Der Stiftungsrat für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wählt 1962 den Theologen Paul Tillich zum Träger des Friedenspreises. Die Verleihung findet während der Frankfurter Buchmesse am Sonntag, 23. September 1962, in der Paulskirche zu Frankfurt statt. Die Laudatio hält Otto Dibelius.
Begründung der Jury
Dem Theologen und Philosophen Paul Tillich dankt der deutsche Buchhandel für ein Leben geduldigen Strebens zur Wahrheit, der er erkennend, lehrend und bezeugend diente.
In einem Jahrhundert, das mit der menschlichen Existenz oftmals frevelhaft spielt, hat er unbeirrt auf Sinn, Ursprung und Grenze des Seins hingewiesen und damit den Menschen Mut gemacht zum Frieden mit sich selbst, zum Frieden mit der Welt und zum Frieden mit Gott.
Der deutsche Buchhandel ehrt ihn voller Dankbarkeit durch die Verleihung des Friedenspreises.
Reden
Paul Tillich war einer der ersten nach dem Kriege, die uns den tiefen Urgrund aller Kultur wieder bewußt machten. In einer Zeit, in der kaum jemand einen auch nur vagen Eindruck von der Zukunft hatte, machte er uns deutlich, daß der Friede die Voraussetzung für die Rettung des Menschen ist.
Werner Dodeshöner - Grußwort
Werner Dodeshöner
Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels
Grußwort
Wer einmal erkannt oder erfahren hat, daß jede geistige Erkenntnis nicht nur den verpflichtet, der sie gewinnt, sondern auch den, der sie als richtig anerkennt, der spricht deshalb nicht gern davon, weil er weiß, wie schwer sich danach leben läßt. Warum also hat der deutsche Buchhandel den »Friedenspreis« geschaffen und warum verteilt er ihn alljährlich einmal vor aller Weltöffentlichkeit?
Vielleicht, weil er erkannt hat, daß der Frieden ein zu kostbares Gut ist, um ihn nur durchpolitische oder diplomatische Maßnahmen zu sichern. Vielleicht auch, weil alle Menschen, die mit Büchern als formgewordenen Gedanken leben, die Verpflichtung in sich fühlen, gelegentlich aus der Einsamkeit ihrer gedanklichen Arbeit herauszutreten. Gerade Bücher sind ja zu allen Zeiten Helfer und Wegbereiter gewesen, die an Wert manches andere um ein Vielfaches übertrafen. Wer mit ihnen umgeht und aus ihnen lebt, muß auch den Mut zur Öffentlichkeit haben. Er darf sich nicht selbstgenügsam abschließen.
So versammelt sich denn alljährlich der deutsche Buchhandel zusammen mit einer großen Zahl von Ehrengästen und Tausenden von Menschen an Rundfunkgeräten und Fernsehapparaten hier in der Frankfurter Paulskirche, um einer Persönlichkeit, die sich durch ihr' Wirken für den Frieden und für die Verständigung zwischen den Völkern besonders ausgezeichnet hat, den Friedenspreis zu überreichen.
Ihnen allen darf ich den aufrichtigen Willkommengruß der deutschen Verleger und Buchhändler sagen, die im Börsenverein des Deutschen Buchhandels vereinigt sind.
Ich begrüße insbesondere den von uns allen hochverehrten Alt-Bundespräsidenten Professor Dr. Heuss, die Herren Vertreter der ausländischen Staaten, die Herren Minister, die Herren Vertreter des Bundes und der Länder, der Kirchen und der Verwaltung. Ich begrüße die Herren Vertreter der Universitäten, die Wissenschaftler, Schriftsteller, Dichter und Bibliothekare, die Vertreter der Stadt Frankfurt, insbesondere Herrn Oberbürgermeister Bockelmann, dem der deutsche Buchhandel eben erst zur Eröffnung der diesjährigen internationalen Frankfurter Buchmesse die Plakette »Dem Förderer des Buches« überreichen durfte.
Ich begrüße mit dem Ausdruck herzlichen Dankes und aufrichtiger Bewunderung für sein mannhaftes Eintreten in unserer Stadt Berlin den Berliner Bischof Dibelius, der die Würdigung des diesjährigen Friedenspreisträgers vornehmen wird, und ich begrüße sehr herzlich den Träger des diesjährigen Friedenspreises, Dr. Paul Tillich, Professor an der Harvard University, Massachusetts, der in Wort und Schrift unermüdlich dem Gedanken des Friedens gedient hat und der nach dem Kriege der deutschen Wissenschaft die Tore nach außen wieder öffnete, die wir selbst in Verführung und Verblendung zugeschlagen hatten.
Paul Tillich war einer der ersten nach dem Kriege, die uns den tiefen Urgrund aller Kultur wieder bewußt machten. In einer Zeit, in der kaum jemand einen auch nur vagen Eindruck von der Zukunft hatte, machte er uns deutlich, daß der Friede die Voraussetzung für die Rettung des Menschen ist. Zugleich wies er mahnend darauf hin, daß von uns und von allen Menschen guten Willens das Äußere gefordert werden würde, um den wirklichen Frieden zu erlangen und zu behaupten.
Der Theologe und Philosoph Tillich hat uns in vielen Vorträgen und zahlreichen Büchern einen festen Begriff von dem gegeben, was Kultur in ihren verschiedenen Gestaltungen bedeutet. Er hat uns wissen gemacht, daß der Wille zum Frieden, das Streben nach Frieden nicht Sonderbezirk auf dem Gebiet der verschiedenartigen menschlichen Bemühungen ist, sondern immer gegenwärtige Aufgabe für einen jeden einzelnen in all seinem Handeln und Tun.
Der uralte Wunsch der Menschheit nach Frieden ist eine der Wurzeln dessen, was man zu allen Zeiten unter Kultur verstand. Selbst diejenigen, die an eine autonome Kultur der so oft zitierten »Neuen Zeit« glauben, können diese Tatsache nicht unbeachtet lassen. Auch eine sonst allgenmein sichtbare Ablösung des Zusammengehörigkeitsgefühls oder des Gemeinschaftsgefühls durch eine immer stärker um sich greifende Mechanisierung der Lebensvorgänge, wie wir sie gerade in der Zeit nach dem Krieg in so ausgeprägtem Maß erlebt haben, kann nichts daran ändern, daß die Sehnsucht nach Frieden letztlich immer noch alle Menschen beherrscht.
Diese Feierstunde hier in der Paulskirche, die den festlichen Höhepunkt nicht nur der Frankfurter Buchmesse, sondern auch des buchhändlerischen Arbeitsjahres darstellt, soll dazu dienen, unsere Gedanken auf den Frieden zu richten. Alle Nachrichtenmittel sprechen noch heute vom Krieg in irgendeinem Teil unserer Erde. Auch ist es uns noch lange nicht gelungen, aus der Wüste jener Jahre, die allzu deutlich und allzu tief ihre Zeichen in das Gesicht unserer Zeit gegraben haben, einen grünenden Garten zu machen.
Wohl zu manchen Zeiten schon ist man der Meinung gewesen, daß es größere Gefahren und Unsicherheiten als die gegenwärtigen nicht geben könne. Aber wohl noch nie ist die Annahme so zutreffend gewesen wie in unseren Tagen.
In der Furcht der völligen Vergeblichkeit dessen, was man tut, macht man immer gewaltigere Anstrengungen. Um das aus dieser Erkenntnis sich ergebende Mißbehagen zu betäuben und zu verdrängen, nimmt man technische Aktionen vor, die uns fast unglaublich scheinen, die noch unseren Vätern als etwas Wunderbares erschienen wären, die jedenfalls alles in den Schatten stellen, was in der bisherigen Geschichte der Menschheit an technischen Werken jemals zustande gebracht worden ist. Damit kommt man sicher nicht zur Konsequenz des Friedens, sondern allenfalls zur Konsequenz des Schrecklichen, die nur den Eindruck verstärkt, daß uns Menschen letztlich nichts unmöglich ist. Auf diesen Höhepunkt treiben wir zu. Um so wichtiger, ja um so dringlicher scheint es uns zu sein, vor aller Welt unseren Willen zum Frieden zu bekunden. Wir dürfen gewiß sein, daß von dieser Bekundung Wirkungen ausgehen, wenn sie vielleicht auch äußerlich nicht so sichtbar werden, wie einstmals im Falle der Gattin des ersten Friedenspreisträgers, einer freiheitliebenden norwegischen Patriotin, die im Widerstand gegen den Krieg ihre Angehörigen verlor, und die trotzdem sich aussöhnte mit denen, die ihr tiefsten Schmerz verursacht hatten, ja die ihnen ihre Hilfe gab, als die und ihre Kinder in Not waren. Es sind Wirkungen in der Stille, auf die wir vertrauen, auch in einer Zeit, in der vornehmlich der schnell sichtbare, aber auch schnell vergängliche Erfolg Beachtung findet. Wir wissen, welche Bedeutung dieses Wirken in der Stille hat, gerade in einer Staatsform, wie wir sie uns wünschen. Und wir alle haben ja die Wirkungen der Diktatur und ihres kulturellen Vernichtungswillens erfahren und beobachten noch heute die Auswirkungen der Ideologie eines Systems, das den Klassenbegriff als Instrument eines simplen Macht- und Herrschaftswillens handhabt. Wir wissen daher auch um die Bewährung und den hohen menschlichen Wert der Arbeit derjenigen die der deutsche Buchhandel hier preisgekrönt hat. Sie alle sind, wie Theodor Heuss es einmal ausgedrückt hat, »Politiker im Geistigen«, und sie sind ohne Rücksicht auf ihre Nationalität oder ihre politische Einstellung, ohne Ansehen der Rasse oder ihrer Konfession in voller Freiheit der Entscheidung von einem in jeder Beziehung unabhängigen Gremium gewählt worden, von dem jeder einzelne nur seinem Gewissen verantwortlich ist.
