Der Stiftungsrat für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wählt die Journalistin und langjährige Herausgeberin der Hamburger Wochenzeitung »Die Zeit«, Marion Gräfin Dönhoff zur Trägerin des Friedenspreises 1971. Die Verleihung findet während der Frankfurter Buchmesse am Sonntag, 17. Oktober 1971, in der Paulskirche zu Frankfurt am Main statt. Die Laudatio hält der spätere Friedenspreisträger Alfred Grosser.
Begründung der Jury
Der Börsenverein verleiht den Friedenspreis 1971Marion Gräfin Dönhoff.
Als Publizistin ist Gräfin Dönhoff für eine Politik der Versöhnung eingetreten, für eine Verständigung zwischen allen Nationen in West und Ost. Kritik und Beitrag zur politischen Wirklichkeit nach dem Grundsatz der Demokratie bestimmen ihre Lebensarbeit für die Idee eines Zusammenlebens der Völker ohne Gewalt.
Reden
Da es aber keine evolutionäre Veränderung geben wird, die dem Frieden dient, wenn sie nicht von den Menschen selbst, von der Gesellschaft, getragen und anerkannt wird, hat das aufklärende, durchsichtig machende Wort des Publizisten heute mehr denn je seinen unbestreitbaren Rang unter denen, die bestrebt sind, diese Erde auf eine Weise zu organisieren, daß unausweichliche Konflikte wenigstens kanalisiert und die Voraussetzungen für einen friedlicheren Zustand geschaffen werden.
Werner E. Stichnote - Grußwort
Werner E. Stichnote
Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels
Grußwort
Zum 22. Mal vergeben wir heute, hier, in der traditionsreichen Paulskirche, den Friedenspreis des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Er wurde in diesem Jahr einer Publizistin zugesprochen, der Chefredakteurin der ZEIT, Marion Gräfin Dönhoff.
Damit richtet sich unsere Aufmerksamkeit zwangsläufig auf die hohe und zweifellos weiter zunehmende Bedeutung, die dem Informationsstand der Allgemeinheit zukommt, insbesondere auch, wenn wir Überlegungen darüber anstellen, wie der Frieden gesichert und bewahrt und wie er wiederhergestellt werden kann, wo er durch kriegerische Konflikte außer Kraft gesetzt wurde. Der Ausspruch, das Wort werde sich am Ende stärker erweisen als das Schwert, stammt von Swift. Darüber mag man, blickt man auf die Geschichte, geteilter Meinung sein; besonders wenn man die unbestreitbaren Wechselwirkungen zwischen Wort und Schwert nicht aus dem Blickfeld verliert. Dennoch scheint mir, daß wir an einem Punkt unserer Entwicklung angelangt sind, an dem sich die herausfordernde Hoffnung Swifts in eine pure Notwendigkeit zu wandeln im Begriffe ist.
Um es etwas konkreter auszudrücken: der Tatbestand des atomaren »Gleichgewichts des Schreckens«, von dem Churchill sprach und den andere inzwischen das »Gleichgewicht der Vernunft« genannt haben, hat seine Wirksamkeit bisher zwar im Hinblick auf eine direkte militärische Konfrontation der beiden Hegemonialmächte bewiesen, denen bald andere an die Seite treten werden. Aber schon an den Randgebieten ihrer Interessensphären hat dieses Gleichgewicht bewaffnete Konflikte und zwischenstaatliche Kriege nicht verhindern können - mitunter im Interesse seines eigenen Fortbestandes. Indessen hat es den Anschein, als sollte dieses »Gleichgewicht des Schreckens« an unmittelbarer Überzeugungskraft einbüßen. Und dies nicht etwa nur im Hinblick auf die Absurdität des gegenseitigen Overkill-Potentials. Vielmehr auch deswegen, weil die explodierende Wissenschaft inzwischen ganz andere Fragen aufgeworfen hat und - das möge man nicht als eine Arabeske ansehen - weil sich damit auch andere Denk-Kategorien in den Vordergrund, vor die des Militärischen, geschoben haben: eben die der Wissenschaft und der Technik.
