Der Stiftungsrat für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wählt die Soziologin und Politikerin Alva Myrdal und Gunnar Myrdal zu den Trägern des Friedenspreises 1970. Die Verleihung findet während der Frankfurter Buchmesse am Sonntag, 27. September 1970, in der Paulskirche zu Frankfurt am Main statt. Die Laudatio hält Karl Kaiser.
Begründung der Jury
Der Börsenverein verleiht den Friedenspreis 1970Alva und Gunnar Myrdal.
In wissenschaftlicher Forschung und im persönlichen Engagement sind beide für den Frieden eingetreten, wo immer er ihnen besonders gefährdet erschien. Für ihr Land und für alle anderen Länder widmeten sie ihre Kräfte der tätigen Vernunft, die sich der Gewalt widersetzt.
So erfüllen sie ihre eigene Forderung an den Menschen unserer Zeit, Realist und Träumer zugleich zu sein. Sie wurden Friedensforscher, in Theorie und Praxis, verpflichtet dem internationalen Gewissen, das zu schärfen sie nicht müde werden.
Reden
Alva und Gunnar Myrdal haben sich den Fragen des zu organisierenden Friedens nicht nur als Theoretiker gestellt, sondern auch als Praktiker: ihre Beiträge zur Friedensforschung hatten reale, nachprüfbare Folgen.
Werner E. Stichnote - Grußwort
Werner E. Stichnote
Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels
Grußwort
Zum einundzwanzigsten Mal, meine Damen und Herren, vergeben wir heute, im Namen des Börsenvereins, einen Friedenspreis. Stellvertretend für den Börsenverein heiße ich Sie alle aus diesem Anlaß herzlich willkommen. Mein dankbarer Gruß gilt besonders unserem verehrten Herrn Bundespräsidenten und seiner Frau Gemahlin, dem Herrn Ministerpräsidenten des Landes Hessen, den anwesenden Ministern und Exzellenzen sowie allen Freunden, die mit uns über das Fernsehen verbunden sind.
Der Frieden - wenn wir schon in unserer unruhigen, unfriedlichen, ja: unfriedfertigen Welt ein so großes Wort gebrauchen wollen -, der Frieden ist heute, in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, ein kompliziertes Geflecht gesellschaftlicher, staatlicher, technischer, militärischer und allgemein-menschlicher Zusammenhänge. Es ist daher unmöglich geworden, ihn als die bloße Abwesenheit von Krieg zu definieren. Dieser Tatbestand zwingt uns dazu, die Sache des Friedens fortgesetzt und immer wieder neu zu überdenken. Denn dort allein liegt die andauernde Rechtfertigung dieses Preises, an der in den letzten Jahren bisweilen Zweifel aufgekommen sind.
Si vis pacem - para bellum; ein altes, aber unbrauchbar gewordenes Wort. Nach seiner Philosophie - wer den Frieden will; der bereite den Krieg vor - können wir nicht mehr leben. Denn das »Gleichgewicht des Schreckens« zu dem diese Philosophie führte, ist etwas grundsätzlich anderes - quantitativ und qualitativ -, als es das »Gleichgewicht der Kräfte« war, mit dem sich in früheren Zeiten, mit ihren überschaubaren Allianzen in so mancher Phase der Geschichte erfolgreich operieren ließ. Gewiß: der große Krieg ist vermieden worden, seit wir unter dem trügerischen Schirm des atomaren Schreckens dahinleben. Aber weder hat er, seit es ihn gibt, eine Unzahl sogenannter »kleiner« - in Wahrheit »großer« - Kriege verhindern können, noch den Völkermord, noch die lebensgefährlichen Spannungen, von denen unser Erdball erschüttert wird. Vielmehr bereiten sich, trotz oder gerade auch wegen des atomaren Patts, Explosionen vor, die mit dem klassischen Krieg als einem, nach Clausewitz, »wahren politischen Instrument« im Verkehr zwischen den Nationen kaum mehr etwas gemein haben: Explosionen gesellschaftlicher Art.
Sie sind die eigentlichen Gefährdungen unserer Zeit. Und vornehmlich auf sie werden wir unsere Gedanken zu lenken haben, wenn wir uns mit dem Frieden beschäftigen, den es ja erst zu begründen gilt: Si vis pacem - para pacem – nicht den Krieg, sondern den Frieden gilt es vorzubereiten.
Der Frieden ist kein Naturereignis, er muß erarbeitet werden. Was wir brauchen, ist daher nicht der Pazifismus als Interessen-Ideologie, dessen Spielarten Max Scheler analysiert hat. -Was wir brauchen, ist ein ständiger Kampf um die Bedingungen, unter denen Frieden erst möglich wird, nicht hier oder dort, sondern überall auf dieser Erde. Die Ambivalenz von Innenpolitik und Außenpolitik, von regionaler und von weltumspannender Politik ist dabei zu einem Tatbestand geworden, an dem wir uns zu orientieren haben.
Bei T. S. Eliot im »Familientag« heißt es: »Ein Fluch wächst langsam heran / Zur fertigen Frucht. / Er ist nicht anzutreiben / Und er ist nicht aufzuhalten.« Für uns ein bitteres Wort. Es soll uns vor Augen führen, daß wir jetzt mit den Folgen eines Erbes fertig zu werden haben – mit alten und neuen Fehlentwicklungen -, die mit verantwortlich sind, wenn wir uns nun einer neuen, schrecklichen Qualität in der alten Dialektik von Krieg und Frieden gegenübergestellt sehen: dem Haß und dem Terror. Bisweilen hat es den Anschein, als erlebten wir einen unaufhaltsamen Rückfall in eine Barbarei, die wir soeben noch überwunden glaubten.
Angesichts solcher Gefahren ist es wohl kein Zufall, daß die Wahl des Friedenspreisträgers zunehmend auf Wissenschaftler fällt. Und zwar auf Gelehrte, in deren Person die Behauptung widerlegt wird, Gesinnungsethik und Verantwortungsethik seien zwei miteinander nicht zu vereinbarende Positionen. Alva und Gunnar Myrdal haben sich den Fragen des zu organisierenden Friedens nicht nur als Theoretiker gestellt, sondern auch als Praktiker: ihre Beiträge zur Friedensforschung hatten reale, nachprüfbare Folgen.
Alva und Gunnar Myrdal sind ein Beweis für meine These, daß praktische, politische Vernunft und ein hohes Maß an Idealismus einander nicht ausschließen, sondern zueinander gehören. Mit Illusionen hat dies alles nichts zu tun: Schon 1944 warnte Gunnar Myrdal in einem Buch vor jedem Friedensoptimismus. Vor ihm zu warnen scheint mir auch dieser Stunde angemessen zu sein. Nur Nüchternheit kann weiterhelfen.
Friedensforschung, das soll nicht unerwähnt bleiben, ist nur die Kehrseite einer anderen Wissenschaft: der Erforschung menschlicher Konflikte. Denn Konflikte wird es geben, selbst wenn wir alle einst in einem hypothetischen Weltstaat leben sollten. Frieden und Konflikt: Kehrseiten einer Medaille - Aufgaben für uns alle in Permanenz.
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Werner E. Stichnote
Grußwort des Vorstehers
Die Art und Weise, in der Alva und Gunnar Myrdal die Wissenschaft für die Politik und damit für die Verbesserung unserer Welt relevant gemacht haben, ist für uns wegweisend und beispielhaft.
Karl Kaiser - Laudatio auf Alva und Gunnar Myrdal
Karl Kaiser
Auf die Friedenspreisträger Alva und Gunnar Myrdal
Laudatio auf Alva und Gunnar Myrdal
Der Wunsch der Menschen nach einem dauerhaften Frieden ist nach wie vor unerfüllt: In Südost-Asien, im Mittleren Osten, gestern und heute in Biafra, morgen anderswo wird das organisierte Töten und Verstümmeln von über tausend Menschen in der Woche als ein vertretbares Mittel der Politik angesehen; die Mehrheit der Menschheit lebt in Armut oder schockierendem Elend, während wir, die »entwickelte« Minderheit, unseren Reichtum ständig vermehren und mit dunklen Ahnungen über die Zukunft zusehen, wie sich der Abstand zwischen ihnen und uns vergrößert; die Staaten der Welt geben im Jahre insgesamt 800 Milliarden DM für die Instrumente des Krieges und ganze 5 Milliarden DM für die Instrumente der Verständigung und Vermittlung in Form der internationalen Organisationen aus; der Abschreckungsfriede existiert als Zwillingsbruder der Drohung mit der atomaren Vernichtung; der Rüstungswettlauf, vor allem zwischen den Weltmächten, geht ständig weiter, und jährlich werden Milliardenwerte an Rüstungsgütern in die hungernde unterentwickelte Welt gepumpt, deren Konflikte damit zum Zünder des nächsten Weltkrieges werden können.
Wenn wir heute, ein Vierteljahrhundert nach Beendigung des letzten, bisher kostspieligsten Krieges der Geschichte, trotz dieser Zustände ob der Lernfähigkeit der Menschen und ob der Zukunft nicht verzweifeln, dann nicht zuletzt deshalb, weil es Persönlichkeiten wie Alva und Gunnar Myrdal mit ihren Zielen und ihrem Verhalten gibt und andere Menschen, die ähnlich denken und handeln. Mit dem diesjährigen Friedenspreis ehrt der deutsche Buchhandel zwei Persönlichkeiten, die in ihrer Tätigkeit jene Verbindung von Wissenschaft und Politik vorgelebt oder skizziert haben, auf die die Menschen ihre Hoffnung auf eine rationalere - und damit auch friedliche - Handhabung ihrer Konflikte und Umweltprobleme in der Zukunft begründen können.
Blicken wir zurück auf die Persönlichkeiten, die vorher diese Auszeichnung erhielten, dann erscheint das Außergewöhnliche sozusagen normal. Der diesjährige Friedenspreis hebt sich jedoch durch ein zusätzliches Quantum des Außergewöhnlichen ab: zum ersten Mal wird er an ein Ehepaar verliehen. Was in der Geschichte der Wissenschaften nur wenige Ehepaare vollbrachten - man denkt hier vor allem an die Webbs und Curies -, leisteten Alva und Gunnar Myrdal auf dem Gebiet der Sozialwissenschaft und der praktischen Politik. Zwar stehen beider Beiträge, auch unabhängig voneinander, als große und respektgebietende Leistungen da, dennoch zeigen ihre zahlreichen wissenschaftlichen Werke, ihr Werdegang und ihr politisches Wirken den gegenseitigen Einfluß auf die Arbeit des Partners, die Gemeinsamkeit der Interessen und die Übereinstimmung der politischen Ziele. Die gemeinsame Anerkennung gilt jedoch nicht nur der mit Selbstverständlichkeit vorgelebten Gleichheit, sondern auch ihrem Einsatz für die Gleichheit, nicht zuletzt auf dem Gebiet, auf dem die emanzipatorische Entwicklung unserer westlichen Demokratien besonders unvollkommen blieb, der Stellung der Frau in Politik und Gesellschaft. Beider Tätigkeit, vor allem jedoch Alva Myrdals wissenschaftliche Arbeiten über Frau, Familie und Gesellschaft[1] sowie ihr Wirken als Politikerin in Schweden und als Diplomatin und Abrüstungsministerin im internationalen Geschehen haben viel zum Abbau von Vorurteilen beigetragen.
