu sein.«
Victor Gollancz, der Feind, der uns wie unser bester Freund begegnete, der Brite, der nicht Unterwerfung verlangte, sondern um unser Vertrauen warb, der Jude, der uns nicht als Mörder ansah, sondern als »Mitglieder der allumfassenden Bruderschaft der Menschen« hat damals einen Sieg über uns errungen, der im menschlichen Bereich viel schwerer wiegt als ein Sieg der Waffen. Er hat die Menschen gewonnen, zueinandergeführt und damit den Frieden bereitet.
Angesichts seiner Großmut und seines rastlosen Einsatzes für Deutschland müssen wir uns fragen: Woher bezog Victor Gollancz den Antrieb und die Kraft zu solchem Handeln und woher den Mut, sich dem allgemeinen Trend zu widersetzen? Wie brachte er es fertig, trotz aller Scheußlichkeiten, die - wenn auch nicht von uns, so doch in unserem Namen - begangen worden waren, uns ohne Ressentiments, ohne Haß zu begegnen? Wie konnte es sein, daß er damals schrieb, er liebe die Deutschen?
Wenn man sein Leben zurückverfolgt und wenn man liest, was er in den zwei Bänden seiner bekenntnishaften Autobiographie »My dear Timothy« und »More for Timothy« schildert, dann spürt man, daß eine der bestimmenden Triebkräfte in seinem Leben die starke, ungemein tiefe Religiosität ist. Ich meine damit nicht seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft, zum Judentum, zu dem er sich bekennt. Ich meine religio im ursprünglichen Sinn ihrer Bedeutung als Bindung an Gott und als Hingabe an seinen Willen. Die Gotteskindschaft aller Menschen ist ihm kein frommes Gleichnis, sondern eine Realität, die die Forderungen gegenseitiger Liebe und brüderlicher Gemeinschaft an uns stellt. Wer haßt, wer Unrecht tut, wer nicht hilft, wo er Not sieht, versündigt sich nicht nur an seinem Bruder. Er stört Gottes Ordnung. So sagte Gollancz beispielsweise in seiner Rede bei der Gründung der Organisation »Vereinigtes Europa« am 14. Mai 1947 in der Albert-Hall: »Haß ist jede Art der Fessel. Freiheit, wirkliche Freiheit, ist die Freiheit zu lieben und die Freiheit, ein Bruder zu sein.«
Sein ganzes Schrifttum ist gezeichnet vom Glauben an das Gebot der Brüderlichkeit, vom Gefühl der Verpflichtung allen Notleidenden gegenüber und von seiner Fähigkeit, fremdes Leid wie eigenes zu empfinden. Gollancz schildert, wie ihn als Schüler am Vorabend des Sabbat der Heimweg durch Londoner Elendsquartiere geführt hat. Der Schmutz, die Armut, die Trostlosigkeit, denen er hier begegnete, die schon den Kindern, die hier aufwuchsen, ihren Stempel aufdrückten, prägten sich seinem Bewußtsein unauslöschlich ein. Eine soziale Ordnung, in der dies möglich war, konnte nicht gerecht sein, und deshalb suchte Gollancz nach Wegen, wie man um der Menschen willen die Welt ändern könnte. So kam er zum Sozialismus, dessen mannigfache Spielarten er durchlief und in seinem politischen Wirken fruchtbar machen wollte. Sein Sozialismus ist aber wohl immer ein Sozialismus eigener Art und Prägung gewesen. Er hat dabei immer an dem Glauben festgehalten, »daß die menschliche Persönlichkeit heilig ist und daß jeder Mensch, Mann oder Frau, vor Gott ein unveräußerliches Recht auf freie Entwicklung seiner ihm gegebenen Möglichkeiten hat.« Und weiter sagt er, Freiheit sei »das Ziel, die eigentliche Freiheit zu erlangen, die Freiheit ..., ganz und wahrhaftig ein Mensch zu sein.« Seine Ideenwelt gründet in der abendländischen Geistesgeschichte, wie sie sich aus der Verschmelzung von Wesenselementen des Judentums, des Christentums und des Humanismus entwickelt hat.