Nun ließe sich einwenden, noch immer seien Wissenschaft und Technik zuallererst in den Dienst des Militärischen gestellt worden; mit der Raumfahrt oder der Kybernetik verhalte es sich in dieser Beziehung nicht anders als mit dem Dynamit, von dessen zerstörerischer Kraft Alfred Nobel das Ende aller Kriege erhoffte. Das ist sicher auf den ersten Blick richtig. Auf den zweiten dürfen wir zweifeln. Wir wissen, vor welche grenzüberschreitenden Probleme uns die angewandte Wissenschaft und ihre Folgen gestellt haben: Die Ökologie als ein Stichwort für die auf uns wartenden Aufgaben mag hier für unzählige andere stehen.
Kein Land kann sich an den lebensbedrohenden Problemen vorbeimogeln mit denen unsere Zivilisation zu tun hat und an denen sie ersticken könnte. Der Totschlag, der am Beginn der Menschheit stand, und seine Fortsetzung, der landgewinnende Krieg, sind einfach keine adäquaten Mittel mehr. Jedes Eigeninteresse eines Staates ist mit dem anderer eng verknüpft. Die explosiven Wachstumsraten in Wissenschaft und Forschung sind nicht mehr aus dem Gesamtgefüge der menschlichen Gesellschaft herauszulösen, zu isolieren. Sie sind zum primären Politikum geworden, das ein »Gleichgewicht der Vernunft« anderer als militärischer Art erzwingt.
Ich bin kein Politiker. Aber ich kann mir vorstellen, daß die noch zaghaften, doch immerhin erkennbaren Anstrengungen, einen Ausgleich zwischen Ost und West herbeizuführen, den ich als eine Voraussetzung ansehe zum nicht minder dringlichen Nord-Süd-Ausgleich, nicht zuletzt auf solchen Einsichten beruhen. Wenn es aber so ist, dann hätte in der Tat das Wort sich stärker erwiesen als das Schwert, denn jede Wissenschaft ist auch Wort. Sie hat die Welt in einen Zustand versetzt, in dem es entscheidend darauf ankommt, ob allgemein begriffen wird, an welchen Abgründen sie sich entlang bewegt, auch bei Abwesenheit eines großen Krieges. Da es aber keine evolutionäre Veränderung geben wird, die dem Frieden dient, wenn sie nicht von den Menschen selbst, von der Gesellschaft, getragen und anerkannt wird, hat das aufklärende, durchsichtig machende Wort des Publizisten heute mehr denn je seinen unbestreitbaren Rang unter denen, die bestrebt sind, diese Erde auf eine Weise zu organisieren, daß unausweichliche Konflikte wenigstens kanalisiert und die Voraussetzungen für einen friedlicheren Zustand geschaffen werden.
Ist es Zufall oder Fügung: Der Name Dönhoff wird hier in der Paulskirche nicht das erste Mal genannt. August Heinrich Dönhoff, der Großvater unserer Preisträgerin, war ab 1884 für mehrere Jahre preußischer Gesandter beim damaligen Deutschen Bundestag zu Frankfurt am Main. Und er war es, der seinem Vater im Zusammenhang mit dem Vorschlag, die preußischen Landtagsberichte künftig der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, schrieb: »Die Publizität hat ihre Nachteile, sie ist aber das einzige Mittel zur politischen Erziehung der Nation.«
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Werner E. Stichnote
Grußwort des Vorstehers
Und doch glaube ich, daß ein Wirken wie das Ihre vorbildlich ist, weil Sie, durch Ihre Persönlichkeit wie in Ihren Schriften, zeigen, was heute allzu oft vergessen wird, nämlich, daß man die Ordnung der Welt nicht zum Guten verändern kann, ohne sich selbst verändern zu müssen. Das Überwinden ist nur fruchtbar, wenn es mit Selbstüberwindung verbunden ist.
Alfred Grosser - Laudatio auf Marion Gräfin Dönhoff
Alfred Grosser
Auf die Friedenspreisträgerin 1971
Laudatio auf Marion Gräfin Dönhoff
Liebe, verehrte Freundin,
natürlich freut und ehrt es mich, hier stehen zu dürfen und Sie als Preisgekrönte zu feiern. Aber warum hat man gerade mich dazu aufgefordert?