Träger des Friedenspreises gehören zu den Großen des geistigen Lebens in dieser Welt. Sie sind Menschen, die den höchsten und edelsten Zielen der Menschheit in ihren Werken und in ihrem Leben Ausdruck gegeben haben.
Ihre Gedanken sind die, die die größten und kühnsten Wünsche der Dichter und Denker objektivieren; sie alle
haften mit ihrer Meinung und Aussage den Menschen dieser Welt, denen sie dienen wollen.
Daher verneigen wir uns auch in dieser Stunde ehrfurchtsvoll vor der Persönlichkeit und dem Werk eines Max Tau, Albert Schweitzer, eines Romano Guardini, Martin Buber, Carl J. Burckhardt. Wir gedenken insbesondere des Friedenspreisträgers Hermann Hesse, der erst vor kurzem aus diesem Leben abberufen wurde. Wir gedenken eines Reinhold Schneider, eines Thornton Wilder, eines Karl Jaspers, eines Theodor Heuss, Victor Gollancz und Sarvepalii Radhakrishnan.
Sie haben uns die Schönheit des Edlen und Guten gewiesen und haben uns den Weg zum Frieden gezeigt. Sie zu studieren und ihnen nachzueifern sollte für jeden, dem der ethische Wert des Friedens deutlich ist, vornehmste Aufgabe sein.
Hätten die Völker der Welt den Frieden mit derselben Sorgfalt und Gründlichkeit vorbereitet, die sie zu allen Zeiten der menschlichen Geschichte dem Krieg angedeihen ließen - wahrlich, unsere Erde sähe anders aus.
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Werner Dodeshöner
Grußwort des Vorstehers
Paul Tillich hat für sein Lebenswerk gelitten. Er hat die Heimat, in der er mit allen Fasern seines Herzens und Denkens wurzelt, verlassen müssen und hat versuchen müssen, in einer anderen Welt von neuem Wurzel zu schlagen. Das ist für einen Mann der geistigen Arbeit ungefähr das schwerste Opfer, das ihm auferlegt werden kann.
Otto Dibelius - Laudatio auf Paul Tillich
Otto Dibelius
Auf den Preisträger 1962
Laudatio auf Paul Tillich
In dieser festlichen Versammlung bin ich gewiß nicht der einzige, den es ein wenig befremdet hat, daß um diese einleitende Laudatio ein evangelischer Bischof gebeten worden ist. Ein Mann vom Range Paul Tillichs hätte in dieser Stunde doch eigentlich von einem unserer führenden Philosophen oder von einem systematischen Theologen gewürdigt werden sollen. - Wenn ich trotzdem die Bitte nicht abgeschlagen habe, die an mich ergangen ist, so hat das seinen Grund nicht nur in meiner persönlichen Verehrung für Paul Tillich; sondern es hat mich auch gelockt, einmal öffentlich auszusprechen, daß sich Deutschland der Lebensarbeit Paul Tillichs in dankbarem Respekt verbunden weiß.
Sie müssen mir nur erlauben, daß ich, wenn ich jetzt zu Ihnen spreche, ganz der bleibe, der ich bin. Ich bin kein verhinderter Professor für systematische Theologie. Ich bin auch kein Theologe, der in Mußestunden, die er nicht hat, philosophische Werke studiert. Ich bin ein schlichter Diener meiner Kirche und habe, zusammen mit allen anderen, die in demselben Dienst stehen, die christliche Botschaft auszurufen. Nur daß ich mich dabei ständig fragen muß, mit welchen inneren Nöten und Bedürfnissen die Menschen meiner Zeit dieser Verkündigung gegenüberstehen. Das ist für mich Ausgangspunkt und Anknüpfungspunkt, wenn ich ein Wort über Paul Tillich sage.
Ich bilde mir ein, die Nöte und Bedürfnisse des modernen Menschen ein klein wenig nachempfinden zu können - und zwar deshalb, weil sie dem, was meine Generation vor vielen Jahrzehnten durchgekämpft hat - und ich selber mit ihr - nicht ganz unähnlich sind. Von dem, was man in der Jugend durchgekämpft hat, bleiben Narben fühlbar bis ins Alter.
Sie, lieber Herr Professor, sind 6 Jahre jünger als ich. Von unserem jetzigen Alter her gesehen, ist das eine sehr kurze Spanne Zeit. Wir sind Generationsgenossen. Wir haben beide zu den Füßen derselben Universitätslehrer gesessen. Wir haben beide die geistige Luft geatmet, die in dem Berlin von damals herrschte. Und ich denke, wir haben damals beide unter dem Eindruck gestanden, daß mit der Jahrhundertwende eine neue Epoche angebrochen sei - eine Epoche, in der die geistigen Werte der Vergangenheit in Frage gestellt schienen. Wir hatten die Industrialisierung Deutschlands und das sprunghafte Anwachsen der Bevölkerung erlebt. Wir waren als ältere Schüler dabei, als Gerhart Hauptmanns »Weber« in Berlin aufgeführt wurden und die ganze gebildete Welt erregten. Im August 1910 war Friedrich Nietzsche gestorben; jetzt begann sein Einfluß auf die junge Generation sich zu entfalten. Über die bildende Kunst brach der Jugendstil herein. Im Wandervogel kam ein neues Lebensgefühl der Jugend zum Ausdruck. Auch im Leben der Kirche regte sich etwas völlig Neues. Friedrich Naumann schrieb seine unvergeßliche Andacht »Im Eisenwerk«: Gewißlich ist der Herr an diesem Ort, und ich wußte es nicht! Kurzum, es war schon allerlei Umbruch in der damaligen Zeit!
Vor allem aber war in uns selber ein anderer Geist lebendig als in den Generationen vor uns. Es war ein Geist der Kritik in uns, den unsere Väter nicht gekannt hatten. Was bis dahin selbstverständlich gewesen war, war uns nicht mehr selbstverständlich. Gott, Ewigkeit, biblische Berichte - hinter allem stand ein Fragezeichen. Wir fühlten, um mich religionsphilosophisch auszudrücken, am Rande unseres Lebensweges den Abgrund des Nichtseins und wollten doch in diesem Abgrund nicht versinken.
Es ist hier nicht der Ort zu zeigen, wie wir aus dieser Konfrontation mit dem Nichtsein herausgerettet worden sind. Jedenfalls hat sich unsere Generation in einer Lage befunden, die der geistigen Lage von heute nicht ganz unähnlich gewesen ist. Denn welches ist die geistige Lage von heute? Lassen Sie mich das mit Sätzen sagen, die Paul Tillich geschrieben hat:
»Der Mensch von heute« - so haben Sie es ausgedrückt - »hat das Nichtsein erlebt, das wie ein drohender Ozean alles Seiende umspült. Er hat sein Schicksal erlebt mit seinen plötzlichen, unberechenbaren Einbrüchen in alles, was sicher schien in seinem Leben und in dem Leben der Völker. Er hat den Tod erlebt als das Sterben Unzähliger, denen die Natur ein volleres Leben versprochen hatte, und er hat den Tod erlebt als stündliche Bedrohung seines eigenen Seins.