Kaum ein Wert ist von so zentraler Bedeutung im wissenschaftlichen und politischen Werke beider Preisträger wie der der Gleichheit: er steckt die Probleme ab, die sie untersuchen; er strukturiert die Lösungen, die sie erarbeiten; er motiviert ihr politisches Handeln. »Nichts anderes als Gleichheit kann das Endziel sein,« sagt Alva Myrdal einmal knapp im Zusammenhang mit der Notwendigkeit einer wahren internationalen Loyalität gegenüber den armen Völkern und der daraus entspringenden Verpflichtung zur Hilfe[2]. Als Gunnar Myrdal 1938 von einer Stiftung in die USA berufen wird, um das amerikanische Negerproblem eingehend zu untersuchen, entsteht unter seiner Leitung die bis dahin umfassendste Studie über diesen Gegenstand. Er sieht diese Frage als ein Problem des politischen und gesellschaftlichen Systems insgesamt und untersucht sie deshalb in ihren mannigfachen ökonomischen, sozialen, rechtlichen, psychischen und politischen Aspekten. »Das amerikanische Dilemma« - so nennt er seine 1934 erschienene zweibändige Studie[3] - besteht darin, daß die Grundwerte des amerikanischen politischen Systems - heute würden wir dies die »politische Kultur« nennen - und die Wirklichkeit der sozialen und politischen Existenz des amerikanischen Negers auseinanderklaffen. Im einzelnen zeigt er, wie eine Gesellschaft sich auf einer allgemeinen Ebene zu einem Wertsystem bekennt, in dem der Gleichheitsbegriff eine zentrale Rolle spielt und dennoch einen erheblichen Teil der Bevölkerung von der praktischen und individuellen Anwendung ausklammert; darüber hinaus analysiert er, welche mentalen Mechanismen, ökonomischen, sozialen und institutionellen Bedingungen eine Anwendung des Gleichheitsprinzips hemmen oder blockieren und welche Politik ergriffen werden könnte, um die Diskriminierung zu beseitigen. Auch in den frühen Arbeiten Gunnar Myrdals über die internationale Wirtschaft und Entwicklungsprobleme stellt er immer wieder die Frage nach der Durchsetzung der Gleichheit. Er arbeitet im einzelnen heraus, wie es dem modernen, interventionistischen Wohlfahrtsstaat gelang, auf der Basis der nationalen Solidarität und unter Berufung auf das Gleichheitsprinzip die regionalen und klassenmäßigen Unterschiede innerhalb der nationalen Grenzen auszugleichen und ein Mindestmaß an Chancengleichheit herzustellen. Auch seine Theorie der internationalen Integration ist auf dem Gleichheitsbegriff auf gebaut: eine Region oder die Welt insgesamt ist dann integriert, wenn die Chancengleichheit unter allen beteiligten Völkern, Volksgruppen und Gebieten verwirklicht ist. Daß dies mehr als einer Beseitigung gewisser Hemmnisse bei der freien Bewegung von Menschen, Kapital und Gütern bedarf, betont er immer wieder. So wie der Wohlfahrtsstaat innerhalb seiner Grenzen durch seine Interventionen mehr Gleichheit durchsetzte, bedarf es auch auf der internationalen Ebene rational konzipierter Eingriffe. Aus dem Wohlfahrtsstaat muß eine »Wohlfahrtswelt« werden, an deren Anfang eine internationale Koordinierung der nationalstaatlichen Politik und an deren Ende eine integrierte, also in Gleichheit geeinte und durch eine globale Autorität gelenkte Welt steht. Wie in so vielen seiner aufschlußreichen und wegweisenden Analysen vergißt er jedoch nie, auf die durch die Realität gesetzten Grenzen hinzuweisen[4]: »Ich hege keinen Zweifel, daß unser moralisches Dilemma mit der Tatsache verknüpft ist, daß der >Wohlfahrtsstaat< den wir aufgebaut haben, mit dem wir uns tief verbunden fühlen, den wir nicht aufgeben wollen und an dessen Vervollkommnung wir arbeiten, nationalistisch ist. Die Solidarität entwickelt sich schnell, aber sie bleibt immer mehr auf das Gebiet innerhalb der Ländergrenzen beschränkt, während die Staaten infolge der revolutionären technischen und politischen Veränderungen unvermeidlich in immer stärkerem Maße voneinander abhängig werden.«
Die nationalen Schalen der Solidarität aufzubrechen, die Interdependenz zwischen den armen und reichen Ländern der Welt herauszuarbeiten und Wege für eine Überwindung der Ungleichheit aufzuzeigen: dies unternimmt Gunnar Myrdal in seiner umfassenden Untersuchung der Unterentwicklung in Asien, an der sich auch seine Frau beteiligt hat, die während der Entstehungszeit als schwedische Botschafterin in Neu-Dehli den Entwicklungsproblemen ihre Hauptaufmerksamkeit widmete. Dieses dreibändige Werk, das den Titel »Asiatisches Drama«[5] trägt und dem er einige Zeit später einen weiteren Band mit programmatischen Empfehlungen für politische Maßnahmen hinzufügte[6], enthält die Ergebnisse mehrjähriger intensiver Forschung in Asien, der langjährigen, weiter zurückgreifenden Beschäftigung mit den Problemen der Unterentwicklung und Gunnar Myrdals reiche Erfahrungen im Dienste der Vereinten Nationen.
Das »Asiatische Drama« dürfte nicht nur sein bisher größtes wissenschaftliches Werk sein, sondern es gehört auch zu den größten sozialwissenschaftlichen Arbeiten unserer Zeit. Diese Studie hat die beste Chance, das zu werden, was schon des Autors »Amerikanisches Dilemma« geworden ist: eines jener wenigen mit empirischen Methoden erarbeiteten Werke, die den Gang der Geschichte nachhaltig beeinflussen. Das »Amerikanische Dilemma« rüttelte die Öffentlichkeit Amerikas auf und gab den liberalen Kräften die mit wissenschaftlichen Methoden erarbeiteten Instrumente in die Hand, den Kampf für die Emanzipation der farbigen Bürger Amerikas zu verstärken; in seiner geschichtlichen Entscheidung über die Rassentrennung in den Schulen berief sich 1954 der amerikanische Oberste Gerichtshof auf diese Arbeit.
Im »Amerikanischen Dilemma« wird die Sozialwissenschaft in den Dienst des Kampfes gegen die Diskriminierung der Neger gestellt, im »Asiatischen Drama« gegen die Diskriminierung der armen Länder. Im letzteren Werk wird eine ungeheure Fülle relevanter Daten zusammengetragen; gängige Begriffe, Theorien und Rezepte zur Überwindung der Unterentwicklung werden der scharfen, mitunter vernichtenden Kritik des Autors unterzogen, der ihre ideologische oder politische Funktion der Stabilisierung von Unrechtsverhältnissen oder von Ungleichheit zwischen entwickelten und unterentwickelten, aber auch innerhalb von unterentwickelten Ländern nachweist, oder aber einfach ihre Fehlerhaftigkeit aufdeckt. Im »Politischen Manifest« kritisiert Gunnar Myrdal das bestehende Instrumentarium der Entwicklungspolitik und erörtert Alternativen. Diesem Werk wünsche ich, daß es zur Pflichtlektüre nicht nur für diejenigen wird, die sich berufsmäßig mit den Problemen der Entwicklung beschäftigen, sondern auch für alle Sozialwissenschaftler und die Menschen, denen die politische Zukunft unserer Welt etwas bedeutet.
Nun ist das Wertsystem beider Preisträger weder auf den Gleichheitsbegriff beschränkt, noch beeinflußt es unreflektiert die Analyse oder ihre Ergebnisse. In ihren wissenschaftlichen Arbeiten und ihrer politischen Tätigkeit dokumentieren sie immer wieder ihre Bindung an ein humanitäres und demokratisches Wertsystem, wie es für die große Tradition der schwedischen Sozialdemokratie charakteristisch ist, in der sich wissenschaftlicher Sozialismus und Pragmatismus verbinden. Alva und Gunnar Myrdal gehören zu jenen Sozialwissenschaftlern, die eine wertfreie Analyse für unmöglich halten, jedoch fordern, daß der Wissenschaftler sein Wertsystem, soweit ihm dies möglich ist, reflektiert und offenlegt. Beide praktizieren dies nicht nur selbst, sondern Gunnar Myrdal hat den wissenschaftstheoretischen Fragen immer einen erheblichen Teil seiner Arbeit gewidmet. Er begann seine wissenschaftliche Laufbahn in den dreißiger Jahren mit einer Arbeit über das Wertproblem in der nationalökonomischen Theorie; seine Kritik des Postulats der Wertfreiheit und der Realisierbarkeit der Trennung von Wert und Wirklichkeit, seine Kritik der Gleichgewichts- und Harmonie-Konzeptionen, der Nachweis ihrer ideologischen Funktionen: sie alle sind bis heute wichtig und lesenswert geblieben. Aber auch in den späteren Jahren hat ihn die Relevanz der von ihm untersuchten Fragen und die in seiner Person realisierte Verbindung von Wissenschaftler und Politiker immer wieder gezwungen, darüber nachzudenken, wie sich die Interpretation und die Veränderung der Welt zueinander verhalten, - eine Thematik, die im übrigen auch in den Äußerungen Alva Myrdals ständig angesprochen wird.
Hier liegt der große und bleibende Beitrag beider Preisträger: Wissenschaft und Politik zur Durchsetzung zentraler Werte unserer Gesellschaft miteinander verbunden zu haben. Die Sozialwissenschaften, so erinnern uns beide, wurden ursprünglich mehr vom Drang zur Verbesserung der Gesellschaft als von der einfachen Neugier über ihre Funktionsweise angetrieben. Sozialpolitik war primär, Sozialwissenschaft sekundär. Wichtigste Aufgabe der Sozialwissenschaften ist es, die Rationalität politischer Entscheidungen zu fördern. Gerade die Beschleunigung des uns umgebenden Geschichtsablaufs, die Gefahr des Chaos hinter der Explosion technischen Fortschritts, sozialer Veränderungen und hungernder Bevölkerungsmassen, die Drohung des Untergangs der Menschheit hinter dem Rüstungswettlauf: sie machen die Verwissenschaftlichung, die Rationalisierung der Politik zu einer Frage des Überlebens. Die notwendige Reform muß geplant induziert werden, Veränderungen können und müssen unter Kontrolle gebracht werden. »Nichtstun heißt die Niederlage hinnehmen«[7]. Was sich als wissenschaftliche Bescheidenheit hinter dem Argument des Wissenschaftlers verbirgt, er könne erst dann zu den brennenden Fragen seiner Umwelt Stellung nehmen, wenn er alle Fakten kenne und die Forschung weiter fortgeschritten sei, kann jener Eskapismus sein, der dem Aufkommen der Katastrophe tatenlos zuschaut. Alle Fakten werden nie bekannt sein, und weder dem Politiker noch dem Bürger wird damit die für ihn unausweichliche Entscheidung in einer für ihn immer unübersehbarer werdenden Umwelt erleichtert. Gewiß, die Wissenschaft kann nie die Entscheidung selbst treffen, die aus dem politischen Prozeß hervorgehen muß, sie kann jedoch relevante Tatsachen und ihre Zusammenhänge aufzeigen sowie alternative Politiken mit ihren potentiellen Konsequenzen erarbeiten und vortragen.
Dieser Typus der von Alva und Gunnar Myrdal vertretenen Sozialwissenschaft ist in seinem Wesen politisch. Es ist dies eine Konzeption, die mit mir selbst viele jüngere Sozialwissenschaftler in unserem Lande teilen. Die großen wissenschaftlichen Arbeiten beider Preisträger können und wollen die Basis politischer Maßnahmen sein; umgekehrt ist ihre politische Tätigkeit von der wissenschaftlichen Arbeit befruchtet. Ihre erste gemeinsame Untersuchung der Bevölkerungsfrage in Schweden wurde die Basis tiefgreifender Reformen der dortigen Sozial- und Familienpolitik[8]. Die Arbeiten über die Unterentwicklung können und sollen neue Ansätze zur Lösung des Problems aufzeigen.
Hier begegnet uns ein Geschichts- und Menschenbild, in dem das unvermindert gültige Erbe der Aufklärungsphilosophie zum Ausdruck kommt: Der Mensch ist in seinem Wesen gut; er will rational und gerecht sein; er ist Herr seiner selbst; er kann lernen; er kann alle seine Konflikte, wenn er es will, rational, also auch friedlich, lösen. »Geschichte ist nicht das Ergebnis eines vorausbestimmten Schicksals. Nichts ist unwiderruflich, das nicht der Vergangenheit angehört.«[9] Der schonungslose Realismus wird bei Alva und Gunnar Myrdal zum Diener des Optimismus. An einer Stelle sagt Gunnar Myrdal einmal voraus, daß die internationalen Organisationen - sofern ein großer Krieg vermieden werden kann - immer mehr das Organ gemeinsamer politischer Aktionen der Staaten werden. Er begründet dies bezeichnenderweise mit dem tatsächlich beobachtbaren Trend zur internationalen Desintegration: »Anarchie ist so kostspielig, daß aus Vereinbarungen über gemeinsame Aktionen große Vorteile gezogen werden können.«[10] Nie zögern beide, die Probleme in ihren schlimmsten Auswirkungen darzustellen. Im »Asiatischen Drama« fanden einige Pessimisten Stoff für die These, daß die Überwindung der Unterentwicklung ein hoffnungsloses Unterfangen sei; sie übersahen, daß für einen Optimisten die Konfrontation mit der unerfreulichen Wirklichkeit das Purgatorium ist, das seine besten Kräfte mobilisiert.