In der Begründung des Stiftungsrats für den Friedenspreis heißt es: »Als Journalistin und als Buchautorin ist Gräfin Dönhoff seit Bestehen der Bundesrepublik für eine Politik der Aussöhnung eingetreten.«
Nun, ich bin nur nebenbei Journalist, und ich bin Franzose, d.h. Bürger gerade eines Staates, dessen Politik Sie und Ihre Zeitung nicht immer am gerechtesten und am verständnisvollsten beurteilt haben. Nein, meine Anwesenheit auf diesem Podium ist nur gerechtfertigt, wenn man aus der Begründung das Unausgedrückte herausliest, nämlich: »Die ostpreußische Gräfin Marion Dönhoff aus Friedrichstein ist trotzdem für eine Politik der Aussöhnung eingetreten...«
Das ist etwas, was ich verstehen kann, was ich würdigen darf. Sind wir doch beide Vergangenheitsbewältiger, nicht im Sinne der allzu oft praktizierten bundesdeutschen rhetorischen Pflichtübung, sondern als Überlebende, die das Wort Rache nicht kennen, die nie das Leiden des Volkes vergessen haben, in dessen Namen mißhandelt und getötet worden ist! Getötet oder vertrieben: sind wir doch beide Vertriebene, die hartnäckig gewirkt haben, um Brücken des Verstehens und der Zusammenarbeit zu den Landsleuten der Vertreiber zu schlagen.
Für Sie war es schwerer. Sie waren 1945 erwachsen. Ich war 1933 noch ein Kind. Amalienhof, Schönau, Gr. Thierbach, Kl. Thierbach: »alle diese schönen Namen, die nun keiner mehr nennt«, um Ihr persönlichstes Buch zu zitieren, das war wirklich Ihre Heimat. Als achtjähriger Knabe hat man noch keine echte Heimat. Als ich 1947 zum erstenmal wieder nach Frankfurt kam, wurde mir völlig klar, daß es nur mein Geburtsort, nicht meine Heimatstadt war. Deswegen habe ich es auch seit Jahren als psychologisch falsch und als politisch provozierend empfunden, daß das statistische Bundesamt die Kinder der Ostvertriebenen, sogar die im Westen geborenen, als Vertriebene bezeichnete und mitrechnete.
Aber für Sie war es auch leichter. Zunächst einmal, weil der Zorn Ihrer Vertreiber leicht zu erklären war. Sie schreiben, daß 1945 die siegreichen Truppen im Osten vergeltend gekommen sind. Das Wort trifft zu. Aber nur, wenn Ihre Leser auch verstehen, daß glücklicherweise Russen und Polen nur in beschränktem Maße die Greuel »vergolten« haben, die systematisch, kaltblütig, verwaltungsmäßig in Polen und Rußland verübt worden waren. Das zornlose aber haßerfüllte Ausstoßen jüdischer Mitbürger, das industriell organisierte Morden der Gebliebenen - dafür trug kein Opfer, trägt keiner der Überlebenden eine Verantwortung, eine Haftung.
Und dann haben Sie ja nur die Heimat verloren. Sie haben richtig gehört: ich habe wirklich nur gesagt. Die Generation meines Vaters, die 1933 vertrieben wurde, hat damals ihr Vaterland verloren und auch die Möglichkeit, ihre Sprache beizubehalten. Wie merkwürdig ist es doch für den ausländischen Beobachter der deutschen Politik, daß gerade diejenigen, die am meisten vom Volk und von der Nation sprechen, am wenigsten erkennen oder zugeben, daß eine Vertreibung aus Königsberg oder Breslau nach Hamburg und sogar nach Bayern immerhin kein Ausstoßen aus der vielgerühmten Volksgemeinschaft bedeutete.
