Der Stiftungsrat für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wählt den indischen Religionsphilosophen Sarvepalli Radhakrishnan zum Träger des Friedenspreises 1961. Die Verleihung findet während der Frankfurter Buchmesse am Sonntag, 22. Oktober 1961, in der Paulskirche zu Frankfurt statt. Ernst Benz hält die Laudatio.
Begründung der Jury
Der Religionsphilosoph und Staatsmann Sarvepalli Radharkrishnan hat in seinem literarischen Werk eine tiefgründige Deutung östlichen und westlichen Wesens gegeben und damit einen Weg zur Völkerverständigung geschaffen.
Als Politiker hat er seine Erkenntnis "Friede ist die Krone der Selbstüberwindung, der Demut, der Umkehr und der Hingabe, und nicht die Krone der Gewalt und der Eroberung" furchtlos vor aller Welt vertreten. Durch die Verleihung des Friedenspreises ehren wir seine freiheitliche Gesinnung und danken ihm für sein Lebenswerk.
Reden
Wir Deutschen, die wir in unserem Jahrhundert zum zweiten Mal den Versuch unternahmen, freiheitliches demokratisches Denken in unserem Bewußtsein zu verankern, müssen den Trägern des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels stets dankbar sein und werden ihnen unsere Verehrung nie versagen.
Werner Dodeshöner - Grußwort
Werner Dodeshöner
Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels
Grußwort
Einem jeden, der Bücher herstellt und verbreitet, sind große erzieherische und bildende Geisteswerte an die Hand gegeben. Im Bewußtsein der Verpflichtung, die sich daraus ergibt, ist der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geschaffen worden. Er wird jährlich einer Persönlichkeit verliehen, die sich durch ihr Wirken für den Frieden und die Verständigung zwischen den Völkern ausgezeichnet hat. Entscheidend ist dabei die geistige Leistung, das aus ihr geborene Werk, die Tat aus reiner Gesinnung. Der Friedenspreis kennt weder Grenzen der Nationalität, noch der Rasse oder der Konfession. Seine Verleihung hier in der Paulskirche zu Frankfurt stellt den festlichen Höhepunkt der großen Internationalen Frankfurter Buchmesse dar.
Ihnen allen, meine hochverehrten Damen und Herren hier in der Paulskirche, am Rundfunk und an den Bildschirmen der Fernsehgeräte, die Sie teilnehmen an dieser Feierstunde, gilt der herzliche Gruß der deutschen Verleger und Buchhändler, die im Börsenverein des Deutschen Buchhandels vereint sind. In ihrem Auftrag darf ich hier zu Ihnen sprechen und Sie willkommen heißen.
Ich begrüße den verehrten Herrn Bundespräsidenten und eine Frau Gemahlin, die Vertreter der ausländischen Staaten, den Herrn Ministerpräsidenten des gastgebenden Landes Hessen, die Herren Vertreter des Bundes, der Länder, der Kirchen und der Verwaltung, die Repräsentanten der Stadt Frankfurt, an ihrer Spitze Herrn Oberbürgermeister Bockelmann mit dem uns in der Nachfolge des unvergessenen Walter Kolb eine gute Gemeinschaft verbindet. Unser besonderer Gruß gilt den Dichtern, Wissenschaftlern und Schriftstellern als den schöpferisch tätigen Arbeitern in der Welt des Geistes, vornehmlich auch den Trägern des Friedenspreises, unter denen ich Sie, lieber Professor Theodor Heuss, mit besonderer Freude nennen darf.
Als den diesjährigen Empfänger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels begrüße ich mit dem Ausdruck aufrichtiger Verehrung Sie, Professor Sarvepalli Radhakrishnan, und danke Ihnen, daß Sie aus Ihrer fernen Heimat zu uns gekommen sind.
Zu keiner Zeit ist so viel an den Frieden gedacht, so viel um ihn gerungen, so viel um ihn gebetet und gebangt worden wie in der unsrigen. Die Ereignisse unserer Tage haben uns wissen gelehrt, wie sehr der Frieden, sein Dasein oder sein Fehlen, in das Herz unseres Lebens trifft. Wir fragen uns immer wieder, ob wir alles getan haben, um den inneren Frieden zu schaffen, der die Voraussetzung ist für den äußeren Frieden, um den wir uns sorgen. Haben wir die Freiheit, die ja Attribut des Friedens ist, die Freiheit, in der wir leben dürfen, recht genutzt? Haben wir sie im wahren Sinne des Wortes erdient – verdient? Wege sind uns in ausreichender Zahl gewiesen worden, nicht zuletzt durch die Werke derjenigen, die hier in der Paulskirche zu Frankfurt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels empfingen: die Werke eines Max Tau, Albert Schweitzer, Romano Guardini, Martin Buber, Carl J. Burckhardt, Hermann Hesse, Reinhold Schneider, Thornton Wilder, Karl Jaspers, Theodor Heuss, Victor Gollancz.
Mit ihren Namen stehen ihre Taten vor uns und die Erkenntnisse, die sie uns vermittelt haben. Wir Deutschen, die wir in unserem Jahrhundert zum zweiten Mal den Versuch unternahmen, freiheitliches demokratisches Denken in unserem Bewußtsein zu verankern, müssen den Trägern des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels stets dankbar sein und werden ihnen unsere Verehrung nie versagen. Sie gehören zu den innerlich Freien, ihrem Gewissen verhafteten Menschen, die zwar aus gänzlich verschiedenen Ländern, stammen, aber in jener großen Welt des Geistes beheimatet sind, für die es nie Grenzen gab, weil sie immer ein Ganzes darstellte. Wir sind auch Ihnen, Exzellenz, dafür dankbar, daß Sie mitgeholfen haben, das Haus zu bauen, in dem der Friede wohnt, der unvergleichliche Friede des Geistes, der von keiner äußeren Macht erschüttert werden kann.
Wie die Werke derjenigen, die vor Ihnen hier den Friedenspreis empfingen, werden auch Ihre Gedanken und Erkenntnisse nicht nur in der Epoche wirken, in der sie geboren und geschaffen wurden, sondern in allen Zeiten und in allen Völkern. Ihr Wert ist hoch, denn letztlich sind es ja geistige Mächte, die das Leben des Menschen formen und auch die Ereignisse unserer Tage bestimmen. Wahrlich, wir haben allen Grund, den Frieden zu preisen und diejenigen zu ehren, die ihm in Wort und Tatdienen. Denn noch immer, trotz aller Erfahrungen, die wir gemacht, und trotz aller Lehren, die wir empfangen haben, herrscht die Furcht vor dem Krieg in aller Welt. Es ist nicht die milde Luft des Friedens, die auf unserer kleiner gewordenen Erde weht, es ist nicht der Wille zum Frieden, der Atombomben detonieren, Satelliten unsere Erde umkreisen läßt, der eine Mauer quer durch unsere deutsche Heimat bauen ließ. Um so wichtiger ist unsere Aufgabe, für den Frieden zu sorgen und unserem festen Willen zum Frieden immer wieder Ausdruck zu verleihen, für seine Erhaltung und Festigung zu arbeiten und zu wirken. Liebe ist größer als Haß, von dem uns ein amerikanischer Staatsmann sagte, daß er ein schlechter Berater sei. Edler als Krieg ist der Frieden, von dem die Werke derjenigen zeugen, die hier den Friedenspreis empfingen. Lassen Sie uns Ihre Gedanken und Erkenntnisse nicht nur unseren eigenen Landsleuten vermitteln. Tragen wir sie vor allem auch an diejenigen weiter, deren Länder erst jetzt zu Staaten werden. Denken wir immer daran, daß sie schon durch ihre Existenz unser altes Weltbild entscheidend verändern.