Geistigen, kulturellen und auch politischen Strömungen gegenüber, die meiner Auffassung widersprechen, schreibt Gollancz, muß ich tolerant sein, weil ich als Mensch in meiner Unvollkommenheit ja bestenfalls im Besitz einer Teilwahrheit sein kann. Erst aus der Zusammenschau aller, auch der widersprüchlichsten Auffassungen, kann sich die Wahrheit herauskristallisieren, der nachzustreben uns aufgegeben ist. So ist das liberale Element in der Persönlichkeit von Victor Gollancz ebenfalls religiös und ethisch begründet.
Schon sehr früh drängte es ihn, seine Gedanken anderen mitzuteilen und in die Wirklichkeit umzusetzen. Nach seinen Studien in Oxford, die sehr breit angelegt waren und die christliche Theologie ebenso einbezogen wie die klassischen Sprachen und englische Literatur, ging er als Lehrer nach Repton. Wenn auch dieser erste Versuch, wie Gollancz selbst sagt, scheitern mußte, so brachte er ihm doch neuen Gewinn: Er entdeckte an seinen Schülern, daß in jedem Menschen ein guter Kern stecke, der trotz vieler Schwächen »nach Berührung und Vereinigung mit dem Schönen und Guten« strebe. Diesen guten Kern wollte er ansprechen und im Unterricht, aber auch in der persönlichen Auseinandersetzung mit seinen Schülern entwickeln und fördern. Als er erkannte, daß die Schule nicht sein Arbeitsfeld war, entschloß er sich, politische Bücher zu schreiben und zu verlegen, und damit hatte er seinen eigentlichen Beruf gefunden.
Ich kann hier nicht seinen ganzen Weg als Schriftsteller und Verleger aufzeigen. Einiges von dem, was besonders bedeutsam für ihn erscheint, soll aber herausgegriffen werden. Er wollte das politische Buch in alle Kreise der Bevölkerung bringen, besonders in die Arbeiterschaft. Durch die Beschäftigung mit den politischen Problemen ihrer Gegenwart sollten die Menschen in die Lage versetzt werden, im demokratischen Staat mitzuarbeiten und Mitverantwortung zu übernehmen. So gründete er den »Left-Book-Club« als eine Buchgemeinschaft für politische Literatur. Diese Buchgemeinschaft richtete sich in erster Linie gegen das Erstarken des Faschismus in Europa und sollte im englischen Volk ein Bollwerk gegen das Vordringen solcher Ideen aufrichten. Es ist die Tragik des »Left-Book-Club«, daß er Victor Gollancz, den fanatischen Anhänger der Freiheit, vorübergehend in die Nähe der Kommunisten brachte. Es wurde ihm der Vorwurf gemacht, der »Left-Book-Club«, als dessen »Zaren« man Victor Gollancz bezeichnete, habe zeitweise »ziemlich schamlose kommunistische Propaganda« betrieben. Dem müssen wir gerechterweise entgegnen, daß Gollancz Bücher geschrieben und verlegt hat, weil er alle Kräfte gegen Hitler und den an Boden gewinnenden Faschismus zusammenfassen wollte. Als das schändliche Zusammenspiel der Kommunisten mit Hitler bei Ausbruch des zweiten Weltkrieges offensichtlich wurde, prangerte er sofort die Doppelzüngigkeit der Kommunisten an und wies auf ihren Anteil an der Kriegsschuld hin. Das Buch »The betrayal of the left« ist ein hervorragendes Zeugnis für den ausgeprägten Willen zur Ehrlichkeit, der in Victor Gollancz' Werk immer wieder zutage tritt. Auch an anderer Stelle und in anderem Zusammenhang hat er sich selbst oft schonungslos dargestellt und seine Irrtümer aufgedeckt. Man hat manchmal den Eindruck, daß er sich vieles vom Herzen schreibt, um nachher, dadurch freier und gelöster geworden, sich der gewählten Aufgabe wieder mit neuer Kraft widmen zu können.