*
Die Selbstüberwindung ist Ihnen nicht leicht gefallen. Zwar war von Anfang an die Bereitwilligkeit da, die andere Seite zu verstehen, sich in der Bundesrepublik für die Verständigung einzusetzen. Aber die Wunde war so tief, daß es lange gedauert hat, bis die Vernunft das Gefühlsmäßige bewältigte und bis Sie sich zur Einsicht in die Unwiderrufbarkeit des Verlusts durchringen konnten. So schreiben Sie in der soeben erschienenen Neuausgabe der Namen, die keiner mehr nennt: »In den ersten Jahren hatte man immer noch gehofft - gegen alle Vernunft gehofft -, ein Wunder werde geschehen. Erst allmählich kam dann die Einsicht, daß unwiederbringlich verloren ist, was Adolf Hitler so leichtfertig aufs Spiel gesetzt hatte.«
Vernunft, Einsicht, Selbstüberwindung - das sind eben die Bestandteile jenes Liberalismus, zu dem wir uns beide bekennen. Das Wort ist seit einiger Zeit verlängert worden, und zwar durch einen verachtungsbeladenen Begleitausdruck, dessen Hauptklang jedoch auf Richtiges und Ehrbares hinweist. Ja, wir sind Fleißliberale! Ja, wir sind Beißliberale!
Den Andersseienden, den Andersdenkenden, den Andershandelnden verstehen zu wollen, nicht als Forschungsobjekt, sondern als Mensch und als Mitglied sozialer oder nationaler Gruppen: dazu gehört in der Tat Fleiß, denn es wird einem nichts geschenkt, es sei denn, man ist entweder ein Heiliger oder einer, der wert- und bindungslos aus einer inneren Leere heraus die Umwelt betrachtet. Immer wieder läuft man Gefahr, über seine eigene Bedingtheit nicht hinwegzukommen.
So schrieben Sie z.B., liebe Freundin, in einem Nebensatz des zur Zeit seines Erscheinens so mutigen ZEIT-Buches Reise in ein fernes Land: »Ich würde nicht gerne in einer LPG leben.« Wer ist da »ich«? Spricht da die ehemalige Herrin von Friedrichstein, die heutige Chefredakteurin einer großen Zeitung stellvertretend für die Magd, die in Ostpreußen vielleicht nur deswegen willig und freundlich war, weil sie nicht wußte, daß sie nicht seit aller Ewigkeit und für alle Ewigkeit zum Untertanentum verurteilt war, und die vielleicht das Bürokratische an den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften der Herrschaft auch des wohlwollendsten, des selbstvergessensten Junkers vorgezogen hätte? Oder stellvertretend für den heutigen Erntehelfer, dessen Wintereinkommen ungewiß ist, stellvertretend für all die, die trotz des relativen Wohlstands die Arbeitslosigkeit fürchten;
Ich weiß die Antwort nicht auf diese Fragen. Ich übe auch keine Kritik an dem reichen Sammelband, der so vielen Bürgern der Bundesrepublik zum erstenmal zeigte, wie verzerrt oder wie leer bis dahin ihre Vorstellung vom anderen Deutschland gewesen war. Ich wollte nur aufzeigen, wieviel Fleiß man aufwenden muß, um wirklich liberal zu sein.
Das trifft vor allem zu, wenn der Liberalismus angegriffen wird, wenn es um die Freiheit derer geht, die das, was wir Freiheit nennen, in Frage stellen und bekämpfen. Sie, verehrte Freundin, glauben wie ich, daß man nur dann wirklich liberal ist, wenn man alle jene Freiheiten auch denen voll gewährt, die sie spöttisch oder verächtlich als »formell« oder als »bürgerlich« abtun.
Das sei selbstmörderisch, wird da oft behauptet, um Sondermaßnahmen oder Begrenzungen zu rechtfertigen. Aber wenn wir durch Grundrechte gestaltete und geregelte Freiheiten antasten, um echte oder vermeintliche Feinde der Freiheit zu bekämpfen, sind wir dann nicht schon dabei, als Liberale Selbstmord zu begehen?