Wir sind uns bewußt, daß nicht Menschen Herren der Geschichte sind. Das entbindet uns nicht von der Verpflichtung, die Ziele, Wege und Mittel unseres geschichtlichen Wirkens sorgfältig zu bedenken. Denn wir alle haben unser Tun zu verantworten und die Schritte, die wir tun, in eben dieser Verantwortung sorgsam zu bemessen, wenn es gelingen soll, den Menschen und uns selbst von der Angst zu befreien, die uns alle in steigendem Maße beherrscht. Angst macht unfrei. Je mehr wir zu ihrer Beseitigung tun, um so mehr dienen wir dem Frieden, dem dauerhaften Frieden, der die Voraussetzung für die Rettung des Menschen ist. Jeder einzelne ist bei dieser Bemühung täglich gerufen. Es genügt nicht, seine Erhaltung und Verwirklichung dem Gebet der Gläubigen und dem Tun der Politiker zu überlassen.
Wenn auch Geist und Geschmack, der Glaube, der Sinn für das Schöne und Gute nie so stark in Gefahr waren wie heute, zugunsten des Wohlstandes und des Profits gering geachtet zu werden, so wollen doch wir, die wir die Feierstunde miterleben, uns das Gewissen aufrütteln lassen durch die Namen derer, die hier an diesem Ort genannt wurden. Bücher haben den Ideen der Friedenspreisträger ihre unvergängliche Form gegeben. Sie sind ihre Mittler zu der Menschen der Völker. Uns allen geben sie immer wieder Anstoß zur Besinnung und zum Bekenntnis für die Sache der Freiheit, der Gerechtigkeit des Friedens. Mag man Bücher auch noch so gern »Schwerter des Geistes« nennen - uns sollen sie Pflugschar des Friedens sein.
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Werner Dodeshöner
Grußwort des Vorstehers
Indes haben Sie, Exzellenz, nicht nur religionspolitische Betrachtungen über die Befriedung der menschlichen Gesellschaft angestellt, Sie haben auch unerschrocken die politischen Folgerungen aus Ihren religionsphilosophischen Erkenntnissen gezogen.
Ernst Benz - Laudatio auf Sarvepalli Radhakrishnan
Ernst Benz
Auf den Preisträger 1961
Laudatio auf Sarvepalli Radhakrishnan
Um Sie, Exzellenz, auf rechte Weise zu würdigen, bedürfte es der Gaben all der großen Dichter und Denker, die im Verlauf der deutschen Geistesgeschichte zur Erkenntnis indischen Geisteslebens beigetragen haben. Es bedürfte der genialen Sprachkenntnis eines August Wilhelm von Schlegel, der in Bonn 1810 den ersten deutschen Lehrstuhl für Sanskrit einnahm und in seiner Antrittsvorlesung behauptete, Bonn liege am deutschen Ganges. Es bedürfte des sprachschöpferischen Einfühlungsvermögens eines Friedrich Rückert, der als erster die Gitagowinda des Dschajadewa übersetzte, jenes Sanskrit-Gedicht, das die Entfremdung und die wieder erwachende Sehnsucht des Gottes Krishna nach seiner Geliebten Radha und das Glück ihrer schließlichen Wiedervereinigung verherrlicht, die der bedeutungsvolle Name Radhakrishnan zum Ausdruck bringt. Es bedürfte der Intuition eines Arthur Schopenhauer, der wohl am stärksten hier von Frankfurt aus dazu beigetragen hat, indischem Denken vor allem in Gestalt der buddhistischen Philosophie Eingang in die deutsche Geistestradition zu verschaffen. Schopenhauers Begegnung mit Indien hat sich im Zeichen einer geradezu enthusiastischen Entdeckerfreude vollzogen, wie sie für das romantische Indienbild seit Novalis und Schlegel bezeichnend war. Für ihn waren die Inder »das edelste und älteste Volk der Erde«, »das Volk mit der ältesten und am weitesten verbreiteten, also der Zeit und dem Raum nach vollkommensten Religion der Menschheit«. Dieser Vorgang der indischen Kultur ist bei Schopenhauer mit einer kühnen anthropologischen Evolutionstheorie begründet. Aus der Tatsache, daß die Hindus unsere Stammväter sind, folgert er, daß es »eine weiße Rasse nie gegeben hat«, »daß jeder weiße Mensch ein Abgebliebener ist« und daß die Zigeuner als in den Westen verschlagener indischer Stamm die Übergangsform zwischen unseren indischen Stammvätern und den nachgeblichenen, abgeblaßten Bewohnern unseres frostigen Nordens darstellen. Ähnliche Betrachtungen klingen schon im »Heinrich von Ofterdingen« des Novalis an. »Damit Indien in der Mitte des Erdballs so warm und herrlich sei, muß ein kaltes, starres Meer, tote Klippen, Nebel statt des gestirnvollen Himmels und eine lange Nacht die beiden Enden unwirtbar machen.«
Unsere nüchterne Epoche ist über diese überschwängliche Freude der Entdeckung der indischen Geisteswelt hinausgeschritten. Mehr als hundert Jahre einer intensiven Begegnung auf allen Gebieten, an der die deutsche Indologie und die deutsche religionsgeschichtliche Forschung, aber auch das deutsche Verlagswesen keinen geringen Anteil haben, ermöglichen uns heute eine sachlichere, aber damit auch eine tiefer begründete Würdigung Indiens und seiner großen Geister. Entscheidend hat dazu die Tatsache beigetragen, daß seither die Begegnung und Auseinandersetzung des indischen und des europäischen Geistes eine Reihe von dramatischen Phasen durchlaufen haben, die in der heutigen Weltsituation zu neuen Lösungen drängen.
Unter der gegenwärtigen Generation von Gelehrten ist kaum jemand geeigneter, sich in einer wohlbegründeten, sachkundigen Weise über das Verhältnis westlichen und östlichen Denkens zu äußern als Sie, Exzellenz und verehrter Herr Kollege. In einer einzigartigen Weise vereinigen Sie in sich die Bildungselemente Asiens und Europas. Ihrer religiösen Herkunft nach wurzeln Sie tief in den geistigen Überlieferungen des Hinduismus. Sie haben sich dann während eines intensiven Studiums mit den Methoden der europäischen historisch-kritischen Forschung vertraut gemacht, Sie haben zum erstenmal die indische Geistesentwicklung geschichtlich durchleuchtet und eine umfassende Geschichte der indischen Philosophie vorgelegt. Wenn Sie mit gleicher Sorgfalt die Religionen Asiens wie des christlichen Westens in den Bereich Ihrer geistesgeschichtlichen Forschung einbezogen, so spricht sich darin Ihre unerschütterliche Überzeugung aus, daß alle großen Kulturen bis hinein in ihre politischen und sozialen Gestaltungen zuinnerst von der Religion her geprägt sind, daß das Studium der großen Weltreligionen einen wesentlichen Aufschluß über die von ihnen geschaffenen Hochkulturen gibt, daß eine Überwindung der zwischen den heutigen Kulturen im Osten und Westen bestehenden Spannungen und Gegensätze nur durch eine religiöse Erneuerung möglich sein wird, und daß neue Wege der Begegnung und Verständigung zwischen den großen Weltreligionen beschritten werden müssen.
Diese großen Themen haben Ihre Studien von Anfang an beherrscht. Nach einem Studium in Madras haben Sie als Professor für Philosophie an verschiedenen indischen Universitäten gewirkt. Durch Ihre Vorlesungen und Veröffentlichungen sind Sie schon früh in englischen Forscherkreisen bekannt geworden. 1936 wurden Sie als Spalding-Professor of Eastern Religions and Ethics an die Universität Oxford berufen. Wohl zum erstenmal in der Geschichte der europäischen Geisteswissenschaften hat auf diese Weise ein führender Vertreter hinduistischer Philosophie eine Lehrtätigkeit für vergleichende Religionsgeschichte an einer der maßgeblichen Universitäten Europas ausgeübt. Nach Indien zurückgekehrt, haben Sie dann verantwortungsvolle Stellungen im indischen Universitätsleben übernommen. Angesichts Ihrer universalen Kenntnis der klassischen und modernen Geistesströmungen in Ost und West sind Ihnen auch bald große kulturpolitische und zuletzt auch staatspolitische Aufgaben anvertraut worden. So leiteten Sie im Auftrag der indischen Regierung die Kommission für Neuordnung des indischen Erziehungswesens; 1946 wurden Sie Leiter der indischen UNESCO-Delegation und wurden in dieser Eigenschaft 1948 zum Präsidenten der unesco gewählt. Ab 1949 als indischer Botschafter in Moskau tätig, wurden Sie 1952 zum Vizepräsidenten der Indischen Republik gewählt und haben seither entscheidend an der Innen- und Außenpolitik Indiens mitgewirkt.