Er hat gelernt zu zweifeln, nicht nur an den Urteilen der anderen, sondern auch an dem, was ihm selbst das Sicherste war. Da ist keine Festung des Glaubens geblieben, in die nicht Elemente des Zweifels eingedrungen sind. Und wenn die Frage in ihm auftaucht, welches der Sinn seines Seins ist, dann tut sich ein Abgrund vor ihm auf, in den zu blicken nur der Mutigste wagt: der Abgrund der Sinnlosigkeit.«
Wer will bestreiten, daß diese Diagnose richtig ist; Natürlich gilt sie nur für eine kleine Minderheit der Menschen. Aber diese kleine, denkende Minderheit ist es doch, die einer Epoche das geistige Gepräge gibt. Und weil es so ist, darum fühlt die evangelische Kirche hier eine seelsorgerliche Verantwortung - nicht nur für die wenigen, die bewußt nach geistiger Hilfe verlangen, sondern für die Gesamtheit unseres Volkes. Die große Menge der Menschen fühlt eine geistige Krisis niemals unmittelbar. Wohl aber spürt sie ihre Auswirkungen. Sie spürt heute, daß die echten sittlichen Bindungen sich auflösen, daß Festigkeit des Charakters Mangelware zu werden droht, daß das alte deutsche Pflichtbewußtsein sprunghaft zurückgeht und dem Drang zum Geld und zu den materiellen Gütern weicht. Was aber sind diese Erscheinungen anderes als eine Folge davon, daß im inneren Leben der Nation ein Prozeß der Auflösung begonnen hat. Dieser Prozeß der Auflösung bedroht nicht nur jeden einzelnen in seiner Menschenwürde, sondern er will auch die Nation als Ganzes um ihre innere Kraft und um ihre Zukunft bringen.
Hier sind wir alle gefordert. Hier gilt es, nicht Symptome zu kurieren, sondern nach den Wurzeln zu sehen.
Nun ist der Mensch nicht primär ein logisches Wesen. (Man hilft ihm nicht dadurch, daß man ihn vor ein neues System von Begriffen stellt.) Speziell die religiösen Zweifelsfragen wollen nicht beantwortet, sondern sie wollen überwunden sein. Das weiß jeder Seelsorger. In tausend Fällen hilft man einem Menschen, der seinen inneren Halt verloren hat, am besten dadurch, daß man nicht mit ihm diskutiert, sondern ihn in eine selbstlose, etwa in eine karitative Arbeit hineinstellt, oder dadurch, daß man ihn mit Vorbildern konfrontiert, aus Vergangenheit oder Gegenwart, an denen er sich aufrichten kann, oder daß man ihn dazu bringt, den Weg des jungen Bismarck zu gehen, der in seinem ersten Brief an den Schwiegervater schrieb: ich beschloß, »konsequenter und mit entschiedener Gefangenhaltung einstweilen des eigenen Urteils in der Heiligen Schrift zu lesen«. Es ist oft hilfreicher, Antworten auf Fragen zu geben, die gar nicht gestellt worden sind, als über gestellte Fragen nächtelang zu disputieren.
Und doch kann das nicht alles sein. Erstens deshalb nicht, weil es eben Menschen gibt, die nicht zur Ruhe kommen, wenn man ihrem zweifelnden Verstande nicht einen neuen Weg klaren, logischen Denkens zeigt. Zweitens deshalb nicht, weil jede neue Epoche eine neue geistige Strukturierung verlangt, wenn anders sie aus der Gärung zur Abklärung durchdringen soll. Und drittens deshalb nicht, weil auch die christliche Wahrheit danach verlangt, von jeder Generation neu durchdacht zu werden.
Dies Letztere ist unter uns zwar keineswegs unbestritten. Zumal der evangelischen Kirche liegt eine gewisse Zurückhaltung gegenüber allen philosophischen Bemühungen im Blut. Das Neue Testament ist voll von Warnungen vor menschlicher Weisheit. Martin Heidegger hat uns Theologen mit leisem, ironischem Unterton an das Anfangskapitel des I. Korintherbriefes erinnert, in dem es heißt: »Den Verstand des Verständigen will ich verwerfen... Wo sind die Weltweisen? Hat nicht Gott die Weisheit dieser Welt zur Torheit gemacht?« Ich glaube, es bedurfte dieser Erinnerung kaum. Wir Theologen kennen diese und andere verwandte Stellen auswendig!
Aber ganz abgesehen davon, daß es im Neuen Testament auch Aussagen über die menschliche Vernunft gibt, die in einem anderen Tone gehen - es ist vor allem schwer zu glauben, daß Gott seinen Menschenkindern die Gabe der Vernunft nur dazu gegeben hat, daß er sie unterdrücken soll. Diese Funktion des menschlichen Geistes will respektiert sein, sie will auf ihre Möglichkeiten hin abgetastet und dann voll ausgeschöpft sein.
Darum wird das, was wir Philosophie nennen, immer eine Grundfunktion des menschlichen Geistes bleiben und als solche anerkannt werden müssen. Und wo Menschen mit der geistigen Welt von früher zerfallen sind und zu neuer Sinngebung noch nicht haben durchstoßen können, wird ihnen auch von der rationalen Seite her Hilfe zuteil werden müssen. Und zwar wird ihnen nur der ein Seelsorger sein können, der bereit ist, die Probleme des Verstandes unerbittlich zu Ende zu denken und überlieferte Vorstellungen rücksichtslos preiszugeben, sofern sie sich nicht mit einem erneuerten Denken organisch zusammenfügen lassen. Mit offensichtlich gewollten Kompromissen ist den Menschen unserer Zeit nicht geholfen.
Wenn wir dies aber aussprechen, dann kommt uns der Name Paul Tillich von selbst auf die Lippen.
*
Was uns Theologen an dem Lebenswerk Tillichs zunächst erregt, ist der Eindruck, daß hier von einem der Unsrigen mit unbedingter Redlichkeit und Energie philosophisch gedacht wird. Ich kann in dieser Stunde nicht versuchen, das philosophische System Tillichs auch nur im Aufriß wiederzugeben: wie da von dem Letzten und Unbedingten her, von Gott als dem Sein-Selbst, dessen Lebensprozeß sich in der Bewegung von Trennung und Wiedervereinigung vollzieht, ein neues Sein entsteht, in dem eine Einheit vom Endlichen und Unendlichen sich manifestiert. Wie da in Korrelationen der verschiedensten Art alles vom Absoluten her zusammengefaßt und durchdrungen wird, der Zweifel ebenso wie der Glaube, und wie sich daraus der Mut ergibt, sich bejaht zu wissen, der Mut zum Sein, der die Drohung der Sinnlosigkeit durch die tapfere Tat besiegt. Dies alles muß man lesen und durchdenken. Es kann hier nicht dargestellt werden.
Das für uns Wichtige aber ist, daß Tillich es nicht bei ontologischen Begriffsbestimmungen beläßt, sondern daß er der objektivierenden Erkenntnis Grenzen setzt. Es gibt weite Bereiche der Wirklichkeit, so sagt er, die sich der Objektivierung widersetzen. In ihnen ist nach einer anderen Erkenntnisweise gefragt, nach einer empfangenden Erkenntnis. Das führt zu dem Begriff der Offenbarung. Offenbarung ist die Erkenntnis des Seins-Selbst in seinen Geheimnissen. Diese Erkenntnis kann nicht konserviert und weitergegeben werden. Sie läßt sich nur empfangen in dem, was Tillich die Offenbarungssituation nennt, also in der inneren Bereitschaft zu empfangen.
Darf ich das an einer kleinen Geschichte erläutern - an einer Geschichte, die bei uns umläuft, von der ich nicht wissen kann, ob sie wirklich passiert oder ob sie Legende ist. Aber wir haben ja bei Adolf Harnack gelernt, daß auch Legenden Geschichtsquellen sein können. Also: Paul Tillich hat in Amerika einen Vortrag gehalten. Nach dem Vortrag stürmt ein schlichter Pastor, ein Fundamentalist, wie man in Amerika sagt, zum Rednerpult vor, die Bibel in der Hand: Herr Professor, jetzt sagen Sie einmal klipp und klar: Ist die Bibel Gottes Wort oder nicht? Darauf Tillich: Wenn Sie mir Ihre Bibel so entgegentragen, dann ist sie nicht Gottes Wort, aber wenn die Bibel Sie trägt, dann ist sie Gottes Wort! - Das ist ungefähr das, was die Offenbarungssituation bei Tillich bedeutet.