Tolerant sein und aufklären wollen heißt jedoch nicht abgeklärt sein und kraftlos. Wer mit Verbissenheit liberal ist, der beißt auch verteidigungs- und sogar angriffslustig zu, wenn es darum geht, der Drohung zu widerstehen oder den Verfolgten zu helfen. Er beißt mit den Zähnen, er kämpft mit den Waffen, die ihm zur Verfügung stehen. Und das Wort ist auch eine Waffe. Oft ist sie allerdings ohnmächtig gegen die mit Panzer, mit Geheimpolizei oder mit Geld ausgerüsteten Mächtigen. Aber es ist eben die Waffe, die der Schriftsteller und der Journalist verwenden kann, bis sie ihm aus der Hand geschlagen wird.
Die Größe des Prager Frühlings 1968 - und wohl auch sein Verhängnis - war die plötzliche Entfaltung einer neuen Presse. Und wenn man auf jene abstoßenden Tage im März 1933 zurückblickt, als Hitler sich die absolute Macht vom Reichstag mit Zweidrittelmehrheit schenken ließ, so liest man mit trauernder Bewunderung die letzten, hoffnungslosen Verteidigungsschüsse, die die Journalisten des Berliner Tageblatt und der Vossischen Zeitung zugunsten der Freiheit und - welcher Politiker wußte das im Grunde nicht? - zugunsten des Friedens aus ihren Füllfedern feuerten. Am 21., zwei Tage vor der Abstimmung, warnte die Vossische noch vor den Konsequenzen des Ermächtigungsgesetzes :
... Eine solche neue Gesetzgebung wäre weder an den Satz gebunden, daß alle Deutsche vor dem Gesetz gleich sind; noch daß die Richter unabhängig und dem Gesetz unterworfen sind (...); daß alle Bewohner des Reichs volle Glaubens- und Gewissensfreiheit genießen, daß die Kunst, die Wissenschaft und die Lehre frei sind. (...) Es sind die rechtlichen Grundlagen, auf denen sich Wirtschaft und Kultur der europäischen Welt seit anderthalb Jahrhunderten entwickelt haben. (...) Die Bedeutung des Entwurfs nicht nur für das gesamte Staatsleben, sondern auch für Leben und Gedeihen jedes einzelnen Bürgers kann daher gar nicht hoch genug veranschlagt werden ...
Ein solcher Text sollte selbst den Zweifelnden, den Verachtenden zeigen, was mit einer freiheitlichen Grundordnung gemeint ist und was deren Preisgabe bedeutet. Er erklärt auch die Einstellung und das Verdienst der Wochenzeitung, die nach der Katastrophe die Tradition des Tageblatts und der Vossischen wieder aufgegriffen hat und der Sie nun seit einem Vierteljahrhundert, beinahe seit Beginn an leitender Stelle, dienen.
*
Der Preis ist Ihnen verliehen worden und nicht der ZEIT. Aber was ist ein Journalist ohne das Presseorgan, für das er schreibt? Was ist ein Chefredakteur ohne die Redakteure, die ihn umgeben? Sie, liebe Freundin, sind mitverantwortlich für die guten und für die weniger guten Eigenschaften und auch für das Gute und das weniger Gute am »Image« (wie man im heutigen Deutsch sagt) Ihrer Zeitung.
Damit ich nicht in die Versuchung und in den Verdacht komme, ein Gelegenheitsloblied zu singen, möchte ich schlicht und unbescheiden wiedergeben, was ich nach dem Prinzip, diejenigen, denen ich nahe stehe, besonders kritisch zu betrachten, in meiner Deutschlandbilanz geschrieben habe:
Die ZEIT ist die beste europäische Wochenzeitung traditionellen Typs. (...) Sie spielt eine politische Rolle sowohl durch ihre Information wie durch ihre Stellungnahmen. Sie ist gemäßigt links angesiedelt und gegen sie werden mitunter dieselben Vorwürfe erhoben wie gegen Le Monde (übrigens meine Zeitung!) in Frankreich: daß sie ein wenig zu selbstbewußt und von ihrem Wert überzeugt sei, daß sie Menschen und Machtgruppen zu sehr von oben herab beurteile und daß ihr Bestreben, die intellektuelle Avantgarde zu begreifen, ein wenig mit Gefallsucht verquickt sei. Den protestierenden Studenten hat Die ZEIT zuerst viel Sympathie entgegengebracht, aber dann hat sie die ständige Gewaltanwendung verurteilt und wurde selbst von der Gegenseite als Teil des Establishments angeprangert.