In der Ausübung Ihrer vielseitigen wissenschaftlichen und kulturpolitischen Tätigkeit in Ihrem Heimatland Indien haben Sie Gelegenheit gehabt, alle Probleme der theoretischen und praktischen Auseinandersetzung zwischen den Religionen und Weltanschauungen dort in ihrer bedrängendsten Form kennenzulernen. Indien ist das klassische Land eines Pluralismus der Weltreligionen. Hinduismus, Buddhismus, Zoroastrismus, Islam und das Christentum in einer großen Vielgestalt von Kirchen und Denominationen haben sich dort in einem jahrhundertelangen Prozeß der Akkommodation an ein Zusammenleben gewöhnt. Nirgendwo wie in Indien hat sich eine Koexistenz von Religionen entwickelt, die auf der einen Seite die Gemeinschaft ihrer Gläubigen in einer so beherrschenden Weise in allen Lebensbereichen prägten, auf der anderen Seite einen Geist der Toleranz und Verständigung schufen, der ein Zusammenleben in dem engen Lebensraum der sozialen und politischen Körperschaften ermöglichte. Die Notwendigkeit einer Verständigung zwischen den großen Religionen trat dort noch deutlicher hervor, als die Abtrennung der nordwestlichen und nordöstlichen Grenzprovinzen Indiens und ihr Zusammenschluß zu einem Moslem-Staat Pakistan durch die blutigen religiösen Unruhen, die dieses Ereignis hervorrief, die bisherige friedliche Lebensgemeinschaft zwischen Hindus und Moslems auf indischem Boden aufs schwerste bedrohte und die Aufgabe einer Wahrung des inneren Religionsfriedens Volk und Regierung Indiens vor die schwere Aufgabe stellte, durch Erziehung und Aufklärung den überkommenen Geist der Toleranz und Verständigung zu vertiefen und umfassender zu begründen.
Andererseits hat Indien aber auch die Auseinandersetzung mit dem Westen in einer besonders konfliktreichen und unvermittelten Weise erlebt, da ihm der Westen vor allem in Form der britischen Kolonialherrschaft entgegentrat. Die Aufrichtung der britischen Herrschaft hat nicht nur eine direkte Übertragung europäischer Regierungs- und Verwaltungsmethoden, nicht nur eine unvermittelte Einfuhr westlicher Wirtschaftsmethoden nach sich gezogen, sie hat dazu geführt, daß sich auch auf dem Gebiet der Erziehung der Primat westlichen wissenschaftlichen Denkens und westlicher Forschungsmethoden durchsetzte. Gerade infolge der positiven Leistungen der englischen Kolonialherrschaft auf dem Gebiet des indischen Erziehungswesens durch Errichtung eines Schul- und Universitätswesens nach europäischem Vorbild hat wohl kein asiatisches Land die Begegnung und Auseinandersetzung westlicher und östlicher Geistesmächte in einer so tiefgreifenden, so dramatischen und so revolutionierenden Form zu spüren bekommen wie Indien.
Ihr großes Verdienst, Exzellenz, besteht nun darin, daß Sie versucht haben, die Erkenntnisse und Erfahrungen, die Sie aus der Koexistenz einer Vielheit von Religionen und Kulturen im indischen Lebensraum gewonnen, haben, auf das sehr viel kritischere und explosivere Verhältnis des Westens - und zwar sowohl in seiner christlichen als auch in seiner säkularen Gestalt - zu den Kulturen des Ostens anzuwenden, um so ein Zusammenleben innerhalb der zur Vereinheitlichung drängenden menschlichen Gesellschaft zu ermöglichen.
Allerdings verlaufen vom indischen Blickpunkt aus die Grenzen zwischen West und Ost anders als wir es von dem heutigen politischen Blickpunkt des Westens aus gewohnt sind. Während nach dem heute bei uns üblichen Sprachgebrauch der Gegensatz von Ost und West im wesentlichen als der Gegensatz zwischen der freien Welt der westlichen Demokratien und den totalitären kommunistischen Staaten des Ostens verstanden wird, gehört von Ihrem indischen Blickpunkt aus der Bolschewismus auch in seiner russischen und chinesischen Form durchaus zum Westen. Der dialektische Materialismus und die daraus abgeleiteten revolutionären Sozialtheorien, und politischen Methoden erscheinen in Ihren Werken nur als ein Spezialfall westlichen Denkens und als ein unmittelbares Produkt desselben. Aufgrund seiner geistigen Ahnen, unter denen Sie neben Plato das Neue Testament, Ricardo, Adam Smith, Hegel, Feuerbach, Marx, Engels und Lenin nennen, gehört von Ihrer Sicht aus der Kommunismus eindeutig zum Westen. Die eigentliche Grenzlinie verläuft für Sie nicht zwischen diesen beiden feindlichen Brüdern westlicher Abstammung, sondern zwischen der Kultur Asiens, die auf einer religiös begründeten Weisheit beruht, und der Kultur Europas und Amerikas, die sich auf einem rationalen wissenschaftlichen Verständnis des Menschen und des Universums begründet. Ihre westeuropäischen Leser beginnen hier etwas von der Tatsache zu ahnen, daß auch der politische Neutralismus Indiens, der in den gegenwärtigen Weltspannungen so markant in Erscheinung tritt, durch die religionspolitische Situation und durch die eigentümliche religiöse Prägung des hinduistischen Denkens bestimmt ist.
Tatsächlich ist die Veränderung der Weltlage nirgends so augenfällig wie in dem Bereich der Begegnung und Auseinandersetzung der großen Weltreligionen. Diese Veränderung hat in Europa bezeichnenderweise in dem Augenblick begonnen, als die europäische Kultur mit den asiatischen Religionen und Kulturen in Berührung trat. Ihre Forderung, das Zusammenleben der Völker und Staaten durch eine neue Besinnung auf die gemeinsamen religiösen Grundlagen der menschlichen Persönlichkeit und der menschlichen Gemeinschaft herbeizuführen, trifft unsere Epoche in einem entscheidenden Stadium der Wandlung des religiösen Bewußtseins.
Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts war der Islam die einzige Fremdreligion, mit der es das Christentum und die christliche Kirche praktisch zu tun hatte. Der Islam war aber christlicherseits nie als Fremdreligion beurteilt worden, sondern als eine Apostasie vom christlichen Glauben. Dementsprechend hat sich die Auseinandersetzung mit dem Islam als ein Kampf entwickelt, der nur die Alternative zwischen totaler Unterwerfung oder totaler Vernichtung kannte. Als die christliche Mission im 17. und 18. Jahrhundert allmählich mit den asiatischen Hochreligionen des Hinduismus, des Buddhismus, des Confucianismus, des Taoismus bekannt wurde, wirkte die kämpferische Auseinandersetzung mit dem Islam, die ihren Ausdruck in den Kreuzzügen fand, zum mindesten als psychologisches Modell der Auseinandersetzung mit allen übrigen nichtchristlichen Religionen noch lange nach. Die Kenntnis nichtchristlicher Religionen, die hinter der islamischen Mauer des Nahen Ostens lagen, hat sich in Europa nur sehr langsam und unter wenigen Fachgelehrten verbreitet, die die asiatischen Sprachen und Schriftzeichen beherrschten. Eine Auswirkung der Kenntnis der asiatischen Hochreligionen auf das religiöse Bewußtsein der breiten Öffentlichkeit war im 18. Jahrhundert nicht zu erwarten, ja noch nicht einmal im 19. Jahrhundert.