Die Zurückweisung jeglicher Theorie, die die menschlichen Angelegenheiten monokausal mit einem einzigen - beispielsweise ökonomischen oder institutionellen - Faktor erklärt, auch ihre Ablehnung aller deterministischen Theorien hat sie wiederholt der Kritik von verschiedenen Richtungen ausgesetzt. Aber Kritik haben Alva und Gunnar Myrdal noch nie gescheut. Davon zeugt die schonungslose Deutlichkeit ihrer Äußerungen, wenn es um Werte ging, die ihnen wichtig waren. Der Nonkonformismus ist auf ihrem bisherigen Lebensweg ihr ständiger Begleiter gewesen, von jener frühen gemeinsamen Studie über die schwedische Bevölkerungsfrage, in der sie an einer Reihe von Tabus rüttelten, über Gunnar Myrdals im Kriege geschriebene »Warnung vor Friedensoptimismus«[11], in der er vor Illusionen über die Nachkriegszeit, aber auch vor dem verbreiteten Deutschenhaß warnte und dazu aufrief, die von den Nationalsozialisten zerstörte deutsche Kultur nunmehr vor der vielleicht blinden Rache der Gegner zu schützen, bis hin schließlich zum »Asiatischen Drama« und dem »Politischen Manifest«; dort klagt er die Wissenschaft der entwickelten Länder, vor allem die Ökonomen, an, ihre Arbeit so auszurichten, daß die Lebensbedingungen der unterentwickelten Länder, die nach Reform rufen, im dunkeln bleiben; dort weist er nach, daß die vorherrschenden Freihandelstheorien und ihre Anwendung die bestehende Ungleichheit auf Kosten der armen Länder vertiefen, daß die für die entwickelten Länder erarbeiteten Theorien nicht übertragen werden können, daß die entwickelten Länder und die OECD ihre Entwicklungshilfestatistiken aus opportunistischen Gründen aufbauschen und jede aus Profitgründen vorgenommene Investition als Hilfe deklarieren; dort attackiert er die Korruption in den unterentwickelten Ländern und den Immobilismus ihrer Eliten, die mit der Unterstützung der entwickelten Länder die Reformen zugunsten der hungernden Massen verhindern; dort geißelt er die »Diplomatie mit der Terminologie«: Wenn die unterentwickelten Länder heute »Entwicklungsländer« genannt werden, so ist der hierbei vielleicht zum Ausdruck kommende Takt völlig fehl am Platze, denn er verbirgt die grausame Wirklichkeit, die darin besteht, daß die einzigen »Entwicklungsländer«, die sich tatsächlich entwickeln, wir, die reichen Länder sind, während jene stagnieren. Der Begriff der Unterentwicklung muß eine Herausforderung an unsere Solidarität sein.
Die Deutlichkeit der Sprache, die Konsequenz des Einsatzes für bestimmte Grundwerte ist für beide als Wissenschaftler genauso charakteristisch wie als Politiker. Beiden gelang es - oder sollte man sagen: ist es vergönnt gewesen?-, dieses Verhalten in politischen Positionen vorzuleben, in denen sie Einfluß hatten und ein Beispiel setzen konnten: Alva Myrdal als Leiterin eines sozialpädagogischen Seminars, als Direktorin bei der UNO und der UNESCO, als Diplomatin, Reichstagsabgeordnete, Ministerin, Delegierte auf der Genfer Abrüstungskonferenz; Gunnar Myrdal als Abgeordneter, Regierungsbeamter, Minister, Generalsekretär der UN-Wirtschaftskommission für Europa - um nur die wichtigsten Funktionen beider zu erwähnen. Alva und Gunnar Myrdal haben nicht nur in ihrer wissenschaftlichen Arbeit die Grenzen jener Disziplinen überschritten, von denen sie aufbrachen: beide sind in einer Vielzahl von Rollen tätig und mit einem breiten Spektrum der Probleme unserer Zeit konfrontiert gewesen. Ihr Wirken hat sie zu Weltbürgern gemacht. Es erscheint im Hinblick auf ihre Überzeugungen, ihre Wissenschaftskonzeption und ihre politische Arbeit keineswegs als Zufall, daß sie sich im fortgeschrittenen Stadium ihrer Tätigkeit der Friedensforschung und ihrer Förderung gewidmet haben. Worum geht es bei dieser Wissenschaft?
Friedensforschung ist eine Notwendigkeit unserer Zeit. Der atomare Rüstungswettlauf, das verbreitete Töten als Mittel der Konfliktaustragung, Spannungen und Unterdrückung in vielen Teilen der Welt, die unbedingte Notwendigkeit, den nuklearen Krieg und seine konventionellen Auslöser zu vermeiden: sie rufen mehr denn je danach, die Wissenschaft in den Dienst des Friedens zu stellen.
Nun hat sich auch in früheren Zeiten die Wissenschaft mit den Fragen von Krieg und Frieden beschäftigt. Die moderne Friedensforschung - die eigentlich »Friedenswissenschaft« heißen sollte, da sie auch die Lehre einbezieht - unterscheidet sich jedoch von früheren wissenschaftlichen Bemühungen vor allem durch drei Faktoren: sie lehnt einmal jene fatalistische Grundeinstellung ab, die den Krieg als eine naturgegebene Grundkategorie menschlichen Verhaltens ansieht. Der Mensch ist trotz aller Schwierigkeiten Herr seiner Angelegenheiten und kann Konflikte auch ohne organisierte Gewalt austragen. Dahinter steht das schon erwähnte optimistische Menschenbild, das auch den Arbeiten Alva und Gunnar Myrdals zugrundeliegt. Zweitens verleiht das ungeheure Zerstörungspotential des heutigen Drohsystems der Friedensforschung eine präzedenzlose Dringlichkeit. Drittens schließlich stehen heute der Friedensforschung neue wissenschaftliche Methoden, etwa die Systemanalyse, Kybernetik, Datenverarbeitung, Konfliktsimulation usw. zur Verfügung, die in Verbindung mit neuen Erkenntnissen auf mannigfachen Gebieten, z. B. der Bildung von Freund-Feind-Bildern, Stereotypen, der gesamten Sozialisation, der Kommunikation in Konfliktfällen, der Beziehungen von Waffentechnologie und Stabilität, um nur einige wenige zu nennen, der Wissenschaft vom Frieden eine bessere Arbeitsbasis als vor dem Kriege geben.
Es ist Aufgabe der Friedensforschung, mit wissenschaftlichen Methoden die Bedingungen einer friedlichen Welt, ihrer Schaffung und Aufrechterhaltung, zu untersuchen und eine Praxeologie zur Durchsetzung des Friedens zu entwickeln. Diese Wissenschaft will also die friedlose Wirklichkeit verändern, indem sie die politische Praxis beeinflußt. Dies ist auch das Ziel des Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstituts (SIPRI), dessen Errichtung Alva und Gunnar Myrdal durchsetzten. Es war ihrer beider Idee, das I50jährige Jubiläum ununterbrochenen Friedens des neutralen Schweden durch einen Akt zu begehen, durch den das Land einen Beitrag zum Frieden in der ganzen Welt leisten würde: Ein in Schweden zu errichtendes unabhängiges und internationales Institut sollte sich der Erforschung des Friedens und seiner Bedingungen widmen. Der schwedische Reichstag folgte der dahingehenden Empfehlung einer königlichen Kommission unter dem Vorsitz von Alva Myrdal und stiftete die Mittel für die Errichtung des Instituts, das nun seit 1966 existiert. Sein aus Wissenschaftlern von Ost und West zusammengesetztes Kuratorium steht seit der Ernennung Alva Myrdals zur Abrüstungsministerin unter dem Vorsitz von Gunnar Myrdal.
Die am Stockholmer Institut betriebene wissenschaftliche Arbeit ist von unmittelbarer Relevanz für die politische Praxis. Das dort verfaßte Jahrbuch über Rüstungslage und Waffenhandel in der Welt gibt dem Wissenschaftler und dem Politiker zum erstenmal umfassende Daten über diese so wichtigen Fragen in die Hand. Die Anregung zu vielen Forschungsarbeiten des Instituts kamen aus Alva Myrdals Tätigkeit auf der Genfer Abrüstungskonferenz, z. B. eine Untersuchung über seismographische Entdeckungsmethoden unterirdischer Atomtests (mit der das Argument der Weltmächte entkräftet wurde, ein Verbot der Tests ließe sich nicht kontrollieren) oder Vorschläge für ein Inspektionssystem für ein Verbot von B- und C-Waffen, um nur zwei Beispiele zu nennen.
Die Friedensforschung erfreut sich jetzt auch in der Bundesrepublik des öffentlichen Interesses und dürfte, wenn die geplante Förderung einmal angelaufen ist, in den kommenden Jahren einen Beitrag zu dieser in unserem Lande bisher wenig betriebenen Wissenschaft liefern. Hierbei kann ich nur hoffen, daß wir dem Beispiel der von Alva und Gunnar Myrdal initiierten Friedensforschung folgen und Beiträge zur Lösung konkreter Probleme unserer Umwelt leisten können. Gewiß brauchen wir langfristige Leitbilder und Alternativen zu unserer unfriedlichen Welt, aber für die heute Lebenden ist die Erhaltung des Friedens zuerst einmal ein mühsames Geschäft der Tagespolitik, jenes zähe Ringen um Entspannung, Rüstungskontrolle oder Abrüstung, wie dies in den Vereinten Nationen, zwischen den Weltmächten oder auf anderen Ebenen versucht wird. So bieten beispielsweise die schwierigen Abrüstungsverhandlungen in Genf, denen Alva Myrdals Vorschläge sowie ihre heilsame Ungeduld und Offenheit immer wieder neue Impulse gegeben haben, der Friedensforschung die mannigfachsten Gelegenheiten, drängende Fragen unserer heutigen Politik zu untersuchen und zu ihrer Lösung beizutragen. Wir brauchen also Untersuchungen über Ursachen und Folgen sicherheitspolitischer Krisen und militärischer Konflikte in unserer heutigen Welt, Vorschläge für die Dämpfung und Regulierung von Konflikten; wir brauchen Untersuchungen und Vorschläge über Rüstungskontrolle und Abrüstung in Europa und der Welt, über die Errichtung eines europäischen Sicherheitssystems; die Liste ließe sich erheblich verlängern.
Neben dieser mittelfristigen Friedensforschung brauchen wir jedoch auch eine langfristige Friedensforschung, die die tieferliegenden gesellschaftlichen, ökonomischen, technologischen und psychischen Bedingungen der Friedlosigkeit untersucht, die langfristige Alternativen friedlicher Gesellschaften erarbeitet, die auch einen positiven Friedensbegriff entwickelt, denn Friede ist mehr als die Abwesenheit von Gewalt. Werte wie Gleichheit oder Abwesenheit von Unterdrückung - Werte, die in der Arbeit der Preisträger eine so große Rolle spielen - müssen dem Friedensbegriff Gehalt geben.
Ich hoffe, uns bleibt das Schicksal unserer Kollegen in den USA erspart, wo sich die verschiedenen Schulen der mittel- und langfristigen Friedensforschung ignorieren. Die Zusammenarbeit der verschiedenen Richtungen - und natürlich auch der verschiedenen Disziplinen - ist unumgängliche Voraussetzung dafür, daß die Friedensforschung in Europa zur Verbesserung des politischen Systems der Gegenwart beitragen kann: die mittelfristige Friedensforschung braucht die ständige Kritik der langfristigen Friedensforschung, die sie mit der Frage konfrontieren muß, wie das heutige Drohsystem überwunden werden kann; umgekehrt muß die langfristige Friedensforschung immer wieder von der mittelfristigen Friedensforschung kritisch gefragt werden, wie sich ihre langfristigen Alternativen verwirklichen lassen, ohne daß dabei die Katastrophe ausgelöst wird.
Die Art und Weise, in der Alva und Gunnar Myrdal die Wissenschaft für die Politik und damit für die Verbesserung unserer Welt relevant gemacht haben, ist für uns wegweisend und beispielhaft. Mancher wird bei der Forderung, die Wissenschaft dem Frieden dienstbar zu machen, unter Hinweis auf die widerspenstige Wirklichkeit den Vorwurf des naiven Wissenschaftsglaubens erheben. Warum soll jedoch ausgerechnet der Friede - die Durchsetzung des zentralen Werts unserer Gesellschaft - der Bereich sein, wo der Mensch nicht alle Mittel der Wissenschaft zum Verstehen und zur rationalen Kontrolle der zwischenstaatlichen Beziehungen einsetzt; Dieser Bereich verdient es am meisten.