Teil des Establishments? Natürlich stimmt das! An sich ist es keine Sünde. Sobald man sich anhaltend Gehör verschafft hat und gewissermaßen zur Institution geworden ist, wird man Teil des »Establishment«. Bedenklich wird es, wenn man, weil man etabliert ist, andere daran hindert, ihre Stimme dauerhaft, d. h. auch in der Form einer Zeitung, ertönen zu lassen.
Leider ist das notwendigerweise der Fall. Nicht aus Absicht. Noch nicht einmal durch direkte Schuld. Aber deshalb, weil die Pressefreiheit in der Bundesrepublik wie in Frankreich zugleich gegeben und begrenzt ist, zugleich echt und wirklich nur »formell«.
Stellen wir uns nur einmal die Frage, ob es heute möglich wäre, eine neue ZEIT, einen neuen Le Monde zu gründen. Die Antwort ist ein glattes Nein. Nicht (oder nicht nur) weil der Platz besetzt ist, d.h. weil das Publikum, das als echt erwachsen angesprochen werden will, leider nicht gerade unbegrenzt ist. Sondern weil keine junge, neue Kraft außerhalb der »Etablierten« das notwendige Geld finden würde, um den Druck und den Vertrieb zu bezahlen, um monate-, ja vielleicht jahrelang mit Verlust zu leben, bis Leser und Anzeiger erobert sind. Das Glück im Unglück, nämlich die Möglichkeit, 1945 von einem Nullpunkt aus neu zu starten, das ist in Deutschland und in Frankreich einmalig dagewesen und wird in absehbarer Zeit nicht wiederkommen.
Man blicke nur auf den Pressemarkt in der Bundesrepublik. Ich spreche noch nicht einmal von den Finanzgewaltigen und auch nicht von dem andauernden Kauf und Verkauf von Pressebetrieben, die ganzen Redaktionen über Nacht einen anderen Arbeitgeber aufzwingen. Ich spreche von den mit Recht angesehenen Wochenzeitungen. Mit einer Ausnahme sind sie alle in den ersten Nachkriegsjahren entstanden. Und die Ausnahme war nur möglich, weil die katholischen Bischöfe finanzielle Hilfe leisteten und - Wunder der Wunder! - sie trotz der Freimütigkeit der Redaktion weiter gewährten, jedenfalls bis heute.
Wie enorm ist da die Verantwortung der bestehenden Blätter (wäre ich pessimistisch veranlagt, so würde ich sagen: der Überlebenden), die politische Information, die politische Aufklärung als Dienst und Berufung zu betrachten! Neue, jüngere Redakteure zu Wort kommen zu lassen, die anders analysieren und anders urteilen. Sprachrohr sein für die Schwachen, die meist auch die Stimmschwachen sind. Einsehen, welches Privileg man genießt, sich frei ausdrücken und die Waffe des Worts benutzen zu dürfen ...
In dem Ihrer Person und Ihrem Wirken gewidmeten Anhang des Sammelwerks Das 198. Jahrzehnt. Eine Team-Prognose für 1970 bis 1980, das anläßlich Ihres sechzigsten Geburtstags im vorletzten Jahr veröffentlicht wurde, erzählt Gerd Bucerius, daß Sie Journalistin werden wollten, um die Welt zu ändern, und er schreibt: »Marion Dönhoff hat ihren Teil zur Weltveränderung beigetragen.«
Diese Feststellung ist voll berechtigt, wenn man weiß (oder zu wissen glaubt), daß Kennen und Verstehen versöhnend, friedenstiftend wirken - oder wenigstens den politischen Kampf um Wirklichkeiten, nicht um Mythen gehen läßt. Ich denke hier besonders an Ihre so aufgeschlossenen und aufschlußreichen »Berichte aus 4 Erdteilen«, die Sie im Band Welt in Bewegung gesammelt haben, der mit folgender, nüchterner Bemerkung beginnt:
Eigentlich sollte man meinen, daß im Zeitalter des Reisens die Völker einander näherkämen. Das Gegenteil ist der Fall. (...) (Die Voraussetzung ist), daß man die heimische Elle zu Hause läßt und die fremden Welten mit ihrem eigenen Maß mißt.