Schopenhauer war der erste Deutsche, dem es nach vieler Mühe gelang, sich die Figur eines sitzenden Buddha zu verschaffen. Er ließ die kostbare schwarzlackierte Figur mit echtem Gold vergolden und auf einem Postament in seinem Arbeitszimmer aufstellen. Sein katholisches Dienstmädchen, das in seinem eignen Zimmer ein kleines blumengeschmücktes Altärchen hatte, brach beim ersten Anblick des Buddha in ein schallendes Gelächter aus und sagte: »Der sitzt ja da wie ein Schneider!« Schopenhauer fuhr das Mädchen an: »Sie grobe Person, so spricht Sie von dem Siegreich-Vollendeten! Habe ich jemals Ihren Herrgott gelästerte!« In der religiösen Normalwelt des Dienstmädchens war Buddha ein lächerlicher Götze, und wenn Schopenhauer gelegentlich von »Wir Buddhisten« sprach, so konnte er seine Gesinnungsfreunde in ganz Europa an einer Hand aufzählen. So war es um 1850 im fortschrittlichen Frankfurt.
Inzwischen hat gerade in den beiden letzten Jahrzehnten eine Entwicklung eingesetzt, die wir als eine zweite Aufklärung bezeichnen können. Hat sich im 18. und 19. Jahrhundert die erste Aufklärung hauptsächlich auf dem Gebiet der Naturwissenschaften vollzogen, so ist jetzt im 20. Jahrhundert eine Aufklärung auf dem Gebiet der Religionswissenschaft in Gang gekommen. Sie kommt äußerlich darin zum Ausdruck, und hierin besteht der bedeutende Anteil gerade des deutschsprachigen Buchhandels an dieser Entwicklung, daß Ergebnisse der religionswissenschaftlichen Forschung in breitestem Maße der Leserschaft aller Stände zugänglich gemacht werden, und zwar nicht nur in den kostspieligeren Originalausgaben der Texte und Urkunden der großen Weltreligionen und der wissenschaftlichen Monographien, sondern in den billigen Taschenbuch-Ausgaben, in denen heute die Forschungen der besten Sachkenner der Religionswissenschaften verbreitet werden. Es ist heute schwierig, wie ich heute früh probeweise festgestellt habe, in einem Bahnhofskiosk ein Neues Testament zu kaufen, aber es gibt kaum einen Bahnhofskiosk, in dem man nicht einen Taschenband über den Zen-Buddhismus, eine Biographie Buddhas oder Mohammeds für billiges Geld erwerben kann. Es ist gar kein Zweifel, daß durch diese Verbreitung einer Kenntnis der Pluralität der Weltreligionen eine gründliche Veränderung in der Struktur des religiösen Bewußtseins des heutigen Menschen eingetreten ist.
Dem entspricht weiter, daß die asiatischen Religionen selber im Zusammenhang mit der Wiedergewinnung der politischen Selbständigkeit der asiatischen Länder sich auf ihre weltmissionarische Aufgabe besonnen haben, die in ihrem Universalitätsanspruch begründet ist, und zu einer direkten oder indirekten Mission auf europäischem oder amerikanischem Boden übergegangen sind. Auch hier ist der Einfluß auf dem Weg über missionsartige Organisationen wie die Vedanta-Mission, die Ramakrishna-Mission, die Vivekananda-Mission und die verschiedenen buddhistischen Zentren sehr viel geringer als der literarische Einfluß der asiatischen Religionen, der sich besonders in der modernen Philosophie, Psychologie und Psychotherapie bemerkbar macht.
Schließlich ist auch dadurch eine völlig neue Situation eingetreten, daß die geistigen Führer der nichtchristlichen Religionen sich selber inzwischen mit den wissenschaftlichen kritischen Methoden in Westeuropa entwickelten Geisteswissenschaften vertraut gemacht haben und hiermit zum erstenmal eine echte Begegnung und Auseinandersetzung des Christentums mit den nichtchristlichen Religionen auf gleicher Ebene mit denselben Methoden möglich geworden ist.
Hier sind nun Sie, Exzellenz, als der eigentliche Bahnbrecher dieser neuen Entwicklung zu bezeichnen. Sie haben mit Ihren Werken wie »Religion und Gemeinschaft« und »Die Gemeinschaft des Geistes« eine neue Periode geistiger Begegnung der großen Weltreligionen und der durch sie geprägten Kulturen eröffnet.
Der Grundgedanke Ihrer Betrachtungen über eine mögliche Begegnung der Weltreligionen und eine Überwindung ihres exklusiven Absolutheitsanspruches ist das zutiefst im Hinduismus begründete Verständnis von Religion, das in allen geschichtlichen Religionen nur die Erscheinungsformen, Offenbarungen, Manifestationen des einen, transzendenten Gottes sieht, der sich den verschiedenen Völkern und Gesellschaften in verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten in verschiedener Weise bekundet. In der Baghavadgita sagt Krishna, der Hehr-Erhabene, zu Arjuna: »Kein Ende ist meiner herrlichen Manifestationen. So schaue denn meine Gestaltungen, hundert- und tausendfach, vielfältig, göttlich, mannigfach an Farbe und Form... Schau viele Wunder, wie sie nie zuvor geschaut wurden.« Im Sinne der Gita folgern Sie: »Vergleichen wir eine Religion mit der anderen, so zeigt sich, daß die Unterschiede in den Glaubenssätzen und Gebräuchen liegen. Wenn wir ein wenig tiefer hinter Dogmen und Bekenntnisse schauen, dann erkennen wir, daß alle Religionen ihre Kraft aus derselben unergründlichen Quelle ziehen.« Eine Weltkultur also kann nur entstehen, so folgern Sie weiter, wenn eine Überwindung der exklusiven Absolutheitsansprüche der Religionen erfolgt. Diesen Prozeß wollen Sie fördern, diesen Prozeß sehen Sie bereits sich allüberall entwickeln. »Alle Religionen versuchen heute, sich in einer neuen Sprache auszudrücken und nähern sich damit einander. Unhaltbare Glaubenssätze werden weniger widerlegt als beiseitegeschoben, und die universalen Elemente der Religionen, über die Einigkeit besteht, werden hervorgehoben. Dieser Vorgang wird in den kommenden Jahren beschleunigt fortschreiten, und die graduelle Angleichung der Religionen wird zu einem Welt-Glauben führen.«
Nun wird sich allerdings die weitere Entwicklung kaum so abspielen, daß wir ihr Endergebnis in Form eines fertigen Begriffs der Zukunftsreligion vorwegnehmen können, die in einer großen Umarmung alle religiösen Anschauungs- und Ausdrucksformen in sich umfassen soll. Trotzdem ist es in der heutigen Weltsituation unbedingt erforderlich, Ihren Anregungen nachzugehen. Mit Recht sagen Sie: »Wenn die großen Religionen fortfahren, ihre Energien in einem brudermörderischen Kampf zu vergeuden, anstatt sich als befreundete Partner bei der höchsten Aufgabe, der Förderung des geistigen Lebens der Menschheit, zu betrachten, dann steht dem raschen Vormarsch eines moralischen Materialismus nichts mehr im Wege.« Mit Recht verweisen Sie auch auf die entsprechende Wandlung im Verhältnis der christlichen Kirchen untereinander. Die Tatsache, daß sich das Christentum über die ganze Welt in einer Pluralität von Kirchen ausgebreitet hat, daß überall auf der Erde Christen verschiedener Denominationen innerhalb derselben politischen und sozialen Gemeinschaft zusammenleben und arbeiten müssen, hat dazu geführt, daß eine ökumenische Bewegung von globalem Ausmaß entstand, in der sich die christlichen Kirchen über die Möglichkeit einer Verständigung und Zusammenarbeit und einer Überwindung verjährter Formen der Polemik und Apologetik besinnen.