Der Ruf nach Rationalität, der die Lebensarbeit Alva und Gunnar Myrdals durchzieht, und in den wir einstimmen sollten, kommt in folgender Äußerung Gunnar Myrdals besonders deutlich zum Ausdruck, mit der ich schließen möchte[12]: »Da der Mensch gut ist und die Macht der Vernunft besitzt, kann er versuchen, die Nebel seines Gefühls zu vertreiben, den Opportunismus seiner Unwissenheit zu überwinden, eine umfassendere und leidenschaftslosere Kenntnis von sich selbst zu gewinnen und seine Haltung zu ändern, so daß sie in eine vernünftigere Beziehung zu den wirklichen Gegebenheiten und zu seinen tiefsten Werten, d. h. seinen Idealen, tritt. Der Sozialwissenschaftler dieser großen Tradition ist auch deshalb ein kompromißloser Anhänger der Gedankenfreiheit und der Freiheit der Meinungsäußerung, weil sie eine soziale Situation schafft, in der dem einzelnen Bürger die größte Möglichkeit gegeben wird, diesen großen Versuch zur Rationalität zu unternehmen. Letztlich bildet er unsere einzige Hoffnung.«
[1] Vergl. insbesondere Nation and Family. The Swedish experiment in democratic family and population policy. - New York/London 1941. New ed. with an introduction by Daniel Patrick Moynihan. - Cambridge, Mass. 1968 und gemeinsam mit Viola Klein Women's Two Roles. Home and work. - London 1956. 2nd ed., rev. 1968. Deutsche Ausgabe: Die Doppelrolle der Frau in Familie und Beruf. Überarb. u. erw. Neuauflage. - Köln/Berlin 1970.
[2]Politische Probleme des Friedens. In: Frieden. Vorlesungen auf dem 13. Deutschen Evangelischen Kirchentag Hannover 1967. 2. Aufl. -Stuttgart/Berlin 1968, S. 13.
[3]An American Dilemma. The negro problem and modern democracy. With assistance of Richard Sterner and Arnold Rose. 2 vols. - New York/London 1944.
[4]Internationale Wirtschaft. Probleme und Aussichten. - Berlin 1958. S. 406 [An International Economy. Problems and prospects. - New York/ London 1956].
[5]Asian Drama. An inquiry into the poverty of nations. 3 vols. - New York 1968.
[6]Politisches Manifest über die Armut in der Welt. - Frankfurt am Main 1970 [The Challenge of World Poverty. A world anti-poverty program in outline. NewYork 1970.].
[7]An American Dilemma, S. 1022.
[8]Kris i befolkningsfrågan. - Stockholm 1934.
[9]An American Dilemma, S. 997.
[10] Das Wertproblem in der Sozialwissenschaft. - Hannover 1965. S. 66 [Value in Sodal Theory. - London/New York 1958.].
[11]Varning för fredsoptimism, — Stockholm 1944. Deutsch: Zürich 1945.
[12]Internationale Wirtschaft, S. 380, Hervorhebung im Original. (In Abweichung von der hier benutzten deutschen Ausgabe wurde der Begriff rationality vom Verfasser in diesem Zitat mit Rationalität übersetzt.)
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Karl Kaiser
Laudatio
Wenn wir unsere Völker, unsere Mitmenschen dahin bringen könnten, die Gefahren einzusehen - die Gefahren, die letzten Endes alle auf Unwissenheit und auf opportunistischem, kurzsichtigen Verrat an den Idealen beruhen -, dann könnten sie, dann könnten wir alle unsere Regierungen zwingen, einen anderen Kurs einzuschlagen. Das bisherige Versagen der Vereinten Nationen könnte durch Reformen in Erfolg gewendet werden; das Wettrüsten könnte zum Stillstand kommen, wenn wir uns dazu entschlössen, daß es aufhören soll.
Gunnar Myrdal - Dankesrede
Gunnar Myrdal
Friedenspreisträger 1970
Dankesrede
Lassen Sie mich Ihnen zuerst, einfach und demütig, meinen Dank aussprechen für die Ehrung, die uns zuteil geworden ist, und über die ich mich aufrichtig freue. Es hat eine tiefe persönliche Bedeutung für mich, daß mir, zusammen mit Alva Myrdal, meiner Lebensgefährtin, oft meiner Arbeitskollegin, der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zugefallen ist.
Dieser Preis ist gestiftet und wird verliehen von der Berufsgruppe in Deutschland, die Bücher herstellt und verbreitet. Wir sind uns beide bewußt, Alva Myrdal und ich, daß in keinem anderen Lande diese Berufsgruppe von einem solchen Bildungsbewußtsein und einer solchen Kulturverantwortlichkeit getragen wird - und demnach eine so hohe Achtung verdient und genießt - wie in Deutschland.
Wir sind beide in erster Linie Autoren, Verfasser von Büchern, was ja auch aus der Zusammenstellung hervorgeht, die die Veranstalter mit so viel Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit angefertigt haben. Dies gilt ganz besonders für mich. Daß ich in die Verleihung des Friedenspreises einbezogen worden bin, fasse ich in erster Linie als eine Geste der Solidarität einem Autor gegenüber auf, der gewiß nicht viel geleistet hat in bezug auf Friedensforschung im engeren Sinn, aber der sein ganzes Leben dem Studium sozialwissenschaftlicher Probleme gewidmet hat.
Wenn ich in früheren Stadien meines Lebens für kürzere oder längere Zeit praktische politische Verantwortung getragen habe, im Reichstag und in der Regierung meines Landes, oder im Dienst der Vereinten Nationen, habe ich mich selbst immer als »ausgeborgt« gefühlt, ausgeborgt von dem, was ich als meinen eigentlichen Auftrag aufgefaßt habe: die ökonomischen und sozialen Probleme - eines Landes, eines Erdteils, oder der Welt - zu erforschen und die Resultate meiner Forschung der Allgemeinheit in Büchern vorzulegen.
Der Abstand zwischen der Forschung und der praktisch-politischen Stellungnahme ist aber für mich nie eine tief einschneidende Kluft gewesen. In meiner Forschung gehe ich bewußt von explizit formulierten Wertvoraussetzungen aus. Ich sehe und untersuche die wirtschaftliche, soziale und politische Wirklichkeit von diesen Wertungen her. Eine solche von Wertungen gesteuerte Forschung kann deshalb zu politischen Schlußfolgerungen führen. Und diese Schlußfolgerungen können den Anspruch erheben, rational zu sein: sie stellen logische Schlüsse dar aus den angegebenen Wertungen und dem durch Anwendung dieser Wertungen erworbenen Wissen über Tatsachen und deren ursächliche Zusammenhänge.
Vor einigen Monaten hatte ich die Ehre, anläßlich der Weltausstellung in Osaka, Japan, zwei Ansprachen zu halten. Das programmatische Thema dieser Weltausstellung hieß »Progreß and Harmony for Mankind«, »Fortschritt und Harmonie für die Menschheit«.
Einleitend konnte ich meine Gründe dafür darlegen, warum ich eine solche Entwicklung der Welt für durchaus denkbar und möglich hielt. Wenn diejenigen, die die Schicksale der Staaten steuern, und die Völker, die hinter ihnen stehen, eine klare und richtige Wirklichkeitsbeurteilung hätten, wenn sie den Idealen, die allgemein anerkannt sind, treu wären, und wenn sie für rationale Lösungen nationaler und internationaler Probleme zusammenarbeiteten, dann sollten heute größere Aussichten bestehen als je zuvor in der Geschichte der Menschheit, einen raschen Fortschritt zu erleben und einer immer vollkommeneren Harmonie innerhalb und zwischen den Völkern entgegenzugehen.
Wissenschaft und Technik entwickeln sich heutzutage in immer schnellerem Tempo. In einer gesunden Welt würde es möglich sein, mit vereinten Bemühungen diese neuen Kräfte, diese Errungenschaften immer besser auszunutzen und mit ihrer Hilfe die ewigen Feinde des menschlichen Glücks erfolgreich zu bekämpfen: die Unwissenheit, den Hunger und andere in der Armut begründete Leiden; Krankheit und vorzeitigen Tod; die sozialen Konflikte und die Kriege; die rohe Gewalt.
Aber die Welt von heute ist nicht gesund. Und was wir sehen, wenn wir uns in der Welt umschauen, deutet nicht darauf hin, daß sie auf dem Wege sei zu gesunden. Unsere gesteigerte Macht über die Kräfte der Natur, eine Folge des immer schnelleren Fortschrittes von Wissenschaft und Technik, hat uns keinen Ansporn gegeben, unser Handeln in der Richtung von Rationalität und gutem Willen zu disziplinieren. Die Errungenschaften von Technik und Wissenschaft werden nicht dazu verwendet, Glück und Harmonie der Menschheit zu fördern, sondern im Gegenteil dazu, Zerstörung vorzubereiten und tatsächlich zu zerstören.
Vor 25 Jahren, am Ende des Zweiten Weltkrieges, gründeten die alliierten Mächte nach ihrem siegreichen Kampf gegen die faschistischen Staaten die Vereinten Nationen als ein Instrument für organisierte Zusammenarbeit zwischen den Völkern. Dieses überstaatliche Organisationssystem sollte universal sein.
In der Präambel der Charta der Vereinten Nationen werden die Ziele der Weltorganisation in folgender Weise definiert:
». . . nachfolgende Generationen vor der Geißel des Krieges, die zweimal während unserer Lebensdauer unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, zu erretten und
von neuem den Glauben an die menschlichen Grundrechte, die Würde und den Wert der Person des Menschen, die Gleichberechtigung von Männern und Frauen, von großen und kleinen Völkern zu bekräftigen, und
Voraussetzungen zu schaffen, unter welchen Gerechtigkeit und Achtung vor Verpflichtungen, wie sie Verträgen und anderen Quellen internationalen Rechts entspringen, gewahrt werden können, und
den sozialen Fortschritt und die Verbesserung der Lebenshaltung in größerer Freiheit zu fördern und zu diesen Zwecken
Duldsamkeit zu üben und in Frieden als gute Nachbarn miteinander zu leben und
unsere Kräfte zu vereinen, um unter den Völkern Frieden und Sicherheit zu erhalten, und
mittels Annahme von Grundsätzen und Einführung von Verfahren Gewähr dafür zu schaffen, daß Waffengewalt, es sei denn im gemeinsamen Interesse, nicht gebraucht werde, und
internationale Einrichtungen zur Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Aufstiegs aller Völker zu benützen.«
Die ununterbrochenen Kriege an verschiedenen Stellen der Welt, die phantastischen Kosten für diese Kriege und für die Kriegsvorbereitungen sind natürlich die am meisten ins Auge fallenden Verstöße gegen die Ideale und Ziele für die Zusammenarbeit zwischen den Völkern, welche die Charta der Vereinten Nationen verkündet.
Ich kann mir hier nicht die Zeit nehmen zu analysieren, welche entscheidenden Fehler die Mitgliedstaaten dieser Organisation begangen haben, so daß die Organisation als Ganzes keinen wesentlichen Schritt zur Verwirklichung dieser Ideale hat tun können.
In dem ersten von SIPRI publizierten Jahrbuch für 1968/69, welches im letzten Herbst gerade während der Abrüstungsdebatte der Ersten Kommission der UNO-Generalversammlung auf den Tisch kam und einiges Aufsehen erregte, konnte man lesen, daß die Welt in diesem letzten Jahre 30 Prozent mehr für militärische Zwecke ausgegeben hatte, und zwar real gerechnet, in unverändertem Geldwert, als im Jahre 1965. Für die beiden Supermächte war die Zuwachsquote während dieser vier Jahre sogar etwas über 40 Prozent. Heute sind die Militärausgaben in der Welt ebenso groß wie das gesamte Einkommen der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung.
Verglichen mit den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg - auch dies bekanntlich eine Periode des Wettrüstens - sind die Rüstungsausgaben in der Welt um das Zehnfache gestiegen, und zwar immer noch real gerechnet. Tief tragisch ist dabei, daß auch die unterentwickelten Länder einen so großen Anteil ihres knappen Volkseinkommens für Rüstungszwecke ausgeben, gewöhnlich ein Vielfaches von dem, was sie beispielsweise für Erziehung und Unterricht verwenden. In dieser Handlungsweise werden sie meist bestärkt und unterstützt von den Großmächten, deren Antagonismus auch in diesem Wetteifern zum Ausdruck kommt.