Hier sind wir wieder bei der liberalen, der toleranten, verständnisvollen Grundeinstellung. Um aber weltverändernd zu wirken, d. h. um auf den Leser einzuwirken, dem man die fremden Welten darstellt, muß man jedoch auch Intoleranz zeigen. Anders ausgedrückt: wenn man durch geistigen Einfluß die gesellschaftliche und politische Entwicklung beeinflussen will, und sei es nur durch ein Auflockern der Vorurteile, so muß man sich doppelt verantwortlich fühlen. Das gilt für den Journalisten, den Fernsehproduzenten, den Lehrer, den Familienvater.
Verantwortlich nämlich vor der Freiheit des Lesers, des Zuhörers und Zuschauers, des Schülers, der Kinder, wie sie heute ist: der Einfluß soll nicht Gewalt ausüben, soll, um Jargon zu sprechen, nicht manipulieren, soll auf Gegenseitigkeit beruhen. Zugleich auch verantwortlich vor der erweiterten, wissenderen Freiheit, die wir dem Beeinflußten wünschen.
Nur zu bieten, nur zu sagen, was gefragt, was erwünscht wird: so erreicht man zwar Massenauflagen und Massenaudienzen, aber man verzichtet darauf, ein wenig ein Weltverbesserer zu sein. Sich nach dem zu richten, was man für den Beeinflußten nützlich glaubt: wie rasch ist die Bevormundung da oder die Versuchung, die jetzige Freiheit überhaupt nicht mehr als solche zu betrachten, d.h. denen zuzustimmen, welche die liberale Demokratie als Farce verhöhnen! Mit dieser Spannung, in dieser Spannung muß man halt leben, wenn man freiheitlich Einfluß ausüben will. Und wenn man die Chance hat, es als Einzelperson zu können. In seinem Beitrag »Eine unabhängige Publizistin oder: Macht und Ohnmacht der Informationsmedien« zu dem erwähnten Band Das 198. Jahrzehnt schrieb Klaus von Bismarck:
Die Frage drängt sich auf - im Hinblick auf die Zukunft -, welche Chancen ein Einzelner, der keine politische oder finanzielle Hausmacht hinter sich hat, bei zunehmender Konzentrierung der großen publizistischen Machtgruppen nutzen kann, um mit seiner Stimme durchzudringen. Daß wir auch in Zukunft auf diese einzelnen richtungweisenden Stimmen nicht verzichten können, scheint mir evident. Je mehr die Apparate funktionalisiert, je mehr wichtige Positionen in der Publizistik als politische Machtpositionen kalkuliert werden und dadurch Macht ausgeübt wird, um sie im Interesse von mächtigen Gruppen zu besetzen, desto lebensnotwendiger sind unabhängige Naturen, die sich nicht in den Sog des gerade Gängigen ziehen lassen.
Lebensnotwendig? Gewiß. Aber unter zwei Voraussetzungen. Zunächst muß man an den politisch heilenden Effekt der Wahrheit glauben und Le Monde, Die ZEIT oder die New York Times nicht als »zersetzend«, als »das eigene Nest beschmutzend« betrachten, wenn sie über den Algerienkrieg, über Vietnam oder über die Gesellschaft in beiden deutschen Staaten nüchtern aber eindringlich berichten. Und vor allem muß man sich darüber klar sein, daß etwas anderes genauso lebensnotwendig ist wie die freie Stimme des Einzelnen, nämlich gerade das Gegenteil des Gruppenlosen, des trotz »Engagement« immerhin abseits Stehenden.
*
Seien wir doch bescheiden: wir unabhängigen Weltveränderer durch Schrift und Erziehung, wir verändern die Welt recht wenig. Wir tragen zum Schutz von Freiheiten bei. Wir helfen, Befreiungen durchzusetzen. Aber die echten Beschützer, die echten Befreier sind nicht Einzelne, sondern Gruppen, denen es im allgemeinen mit voller Berechtigung um ihr eigenes Schicksal geht.