Hier ist nun die Tür weit aufgetan für das, was für den Christen unabdingbar ist. Das Bindeglied, das die philosophische Erkenntnis mit der christlichen Offenbarung verbindet, ist Tillichs Begriff des Symbols. »Von Gott als dem Lebendigen müssen wir in symbolischen Begriffen reden.« Aber die Symbole sind nicht etwas, was die Wirklichkeit verhüllt, sondern etwas, was an der Wirklichkeit partizipiert. So kommt er zu dem großen Satz: »Von allen Symbolen sind die anthropomorphen Gott am meisten angemessen. Nur durch sie kann er für den Menschen der lebendige Gott sein.«
Hier atmet der Christ Heimatluft. Er braucht sich also vor dem gelehrten Philosophen nicht zu genieren, wenn er ganz kindlich mit Gott als seinem Vater redet. »Gott will uns damit locken, daß wir glauben sollen, er sei unser rechter Vater und wir seine rechten Kinder, auf daß wir getrost und mit aller Zuversicht ihn bitten sollen wie die lieben Kinder ihren lieben Vater!« Das gehört nicht nur zu dem schönsten, was je in deutscher Sprache geschrieben worden ist; sondern es ist Wirklichkeit, und es will Wirklichkeit sein, für den Arbeiter ebenso wie für den Universitätsprofessor - sintemal, wie Tillich sagt, jedes ernste Gebet Macht hat, nicht wegen der Intensität, mit der eine Bitte darin geäußert wird, sondern wegen des Glaubens, den ein Mensch an Gottes lenkendes Schaffen hat, eines Glaubens, der die existentielle Situation verwandelt.
Hier ist denn auch der Weg frei für eine neue Christologie, in der deutlich werden soll, daß in Jesus als dem Christus die ewige Einheit von Gott und Mensch historische Wirklichkeit geworden ist.
Aber ich darf nicht in Einzelheiten gehen.
Kein Religionsphilosoph erwartet, daß sein Versuch, das Ewige in menschlichen Aussagen zu fassen, von allen beachtet und von allen bejaht wird. Aber er darf etwas anderes erwarten. Uns als Christen ist der Gedanke der Stellvertretung ein vertrauter Begriff. Es gibt auch in der Welt des denkenden Geistes eine Stellvertretung. Nicht alle sind imstande, die großen Probleme des menschlichen Daseins selbständig zu durchdenken; einzelne tun es. Und wo sie es mit Ernst und Redlichkeit tun, da tun sie es zugleich für die anderen alle. Es ist für uns, die wir die intellektuell Bedrängten unserer Tage nicht ohne Hilfe lassen möchten, eine unendliche Befreiung, daß wir ihnen sagen können: vertieft euch in Paul Tillich! Hier habt ihr strenges philosophisches Denken vereinigt mit dem, was schlichte Wahrheit des christlichen Glaubens ist! Hier habt ihr den Philosophen und Theologen, der den Zweifelnden so ernst nimmt wie nicht leicht ein anderer, der von einer Rechtfertigung des Zweiflers weiß und der den Weg zu solcher Rechtfertigung zeigen will! Hier habt ihr den Seelsorger für diese in sich aufgespaltene Zeit!
Und wenn jemand an der seelsorgerlichen Bedeutung dieses Mannes noch einen Zweifel haben sollte, der möge seine Predigten in die Hand nehmen. Es sind scharf geschliffene Predigten, die durch nichts anderes wirken als durch die bezwingende Klarheit und Folgerichtigkeit der Gedanken. Ich kenne in Deutschland keinen, der in dieser Art überzeugend zu predigen wüßte.
Sie werden, mein lieber Herr Professor, dies alles nicht falsch verstehen. Ich meine es nicht so, wie es vor hundert Jahren die Schotten gemeint haben, als Thomas Carlyle in Edinburgh seine berühmte Rektoratsrede hielt. Sie hatten Carlyle jahrzehntelang als einen gescheiterten Theologen und ungläubigen Schriftsteller mit Mißtrauen, ja mit Feindseligkeit verfolgt. Dann war er trotzdem zum Rektor der maßgebenden Universität gewählt worden. Wer Großbritannien kennt, weiß, daß so etwas dort drüben eine ganz große Sache ist. Carlyles Konkurrent war Disraeli gewesen. Und als Carlyle dann, erfüllt von der großen Freude der Stunde, seine Antrittsrede hielt, ausgleichend und alles irgendwie Anstößige vermeidend - halb Schottland war versammelt, um sie zu hören - ging jedermann nach Hause mit dem beruhigenden Eindruck, daß dieser bedeutende Mann im Grunde immer nur dasselbe habe sagen wollen wie der Pastor in der heimatlichen Dorfkirche auch.
Nein, nicht so! Wir wissen, daß wir von Ihnen noch viel zu lernen haben. Wir gestehen auch offen, daß wir uns mit manchem Ihrer Gedanken bisher nicht alle haben abfinden können. Und doch spüren wir es Ihnen als Christen ab, daß Sie niemals aufgehört haben, der Unsrige zu sein!
Noch etwas Weiteres möchte ich sagen. Wir sind in Deutschland innerhalb der letzten hundert Jahre durch mancherlei politische Umbrüche hindurchgegangen. Wir haben es erlebt, wie oft die veränderte äußere Situation auch die Meinungen der Menschen verändert hat, bei Schriftstellern aller Art, bei Professoren, bei Theologen. Dadurch sind wir den Meinungen und Deduktionen der Menschen gegenüber so kritisch, so skeptisch geworden, wie nicht leicht eine Generation vor uns. Ich habe es manchmal gesagt und sage es hier noch einmal: Ich glaube keinem Journalisten seine Zeitungsartikel mehr, ich glaube keinem Pastor seine Predigten und keinem Professor seine Vorträge mehr, ehe ich nicht den Eindruck gewonnen habe, daß er für das, was er sagt und schreibt, entweder schon gelitten hat oder doch zu leiden bereit ist.
Paul Tillich hat für sein Lebenswerk gelitten. Er hat die Heimat, in der er mit allen Fasern seines Herzens und Denkens wurzelt, verlassen müssen und hat versuchen müssen, in einer anderen Welt von neuem Wurzel zu schlagen. Das ist für einen Mann der geistigen Arbeit ungefähr das schwerste Opfer, das ihm auferlegt werden kann. Aber Paul Tillich ist auch in bitteren Jahren sich selber treu geblieben und hat auch unter Einflüssen, die übermächtig auf ihn zukamen, seine Erkenntnisse nicht gebeugt. Gewiß sieht er heute manches anders, als er es vor 50 Jahren gesehen hat. Das ist das Schicksal jedes Menschenlebens. Aber seine Grundrichtung ist immer dieselbe geblieben - in seinem Verständnis für die sozial benachteiligten Schichten des industriellen Zeitalters, in seiner engen Beziehung zu allem kulturellen Schaffen der Menschen und in seiner inneren Zugehörigkeit zum christlichen Evangelium. Von daher stammt das Vertrauen, das wir ihm entgegenbringen. Von daher stammt die Anziehungskraft, die seine Schriften auf die gebildete Jugend Amerikas und Deutschlands ausüben. Vor ihrem Seelsorger will eine innerlich ringende Jugend zunächst einmal Respekt haben. Vor Paul Tillich darf sie ihn haben.
Damit ist schon das Letzte gesagt. In einer Zeit, in der es von schicksalsschwerer Bedeutung geworden ist, daß das große Amerika und das klein gewordene Deutschland zueinander finden, ist es ein Geschenk Gottes, daß wir in Paul Tillich einen Mann haben, der nicht nur beide Länder kennt - das ist bei vielen der Fall - sondern der in dem Geist beider Länder atmet. Sie haben, lieber Herr Professor, die Philosophie des deutschen Idealismus, Schelling vor allem, nicht nur studiert, sondern durchlebt. Sie haben diese deutsche Wurzel Ihres Denkens auch in Ihren Schriften nie verleugnet, auch dann nicht, wenn es drüben nicht besonders gern gehört wurde. Sie haben nach dem Kriege als einer der ersten deutschen Professoren die Heimat wieder aufgesucht und sind in der Folgezeit wieder und wieder nach Deutschland gekommen. Sie sind ein deutscher Denker geblieben und sind doch den Amerikanern ein Amerikaner geworden, der die dortigen philosophischen und theologischen Ansätze ernst zu nehmen wußte.
So ist in Ihrer Person ein Band zwischen zwei Völkern geschlungen, für das ich keine Parallele weiß. Wer mit mir davon überzeugt ist, daß die Geschicke der Völker letzten Endes nicht durch äußere Gewalt bestimmt werden, sondern durch die geistigen Kräfte, die in ihnen lebendig sind, der wird Ihre Lebensarbeit als einen wichtigen Beitrag für eine friedliche Weiterentwicklung der menschlichen Kultur betrachten. Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels konnte keinem Würdigeren zuteil werden als dem großen Seelsorger des innerlich ringenden Menschen von heute, dem Deutschen und Amerikaner, dem Theologen und Philosophen, Paul Tillich.