In ähnlicher Weise hat sich durch die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte das Zusammenleben der christlichen Kirchen mit den nichtchristlichen Religionen aufs stärkste verändert, vor allem durch die Gründung selbständiger Staaten in Asien und Afrika. Während die Missionsgemeinden sich bisher in einer unmittelbaren Abhängigkeit von den missionierenden Kirchen Europas und Amerikas befanden und zum größten Teil den Lebensstil der missionierenden Ländern übernahmen, finden sich nunmehr diese Gemeinden in den neuen asiatischen und afrikanischen Staaten als Minoritäten in einer andersgläubigen Umwelt. Gleichzeitig aber sind ihre Mitglieder auf Grund ihrer Erziehung und Bildung in einer besonderen verantwortungsvollen Weise an den Aufbau-Arbeiten in der Politik, Verwaltung und Erziehung ihrer Länder und Staaten als verantwortliche Staatsbürger beteiligt.
Auch tritt immer deutlicher in Erscheinung, daß nicht nur die christliche Religion, sondern auch die übrigen Religionen ihre eigentümliche Sozialethik und politische Ethik haben, daß die Religion auch bei den anderen bewußt oder unbewußt ein praktischer politischer Faktor erster Ordnung ist. Die politische und soziale Welt der südostasiatischen Staaten ist ebensosehr durch die sozialethischen Ideen des Buddhismus mitgeformt wie in der arabischen und afrikanischen Welt der Islam einen bestimmenden politischen und sozialen Faktor darstellt. Man kann die Religion des anderen nicht ignorieren oder verachten, wenn man mit ihm zusammen die gleiche Verantwortung trägt und an den gleichen Lebensaufgaben mitarbeiten muß: das gilt gleichermaßen für die Bürger eines einzelnen Landes wie für die Bürger dieser unserer Welt.
Schließlich haben auch die gewaltigen Umgruppierungen der Bevölkerung im Zusammenhang mit den politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte dazu beigetragen, den Pluralismus der Religionen auf der ganzen Welt zu verbreiten. Alles drängt darauf hin, daß auch zwischen den Weltreligionen neue Formen der Begegnung gefunden werden, die ein friedliches Zusammenleben ermöglichen.
Nun sind schon in vielen Ländern von verantwortlichen Persönlichkeiten aller Religionen Versuche dieser Art unternommen worden. Diese Versuche befinden sich zum Teil noch in dem enthusiastischen Anfangszustand, in dem man glaubt, durch eine emotionale Identifikation mit Gleichgesinnten der anderen Lager die bestehenden Gegensätze aus dem Wege räumen zu können. So hat im übrigen auch die christliche Ökumene angefangen.
Sie, Exzellenz, haben nun das Zeichen zum Beginn einer neuen Phase innerhalb dieser Entwicklung gegeben. Die Aufgabe wird nicht mehr darin bestehen, daß sich einzelne enthusiasmierte Vertreter der einzelnen Religionen im kleinen Kreise ihre gegenseitige Übereinstimmung versichern, sondern daß in breiteren Kreisen der verschiedenen Religionen ein Wille der Verständigung und Zusammenarbeit sich verbreitet, und daß die geistigen Voraussetzungen dafür durch entsagungsvolle Arbeit geschaffen werden. Das Verstehen der anderen Religion ist eine Aufgabe, die viel Sachkenntnis, eine sorgfältige kritische Studienarbeit, einen hohen Grad wissenschaftlicher Redlichkeit und Selbstkritik erfordert. Es wird sich dabei nicht nur darum handeln, innere Berührungspunkte der Religionen als Ansatzpunkte eines Verständnisses zu ermitteln, sondern auch die Unterschiede kritisch ins Auge zu fassen, da nichts mehr enttäuscht als eine vorschnelle Identifikation, die sich bei näherer Betrachtung als Illusion erweist.
Von hier aus kann dann eine kritische Revision der traditionellen Urteile und Vorurteile der einzelnen Religionen über die anderen und eine kritische Untersuchung der Begründung und Berechtigung der Absolutheitsansprüche der einzelnen erfolgen. Man wird sich aber darüber klar sein müssen, daß eine große Geduld dazu gehört, gerade religiöse Vorurteile zu überwinden, die leicht den Charakter kollektiver Idiosynkrasien annehmen. All diese Anstrengungen aber sind umsonst, wenn wir uns nicht vor Augen halten - um eine Formulierung von Ihnen zu gebrauchen -, »daß das Gebot der Nächstenliebe selbst ein Teil der Wahrheit ist, die unter allen Umständen aufrechterhalten werden muß«. Ihre unermüdliche Bemühung um die Verwirklichung dieser neuen Aufgabe ist Ihr Anteil am Frieden unter den Religionen.
Indes haben Sie, Exzellenz, nicht nur religionspolitische Betrachtungen über die Befriedung der menschlichen Gesellschaft angestellt, Sie haben auch unerschrocken die politischen Folgerungen aus Ihren religionsphilosophischen Erkenntnissen gezogen. Zwei solcher Fälle, die in einer unmittelbaren Beziehung zu unserer eigenen Geschichte stehen, möchte ich zum Schluß als Beispiel und Symbol hervorheben.
Ich denke hier zuerst an Ihr Buch »India and China«, das wohl das einzige Ihrer Bücher ist, das in Deutschland vollständig unbekannt und unübersetzt geblieben ist. Dieses Buch enthält die Vorlesungen und Vorträge, die Sie während Ihres Besuches in China im Jahre 1944 auf Einladung des Kultusministers der Regierung Tschang Kai Tschecks hielten und die sich zumeist mit den religiösen und kulturellen Beziehungen zwischen Indien und China, vor allem mit dem Buddhismus beschäftigen. Am 15. Mai 1944 aber, in einem Augenblick, wo der Krieg in Europa und Asien seinem mörderischen Endkampf zuraste, sprachen Sie in Tschunking über das Thema »Krieg und Weltsicherheit« und entwarfen vor Ihren chinesischen Hörern ein wahrhaft prophetisches Bild von den Aufgaben, die den siegreichen Alliierten nach der damals schon mit Sicherheit zu erwartenden Niederwerfung der Achsenmächte gestellt sein würden. Ihre Gedanken galten natürlich vor allem der Rolle Asiens in der zukünftigen Neuordnung der Welt nach dem Kriege, aber Sie berührten auch die verantwortlichen Aufgaben der Gestaltung des Friedens in Europa.
In diesem Zusammenhang haben Sie die Alliierten dringend davor gewarnt, die damals im Anschluß an die Conferenz von Casablanca schon ventilierten Pläne der totalen Kapitulation der Achsenmächte, der Teilung Deutschlands und der Massenumsiedlung aus den abzutrennenden deutschen Ostgebieten zu verwirklichen. Sie haben dort auch die eindrucksvollste Formulierung Ihres Verständnisses von Wesen und Verantwortung des Friedens gegeben »Peace is the crown of self-sacrifice, humility, repentance and surrender, and not of violence and conquest - Friede ist die Krone der Selbstüberwindung, der Demut, der Umkehr und der Hingabe, und nicht die Krone der Gewalt und der Eroberung«. Sie haben als Kronzeugen für die Rjchtigkeit dieser Erkenntnis zwei religiöse Denker angeführt: der eine ist Mahatma Gandhi, der andere ist Jakob Boehme. Sie zitierten im fernen Tschunking das Wort, das auf dem Sockel des Jakob Boehme-Denkmals in Görlitz in Schlesien steht, in englischer Fassung: »love and humility is our sword« - »Liebe und Demut ist unser Schwert.« Ich weiß nicht, wie viele Ihrer damaligen chinesischen Hörer wußten, wer Jakob Boehme ist. Um so eindrucksvoller muß es für sie gewesen sein, in diesem Augenblick, in dem die Kriegspropaganda in aller Welt sich in der Predigt des Hasses überschrie, aus dem Munde eines Hindu zu hören, daß »der große, aber wenig bekannte Christ Jakob Boehme in einer Stadt, die heute im Mittelpunkt des europäischen Kriegsschauplatzes liegt«, diese Botschaft aufgerichtet hat, die allein die Grundlage eines echten Friedens in einer zur Einheit drängenden menschlichen Gesellschaft bilden kann. Wir wollen Ihnen heute dafür danken.