Mit dem »Left-Book-Club« hatte sich Gollancz ganz in den Dienst des Friedens gestellt. Er haßte den Krieg und schrieb gegen jede Anwendung von Gewalt. Als er aber sah, daß es nicht möglich war, durch ständiges Nachgeben und Verzicht auf Anwendung von Macht dem erpresserischen Vordringen Hitlers Widerstand zu leisten, entschied er sich doch für das Aufgebot der Gewalt. In einem Artikel der Monatsschrift des »Left-Book-Club« schreibt er wenige Tage vor der Münchner Konferenz 1938: Es müßten sich alle Staatsbürger, Arbeiter und Soldaten in den Dienst des Krieges stellen, falls er unvermeidlich sei. Gleichzeitig aber fügt er hinzu, was einzig und allein Sinn eines solchen Krieges sein könne: die Zerstörung des sozialen und politischen Systems des Faschismus - nicht aber die Vernichtung des deutschen Volkes. Sein Aufruf schließt mit der weitblickenden Forderung: »Der Fluch von Versailles darf sich nicht wiederholen.« Als ein Jahr später der Zweite Weltkrieg beginnt, weil die Vermessenheit Hitlers keine Grenzen mehr kennt, stellt sich Victor Gollancz unverzüglich der neuen politischen Aufgabe. Er wird zu einem für seine Regierung häufig unbequemen Mahner und für die englische Öffentlichkeit so etwas wie ein ständiger Gewissensanruf. Seinen Kampf gegen den Faschismus verbindet er mit dem Kampf gegen Haß und Verblendung. Seinen Mitbürgern sagt er, sie sollten nicht Hitler und den Nationalsozialismus mit dem deutschen Volk identifizieren. Im Gegenteil: die Deutschen litten selbst unter einer despotischen Herrschaft, die ihre Freiheit und Menschenwürde mit Füßen trete. Immer dann, wenn er Verbrechen Hitlers und seiner Werkzeuge geißelt, gedenkt er gleichzeitig jener Deutschen, die trotz aller Hoffnungslosigkeit und Aussichtslosigkeit aktiven oder passiven Widerstand leisten. Aber auch die anderen, die Trägen und Mutlosen, die nicht die Kraft aufbringen, sich dem nationalsozialistischen Regime zu widersetzen, nimmt er in Schutz.
»Stellen Sie sich vor, Sie seien ein Deutscher!« ruft er und stellt die Frage, wer denn in England so furchtlos und tapfer gewesen wäre, so beherzt und opferwillig, einem System totalitärer Unterdrückung zu widerstehen. Er schreibt: »Sie haben gräßliche Gerüchte darüber gehört, was in den Gefängnissen und Konzentrationslagern vor sich geht. ... Überall eine Atmosphäre von Geheimnis und Grauen; aber man erfährt nichts Genaues, denn es gibt keine freie Presse, keine freie Diskussion, nicht einmal ein freies Privatgespräch. ... Sie wissen, daß jedes Wort der Kritik, eine indiskrete Frage schon, für Sie ein furchtbares, kaum vorstellbares Schicksal heraufbeschwören kann. Und wenn Sie Kinder haben, dann auch für diese. Was können Sie tun? Sie können versuchen, die Wahrheit über die Konzentrationslager zu erfahren, obwohl Sie genau wissen, daß Sie schon durch einen solchen Versuch mit Wahrscheinlichkeit Ihren Haftbefehl erwirken. Bleiben Sie noch verschont, so können Sie sich einer Widerstandsgruppe anschließen, diesmal mit der Gewißheit, daß nur ein Wunder Sie retten kann. Werden Sie so handeln? Wenn Sie ein Held sind, ja; wenn nicht, nein. Sind Sie ganz sicher, daß Sie ein Held sind? Wenn Sie darüber den geringsten Zweifel hegen, lesen Sie in der Bibel im Johannes-Evangelium, Kapitel 8, Vers 7, und werfen Sie nicht den ersten Stein.«
Daß Victor Gollancz schon während des Krieges seinen Landsleuten diesen Geist des Verstehenwollens und der Bereitschaft zur Aussöhnung vorlebte, ist eines der schönsten Zeugnisse für die Größe und Moralität seiner Persönlichkeit. Daß er es tun konnte in einem Land, das mit Deutschland im Kriege lag, und das nur durch die Aufbietung aller Kräfte in der Lage war, dem faschistischen Ansturm zu widerstehen, ist gleichzeitig ein Beweis für die tiefe Verwurzelung freiheitlichen Denkens im englischen Volk, an dem Victor Gollancz mit großer Liebe hängt und als dessen Angehöriger er sich immer gefühlt hat. Nach der Gründung des Staates Israel entstand, wie er es nennt, das »Gerede« von einer zweiseitigen Loyalität der Juden. »Meint Ihr wirklich«, schreibt er, »daß mein Stolz darauf, mit 48 Millionen anderer Engländer der Erbe der englischen Tradition der Freiheit zu sein, geringer geworden ist, weil ich auf die soziale Gerechtigkeit und die selbstlose Zusammenarbeit in den Kollektivfarmen Palästinas stolz bin?« In einem Land, in dem die Demokratie in jahrhundertelanger Entwicklung organisch wachsen konnte, wo Freiheit des einzelnen und sein Recht auf freie Meinungsäußerung selbstverständlich sind, war es möglich, auch die Stimme der Versöhnung laut werden zu lassen. Wir Deutsche, die wir in diesem Jahrhundert zum zweiten Mal den Versuch unternahmen, demokratisches und freiheitliches Denken dauerhaft in unserem Bewußtsein zu verankern, können Ihrem Land, verehrter Herr Gollancz, und Ihnen unsere Bewunderung nicht versagen.