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Otto Dibelius
Laudatio
Friede ist möglich, wo Macht im Dienst eines echten Berufungsbewußtseins steht und das Wissen um die Wesensgrenze die Wirklichkeitsgrenzen in ihrer Wichtigkeit herabsetzt. Daß dieser Grundsatz der Politik nicht aufgenommen wurde, ist die Ursache für die deutsche Friedlosigkeit im 20. Jahrhundert.
Paul Tillich - Dankesrede
Paul Tillich
Grenzen
Dankesrede
Die hohe Ehre dieser Stunde verdanke ich, wie ich glaube, drei Grenzüberschreitungen, die der Vorstand des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels begangen hat: Er hat die nationale Grenze überschritten und, wie mehrfach zuvor, dem Bürger eines anderen Landes den Friedenspreis verliehen. Er hat die Grenze zwischen politischem Handeln und geistigem Schaffen nicht beachtet und den Friedenspreis jemandem gegeben, der, wenn überhaupt, mehr durch Gedankenarbeit als durch politische Tat dem Frieden, das heißt der Verwirklichung einer universalen menschlichen Gemeinschaft gedient hat. Und er hat den von beiden Seiten stark befestigten Wall zwischen Kultur und Religion durchbrochen und als kulturelle Organisation einem Theologen den Friedenspreis zugesprochen. Diese dreifache Grenzüberschreitung ist ein weithin sichtbares Symbol für den Geist, in dem der Friedenspreis gestiftet ist. Mein Dank in dieser Stunde kann nur der Versuch sein, diesem Geist mit meinen Worten einen philosophischen und damit zugleich religiösen und politischen Ausdruck zu geben, denn auch hier sind die Grenzen nicht letztgültig.
Über »Grenzen« möchte ich sprechen, einen Begriff, der von jeher mein philosophisches wie mein persönlichstes Interesse erweckt hat. »On the Boundary-Line«, »Auf der Grenze«, nannte ich eine kleine Schrift zur Selbstcharakterisierung, mit der ich mich kurz nach der Emigration in Amerika einführte. Und »Auf der Grenze« heißt das Büchlein, das das Evangelische Verlagswerk für die heutige Feier herausgebracht hat. Die amerikanische Schrift berichtet von mancherlei Grenzen, die allgemein menschlich und zugleich eigenes Schicksal sind: von der Grenze zwischen Land und Stadt, zwischen Feudalität und Beamtentum, zwischen Bürgertum und Bohème, zwischen Kirche und Gesellschaft, zwischen Religion und Kultur, zwischen Theologie und Philosophie - und schließlich, ganz persönlich, zwischen zwei Kontinenten.
Das Dasein auf der Grenze, die Grenzsituation, ist voller Spannung und Bewegung. Sie ist in Wirklichkeit kein Stehen, sondern ein Überschreiten und Zurückkehren, ein Wieder-Zurückkehren und Wieder-Überschreiten, ein Hin und Her, dessen Ziel es ist, ein Drittes jenseits der begrenzten Gebiete zu schaffen, etwas, auf dem man für eine Zeit stehen kann, ohne in einem fest Begrenzten eingeschlossen zu sein. Die Situation der Grenze ist noch nicht das, was man Frieden nennen könnte; und doch ist sie der Durchgang, den jeder einzelne gehen muß und den die Völker gehen müssen, um zum Frieden zu gelangen. Denn der Friede ist das Stehen im Übergreifenden, das im Überschreiten und Rücküberschreiten der Grenze gesucht wird. Nur wer Anteil an den beiden Seiten einer Grenzlinie hat, kann dem Übergreifenden und damit dem Frieden dienen, nicht, wer sich in der momentanen Ruhe eines fest Begrenzten sicher fühlt. Friede erscheint, wo im persönlichen wie im politischen Leben eine alte Grenze ihre Wichtigkeit und damit ihre Macht, Unfrieden zu stiften, verloren hat, auch wenn sie noch als Teilgrenze fortbesteht. Friede ist nicht spannungsloses Nebeneinander; er ist die Einheit im Umfassenden, in der das Gegeneinander lebendiger Kräfte und die Konflikte zwischen dem Alten und dem jeweils Neuen nicht fehlen, in der sie aber nicht zerstörerisch ausbrechen, sondern gehalten sind im Frieden des Übergreifenden.
Wenn das Überschreiten und Rücküberschreiten der Grenze der Weg zum Frieden ist, dann ist die Angst vor dem, was jenseits liegt, und der daraus geborene Wille, es zu beseitigen, die Wurzel des Unfriedens und der Kriege.
II
Wen das Schicksal an die Grenze seines Seins geführt, ihn seiner selbst bewußt gemacht hat, der steht vor der Entscheidung, auf das, was er ist, zurückzufallen oder sich selbst zu überschreiten. Jeder Mensch wird dann und wann an die Grenze seines Seins geführt. Er sieht das andere jenseits seiner selbst, es erscheint ihm als eigene Möglichkeit und erweckt in ihm die Angst des Möglichen. Er sieht im Spiegel des anderen seine eigene Beschränktheit, und er erschrickt; denn diese Beschränktheit war zugleich seine Sicherheit, und sie ist bedroht. Die Angst des Möglichen zieht ihn zurück in seine begrenzte Wirklichkeit und deren momentane Ruhe. Doch die Situation, zu der er zurückkehren will, ist nicht mehr dieselbe. Seine Erfahrung des Möglichen und sein Versagen ihr gegenüber hinterläßt einen Stachel, der nicht zu beseitigen ist, der nur noch durch Verdrängung aus dem Bewußtsein entfernt werden kann. Und wo das geschieht, entsteht jenes seelische Phänomen, das wir Fanatismus nennen. Der ursprüngliche Sinn des Wortes ist »göttlich inspiriert«. So empfindet der Fanatiker; aber das Wort selbst hat seinen Sinn gewandelt, und man könnte sagen »dämonisch inspiriert«, nämlich geboren aus einer gestörten seelischen Struktur und darum zerstörerisch sich auswirkend. Das kann in kleineren, in größeren und in ungeheuren Maßen in Erscheinung treten, in Personen und in Gruppen.
Ich denke an junge Studenten, vielleicht Theologen, vielleicht Naturwissenschaftler, die aus der Sicherheit fest umgrenzten Denkens und Glaubens auf die Universitäten kommen, dort an die Grenze anderen Denkens und Glaubens geführt werden, ihr eigenes So-Sein im Spiegel des anderen sehen, das Mögliche erleben, ihm aber nicht gewachsen sind, auf die alten Sicherheiten zurückfallen, sie nun aber fanatisch bejahen mit dem Ziel: die Grenzen, die sie nicht überschreiten konnten, zu beseitigen, alle geistigen Möglichkeiten den eigenen zu unterwerfen, sie in die eigene Wirklichkeit aufzulösen. Die Agression des Fanatikers ist die Folge seiner Schwäche, seiner Angst, die eigene Grenze zu überschreiten, und seiner Unfähigkeit, das, was er in sich selbst unterdrückt hat, im anderen verwirklicht zu sehen. Es geschieht aber auch, daß man im Zweifel an der eigenen geistigen Welt die Grenze überschreitet, in dem neuen Glauben eine neue fest umgrenzte Sicherheit findet, nicht mehr zurückgeht und eine Gegen-Aggression entwickelt, den oft besonders heftigen Fanatismus des Renegaten, des religiösen wie des antireligiösen wie des politischen. Das ist der Boden, aus dem die Religionskriege hervorgehen, und wenn es heute nicht mehr blutige Kriege sind, so doch seelenzerstörende Kämpfe, in denen die Waffen des Hasses - nämlich Lüge, Verzerrung, Ausstoßung, Unterdrückung - benutzt werden, um die Grenzen zu beseitigen, die zu überschreiten man zu schwach war. Religiöse Gruppen, ganze Kirchen können in diese Haltung hineingetrieben werden. Und es mag hier am Platze sein, ein Wort über die deutschen protestantischen Kirchen zu sagen.
Vielleicht gab es vor dem Kirchenkampf Gruppen in ihnen, die zwar die Grenze überschritten, die aber nicht zurückgefunden hatten und die Enge dessen, wohin sie gingen, ein kritisch entleertes Christentum, mit der Enge dessen, woher sie kamen, einem traditionell erstarrten Christentum, vertauschten. Gegenüber den radikal antichristlichen Angriffen des Nationalsozialismus mußten die Kirchen sich auf die Tradition zurückziehen und um den Preis der Verengung ihre Wesensgrenze, ihre Identität, verteidigen. Heute aber ist ihr Auftrag, zur Grenze zurückzukehren, sie zu überschreiten und im Hin und Her zwischen Kirche und Kultur um das Übergreifende zu ringen. Wagen die Kirchen dieses Überschreiten der Grenzen ihrer eigenen Wirklichkeit nicht, so werden sie belanglos für Unzählige, die essentiell zu ihnen gehören. Und der Stachel des Versagthabens kann eine fanatische Selbstbejahung bewirken, die die Kultur sich einverleiben und die Grenzen zu ihr aufheben will.