Wie das noch nicht erschienene SIPRI-Jahrbuch für 1969/70 aufzeigen wird, ist im letzten Jahre ein Stillstand im Anwachsen der Rüstungsausgaben für die Welt als Ganzes eingetreten. Da die technische Entwicklung, wie wir aus Erfahrung wissen, sich immer als ein Antriebsmoment für die Steigerung der Rüstungskosten erwiesen hat und da sich diese Entwicklung weiter im schnellen Wachstum befindet, ist es aber leider fraglich, ob das mehr als nur eine zufällige Pause in dieser unglücklichen Entwicklung darstellt.
Alva Myrdal ist seit fast neun Jahren an den Verhandlungen beteiligt, die darauf hinauslaufen, auf multilateraler Basis Abkommen über eine kontrollierte Rüstungsbegrenzung zustande zu bringen. Sie hat auch die ausschlaggebende Rolle bei der Schaffung des Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstituts, SIPRI, gespielt. Sie wird in ihrer Dankesrede auf wichtige Probleme und Aspekte der Abrüstungsarbeit eingehen.
Es ist selbstverständlich, daß die stolzen Versprechungen der Charta der Vereinten Nationen:
»den sozialen Fortschritt und die Verbesserung der Lebenshaltung in größerer Freiheit zu fördern«
und »internationale Einrichtungen zur Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Aufstiegs aller Völker zu benützen«,
sich primär auf die Wohlfahrt der großen Mehrheit der Menschheit beziehen, die in den unterentwickelten Ländern lebt, und zwar natürlich wieder in erster Linie auf die große Masse der Armen unter ihnen.
Nach vielen Jahren intensiver Studien bin ich zu der Schlußfolgerung gelangt, daß sowohl unsere wissenschaftliche wie unsere populäre Literatur auf diesem Gebiet - also die Literatur, die die Ansichten der gebildeten Menschen in den reichen wie in den armen Ländern widerspiegelt - schwer belastet ist von Vorurteilen, von Verzerrungen, von »biases«. Diese »biases« liegen alle in der Richtung einer diplomatisch verbrämten, einer hyperoptimistischen Darstellung der Verhältnisse in diesen Ländern.
Wir leben so sehr im »Paradies der Toren« - und es gibt opportunistische Gründe dafür -, daß die Menschen zu überoptimistischen Ansichten ihre Zuflucht nehmen. Wir sind alle geneigt zu glauben, was wir glauben wollen. Wenn diese Ansichten über die unterentwickelten Länder korrekt wären, dann könnte die Hilfe von den entwickelten Ländern geringer werden, und die gebildeten oberen Schichten in den unterentwickelten Ländern brauchten nicht die Notwendigkeit innerer Reformen im Interesse der armen Massen anzuerkennen.
Wir fahren fort, die Entwicklung dieser Länder mit Hilfe von einfachen Zuwachsquoten des Nationaleinkommens zu kennzeichnen. Statistisch gesehen, sind diese Quoten außerordentlich zweifelhaft, und zwar sowohl in bezug auf die Definition der benutzten Begriffe als auch bezüglich des Primärmaterials, auf das sich diese Berechnungen stützen. In Übereinstimmung mit dem allgemeinen Charakter der opportunistischen »biases«, von denen ich gesprochen habe, geben diese Zahlen ein stark verschönertes Bild dessen, was heute in diesen Ländern vor sich geht.
Wir verdrängen aus unserer Sicht und aus unserem Forschungsbereich die Mehrzahl der ungünstigen Faktoren, die heute der Entwicklung dieser Länder im Wege stehen. Lassen Sie mich nur einige nennen: die eingewurzelte Klassenstruktur dieser Gesellschaften; die extrem ungleichen Machtverhältnisse; die ungünstigen Auswirkungen auf die Produktivität, die darauf zurückzuführen sind, daß die Masse der Bevölkerung auf niedrigstem Lebensstandard lebt und arbeitet.
Die Hauptbedingung für wirklichen, dauerhaften Fortschritt in diesen Ländern sind radikale innere Reformen. Diese Reformen müssen den Trend wenden, der jetzt eine Verschärfung der Ungleichheit der Lebensbedingungen in fast allen diesen Ländern bewirkt. In den meisten dieser Länder sind die Bodenreformen verpfuscht worden, und die ganze Frage der Bodenreform ist jetzt in der öffentlichen Debatte nahe daran, unter den Tisch zu fallen, besonders in der von Washington ausgehenden naiven Verkündigung einer »grünen Revolution«.
Die Korruption ist in diesen Ländern beinahe allgemein, und sie greift fast überall immer weiter um sich. Ohne ein weit höheres Maß von sozialer Disziplin läßt sich eine schnelle und dauernde Aufwärtsentwicklung nicht erzielen.
Die Erwachsenenbildung wird in fast allen nichtkommunistischen unterentwickelten Ländern vernachlässigt. Der Schulunterricht bedarf radikaler Reformen, sowohl in bezug auf seinen Inhalt wie auf seine Organisation. Gegenwärtig ist das Unterrichtswesen in diesen von sozialer Ungleichheit gekennzeichneten Ländern meist eher dazu geeignet, die sozialen Gegensätze zu bewahren oder zu verschärfen und damit der Entwicklung neue Hindernisse in den Weg zu legen.
Nur einige wenige unterentwickelte Länder haben bisher effektive Pläne zur Verbreitung der Geburtenkontrolle ausgearbeitet und die Durchführung dieser Pläne ernstlich in Angriff genommen. Da man auch in den Ländern, wo solche Versuche unternommen worden sind, auf vielerlei Schwierigkeiten gestoßen ist, sind die Resultate bisher nicht groß. Die in den Planungen gesetzten Ziele sind in der Regel nicht erreicht worden. Dies gilt mit Ausnahme von einigen wenigen, vorwiegend kleineren Ländern, die zumeist unter japanischem oder chinesischem Kultureinfluß gestanden haben. Im günstigsten Fall könnten diese Maßnahmen den Zuwachs der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter nicht vor Ende dieses Jahrhunderts zum Stillstand kommen lassen.
Diese und ähnliche innere Reformen müssen von den Ländern selbst durchgeführt werden. Mit Ausnahme der Bevölkerungspolitik - bis zu einem gewissen Grade - stoßen solche Reformen auf den harten Widerstand der dünnen sozialen Oberschichten in diesen Ländern, die fast durchweg die eigentliche Macht fest in ihren Händen halten, und zwar unabhängig davon, welche Art von politischem Regime in dem Lande herrscht.
Die Hilfe, die von den entwickelten Industriestaaten geleistet wird, wie auch die sonstige finanzielle und industrielle Aktivität, die von diesen ausgeht, zeigt meist die Tendenz, diese oberen Schichten zu stützen und zu begünstigen, also die Schichten, die dem sozialen Ausgleich und Reformen aller Art abweisend gegenüberstehen. In derselben Richtung wirken die Vorurteile der Forschung und der allgemeinen Debatte. Diese wesentlichen inneren Fragen der unterentwickelten Länder werden nämlich hier meist umgangen, was in Wirklichkeit den reaktionären Kräften Vorschub leistet.
Inzwischen sind, für die Welt als Ganzes, die öffentlichen internationalen Hilfeleistungen an die unterentwickelten Länder nach einer Periode des Anwachsens wieder zum Stillstand gekommen; real gesehen sind sie, in Anbetracht der raschen allgemeinen Preissteigerungen und steigender Rückflüsse, sogar erheblich zurückgegangen.
Mehr noch: die Qualität dieser Hilfeleistungen hat sich in verschiedener Hinsicht verschlechtert. Zunächst wird ein immer größerer Teil dieser Hilfe an den Export des Geberlandes gebunden. Dadurch wird die Wahlfreiheit des Empfängerlandes beeinträchtigt: man kann nicht die Waren kaufen, die man am dringendsten benötigt, und man kann es nicht auf denjenigen Märkten tun, wo sie am billigsten sind.
Weiter sind Darlehen immer mehr an die Stelle von Gaben getreten. Zwar sind, wenigstens bis vor einigen Jahren, die Zinssätze und die übrigen Darlehensbedingungen so angepaßt worden, daß sie für die Empfängerländer günstig sein sollen, aber die Entwicklung hat doch zu einer explosionsartig anwachsenden Schuldenbelastung geführt, die bereits jetzt die Zahlungsbilanz vieler unterentwickelter Länder schwer erschüttert und in Zukunft in noch alarmierenderer Weise erschüttern wird.
Es gibt keine überzeugenden Anzeichen dafür, daß der Strom finanzieller Hilfe von den entwickelten Industrieländern sich, aufs Ganze gesehen, wieder wesentlich verbreitern und daß seine Qualität sich verbessern wird. Eine weitere Verschlechterung erscheint im Gegenteil nicht ausgeschlossen.
Sowohl in bezug auf die staatlichen wie in bezug auf die privaten Zuwendungen an die unterentwickelten Länder herrscht zudem eine völlige Verwirrung in der statistischen Erfassung und Bewertung der Beiträge. Insgesamt läuft diese Verwirrung auf eine bedeutende Überschätzung der aufgewendeten Beträge hinaus.
Die unterentwickelten Länder sind weiterhin Opfer der traurigen Erbschaft einer ungünstigen Handelsposition. Seit dem Ende des Ersten Weltkrieges hat sich diese Position weiter verschlechtert, und die Verschlechterung setzt sich noch fort. Besonders in bezug auf den Absatz sowohl ihrer landwirtschaftlichen wie ihrer industriellen Erzeugnisse sind diese Länder schwer benachteiligt. Vernünftigerweise sollten sie statt dessen bevorzugt werden, wenn es nämlich wirklich die Absicht der Industrieländer wäre, ihnen in ihrer Entwicklung zu helfen. Die UNCTAD-Konferenz in New Delhi im Frühjahr 1968 schaffte keine wesentliche Verbesserung der Situation.
Ich muß hier für die Belege meiner Behauptungen und Anklagen auf meine gedruckten Schriften verweisen.
Nun, es gibt auch Zeichen ganz anderer Art, die es uns klarmachen, daß die Menschheit auf falschen Wegen ist. Eine drohende Gefahr, deren wir uns erst in den letzten Jahren voll bewußt geworden sind, bezieht sich auf die erschreckend rasch fortschreitende Vergiftung unserer Luft, unseres Wassers, unserer Erde.
Ich bin kein Sachverständiger für ökologische Probleme. Aber meine Freunde und Kollegen unter den Naturwissenschaftlern versichern mir, daß sich diese Vergiftung rasch ausbreitet und daß sie auf immer neue Bereiche des menschlichen Lebens übergreift. Die kommunistischen Länder sind von dieser Gefahr in gleicher Weise bedroht. Auch die unterentwickelten Länder leiden bereits unter den Auswirkungen dieser Milieuvergiftung.
Die allgemeinen Ursachen der gefahrvollen Entwicklung liegen bis zu einem gewissen Grade in der Vermehrung der Weltbevölkerung und in dem Urbanisierungsprozeß, der sich in der ganzen Welt geltend macht. Aber eine noch größere Rolle als Ursache spielt die rücksichtslose Ausnutzung der modernen Technik - ohne entsprechende Aufwendungen zum Schutz gegen ihre Folgen -, eine Ausnutzung, die einzig und allein oder ganz überwiegend auf kurzsichtigem Gewinnstreben beruht. Keine anderen Kosten werden dabei in Rechnung gestellt als die im engsten Sinne betriebswirtschaftlichen.
Unter solchen Gesichtspunkten werden heute sowohl öffentliche wie private Betriebe geplant, so werden Automobile konstruiert, so versuchen Landwirte, ihren Ertrag zu vergrößern.
Soll dieser Entwicklung Einhalt geboten werden, so bedarf es energischer öffentlicher Eingriffe, gesellschaftlicher Kontrolle, auch bedeutender Ausgaben. Nicht zuletzt werden internationale Abkommen vonnöten sein, da die Gefahren der Vergiftung der Elemente nicht an nationalen Grenzen haltmachen. Eine ökologische Weltkonferenz unter den Auspizien der UNO ist bekanntlich für 1972 nach Stockholm einberufen.
Ob es möglich sein wird, die öffentliche Meinung in dieser Frage so zu aktivieren und zu schärfen, daß sich die Regierungen veranlaßt fühlen, bedeutende Kosten auf sich zu nehmen und weitgehende Einschränkungen der individuellen Handlungsfreiheit durchzusetzen, um das menschliche Milieu zu entgiften, ehe der Schaden irreparabel geworden ist, erscheint fraglich.