Wohl am unmittelbarsten indes, Exzellenz, betreffen uns Ihre Friedensworte, die Sie in der schwersten Stunde der indischen Geschichte anläßlich der Abspaltung großer Teile der nördlichen Provinzen Indiens und der Gründung eines selbständigen Staates Pakistan gesprochen haben. In Ihrem Werke »Religion und Gesellschaft« 1944 haben Sie ein idealistisches Bild von der Zukunft Indiens und von der zukünftigen Entwicklung der Menschheit entworfen und sich nachdrücklich zu den Idealen Gandhis bekannt: »Die Welt von morgen wird und muß eine Gesellschaft sein, die auf Gewaltlosigkeit beruht«, und Sie haben dort die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft als eine Entwicklung von drei Stufen geschildert, die erste Stufe, auf der das Gesetz des Dschungels herrscht und wir Gewalt und Selbstsucht antreffen, die zweite Stufe, da Gesetz und Rechtsprechung mit Gerichten, Gefängnissen und Polizei aufrechterhalten werden und die dritte Stufe, auf der wir uns zur Gewaltlosigkeit und Selbstlosigkeit bekennen, auf der Liebe und Gesetz eins geworden sind.
Die idealistische Hoffnung dieses Buches schien durch die blutigen Ereignisse von 1947 völlig widerlegt. Und trotzdem haben Sie auch in der neuen Situation Ihr Ideal aufrecht erhalten. Sie haben Ihrem Bande 1947 ein Nachwort hinzugefügt. In diesem Nachwort haben Sie den Mut gefunden, Ihre konstruktive Friedensidee auch auf die neue, unvorhergesehene Situation Indiens anzuwenden. Sie haben dort Erkenntnisse ausgesprochen, die eine unmittelbare Beziehung zu unserer eigenen schmerzhaften Situation des gespaltenen Deutschland von heute haben. Lassen Sie mich meinen Dank mit Ihren eigenen Worten an Sie zurückgeben:
»Wenn auch unsere Herzen von Schmerz erfüllt sind, müssen wir doch unser Land auf seinem Weg zum Fortschritt in Gang setzen. Den alten indischen Staat gibt es nicht mehr. Aber der historische indische Volkskörper lebt weiter, gleichgültig wie zwiespältig gegen sich selbst. Politische Teilungen dauern nicht ewig. Dauerhafter sind kulturelle und geistige Bande. Wir müssen sie sorgfältig und voll Ehrfurcht pflegen. In einem langsamen Prozeß der Erziehung, mit geduldiger Überlegung und mit der Einsicht, daß die Anlässe, die zur Teilung führten, tatsächlich bereits überholt sind, müssen wir die Einheit entwickeln. Feurige Ansprachen und Entschließungen werden es nicht tun. Die Sprache des Zornes führt zu nichts. Geduld und Verständigungswillen sind das Gebot der Stunde. Die gegenwärtigen Verhältnisse sind ein Appell an unsere Befähigung und Klugheit. Das größte Unglück wird dann eintreten, wenn die Macht über die Geschicklichkeit triumphiert. Wir haben das gelobte Land nicht erreicht. Wir müssen arbeiten, um den Weg dahin zu bahnen. Er ist lang und steil, voll Mühsal und Leiden. Das Volk wird schließlich ans Ziel kommen. Manche von uns werden es nicht mehr erleben, aber wir können es voraussehen.«
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Ernst Benz
Laudatio
Heute sind alle Teile der menschlichen Rasse miteinander in Kontakt. Wenn wir in Frieden leben wollen, können wir nicht auf halbem Wege zur weiteren Vereinigung stehenbleiben.
Sarvepalli Radhakrishnan - Dankesrede
Sarvepalli Radhakrishnan
Friedenspreisträger 1961
Dankesrede
Ich danke dem Vorsteher und den Mitgliedern des Vorstandes des deutschen Börsenvereins für Ihren freundlichen Vorschlag, mich für den Friedenspreis 1961 auszuwählen. Es ist eine wirkliche Auszeiclmung für mich, zu denen gezählt zu werden, die ihr ganzes Leben und ihre Schriften in den Dienst des Friedens gestellt haben, und ich würdige dies ganz besonders. Wenn meine Schriften und anderen Werke der Welt etwas Wertvolles geben konnten, dann vielleicht deshalb, weil ich tief an das menschliche Wesen und an den freien Geist des Menschen glaube. Diese Auszeichnung für jemanden, der nicht der traditionellen Kultur Europas und Amerikas angehört, kennzeichnet ihren internationalen Charakter.
Professor Dr. Benz war in der Würdigung meines Werkes außerordentlich großzügig. Er bezog sich auf die hervorragenden Beiträge, die deutsche Indologen, deutsche Forscher und deutsche Verleger für das Studium des indischen Denkens geleistet haben. Wir stehen Ihnen gegenüber in tiefer Dankesschuld. Als Mensch, der sich sein Leben lang dem Studium der Philosophie und der Religion gewidmet hat, glaube ich ein feines Empfinden für die metaphysischen Nuancen und mystischen Feinheiten Ihrer klassischen Denker und Ihrer betrachtenden Propheten zu besitzen.
Herr Professor Benz bezog sich auf eine Erklärung, die ich 1947 in Neu-Delhi abgegeben habe. Ich darf sagen, daß sich diese Worte auf die gegenwärtige Lage in Deutschland anwenden lassen. Politik als Ganzes mag nicht existieren, aber Geschichte als Ganzes lebt, unabhängig davon, wie weit der Geist fehlt, ob von sich selbst getrennt und ob unbewußt ihrer eigenen Existenz. Der Weg zum Ziel mag lang und anstrengend sein, er mag voller Mühsal und Leiden sein, aber es wird schließlich erreicht.
In einer Zeit, in der sich neue Wege der Einrichtung menschlichen Lebens zu behaupten beginnen, werden Schriftsteller auf den Plan gerufen, die eine Verpflichtung für die menschliche Wohlfahrt fühlen, um die neuen Ideale konstruktiv anzupacken und um sich mit Begeisterung und Hingabe ihrer Darstellung zu widmen.
Dieses Gebäude war das Symbol deutscher liberaler Bestrebungen seit dem ersten vereinten Parlament, das sich hier 1848 versammelte. Es ist eine Mahnung für uns, in dieser schweren Stunde menschlicher Geschichte die Notwendigkeit für moralische und geistige Werte klar zu erkennen.
In materieller Hinsicht haben sich die Bedingungen, unter denen wir leben, in wenigen Jahrzehnten radikaler geändert als im Zeitraum von Jahrhunderten der Vergangenheit. Das Maß und die Schnelligkeit dieser Veränderungen schließen einen radikalen Bruch mit früheren Bedingungen ein. Die rasche Vereinigung der Welt, die jetzt durch moderne Methoden des Verkehrs und der Nachrichtenverbindungen stattfindet, ist die wirksamste und weitreichendste, die wir bisher gekannt haben. Führende Menschen der Zivilisationen und Propheten der Religionen träumten von einer einzigen Welt, aber ihr Ideal konnte zu ihrer Zeit nicht erfüllt werden. Heute sind alle Teile der menschlichen Rasse miteinander in Kontakt. Wenn wir in Frieden leben wollen, können wir nicht auf halbem Wege zur weiteren Vereinigung stehenbleiben.
Die Sache ist dringend geworden, da wir militärische Waffen mit Atomkraft herstellen. Jeder Atomkrieg kann nur in einer wilden Orgie der Zerstörung enden. Wir haben zwischen zwei Alternativen zu wählen: uns zu zerstören oder zu lernen, als Mitglieder einer einzigen Familie zu leben.