Ein anderes Beispiel für den Ruf zur Grenzüberschreitung soll gegeben werden. Es beginnt auch mit dem Individuellen und führt zur Situation von Gruppen, hier und jetzt. Ich denke an Menschen, die vor die Möglichkeit gestellt sind, über ihre nationalen und kulturellen Grenzen hinauszugehen, sei es durch Studium, sei es durch persönliche Begegnungen im eigenen oder fremden Land. Die Grenzen ihres eigenen kulturellen Seins, ihre nationale oder kontinentale Beschränktheit sind für einen Augenblick für sie sichtbar geworden. Aber sie können die Sicht nicht ertragen, sie können die Grenze nicht überschreiten und nach etwas Übergreifendem suchen. Die Angst des Möglichen packt sie und treibt sie zurück. Und die Begegnung mit dem Fremden, die eine Aufforderung zum Überschreiten der Grenze ist, wird zur Ursache eines das Fremde hassenden Fanatismus. Man will die Grenze, die man nicht überschreiten konnte, auslöschen, indem man das Fremde zerstört.
Es gibt eine soziale Klasse in allen Industrievölkern, die vorzüglich durch diese Struktur charakterisiert ist: die untere Mittelklasse, das Kleinbürgertum oder - in einem soziologisch umfassenderen Symbol - der Spießer. Er kann geradezu charakterisiert werden - in welcher sozialen Klasse er auch vorkommt - als jemand, der sich durch die Angst, an seine eigene Grenze zu geraten und sich selbst im Spiegel des Andersartigen zu sehen, nie über das Gewohnte, Anerkannte, Festgelegte zu erheben wagte. Möglichkeiten, die jedem Menschen dann und wann gegeben sind, über sich hinauszukommen, ließ er unverwirklicht: ob es ein Mensch war, der ihn aus seiner Enge hätte herausreißen können, oder ein ungewohntes Werk der Kunst, das ihn hätte erschüttern können, oder ein Wort aus der Dimension des Ewigen, das ihm die Selbstsicherheit seines Daseins hätte umwerfen können. Um sich herum aber sieht er Menschen, die über die Grenzen gegangen sind, die er nicht überschreiten konnte. Und der heimliche Neid wird zum Haß.
Und wenn dann wie in Deutschland zur Hitlerzeit der Haß die uneingeschränkte Macht erhält, sich auszuwirken, dann schließt er zunächst die Grenzen, so daß es einem ganzen Volk unmöglich wird, über sich selbst hinauszusehen. Und dann wird der Versuch gemacht, die Grenzen zu beseitigen durch Unterwerfung oder durch Vernichtung dessen, was jenseits der Grenze liegt, seien es andere Rassen oder benachbarte Nationen, seien es gegnerische politische Systeme oder neue künstlerische Stile, seien es höhere oder niedere soziale Klassen, seien es im Überschreiten der Grenze gereifte Persönlichkeiten. Es ist der dämonische Trieb, der vielleicht in jedem ist, seine Grenzen auszulöschen, um selbst das Ganze zu werden.
Darum fühle ich, daß ich meinen Auftrag als Theologe nicht erfüllen würde, wenn ich nicht ein Zweifaches hinzufügte: einmal, daß in allen Ländern und auch in den Vereinigten Staaten Schichten da sind, die der beschriebenen Struktur des Spießers entsprechen. Sie erheben immer wieder ihr Haupt, noch ohne Erfolg, aber im gegenwärtigen Moment in neuen Formen und mit zahlreichen Anhängern. Und das zweite, das ich als jemand, dem Berlin für Jahre seines Lebens nicht nur Heimat, sondern auch Mythos war, nur zögernd ausspreche: Alles, was ich vom Überschreiten der Grenze gesagt habe, gilt auch für das Überschreiten der Grenze, die heute für die westliche Welt am schwersten zu überschreiten ist, die Grenze nach dem Osten. Es ist falsch, wenn die westlichen Völker durch Erziehung, Literatur und Propaganda davon abgehalten würden, diese Grenze mit ihren zahlreichen Mauern, die nicht nur in Berlin aufgerichtet sind, zu überschreiten. Wir müssen auch sehen, was drüben in der Tiefe vor sich geht, und es menschlich - nicht nur polemisch - zu verstehen suchen. Und ich wünschte, ich wäre fähig, das auch zu denen auf der anderen Seite der Grenze zu sagen.
Die politisch und geistig Verantwortlichen des Westens aber sollten dafür kämpfen, daß die Erziehung der Völker nicht nur der Einprägung und Vertiefung des Eigenen, so groß es auch sein mag, dient, sondern daß sie über die Grenze hinausführt: im Kennen, im Verstehen, im Begegnen, auch wenn das Begegnende das nur Entgegen-Stehende zu sein scheint. Ermutigung zum Überschreiten des nur Eigenen, das ist es, was Erziehung zur Schaffung des Friedens beitragen kann. Und hier ist wichtiger als alles andere die Erziehung zu einer Geschichtsbewußtheit, die geschichtliches Wissen mit geschichtlichem Verstehen vereinigt und in keiner Weise auf den Geschichtsunterricht beschränkt ist.
III
Vom Überschreiten der Grenze haben wir bisher gesprochen. Aber Grenze ist nicht nur das, was überschritten, sie ist auch das, was verwirklicht werden muß. Grenze gehört zur Form, und Form macht jedes Ding zu dem, was es ist. Die Grenze zwischen Mensch und Tier macht es möglich, vom Menschen Dinge zu fordern und zu erwarten, die man vom Tier weder fordern noch erwarten kann. Die Grenze zwischen England und Frankreich machte die Entwicklung zweier großer wesenhaft verschiedener Kulturen möglich. Die Grenze zwischen Religion und Philosophie macht die Freiheit des philosophischen Fragens und die Leidenschaft der religiösen Hingabe möglich. De-finition ist Ab-gren-zung, und ohne sie gäbe es keine Möglichkeit, das Wirkliche zu greifen oder zu erkennen.
Keine Kultur war sich so der Bedeutung der Grenze bewußt wie die griechische. Plato und seine Pythagoreischen Vorgänger schrieben dem Begrenzten alles Positive, dem Unbegrenzten alles Negative zu. Der Raum, ja das Sein selbst sind begrenzt. Die Göttergestalten und die Tempel, in denen sie verkörpert sind, bleiben dem Maße des Menschlichen angemessen. Begrenzendes Denken muß die ins Grenzenlose treibende Leidenschaft bändigen. Der tragische Heros, der über seine Wesensgrenze hinausstößt, wird von den Göttern, den Hütern der Grenzen, zurückgestoßen und vernichtet. Es sind die Wesensgrenzen des Menschen, von denen Orakel und Seher, Tragiker und Philosophen reden. Zu ihr wollen sie zurückrufen aus den falschen, zu engen oder zu weiten Wirklichkeitsgrenzen.
Denn Wesensgrenze und Wirklichkeitsgrenze decken sich nicht. Die Wesensgrenze steht fordernd, verurteilend, zielgebend über der Wirklichkeitsgrenze.