Ein weiterer Zug in der modernen Entwicklung, der eine ernste Bedrohung der menschlichen Wohlfahrt darstellt, ist das epidemische Umsichgreifen des Gebrauchs von Narkotika. Die chemische, medizinische und pharmazeutische Forschung wird zweifellos in den nächsten Jahren in rascher Folge eine Reihe von neuen Drogen entwickeln, die Menschen zum Mißbrauch verleiten werden und die auf Körper und Geist destruktive Wirkung ausüben.
Den Mißbrauch von Drogen zu bekämpfen ist, wie wir wissen, eine sehr schwierige Aufgabe. Enge internationale Zusammenarbeit ist erforderlich, sowohl hinsichtlich der Produktion wie der Distribution dieser Mittel. Aber auch im Falle einer solchen Zusammenarbeit hat sich eine Grenzkontrolle des illegalen Handels mit Narkotika als wenig effektiv erwiesen. Und bei der weiteren Entwicklung von Wissenschaft und Technik muß man wahrscheinlich damit rechnen, daß die technische Herstellung von Drogen, höchst gefährlichen Drogen, die zum Mißbrauch verleiten, immer einfacher werden wird, so daß die Herstellung in Laboratorien ohne komplizierte Ausrüstung erfolgen kann, was natürlich die Möglichkeit der Kontrolle weiter erschwert.
Ich muß gestehen, daß mich der Gedanke an die zukünftige Entwicklung auf dem Gebiet der Rauschgifte mit Angst erfüllt. Hier liegt wirklich ein abschreckendes Beispiel vor, wie die Entwicklung von Wissenschaft und Technik fast automatisch sich destruktiv auf die Wohlfahrt der Menschheit auswirken kann.
Wenn man somit auch nur einige der Gefahren bedenkt, die heute dem Glück und der Harmonie der Menschen drohen, muß ich die Frage stellen, ob unsere gegenwärtige Situation von größeren Gefahrenmomenten gekennzeichnet ist als die früherer Generationen. Leider glaube ich, daß diese Frage mit ja beantwortet werden muß.
Viele der Gefahren, die ich aufgezählt habe, sind einzigartig in der Geschichte der Menschheit. Das gilt von der Bevölkerungsexplosion, von der Vergiftung unseres ökologischen Milieus, von der epidemischen Ausbreitung des Gebrauchs von Narkotika.
Das Wettrüsten hat jetzt Dimensionen angenommen, die ungeheure Mengen von finanziellen Mitteln einer vernünftigen Anwendung im Dienste der Menschheit entziehen. Gleichzeitig ist es offenbar, daß diese Anhäufung militärischer Arsenale auf längere Sicht das Risiko einer neuen, noch furchtbareren Weltkatastrophe wesentlich erhöht. Dazu kommen die besonderen Gefahren, die von der Anhäufung und der möglichen Anwendung der immer mehr verfeinerten chemischen und biologischen Kampfmittel drohen. Sie sind dramatische neue Schrecken, die sich am Horizont unserer Zeit abzeichnen.
Nochmals gesagt: Diese Gefahren, unerhört in der Geschichte der Menschheit, sind das Resultat einer perversen, einer verrückten Verwendung wissenschaftlicher Entdeckungen und technischer Errungenschaften. Pervers und verrückt, weil es eine Verwendung für destruktive Zwecke ist.
Einer meiner Freunde traf Bertrand Russell wenige Monate vor seinem Tod. Russell war bei dieser Begegnung noch voll und ganz im Besitz seiner geistigen Kapazität. In ganz sachlicher Weise kalkulierte er die Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Menschheit das Ende des 20. Jahrhunderts überleben werde, auf 50 Prozent. Andere erfahrene Experten haben diese Schätzung des Risikos der Vernichtung der Menschheit bestätigt. Niemand hat das Risiko als gering beurteilt.
Legt man all dies zusammen, kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die Situation der Menschheit tatsächlich verzweifelter ist als je zuvor. Nicht nur Fortschritt und Glück sind in Frage gestellt, sondern nachgerade die Existenz.
Ich erhebe den bestimmten Anspruch, damit nicht dem Pessimismus Ausdruck zu geben, sondern dem Realismus. Der Mut, der jetzt von uns gefordert ist, ist der Mut der Verzweiflung, nicht der eines illusorischen, opportunistischen Optimismus.
Ich bin aber nicht Defaitist. Die Entwicklung läßt sich wenden, die schrecklichen Gefahren lassen sich in herausfordernde Chancen verwandeln.
Die Geschichte ist nicht blindes Schicksal, sie wird von Menschen bestimmt. Wenn wir unsere Völker, unsere Mitmenschen dahin bringen könnten, die Gefahren einzusehen - die Gefahren, die letzten Endes alle auf Unwissenheit und auf opportunistischem, kurzsichtigen Verrat an den Idealen beruhen -, dann könnten sie, dann könnten wir alle unsere Regierungen zwingen, einen anderen Kurs einzuschlagen. Das bisherige Versagen der Vereinten Nationen könnte durch Reformen in Erfolg gewendet werden; das Wettrüsten könnte zum Stillstand kommen, wenn wir uns dazu entschlössen, daß es aufhören soll.
Als ich vor einigen Jahren, anläßlich der Generalversammlung von FAO, der internationalen Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation, den Auftrag hatte, vor Agrarministern und ihren Stellvertretern aus über 100 Ländern zu sprechen, gab ich einem Gedanken Ausdruck, der mich lange und in steigendem Ausmaß bedrückt und beunruhigt hatte. Ich möchte mir erlauben, hier abschließend diese Worte zu wiederholen:
»Ich fürchte, wir sind dabei, uns daran zu gewöhnen, unbekümmert weiter dahinzuleben, uns den Geschäften des Tages hinzugeben, ohne auch nur einen Gedanken zu verwenden an die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit des Undenkbaren, das vor uns liegt. Zu diesem Undenkbaren rechne ich die Frage, wozu das atomare Wettrüsten wohl führen mag und die bisher weniger beachtete Vorbereitung chemischer und biologischer Kriegführung. Mit jedem Tag, der vergeht, ohne daß effektive zwischenstaatliche Abkommen getroffen werden, die dieser Entwicklung Einhalt gebieten, mit jedem solchen Tag wird es leichter und billiger für die Länder, für alle Länder, sich zum Völkermord bereit zu machen . ..
Es scheint, wir übertragen uns hier ein gewiß ganz rationales Muster, nach dem wir unser individuelles Leben einrichten, indem wir fröhlich in den Tag leben, arbeiten, uns vergnügen, obwohl wir wissen, daß wir der persönlichen Katastrophe des Todes entgegengehen. Andernfalls wäre aber das Leben untragbar, wir können ja doch nichts daran ändern, und wir wissen: unsere Völker, die Menschheit, sterben nicht mit uns, sondern leben weiter.
Aber diese Einstellung, rational wie sie für ein Individuum sein mag, ist gefährlich irrational für die Gesellschaft, nämlich wenn wir sie als Mitglieder eines Volkes und der Menschheit einnehmen. Soziale Katastrophen sind etwas anderes als die Gewißheit des Todes für den einzelnen, denn soziale Katastrophen können und müssen abgewendet werden. Wenn wir uns nicht unserer Voraussicht bedienen und gemeinsam Maßnahmen gegen die sozialen Katastrophen ergreifen, dann werden wir alle zugrunde gehen; dann gibt es keine Nachwelt.«
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Medien Gunnar Myrdal
Gunnar Myrdal
Dankesrede des Preisträgers
Eine Friedensarbeit, die auf Abrüstung abzielt, kann und muß direkt die beiden Grundfaktoren des Friedens in ihren Dienst nehmen: die Moral und die Vernunft. Aus verschiedenen Gründen ist die Vernunft in diesem Zusammenhang der instrumental wichtigste Faktor.
Alva Myrdal - Dankesrede
Alva Myrdal
Friedenspreisträgerin 1970
Dankesrede
Mein Mit-Preisträger hat an diesem für uns so ehrenvollen Tag bereits unsere tiefe Dankbarkeit dafür ausgedrückt, daß uns der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen worden ist. Da er nicht nur »mein verehrter Herr Vorredner« ist, sondern wir auch verheiratet sind, haben wir ja über unser Auftreten hier gewisse Vereinbarungen treffen können. Zusammenarbeit und Rollenverteilung - anstelle von Doppelarbeit und Wiederholung - haben wir als Motto für unsere Dankesbezeugung gewählt, wie für so vieles andere, was wir in unserem Leben zusammen getan haben. An dem Gesagten habe ich also nichts zu ändern, wenn auch vieles hinzuzufügen wäre.
Daß man sich eines Friedenspreises eigentlich nicht würdig fühlt, da ja der wirkliche Friede nicht erreicht ist, haben andere Friedenspreisträger vor mir gesagt. Und das ist eine erschütternde Realität für jeden, der versucht, für den Frieden zu wirken: daß die Weltgemeinschaft, in der die Menschen in Frieden und Freiheit leben, »under the rule of law«, im Zeichen selbstgewählter Gesetzlichkeit - daß diese Weltgemeinschaft immer noch in unerreichbare Ferne zu entweichen scheint.
Aber wir können es uns ja nicht leisten, einfach zu warten. Weder die Weltwirtschaft noch die Nerven der Menschen lassen das zu. Über die schädlichen Auswirkungen der Rüstungen, der Kriegs Vorbereitungen, der Konflikte mit unserem Wohlstand und unserer Wohlfahrt hat mein Mann eben schon gesprochen. Von dem Druck, dem die Nerven der Menschen tagtäglich ausgesetzt sind, zeugt die ständig schwellende Flut der Nachrichten über Gewalttaten und Brutalität.
Was können wir denn tun; Wo können wir unsere Kräfte in strategisch-kluger Weise einsetzen? Die Friedensforschung, auf die bei dieser Preisverleihung besonderer Wert gelegt worden ist, ist ein Ansatzpunkt, aber nicht mehr. Wir können ja nicht auf den Frieden warten, bis die Friedensforschung ihr Werk vollendet hat! Den Frieden zu erreichen - das ist eine Sache der Vernunft und der Moral.
Wir wollen wohl glauben, daß die Menschen in ihrem Innersten den Frieden auf Erden wünschen. Aber diese Wertung unterliegt so vielen Anfechtungen - z. B. Revanche-Gedanken - und so vielen Manipulationen - z. B. durch die Massenmedien -, daß sie bisher nicht ausgereicht hat, eine so starke moralische Kraft zu werden, die die gesamte internationale Politik verändern könnte. Deshalb glaube ich auch nicht, daß allgemeine Appelle vom Typ »Wir fordern den Frieden!« bei den beschlußfassenden Instanzen, d. h. also bei den Nationen, eine Wirkung haben.
Ich glaube nicht einmal an die Möglichkeit einer theoretischen »Friedensplanung«. Es gibt ja keinen internationalen Generalstab für den Frieden, keinen Generalstab, der Macht hat, wie sehr wir auch wünschen würden, daß sich die Vereinten Nationen in dieser Richtung entwickelten. Die internationale Politik ist, leider, eine Resultante vieler allzu national gesonnener Willenskräfte.
Die Herausforderung an die Friedensarbeiter bezieht sich nicht auf eine - »universale« - Friedensfrage, sondern auf Friedenslösungen von vielen einzelnen Konflikten und Friedensanstrengungen längs vieler verschiedener Bahnen.
Manchmal jedoch laufen diese Bahnen zusammen, und wir erleben eine wesentliche Verbesserung des internationalen Klimas. Da gilt es, mit vorbereiteten Beschlüssen bereit zu sein, so daß man den rechten Augenblick ausnutzen und die Lage in Richtung auf den Frieden hin konsolidieren kann. Es ist meine bestimmte Auffassung, daß die Abrüstungslinie die beste der uns bekannten Möglichkeiten ist, eine solche Planung für strategische Aktionen durchzuführen. Die Abrüstungsbestreben können daher als ein Versuch bezeichnet werden, einen »Abkürzungsweg« zum Frieden zu finden.
Auch die Vorbereitung solcher Initiativen in der Abrüstungsfrage ist eine konkrete Friedensarbeit, die uns laufend zu Gebote steht: Während es schwer ist, Völker zu Friedenskonferenzen zu sammeln, ist es heute leicht, eine kontinuierliche internationale Zusammenarbeit für die Vorbereitung von Abrüstungs-Abkommen zu betreiben. Das Instrument dafür existiert.