Wenn die menschliche Rasse überleben soll, müssen wir den Nationalstolz dem internationalen Denken unterordnen. Eine Nation hat ihren Platz in der internationalen Ordnung, aber wenn sie ihre eigenen Interessen über die der menschlichen Gemeinschaft stellt, wird es gefährlich. Die Geschichte war voll von Konflikten - Persien und Griechenland, Karthago und Rom, die Christenheit und der Islam, die Achse und die alliierten Mächte. Heute haben wir gespannte Beziehungen zwischen den großen Gruppen, die von den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion geführt werden. Es ist notwendig, daß diese sich nicht in passiver, bewaffneter Koexistenz lösen, sondern in tätiger, friedlicher Zusammenarbeit, um daraus eine menschliche Gesellschaft zu entwickeln, die sich auf eine Gemeinsamkeit von Idealen und Zielen gründet. Überzeugung und Zusammenarbeit sind moralische Imperative geworden.
Wenn die gegenwärtige Situation nicht im Chaos enden soll, müssen wir uns bemühen, eine weitaus bessere Welt zu bauen als die, die jemals zuvor bestand. Es liegt an uns zu wählen. Wir sollten nicht glauben, daß alles durch die rein physische Kette der Ereignisse bestimmt ist. Wenn wir die menschliche Freiheit verwerfen und glauben, daß wir vom Strudel der Ereignisse mitgerissen werden und daß dieser Strom uns in ein Chaos schwemmt, dann wird das auch geschehen, und wir werden verantwortlich dafür sein. Wenn wir auf die Torheiten, Verbrechen und Massaker der Geschichte schauen, dann finden wir, daß sie möglich waren, weil die Menschen die Stimme ihres Gewissens unterdrückten, unter dem Gesetz des Staates Schutz suchten und ihre Freiheit der Masse überantworteten. Einige Führer der Religionen und Nationen töteten die öffentliche Meinung ab und kontrollierten sie durch Massenpropaganda, bis ihre Nachfolger aufhörten, sich für ihre Handlungen verantwortlich zu fühlen. Sie wurden Bündel von Vorurteilen und Feindschaften, engherzigen Treuegefühlen und geistiger Verwirrung. Dieses unnatürliche Abschütteln, menschlicher Verantwortung findet sich sehr klar in dem Epigramm: »Es war nicht Adams Schuld; es war nicht Evas Schuld; es war nicht die Schuld der Schlange; schuld war der Apfel«.
Wieder einmal, wie so oft in der Geschichte, zeigen sich in Zeiten großer Gefahr Möglichkeiten eines Auswegs. Vielleicht langsam, Schritt für Schritt, unmerklich, ungeachtet alles dessen, was die geistige Wiedergeburt der Menschen dafür aufwendet. Denkende Menschen leiden unter der Unordnung, sie leiden unter einer schweren Last von Schuld. Sie fühlen sich zutiefst gedemütigt. Sie beginnen an sich selbst und ihrem Wert zu zweifeln. Ihr Vertrauen ist erschüttert, wenn sie sich darüber klar werden, daß wir, menschliche Wesen, die Anspruch darauf erheben, zivilisiert zu sein, im letzten Krieg unfaßbare Grausamkeiten begingen und dies sogar jetzt noch in manchen Teilen der Welt tun. Sie fühlen, daß ihre Hoffnungen zerstoben sind und ihr Selbstvertrauen erschüttert ist. Sie sind darüber besorgt, daß unsere Führer wieder den Kopf verlieren könnten und uns durch Mißbrauch von Atomkraft vernichten. Sie sind zornig über den offensichtlichen Zynismus, die Heuchelei und Ziellosigkeit einer Generation, zu der sie keine Sympathie haben. Sie protestieren gegen die Gemeinheit und Niedrigkeit des Lebens. Dennoch leben sie in Hoffnung. Es ist eine grundlegende menschliche Forderung, mit den Dingen, so wie sie sind, unzufrieden zu sein, nach etwas Besserem zu verlangen als dem, was ist.
Ihre großen Denker verstehen die gegenwärtige Situation, die geistige Gefahr der menschlichen Persönlichkeit, die ein Zahn in der sozialen Maschine wird und damit ihre Substanz, ihre Freiheit, ihre Eigenart verliert. Sie versuchen, die Freiheit und die Eigenart zu erhalten. Es gibt eine geheimnisvolle Schicht in unserem Ich, die nicht von äußerlichen Prozessen berührt wird, ein Element, das uns befähigt, Qualen auszuhalten und Druck zu widerstehen. Der Mensch ist kein Automat, der mit vorherzusagenden Antworten auf äußere Reizeinwirkungen reagiert. Er hat eine Dimension der Tiefe. Er lebt auf der Oberfläche, wenn er sich mit Äußerlichkeiten begnügt. Aber es gibt eine reinere Freude, die in der innersten Tiefe seines Wesens thront und die ihm in all seiner Majestät bewußt wird, wenn er auf seine eigennützigen Begierden und seinen äußerlichen Besitz verzichtet - eine Freude, die nicht einmal der Tod stören kann.
Wir machen heute Geschichte. Durch die Wahl, die wir treffen, können wir den Strom der Ereignisse verändern. Wir können dies nur tun, wenn wir das individuelle Gewissen bewahren. Wir müssen den Nationenstaat der Aura des Absoluten entkleiden und das individuelle Gewissen wieder auf seinen zentralen Platz setzen. Wir müssen aufhören, Menschen anderer Nationen als Fremde oder Feinde anzusehen, sondern müssen sie wie menschliche Wesen unserer eigenen Art behandeln. Wir müssen uns an der Rückkehr zu den Prinzipien individueller Freiheit und der Weltfreundschaft begeistern.
Dies ist keine Zeit für Zorn, sondern für Demut, für Sorge, für Anstrengungen, für Erneuerung des Geistes.
Was uns hilft, Herren unserer selbst zu werden, ist die Religion, doch sie ist leider auf einem Tiefstand angelangt. Ihre Erfolge liegen auf der Hand, aber die Massen der Menschen in vielen Ländern sind ihrem wirklichen Geist entfremdet. Man muß scharf unterscheiden zwischen philosophischem Verstehen und Befreiung von der Tyrannei der Begierden. Ein orthodoxer Christ wurde gefragt, was nach seiner Ansicht mit ihm geschehen würde, wenn er stürbe, und er antwortete: »Ich glaube, ich werde in einen Zustand ewiger Wonne eintreten, aber ich wünschte, Sie würden nicht über solche niederdrückenden Dinge sprechen.« Intellektuelle Wahrnehmung unterscheidet sich vom gefühlsmäßigen Begreifen. In den Tiefen seiner Natur sehnt sich der Mensch nach einem umfassenden Bewußtsein der Wirklichkeit, in der er lebt und sich bewegt. Über den Sorgen, Verwirrungen und Enttäuschungen, die den Menschen belagern, strahlt in der Welt die geistige Macht, die, wie in allen Dingen der Schöpfung, in der Seele des Menschen wohnt. Diese geistige Macht beleuchtet seinen Weg zum wahren Leben. Das Ziel aller Glaubensbekenntnisse liegt darin, im einzelnen Menschen das Bewußtsein für das Königreich des Lichts in sich selbst zu wecken.