In der jüngeren Generation innerhalb und wohl auch außerhalb der Vereinigten Staaten hat sich in den letzten Jahren ein Problem gezeigt, das unter dem Titel »The Search for Identity«, das Suchen nach Identität, in Literatur und Gespräch immer wieder behandelt wird. Es ist der Ausdruck einer Periode, in der viele außerstande sind, in und über ihren fließenden Wirklichkeitsgrenzen ihre Wesensgrenze zu finden, und zwar nicht nur als einzelne, sondern auch als Glieder von Gemeinschaften, nationalen, kulturellen, religiösen. Wie können Personen, wie können Völker ihre Identität finden und damit die wahren Grenzen, denen gegenüber die wirklichen Grenzen ihre letzte Bedeutung verlieren? Das ist der Punkt, an dem die Frage der Grenze und die Frage des Friedens ineinander übergehen. Denn wer seine Identität und damit seine Wesensgrenze gefunden hat, hat es nicht nötig, sich einzuschließen oder auszubrechen. Er will verwirklichen, was sein Wesen ist. Sicherlich, in der Verwirklichung kehren alle Fragen des Überschreitens der Grenze wieder, aber nun geleitet von einem Bewußtsein seiner selbst und seiner eigensten Möglichkeit. Die Menschheit hat zu allen Zeiten und an allen Orten etwas über ihr Wesen und seine Grenzen vernommen. Die Übermittler dieser Einsichten, auf deren Urerfahrungen, genannt Offenbarungen, alle Religion und alle Kultur beruht, haben in Gesetzen und Ordnungen die Wesensgrenzen alles Menschlichen in mannigfacher Weise ausgedrückt. Sie haben das Gewissen des einzelnen, die Stimme seines Wesens zum Sprechen gebracht, und sie haben das Ethos der Gruppen für lange Perioden bestimmt. Aber kein Lebensprozeß erschöpft sich im Gesetz, in ihm allein kann sich das Wesen des Lebendigen nicht ausdrücken. Im Wesen ist auch das Ziel enthalten, und manche Worte für Grenze drücken auch das Ende aus, zu dem ein Lebensprozeß strebt, wie das lateinische »finis«, das griechische »telos«. Sokrates hat das Bewußtsein dieses Zieles als Stimme seines Daimons erlebt, der ihm in schweren Entscheidungen seine Wesensgrenze zeigte. Im Christentum ist es das Bewußtsein religiösen Geführtseins oder, dynamischer, des Vom-Geist-Getriebenseins. In Völkern ist es das Berufungsbewußtsein, in dem sich die Identität und mit ihr die Wesensgrenze eines Volkes ausdrückt. Die weltgeschichtlichen Wirkungen des Berufungsbewußtseins sind außerordentlich. Sie haben weithin über die Art des Friedens und des Unfriedens in der Völkerwelt entschieden. Das Berufungsbewußtsein der Griechen, das Humane gegenüber dem Barbarischen zu vertreten, hat Europa vor der persischen Invasion gerettet; das Berufungsbewußtsein Roms, Träger der Rechtsidee zu sein, hat die Einheit der Mittelmeer-Kultur geschaffen; das Berufungsbewußtsein Israels ist die Grundlage der drei prophetischen Religionen des Westens; das Berufungsbewußtsein des deutschen Kaisertums hat die religiös-politische Einheit des Mittelalters geschaffen; das italienische Berufungsbewußtsein der Renaissancehöfe hat die Wiedergeburt der westlichen Welt aus dem Geist der römischen und christlichen Antike bewirkt, das französische Berufungsbewußtsein die Zivilisation der oberen Klassen und die Emanzipation des Bürgertums, das englische Berufungsbewußtsein die Aufschließung der Welt im Geiste eines christlichen Humanismus, das russische Berufungsbewußtsein vor und nach der bolschewistischen Revolution die Hoffnung auf die Erlösung des Westens von seiner individualistischen Verderbnis, wie sie es nannten, in eine religiös oder ideologisch begründete Einheit. Und das amerikanische Berufungsbewußtsein hat den Glauben an einen neuen Anfang und den Kreuzzugsgeist für seine universale Durchführung geschaffen. In allen diesen Fällen von Berufungsbewußtsein fand ein Volk seine Wesensgrenzen und suchte aus ihnen Wirklichkeitsgrenzen zu machen.
Dabei aber geschah das, was für die Friedlosigkeit und Tragik der Weltgeschichte verantwortlich ist. Die Macht, die zu jeder Verwirklichung eines Lebendigen nötig ist, hat die Tendenz, wie im Persönlichen so im Politischen, sich von dem Ziel, dem sie dienen soll, nämlich der Verwirklichung der Berufung, zu lösen, selbständig zu werden und dann eine Grenzen vernichtende, wesenswidrige Wirksamkeit zu entfalten. Nicht Macht, sondern die von der Wesensgrenze sich loslösende Macht ist böse. Am gewaltsamsten wird sie, wenn das Berufungsbewußtsein seine schöpferische Kraft verloren hat, zuweilen auch, wenn das Berufungsbewußtsein ganz fehlt.
Und das scheint im Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts der Fall zu sein. Das Versagen Deutschlands seit der Mitte des 19. Jahrhunderts lag darin, daß es Macht entwickelte, ohne daß diese Macht in den Dienst einer Berufung gestellt war. Was Bismarck Realpolitik nannte, war Machtpolitik ohne ein leitendes Berufungsbewußtsein. Und darum konnte Hitler mit dämonischer Genialität das absurde rassische Berufungsbewußtsein weiten Kreisen des deutschen Volkes suggerieren, ein Vorwand, aber ein wirksamer Vorwand für eine durch kein echtes Berufungsbewußtsein geleitete Machtentfaltung.
Friede ist möglich, wo Macht im Dienst eines echten Berufungsbewußtseins steht und das Wissen um die Wesensgrenze die Wirklichkeitsgrenzen in ihrer Wichtigkeit herabsetzt. Daß dieser Grundsatz der Politik nicht aufgenommen wurde, ist die Ursache für die deutsche Friedlosigkeit im 20. Jahrhundert. Daß er wieder aufgenommen werde, sollte das Ziel aller Friedensbestrebungen in Literatur und Politik sein. Man vermeide Friedensreden, die dadurch, daß sie nicht helfen können, schaden, denn die Weltgeschichte ist zu tief im Dämonischen verwurzelt. Pazifistische Gesetzlichkeit fordert das unbedingte Festhalten an den Grenzen, wie sie heute und hier tatsächlich gezogen sind. Sie vergißt die Dynamik der Weltgeschichte und das schöpferische und richtende Wirken der Wesensgrenze.
Daraus folgt eine zweite Forderung für die deutsche politische Erziehung und schließlich für die Politik selbst. Die erste war: Zum Überschreiten der Grenze, nämlich der Wirklichkeitsgrenze, zu führen und die Angst vor dem, was jenseits liegt, zu überwinden. Die zweite Forderung ist, zur Selbstbesinnung auf die eigene Wesensgrenze hinzuleiten und in ihrem Licht das größere oder geringere Gewicht der wirklichen Grenzen zu beurteilen. In diesem Licht könnten enge politische Grenzen der Wesensgrenze eines Volkes angemessener sein als weitere. Es könnten verschiedene Grenzen für Teile einer sprachlich, aber nicht politisch geeinten Menschengruppe dem geschichtlichen Wesen dieser Gruppe entsprechen. Es könnte das Hineingenommenwerden engerer Grenzen in umfassendere die Forderung der Wesensgrenze sein und der Weg, auf dem ein Volk seine Identität findet und erhält. Gerade das hat sich im Laufe der Geschichte immer wiederholt, und wir sind heute in einem historischen Augenblick, wo die Verwirklichung der Wesensgrenzen der meisten Länder, zum mindesten der westlichen Welt, davon abhängt, daß sie sich in umfassendere Wirklichkeitsgrenzen einfügen.
Könnten es allumfassende Grenzen sein? Im Prinzip ja! Denn die Wesensgrenzen aller menschlichen Gruppen sind enthalten in den Wesensgrenzen der Menschheit. Die Identität jeder einzelnen Gruppe ist eine Manifestation der Identität der Menschheit und der Natur des Menschseins. Aber mit den Wirklichkeitsgrenzen steht es heute anders. Sie sind charakterisiert durch eine der tiefsten Spaltungen in der Weltgeschichte zwischen Ost und West im politischen Sinn, der beides einschließt, Machtwillen und Berufungsbewußtsein, und zwar ein Berufungsbewußtsein, das auf beiden Seiten den Charakter der Ausschließlichkeit hat und darum, unter den Bedingungen der gegenwärtigen Technik, die Menschheit mit Selbstzerstörung bedroht.
IV
Das führt zu dem tiefsten und entscheidenden der Grenzprobleme: Alles Seiende ist einer gemeinsamen Grenze unterworfen, der Endlichkeit. »Finis« im Lateinischen heißt Grenze und Ende.