Eine Friedensarbeit, die auf Abrüstung abzielt, kann und muß direkt die beiden Grundfaktoren des Friedens in ihren Dienst nehmen: die Moral und die Vernunft. Aus verschiedenen Gründen ist die Vernunft in diesem Zusammenhang der instrumental wichtigste Faktor. Heute kann man auf wissenschaftlicher Grundlage feststellen, daß fortgesetzte Rüstungen einfach Wahnsinn sind. Solche Rüstungen wirken ihrem eigenen Zweck entgegen: sie gefährden die Sicherheit des eigenen Landes, statt diese zu stärken, und sie steigern gleichzeitig die Unsicherheit der Welt als Ganzes. Dieses hängt damit zusammen, daß in der Epoche des Wettrüstens und in der avancierten Rüstungssituation, in welcher wir uns heute befinden, daß in dieser Epoche, in der die Supermächte heute sogenannte »overkill capacity« besitzen, die Rüstung einer der Supermächte zugleich zu schwindelerregend gefährlichen Aufrüstungen der anderen führt.
Die Friedensforschung, die ja, wie alle Art von Forschung, das feinste Werkzeug menschlicher Vernunft in ihren Dienst stellt, scheint mit auch die größte Aussicht zu haben, den Gang der Ereignisse zu beeinflussen, wenn sie sich auf die Bestrebungen konzentriert, die ich »Abkürzungswege« zu stabilerem Frieden genannt habe.
Diejenige Friedensforschung, mit der ich selbst am meisten zu tun gehabt habe, nämlich die von SIPRI betriebene - das Institut in Stockholm, für welches das Schwedische Parlament Mittel angewiesen hat, um in Dankbarkeit die Erinnerung an den I50jährigen schwedischen Frieden zu begehen -, hat auch gerade diese Linie verfolgt. Das Institut hat sich darauf konzentriert, reelle und konkrete, ja fast »empirische« Forschung zu betreiben, die der Abrüstungsarbeit direkt zugute kommen kann. Die Untersuchungen haben sich u. a. auf den internationalen Waffenhandel, auf seismographische Methoden zur Entdeckung von Kernwaffenexperimenten sowie auf Verifikationssysteme für ein Verbot chemischer und biologischer Waffen bezogen.
Ich fühle ein starkes Bedürfnis, in dieser feierlichen Stunde hervorzuheben, wie die internationale Friedensarbeit in praktischer Weise unter das Diktat der Vernunft gestellt werden kann und wie ihr eine solche Richtung gegeben werden kann, daß sie die moralisch-politische Verantwortung zur Stellungnahme herausfordert. Dies geschieht nach meiner persönlichen Meinung am besten dadurch, daß man konkrete Pläne für Abrüstungsmaßnahmen ausarbeitet, aber während den Verhandlungen so genau den politischen Ebbe- und Flutbewegungen folgt, daß man imstande ist, die Gelegenheiten auszunutzen, wenn die Bedingungen für positive Beschlüsse maximal günstig sind.
Ich möchte daher hier kurz einen Abriß meiner persönlichen Deutung der »Geschichte der versäumten Gelegenheiten« auf dem Gebiet der Abrüstung darlegen und an einige historische Augenblicke erinnern, als günstige politische Klimaveränderungen unglücklicherweise nicht ausgenutzt wurden.
Ich tue das, um uns alle davor zu warnen, noch einmal denselben Fehler zu begehen: noch einmal uns in Dummheit verblenden zu lassen, in Augenblicken, da die politischen Kräfte sich in günstiger Konstellation befinden, kurzsichtigen, nationalen Interessen zu folgen, statt diese Gelegenheiten zu benutzen, solche weitblickenden Ziele zu verfolgen, die sowohl dem Weltganzen wie unseren eigenen Ländern zugute kommen. Friede bedeutet ja Sieg für alle - einen anderen Sieg gibt es nicht mehr.
Die erste und vielleicht größte Chance hatten wir 1945/46. Da hatten wir für eine kurze Zeit die Möglichkeit in Reichweite, einen haltbaren Damm gegen den Weiterbau der Kernwaffen zu errichten. Waren wir denn damals völlig mit Blindheit geschlagen? Wenn jemals die Interessen der Welt auf den Frieden konzentriert waren, so waren sie es in diesem Augenblick, nach dem ungeheuren Trauma des Zweiten Weltkrieges. Auch für die »Siegermächte«! Und das Gefühl des Schreckens war am allerstärksten mit den Terrorwaffen verknüpft, welche die Entwicklung der Kernenergie an den Tag gebracht hatte. Es existierten damals noch keine Lager solcher Kernwaffen, mit einer Serienproduktion war noch nicht einmal begonnen. Die drei Atombomben, alle von verschiedener Konstruktion, die bis dahin in der Welt produziert worden waren, waren verbraucht: experimentell in Alamagordo, mit Massenmordeffekt in Hiroshima und Nagasaki. Damals, im Herbst 1945, wurde in den Vereinigten Staaten der Gedanke geweckt, man solle für alle Zukunft diese böse Frucht der Erkenntnis neutralisieren: Rohstoffe, technische Hilfsmittel zur Herstellung, wissenschaftliche Forschung auf dem Kerngebiet - alles sollte internationaler Kontrolle unterstellt werden.
Aus diesem Plan, der in seiner ursprünglichen und idealistischen Fassung Robert Oppenheimers und David Lilienthals Signatur trug, in einer späteren, schon mehr kompromißhaften, die von Dean Acheson, und der schließlich in seiner letzten, national eingeengten Version, unter der Bezeichnung Baruch-Plan lief - aus diesem Plan wurde nichts. Man ließ ihn in den Vereinten Nationen aufsteigen, als eine Leuchtrakete, als die Erste Generalversammlung in ihrer Ersten Resolution die Völker zu internationaler Zusammenarbeit zwecks Ausnutzung der neuentdeckten Kernkraft aufgerufen hatte. Heute können wir nur konstatieren, daß die Welt ganz anders geworden wäre, hätte man damals die einzigartige Chance ergriffen und einen solchen Damm errichtet.
Wessen war die Schuld, daß das nicht geschah? Nun, der eine Hauptrolleninhaber, die Vereinigten Staaten, schiebt die Schuld auf den anderen, die Sowjetunion - formell die Nation, die ihr »njet« aussprach. Die Sowjetunion vertraute einfach nicht auf das Internationalisierungsversprechen der Vereinigten Staaten, das auch in der offiziell vorgelegten Version zu einem bedingten Versprechen verwandelt worden war: bis auf weiteres sollten die Vereinigten Staaten das Herstellungsgeheimnis für sich selbst behalten.
Die Kernwaffenfrage war gewiß eine der Hauptursachen des »Kalten Krieges«, der nun zwischen den beiden Supermächten der Welt ausbrach, ganz kurz nach Ende des Krieges, in dem diese beiden Mächte alliierte Kriegskameraden waren und dann die Sieger wurden. Wer den Ursprung dieses Kalten Krieges objektiv studiert, wird wohl kaum, wie es im Westen recht allgemein geschehen ist, hauptsächlich an Hand der Rapporte Kennan's aus Moskau diesen Konflikt aus Stalins neuerwachtem Beschluß herleiten, die Sowjetunion zum Eroberungsfeldzug für den heiligen Weltkommunismus aufzurüsten. Die neue Aufrüstungsphase der Sowjetunion kann vielmehr als die Antwort auf das Schreckenssignal beurteilt werden, das wenige Monate vorher über Hiroshima aufgegangen war.
Es lohnt sich nicht zu versuchen, die Schuld für das Kernwaffenrüsten, das daraufhin in Gang kam, gerecht und endgültig zwischen den beiden Großmächten zu verteilen. Natürlich haben sie beide die entscheidende Verantwortung für das Schicksal der Welt. Aber was taten wir anderen? Die Vereinten Nationen existierten doch, und sie wurden sogar das Forum für die große Eröffnungsdebatte über die Terrorwaffen. Viele Staaten der Welt waren schon als Mitglieder der UNO mitbeteiligt. Sahen wir nicht, was geschah? Verstanden wir nicht, was es bedeutete?
Die kleineren Staaten waren damals tatsächlich nicht zum klaren Bewußtsein der Situation gelangt, und sie waren nicht bereit, ihre Verantwortung auf sich zu nehmen. Erst später, 1954, schlug ihre Stunde. In diesem Jahr waren es die Neutralen, allen voran Nehru, die an die Spitze traten - wie sie bis auf den heutigen Tag an die Spitze haben treten müssen -, um kategorische Abrüstungsforderungen an die Supermächte zu stellen. Damals, 1954, galt es in erster Linie, ein Verbot gegen Kernwaffenexperimente zu erreichen - ein Verbot, das wir übrigens bis heute noch nicht völlig haben durchsetzen können.
Im Jahre 1955 kam die zweite geschichtliche Chance. Man kann sogar das Datum genau angeben: am 10. Mai 1955 kam - und ging - was Noel-Baker in seinem Buch The Arms Race »den Augenblick der Hoffnung« genannt hat. An diesem Tage akzeptierte nämlich ganz unerwartet die Sowjetunion den Plan für eine allgemeine Abrüstung, den die Westmächte in langen, mühevollen Überlegungen ausgearbeitet hatten. Diesmal waren es die Vereinigten Staaten, die »njet« sagten. Wieder müssen wir uns fragen, warum in dieser historischen Stunde die Vernunft nicht die Oberhand gewann? Dieses Entgegenkommen war doch keine rein zufällige Geste der Sowjetunion. Wir müssen uns nämlich daran erinnern, was gleichzeitig geschah. 1954 hatte man in der Sowjetunion seinen nationalen Stolz befriedigt, indem es gelungen war, gleich nach den USA, die Wasserstoffbombe herzustellen. Stalin war tot, Chruschtschow war an die Spitze der russischen Politik getreten. Ungefähr gleichzeitig schloß er den Staatsvertrag mit Österreich und machte seine Versöhnungsvisite bei Tito in Belgrad.
Wie reagierte man nun hierauf von Seiten der Westmächte? Politisch reagierte man, indem man in diesem selben Monat, also im Mai 1955, Westdeutschland in den NATO-Pakt aufnahm und damit den Beschluß in bezug auf die deutsche Wiederaufrüstung formalisierte, der zwar schon viele Jahre lang diskutiert worden war, der aber gerade in diesem Augenblick mehr als irgend etwas anderes zu unterstreichen schien, daß der Kalte Krieg fortgesetzt werden sollte. Im Abrüstungssektor geschah eine schroffe Unterbrechung insofern, als die Vereinigten Staaten plötzlich einen allgemeinen, kategorischen Vorbehalt gegenüber all ihren eigenen früheren Standpunkten machten, einschließlich des Standpunktes, dem sich die Sowjetunion eben angeschlossen hatte. Eisenhower legte statt dessen einen umfangreichen Plan auf sogenannte »open skies« vor, d. h. auf ein Recht der gegenseitigen Flugüberwachung, auch durch Luftaufnahmen, sowie auf den Austausch von Informationen über alle militärischen Dispositionen.
Wieder muß festgestellt werden, nicht nur, daß die Großmächte fortfuhren, in Kriegsspielbegriffen zu denken und zu planen, statt sich der Sprache des Friedens zu bedienen, sondern auch, daß wir anderen uns offensichtlich passiv verhielten. Warum begnügten wir uns damit, Zuschauer zu spielen? »Alle sprachen vom Tauwetter, aber niemand tat etwas dazu«, könnte man travestieren. Aber gerade das ist ja der Kern meiner Mahnung, ja meiner Anklage gegen alle die Staaten, die nicht Supermächte sind: sie dürfen es nicht unterlassen, für Vernunft und Moral einzutreten.
Warum habe ich hier diesen Rückblick auf einige der düstersten Augenblicke der modernen Geschichte getan? Meine Entschuldigung besteht darin, daß ich es so stark empfinde, daß wir uns im gegenwärtigen Augenblick wieder vor einer dieser seltenen Chancen sehen - der Chance, daß sich die Fäden des Geschicks zu einem Muster des Friedens knüpfen ließen.