Sicherlich hat das, was er in diesen Kriegsjahren schrieb und sagte, Victor Gollancz manche Angriffe seiner Landsleute eingetragen. Aber das ist ja nichts Besonderes. Wesentlicher erscheint mir, daß ihn keine Zensur daran hinderte, seinem als richtig erkannten Weg mit allen publizistischen Mitteln, die ihm zu Gebote standen, treu zu bleiben. Victor Gollancz leistete damit nicht nur uns Deutschen, er leistete auch seinem eigenen Volk und der Menschheit einen Dienst von unschätzbarem Wert: er hat bereits im Krieg den Frieden vorbereitet.
Victor Gollancz war ein sehr erfolgreicher Verleger. Er ließ Menschen der verschiedensten Auffassungen zu Wort kommen, wenn nur die Ehrlichkeit ihres Wollens glaubhaft war. Damit führte er seine Leser an die eigene Entscheidung heran und machte gleichzeitig die Spannweite der Toleranz und der Freiheit sichtbar. Er war nicht nur Lehrer, er lebte gleichzeitig das Beispiel seiner Lehre selbst vor. Er forderte die Menschen nicht nur auf, gut zu sein, und so den Sinn ihres Lebens zu erfüllen, er zeigte ihnen auch den Weg. Als Beispiel nenne ich Ihnen seine Anthologie »A year of grace«. Mit ihrem weit gespannten Rahmen und mit der Tiefe ihrer einzelnen Betrachtungen ist sie sicherlich vielen Menschen Stärkung und Trost geworden. Wer so auswählen konnte, hat selbst gelernt, sein Ziel zu erkennen und sich ständig darum zu bemühen.
Diese Bemühungen kennzeichnen seine Persönlichkeit und damit auch sein schriftstellerisches Wirken. Er zeigt seinem Leser, daß es ein wunderbares Geschenk ist, ein Mensch zu sein, und hilft ihm, die in ihn gelegten Möglichkeiten auszuschöpfen. Dabei erweist er sich als gewandter Stilist, der es versteht, seine Leser zu fesseln, weil er seine Empfindsamkeit, seine reiche Erlebniswelt und die als zwingend erkannten moralischen Forderungen unauflösbar miteinander verwebt und zur Darstellung bringt.
Victor Gollancz hat mit dem, was er tat, und mit dem, was er schrieb, die Welt reicher gemacht. Ihm dafür zu danken und ihn zu ehren, ist der Sinn dieser Stunde.
Verehrter Herr Gollancz!
Ich hatte zunächst Bedenken, bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels die laudatio zu sprechen, weil mir die Würdigung eines publizistischen und literarischen Lebenswerkes von meinem beruflichen Werdegang her nicht leicht fallen kann. Aber die Erinnerung an unsere Begegnung 1947 und an das, was Sie für unser Volk getan haben, bewog mich dazu, den Versuch zu unternehmen. Bei einer so farbigen und so vielschichtig angelegten Persönlichkeit wie der Ihren ist eine vollständige und umfassende Darstellung ohnehin sehr schwer. Wenn Sie ihr aber entnehmen, daß wir Deutsche Ihnen und Ihrem Wirken gerecht werden wollen, ebenso wie Sie unserem Volke gerecht wurden, mögen Sie diesen Versuch als unseren aufrichtigen Dank empfinden.
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