Die letzte Grenze steht hinter jeder anderen und gibt jeder anderen die Farbe der Vergänglichkeit. An ihr stehen wir immer, aber niemand kann sie überschreiten. Es gibt nur eine Haltung ihr gegenüber, nämlich die des Hinnehmens. Das gilt vom einzelnen und von Gruppen, Familien, Stämmen, Nationen. Aber nichts ist schwerer, als die letzte, unüberschreitbare Grenze hinzunehmen. Alles Endliche will sich ins Unendliche erweitern. Der einzelne will sein Leben endlos fortsetzen, und in vielen christlichen Ländern hat sich in- und außerhalb der Kirchen der Aberglaube entwickelt, der Ewiges Leben als endlose Fortdauer mißdeutet und nicht sieht, daß Endlosigkeit des Endlichen das Symbol der Hölle sein könnte. In gleicher Weise widerstreben Familien und Stämme ihrer Endlichkeit zeitlich wie räumlich und zerstören sich im Kampf um Aufhebung der Grenze gegenseitig. Am wichtigsten aber für die Möglichkeit des Friedens ist die Hinnahme ihrer eigenen Endlichkeit durch die Völker, ihrer zeitlichen, ihrer räumlichen und der Endlichkeit ihres Wertes. Die Versuchung, sie nicht hinzunehmen, sich selbst ins Unbedingte, Göttliche zu erheben, geht durch alle Geschichte. Wer dieser Verlockung verfällt, zerstört seine Welt und sich selbst. Daher die Drohungen der Propheten gegen die Völker, vor allem gegen das eigene; daher die Warnungen in den Klagegesängen der griechischen Chöre gegen die Hybris der großen Geschlechter; daher die Charakterisierung, die wir den politischen Absolutheits-Systemen unserer Tage geben müssen, nämlich daß sie furchtbarste Manifestationen der dämonisch-zerstörerischen Kräfte in der Tiefe des Menschen sind. Alle Moloch-Mächte der Vergangenheit zusammen haben nicht die Zahl der Opfer aufzuweisen, die für jene gebracht worden sind.
Und wieder steht die Menschheit vor einer dämonischen Versuchung, nämlich den Schöpfungsakt, der in Jahrmillionen die Menschheit ins Dasein gebracht hat, in einem geschichtlichen Moment rückgängig zu machen. Es gibt keine menschliche Gruppe, die das Recht hätte, um ihrer Grenzen willen etwas zu beginnen, dessen Fortgang zur Zerstörung ihrer selbst und aller anderen menschlichen Wirklichkeit führen müßte. Die Zurücknahme des göttlichen Schöpfungsaktes ist dämonische Grenzüberschreitung und Erhebung gegen den göttlichen Grund und das gottbestimmte Ziel unseres Seins. Etwas anderes ist der Widerstand gegen solchen Versuch, alle Grenzen zu beseitigen. Er ist nötig, um dem, der den Anfang macht, zu zeigen, daß er nicht zum Herrn über Leben und Tod alles Menschlichen geworden ist, sondern in den Untergang, den er herausgefordert hat, selbst hineingezogen ist.
Kein Endliches kann seine Endlichkeit zum Unendlichen hin überschreiten. Aber etwas anderes ist möglich: Das Unendliche kann von sich aus seine Grenze zum Endlichen überschreiten. Es wäre nicht das Unendliche, wenn das Endliche seine Grenze wäre. Von diesem Überschreiten zeugt alle Religion, zeugen die, von denen wir sagten, daß sie den Völkern Gesetz und Berufung vermitteln. Es sind die heilenden Kräfte aus dem Unbegrenzten, Grenze-Setzenden, Gründenden und Führenden alles Seins, die Frieden möglich machen. Sie sind es, die aus der Enge heraus zum Überschreiten der Grenze führen. Sie sind es, die ein Berufungsbewußtsein geben und damit im Wirrsal der Wirklichkeitsgrenzen die Wesensgrenze offenbaren. Sie sind es, die davor bewahren, die letzte Grenze, die Grenze zum Unendlichen erstürmen zu wollen. Diese heilenden Kräfte sind immer da. Aber sie können nur wirksam werden, wenn man sich ihnen öffnet. Und es ist mein Wunsch für das deutsche Volk, von dem ich komme und dem ich diese Ehrung verdanke, daß es sich offenhält, seine Wesensgrenze und seine Berufung erkennt und im Wandel der Wirklichkeitsgrenzen erfüllt.
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Paul Tillich
Dankesrede des Preisträgers
Chronik des Jahres 1962
+ + + In der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 wird Norddeutschland von der schwersten Flutkatastrophe seit 1855 heimgesucht; 330 Menschen sterben. + + + Adolf Eichmann wird am 31. Mai im Gefängnis Ramla nahe Tel Aviv hingerichtet. + + + Im Juli gewährt der französische Staatspräsident Charles de Gaulle Algerien die volle Autonomie. + + +
+ + + Mit der ersten Veröffentlichung einer wissenschaftlichen Untersuchung über die Folgen des Schlafmittels »Contergan« wird im August eine der größten medizinischen Katastrophen bekannt. Die Einnahme des Mittels während der Frühschwangerschaft führt allein in der Bundesrepublik zu teils schweren Missbildungen bei etwa 5000 Neugeborenen. + + + Im Oktober steht die Welt am Rand eines Atomkrieges. Nachdem die UdSSR die USA vor einem Angriff auf Kuba warnt, da dies den Ausbruch des Dritten Weltkrieges zur Folge hätte, zeigen Fotos von Aufklärungsflügen, dass die Sowjetunion Raketenrampen auf Kuba aufbaut. US-Präsident Kennedy lässt sich auf eine Konfrontation der Supermächte ein. Die sowjetische Regierung gibt nach und transportiert die SS-5- Raketen wieder ab. + + + Nachdem Der Spiegel scharfe Angriffe gegen Bundesverteidigungsminister Strauß veröffentlicht und den kritischen Artikel »Bedingt abwehrbereit« über die Schlagkraft der Bundeswehr abdruckt, geht die Bundesanwaltschaft gegen das Magazin vor. Die Redaktionsräume werden durchsucht und Verleger Rudolf Augstein sowie drei weitere Redakteure wegen Landesverrats verhaftet. Als Konsequenz der sogenannten »Spiegelaffäre« muss Franz Josef Strauß von seinem Amt zurücktreten. + + +
Biographie Paul Tillich
Paul Johannes Tillich wird am 20. August 1886 in Starzeddel (heutiges Polen) geboren. Er studiert Theologie und promoviert 1911 in Breslau. Nach der erschütternden Erfahrung des Ersten Weltkrieges, dessen Schrecken der Theologe als Feldgeistlicher erlebt, lehrt er als Dozent an verschiedenen deutschen Universitäten und tritt 1929 die Nachfolge von Max Scheler an der Frankfurter Universität an.
Tillich ist zu jener Zeit Mitarbeiter der »Blätter für religiösen Sozialismus« und Mitherausgeber der »Neuen Blätter für den Sozialismus«. Wegen seiner führenden Rolle beim »Bund religiöser Sozialisten« wird er 1933 suspendiert und emigriert in die USA. »Ich hatte die Ehre«, so Paul Tillich über den Druck, den die Nationalsozialisten auf ihn ausüben, »der erste nichtjüdische Professor zu sein, dem eine deutsche Universität damals das Lehren untersagte.« Nachdem er zunächst am Union Theological Seminary in New York unterrichtet, wechselt er 1955 an die Harvard University. Von 1962 bis zu seinem Tode lehrt er als Professor an der Universität von Chicago.
Mit Karl Barth, Rudolf Bultmann und Dietrich Bonhoeffer zählt Paul Tillich zu den großen Erneuerern der evangelischen Theologie im 20. Jahrhundert.
Paul Tillich stirbt am 22. Oktober 1965 im Alter von 79 Jahren.
Auszeichnungen
1962 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
1961 Große Verdienstkreuz mit Stern
1958 Hansischer Goethe-Preis
1956 Goetheplakette der Stadt Frankfurt am Main
Bibliographie
Kunst und Gesellschaft. Drei Vorlesungen (1952)
Hrsg. v. Werner Schüßler, LIT, Münster 2004
Liebe – Macht – Gerechtigkeit
de Gruyter, Berlin 1991
Gestaltung der Erlösungsidee im Judentum und im Protestantismus
Ergänzungsband zum Eranos-Jahrbuch 1936 (mit Heinz Westman), Eranos-Stiftung, Ascona 1986
Auf der Grenze. Aus dem Lebenswerk Paul Tillichs
Evangelisches Verlagswerk, Stuttgart 1962
Wesen und Wandel des Glaubens
Ullstein, Berlin 1961
Systematische Theologie
3 Bände, Evangelisches Verlagswerk, Stuttgart 1955/58/66
Der Mut zum Sein
Steingrüben, Stuttgart 1953
Die Judenfrage. Ein christliches und ein deutsches Problem. Vier Vorträge
Schriftenreihe Deutsche Hochschule für Politik o. Nr., Weiß-Verlag, Berlin 1953 (48 Seiten)
Religiöse Reden, in drei Folgen: „In der Tiefe ist Wahrheit“, „Das Neue Sein“, „Das Ewige im Jetzt“
Evangelisches Verlagswerk, Stuttgart 1952–1964
Die Sozialistische Entscheidung
Alfred Protte, Potsdam 1933