Das Licht zu sehen, im Geiste wiedergeboren zu werden, ist die hohe Mission, zu der wir alle berufen sind. Wenn Religion als innerer Wandel und Selbstreinigung verstanden wird, werden ihre Triumphe entscheidend sein. Sie wird mit neuer Kraft strahlen, und eine neue Macht wird von ihr ausgehen. Wenn wir unter Religion, persönliche Begegnung mit dem Höchsten verstehen, dann werden wir auch demütig sein in der Beschreibung der Natur des Wirklichen. Im Geist der Upanischaden und Buddhas sagt Goethe: »Gott wird ihnen, besonders den Geistlichen, die ihn täglich im Mund führen, zu einer Phrase, zu einem bloßen Namen, wobei sie sich auch gar nichts denken. Wären sie aber durchdrungen von seiner Größe, sie würden verstummen und ihn vor Verehrung nicht nennen mögen.« Jede Religion hat ihre Priester, Philosophen und Propheten. Sie lebt durch ihre Begnadeten, die Heiligen, die Seher und Propheten. William Penn sagt uns: »Die demütigen, sanftmütigen, dankbaren, gerechten, frommen und ergebenen Seelen sind überall von der gleichen Religion. Wenn der Tod die Maske abgenommen hat, dann werden sie einander kennen, trotz der verschiedenen Gewänder, die sie hier tragen und die sie hier voneinander unterscheiden.«
Professor Benz hat das Zusammentreffen der Religionen im Laufe der Geschichte aufgezeigt. Der Westen ist sich seit langem der drei großen Religionen Judaismus, Christentum und Islam bewußt. Im 19. Jahrhundert wuchs die Kenntnis vom Hinduismus, Buddhismus und anderen asiatischen Religionen dank der Werke vieler europäischer Gelehrter, und dies beeinflußte das religiöse Denken des Westens. Er bezog sich auf Schopenhauers Führerrolle auf diesem Gebiet. Heute wirken christliche und nichtchristliche Religionen wie nie zuvor gegenseitig aufeinander ein. Lassen Sie mich klar sagen, daß ich nicht von der Notwendigkeit eines Weltglaubens überzeugt bin, einer Auslese, die die wertvollen Elemente aller Religionen vereint. Jeder Versuch, eine Religion zu schaffen, die doch nicht eine Religion im besonderen ist, muß ebenso unhaltbar sein wie der Versuch zu sprechen, ohne eine bestimmte Sprache zu reden. Wir anerkennen die verschiedenen Religionen, aber erkennen die Einheit, die ihnen zugrunde liegt. Wir wollen nicht die Vielfalt verflachen oder Gleichförmigkeit auferlegen. Verschiedenheit sollte nicht Teilung bedeuten, ebenso wie Vielfalt nicht Zwietracht bedeutet. Jede Religion wird es lernen, unter Aufrechterhaltung ihrer Individualität, die Werte der anderen anzuerkennen. Wir glauben nicht an irgendwelche begünstigten Rassen oder auserwählte Menschen oder ausschließliche Wahrheiten. Unsere Seher boten allen Glaubensbekenntnissen Gastfreundschaft und verkündeten, daß »er allein sieht, der alle Lebewesen in sich selbst sieht«. Die verschiedenen Glaubensbekenntnisse sind wie die verschiedenen Finger der liebenden Hand des Höchsten. Sie wenden sich an alle und bieten Vollkommenheit des Seins für alle.
Im nächsten Monat wird der Weltkirchenrat seine dritte Versammlung in Neu-Delhi abhalten. Die Mitglieder der verschiedenen nicht-römischen christlichen Bekenntnisse bemühen sich um Verständnis untereinander und Zusammenarbeit miteinander. Der Besuch Dr. Fishers, noch in seiner Eigenschaft als Erzbischof von Canterbury, beim Vatikan ist ein bedeutsames Zeichen der Zeit, ein Ausdruck der Sehnsucht nach Einheit. Die gleiche Annäherung kann auch zu den nicht-christlichen Religionen gefunden werden. Darf ich noch einmal William Penn zitieren: »Es wäre besser, zu gar keiner Kirche zu gehören, als irgendeine zu hassen.« Wir werden durch eine lebendige Verbindung des Geistes und des Herzens, durch einen gemeinsamen Sinn für das letzte Geheimnis der Gottheit eine geistige Haltung entwickeln, ein intellektuelles Maß, das Rassenstolz und religiöse Anmaßung entmutigen. Es ist unsere Hoffnung, daß Religionen nicht nur passive Ko-Existenz entwickeln, sondern aktive Zusammenarbeit, und zwar nicht durch Gewalt oder Kompromiß, sondern durch Selbstkritik und Selbsteroberung.
Ein alter Upanischad-Text sagt: »Er, der der Eine ist, der keine Unterschiede der Rasse kennt, der über den angeborenen Bedürfnissen der Menschen aller Farben steht, der alle Dinge vom Anfang bis zum Ende zusammenfaßt - möge er uns miteinander vereinen in der Weisheit, die das Gute schafft.«
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Der Nachdruck und jede andere Art der Vervielfältigung als Ganzes oder in Teilen, die urheberrechtlich nicht gestattet ist, werden verfolgt. Anfragen zur Nutzung der Reden oder von Ausschnitten daraus richten Sie bitte an: m.schult@boev.de
Sarvepalli Radhakrishnan
Dankesrede des Preisträgers
Chronik des Jahres 1961
+ + + Zu Beginn des Jahres 1961 kommt es zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Kuba und den USA. Im April scheitert eine vom CIA geplante Invasion von Exilkubanern in der Schweinebucht auf Kuba. Kuba reagiert mit einer stärkeren Anlehnung an die Sowjetunion. + + + Die Ersten Sekretäre der kommunistischen Parteien und Arbeiterparteien der Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes geben im August ihre unveröffentlichte Zustimmung zur Abriegelung der Fluchtwege nach West-Berlin, da allein bis zum September 1961 195 828 Menschen die DDR verlassen haben. + + +
+ + + Am 13. August beginnt die DDR unter dem Vorwand, sie müsse sich gegen die westlichen Aggressionen schützen, eine Mauer zu errichten. Am 16. August wird für alle Bewohner der DDR und Ost-Berlins die Grenze zur Bundesrepublik gesperrt. Drei Wochen später wird Ost-Berlin zur Hauptstadt der DDR erklärt. + + + Die neue Bundesregierung wird im November aus der Regierungskoalition von CDU, CSU und FDP gebildet. Erstmals in der Bundesrepublik übernimmt eine Frau einen Ministerposten: Elisabeth Schwarzhaupt wird Bundesministerin für Gesundheit. + + + Der sowjetische Kosmonaut Juri Gagarin startet am 12. April als erster Mensch ins Weltall. Drei Wochen später fliegt der US-Amerikaner Alan B. Shepard in den Weltraum. + + + Der im April begonnene Prozess gegen den ehemaligen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, den Organisator des Völkermords an den europäischen Juden, endet im Dezember in Jerusalem mit einem Todesurteil. + + +
Biographie Sarvepalli Radhakrishnan
Sarvepalli Radhakrishnan wird am 5. September 1888 in Tiruttani, Südindien, geboren. Er studiert Philosophie und promoviert an einem College in seiner Heimatstadt. Später lehrt er als Professor für Östliche Religionen und Ethik in Madras (Chennai), Mysore, Kalkutta (Kolkata) und Oxford.
Zwischen 1931 und 1939 ist Radhakrishnan eines der führenden Mitglieder des vom Völkerbund geförderten Internationalen Ausschusses für wissenschaftliche Zusammenarbeit. Von 1947 bis 1950 übernimmt er die Leitung der indischen Delegation bei der UNESCO, zu deren Präsident er später zweimal – 1952 und 1958 – gewählt wird.
1949 geht er als Botschafter seines Landes nach Moskau, drei Jahre später wird der enge Freund Mahatma Gandhis Vizepräsident Indiens. Sein Ziel ist es, Brücken zwischen dem Spiritualismus des Ostens und dem Rationalismus des Westens zu bauen. 1962, ein Jahr nach der Verleihung des Friedenspreises, wird er zum Präsidenten der Indischen Republik gewählt, ein Amt, das er bis 1967 innehat.
Sarvepalli Radhakrishnan stirbt am 16. April 1975 im Alter von 86 Jahren.
Auszeichnungen
1961 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
1959 Goetheplakette der Stadt Frankfurt am Main
1954 Orden Pour le mérite für Wissenschaften und Künste
1954 erster Empfänger des Bharat Ratnas, des höchsten zivilen Verdienstordens Indiens
1931 Ritterschlag (Sir Sarvepalli Radhakrishnan)