Die Entspannung im gegenwärtigen weltpolitischen Klima ist offensichtlich. Ich bin in der glücklichen Lage, damit beginnen zu können, meine Achtung vor dem heute hier nächstliegenden Fortschritt zu bezeugen, dem Nichtangriffspakt zwischen Bonn und Moskau. Dieser Schritt ist vielversprechend für eine Entspannung auch zwischen den Supermächten hinsichtlich ihrer so spannungsgeladenen Konfrontationslinie quer durch Europa. Eine fortgesetzte Zusammenarbeit für die Sicherheit des gesamten Europa liegt uns nun vorgezeichnet. Daß gerade Bonn diesen ersten Schritt symbolisiert, der uns weiterführen kann, scheint mir um so glücklicher, als die deutsche Wiederaufrüstung bei der letztvergangenen Gelegenheit eines »goldenen Augenblickes« Symbol dafür wurde, wie man die Chancen verspielte.
Die Friedensversuche im Mittleren Osten lassen uns weiter hoffen, obwohl der Haß dort noch lodert und die Risiken verschärfter Konflikte immer noch sehr bedeutend sind. Die steigende Welle der Weltmeinung, die sich dagegen wendet, daß die Vereinigten Staaten einen supertechnischen Krieg gegen arme Völker in Südostasien führen, diese Welle sollte auch zu konstruktiven Lösungen verhelfen können.
Direkt auf der Linie der Abrüstung liegen die Verhandlungen unter der Bezeichnung SALT, die gegenwärtig zwischen Helsinki und Wien pendeln und die auf eine Reduzierung der strategischen Waffensysteme der Supermächte abzielen, und zwar sowohl der offensiven wie der defensiven Waffensysteme.
Jetzt ist uns also wieder eine kostbare Gelegenheit gegeben, Abrüstungsmaßnahmen zu planen, die so schnell durchgeführt werden können und die so weit greifen müssen, daß sie wirklich einen bedeutsamen Friedenseffekt bekommen können. Es müssen Abkommen getroffen werden, die ihrerseits Unterlage für eine weitere Verbesserung des Friedensklimas darstellen und weitere Reduktionen der Rüstungsapparate nach sich ziehen können.
Wiederum muß man anklagend fragen, ob jemand von den Beteiligten wirklich die volle Verantwortung dafür übernommen hat, daß diese Gelegenheit der Menschheit nicht wieder aus den Händen gleitet. In der Abrüstungskonferenz in Genf stellen wir, die kleinen Staaten und besonders die Vertreter der allianzfreien Staaten, unruhig und warnend diese Frage. Mit unendlicher Mühe und gegen den hartnäckigen Widerstand der Großen versuchen wir, eine Resolution nach der anderen zur Annahme gelangen zu lassen, die auf die Verpflichtung der Staaten hinweist, »die Verhandlungen im Geiste gegenseitigen Vertrauens fortzusetzen, so daß umfassende Abrüstungsmaßnahmen durchgeführt werden können«. Es gelang uns, diese Formulierung in Artikel VI des Sperrvertrages einzuschieben, der ja sonst den Großmächten keinerlei Verpflichtungen auferlegt.
Noch aber zeichnet sich kein verheißungsvoller Hoffnungsstrahl am Horizont der Abrüstungsverhandlungen ab. Womit wir uns in den letzten Jahren in Genf beschäftigt haben, sind eigentlich nicht die großen, bedeutungsvollen Fragen der Abrüstung, sondern eher die verhältnismäßig peripheren Fragen der Nicht-Rüstung, das heißt, weitere Rüstungsmaßnahmen zu unterlassen. So z.B. das nun empfohlene Abkommen, nach welchem keiner der vertragschließenden Staaten das Recht haben soll, auf dem Meeresboden unter internationalem Fahrwasser Anlagen für Kernwaffen zu errichten. Man verbietet also damit etwas, was noch nicht geschehen ist und was wahrscheinlich nicht aktuell werden wird. Wenn ich ehrlich sein soll - und mich etwas böse ausdrücken darf -, dient die Arbeit an solchen »non-armament-measures« hauptsächlich als eine Art Beschäftigungstherapie für die Abrüster.
Bedeutungsvoller sind natürlich die Bestrebungen, die darauf hinauslaufen, die chemischen und biologischen Kampfmittel völlig zu eliminieren. Die öffentliche Meinung der Welt ist in dieser Frage ganz offenbar beunruhigt; es zeigt sich ja auch, daß diese Waffen sogar im Frieden gefährlich sind: in Utah, auf Okinawa, in der Ostsee. Die Großmächte zeigen sich aber immer noch unwillig, hier entscheidende Schritte zu unternehmen. Der Westen hält kleinlich und engstirnig daran fest, daß das Tränengas und die Defolianten von den Verboten ausgenommen werden sollen. Und so lange sie diese Forderungen aufrechterhalten, kann ja auch der ehrliche Wille der Sowjetunion nicht ernstlich auf die Probe gestellt werden.
Ich kann hier nicht darauf eingehen, näher zu beschreiben, worin die großen, bedeutungsvollen Schritte bestehen könnten. Ich will nur kurz einige Forderungen aufzählen, die wir gegenwärtig stellen. Sie umfassen: vollständiges Verbot aller militärisch bedeutungsvollen Aktivität auf dem internationalen Meeresboden; vollständiges Experimentverbot für Kernwaffen, wodurch ja ihre Weiterentwicklung unterbunden werden würde; vollständiges Verbot gegen alle B- und C-Waffen sowie gegen Brandwaffen vom Typ Napalm.
Von da sollten wir dann weitergehen und schrittweise diejenigen Massenzerstörungswaffen eliminieren, die gegen das verstoßen, was frühere Generationen in der »Haager Landkriegsordnung« zum Ausdruck bringen wollten. Diese Regeln hatten ja den Zweck, die Zivilbevölkerung davor zu schützen, Opfer der Kriegshandlungen zu werden. Wir müssen den Mut dazu aufbringen, obwohl es bedeutet, daß wir etwas fast Unglaubliches verlangen, nämlich daß unsere Nationen vernünftig genug sein sollen, der Anwendung der supertechnischen Zerstörungsmethodik zu entsagen, zu der sich der moderne Krieg entwickelt hat.
Aber selbst da dürfen wir nicht stehen bleiben. Ich sehe zwei Hauptlinien der Weiterentwicklung der Friedensarbeit vor mir. Die eine ist die schon beschriebene multilaterale Abrüstungslinie, die sich besonders auf die technisch neuen Waffen zur Massenzerstörung bezieht. Hier sind es die Supermächte, die am meisten aufgeben müssen, da sie am meisten haben. Die zweite Hauptlinie ist die regionale, die direkt friedenspolitische Linie, die sich auf die konventionellen Militärpositionen bezieht und deshalb auch lokale politische Probleme berührt. Um auf der erstgenannten Linie Erfolge zu verzeichnen, müssen wir alle, die wir nicht zu den Großmächten gehören, diese unermüdlich immer wieder zu Maßnahmen drängen. Auf der zweiten Hauptlinie dagegen sind wir selbst mitbetroffen: wir müssen deshalb selbst vom Willen beseelt sein, auch etwas aufzugeben. Das wesentliche Moment des Sperrvertrages ist es ja, daß er einen direkten Beitrag der kleinen Länder darstellt, der allgemeinen Kriegstorheit in der Welt an einem Punkt Einhalt zu gebieten. Das Übereinkommen über eine kernwaffenfreie Zone in Latein-Amerika, das sogenannte Tlatelolco-Abkommen, weist den Weg zu weiteren derartigen regionalen Abkommen. Dieser Weg ist gewiß anfangs schwer und schmal, aber er öffnet sich vielversprechend, wenn man ihn einmal eingeschlagen hat.
Herr Bundespräsident, meine Damen und Herren. Ich habe gemeint, meinen Dank für den Preis, der mir zuteil geworden ist, nicht in besserer Weise abstatten zu können, als indem ich uns alle an die Verpflichtungen erinnere, die uns obliegen. Wir haben die Aufgabe, die Großen und Mächtigen zu mahnen und zu warnen, aber auch uns selbst in Zucht zu halten, unsere eigene Verantwortung auf uns zu nehmen, so daß nicht nochmals Chancen verspielt werden und historische Gelegenheiten uns aus den Händen gleiten. Unsere Aufgabe ist es, Frieden zu schaffen.
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Alva Myrdal
Dankesrede der Preisträgerin
Chronik des Jahres 1970
+++ US-Präsident Nixon legt im Februar 1970 seine »Nixon-Doktrin« vor. Danach rücken die USA von der Vorstellung ab, als »Weltpolizei« für Ordnung zu sorgen. Die UdSSR wird erstmals als gleichberechtigte Weltmacht anerkannt, mit der es in Frieden zu leben gelte. +++ Im Zuge der »Neuen Ostpolitik« kommt es im März zum ersten innerdeutschen Gipfelgespräch zwischen Bundeskanzler Brandt und Ministerpräsident Stoph. Die Bundesregierung erkennt die deutsche Teilung und den Verlust der deutschen Ostgebiete an, setzt sich aber als Endziel weiterhin die Wiedervereinigung. +++ Auf Befehl von Richard Nixon marschieren Ende April US-Truppen nach Kambodscha ein. In Washington, London, West-Berlin und weiteren Städten finden Protestdemonstrationen statt.+++
Der inhaftierte Andreas Baader wird am 14. Mai unter Mitwirkung von Ulrike Meinhof während eines Freigangs unter Einsatz von Schusswaffen befreit. Die Gewalttat gilt als Geburtsstunde der »Roten Armee Fraktion«. Innerhalb von wenigen Minuten erbeuten Mitglieder der »Baader-Meinhof-Gruppe« im September bei drei Banküberfällen in West-Berlin mehr als 200.000 DM. +++ Der Rockmusiker Jimi Hendrix stirbt im September an den Folgen überhöhten Alkoholgenusses und der Einnahme von Schlaftabletten. Drei Wochen später stirbt Janis Joplin an einer Überdosis Heroin. +++ Anfang Dezember wird der Warschauer Vertrag von der Bundesrepublik und Polen unterzeichnet, der die Grundlage zur Normalisierung der Beziehungen beider Länder bei gleichzeitiger Anerkennung der Oder-Neiße-Linie bildet. Vor Unterzeichnung des Vertrages legt Bundeskanzler Brandt in Warschau am Denkmal des Unbekannten Soldaten sowie am Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettos Kränze nieder. Das Bild seines Kniefalls am Ghetto-Denkmal geht in die Geschichte ein. +++
Biographie Alva Myrdal
Alva Myrdal wird am 31. Januar 1902 in Uppsala (Schweden) geboren. Seit 1924 ist sie mit Gunnar Myrdal verheiratet. Sie gründet und leitet nach Studium und Promotion in Soziologie das Sozialpädagogische Seminar in Stockholm.
Als Direktorin führt sie Anfang der 50er Jahre das UN-Office of Social Affairs und das Department of Social Sciences der UN-Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur. Von 1962 bis 1973 arbeitet sie als schwedische Chefdelegierte und einzige Frau unter 67 Männern in der Genfer Abrüstungskonferenz mit. Während dieser Zeit ist sie auch als Staatsministerin mit Fragen der Abrüstung betraut.
1982 erhält sie hierfür den Friedensnobelpreis.
Alva Myrdal stirbt am 1. Februar 1986 im Alter von 84 Jahren.
Biographie Gunnar Myrdal
Der am 6. Dezember 1898 im schwedischen Gustafs geborene Gunnar Myrdal veröffentlicht in den 30er Jahren als Professor an der Handelshochschule Stockholm zahlreiche Arbeiten über klassische Wirtschaftstheorie. Früh schließt er sich als überzeugter Sozialist den Sozialdemokraten an und wird einer der einflussreichsten Wirtschaftsberater. Zwischen 1945 und 1947 ist er Handelsminister, dann leitet er zehn Jahre lang die Europäische Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen.
1974 erhält er den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Mit seinem Ansatz einer moralischen Wirtschaftswissenschaft wird er zum Vorreiter der Entwicklungshilfe, die er ab 1980 unter dem Eindruck zunehmenden Missbrauchs kritisiert und sich für möglichst direkte Verteilung an Bedürftige einsetzt.
Gunnar Myrdal stirbt am 17. Mai 1987 im Alter von 88 Jahren.
Auszeichnungen Alva Myrdal
1982 Friedensnobelpreis, gemeinsam mit Alfonso García Robles
1982 Aufnahme in die American Philosophical Society
1980 Albert-Einstein-Friedenspreis
1970 Friedenspreis des deutschen Buchhandels, gemeinsam mit Gunnar Myrdal
Auszeichnungen Gunnar Myrdal
1981 Nehru-Preis für internationale Verständigung
1974 Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften, gemeinsam mit Friedrich Hayek
1970 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, gemeinsam mit Alva Myrdal