Ich glaube, daß Die ZEIT mehr bietet als das DGB-Organ Welt der Arbeit. Aber hundert Leitartikel, seien sie noch so einleuchtend und schonungslos, haben für die Mitbestimmung weniger getan als eine Streikdrohung des DGB im Februar 1951. Wenn es im XIX. Jahrhundert nur mutige und geistreiche liberale Journalisten gegeben hätte und nicht eine organisierte Arbeiterbewegung - in Deutschland wie in Frankreich und in England - wieviel schlimmer, wieviel schlimmer noch, würde es heute in unserer sogenannten Konsum-Gesellschaft aussehen? Und warum werden in unseren Ländern die Millionen alter Leute weiterhin vernachlässigt, trotz aller Zeitungsartikel? Weil die zahlenstarke Gesellschaftsgruppe der Sechzig-, Siebzig- und Achtzigjährigen keine selbstbewußte, kampflustige Organisation gezeitigt hat.
Bei der Schilderung der Lebensweise Ihrer Vorfahren haben Sie folgendes geschrieben:
Ehe der Begriff der Nation erfunden wurde und ehe das Gift der Ideologie in alle menschlichen und zwischenstaatlichen Beziehungen einsickerte, war es keineswegs ungewöhnlich, Dienste in anderen Ländern zu nehmen. (...) Die Möglichkeit, sich seinen Herren auch außerhalb der Grenzen des eigenen Geburtslandes zu suchen, verhinderte die Ausbreitung nationaler Vorurteile und die Verengung des politischen Horizontes, die beide in späteren Zeiten so verhängnisvoll werden sollten.
Wie könnte ich diese Feststellung nicht gutheißen? Aber zugleich muß betont werden, daß nur allzuoft Nationen als solche unterdrückt wurden und werden und sich deshalb nur als Nationen die Freiheit erringen können. Und auch, daß die Verachteten, die Getretenen mitunter erst dann Gehör finden, wenn sie sich zusammen als Nation betrachten. Die Algerier hatten es lange versucht, als Einzelpersonen von Frankreich in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit behandelt zu werden. Erst die Berufung auf die Nation hat die Untertanen in Gleichberechtigte verwandelt.
Mehr noch: der Einzelne ist versucht, das Leid der anderen mit Geduld zu tragen. In Ihrem 1960 durchgeführten Interview des südafrikanischen Ministerpräsidenten zeigen Sie Ihre tiefe Abneigung gegen die Einstellung der Weißen, die den Schwarzen erst nach einer jahrhundertlangen zukünftigen Entwicklung Freiheit und Gleichberechtigung schenken wollen. Aber laufen wir nicht ständig Gefahr, ein wenig so zu denken wie Mr. Verwoerd? Dem schlecht ausgebildeten Lehrling, der vergeblich eine menschenwürdige Arbeit sucht, rufen wir zu: »Sieh mal, wieviel besser du es hast als die Jungarbeiter voriger Jahrzehnte. Und wir sind dabei, viel für dich oder wenigstens für deine Nachfolger zu tun.« Kann man ihm dann wirklich vorwerfen, daß er die Geduld verliert, d. h. entweder verzweifelt und zum Betäubungsmittel greift oder Mitglied einer Gruppe wird, die von Revolution spricht und nicht von langsamer Entwicklung?
Nein, ich befinde mich nicht im vollen Widerspruch zu dem vorhin Gesagten. Der Widerspruch liegt in der Doppelnatur des Friedens.
*
Friede ist Verständnis, Versöhnung, Ausgleich. Da sind wir in unserem Element, wir die Aufklärer, die Brückenschläger. Aber der Friede ist auch das zu Erkämpfende, das, was erst nach einem Sieg erreicht werden kann.
Unter den Völkern und innerhalb jeder staatlichen Gesellschaft gibt es nur allzu viele Privilegierte, die Frieden mit Ruhe verwechseln und die Benachteiligten eben als »Störenfriede« empfinden, sobald diese das Bestehende verändern wollen. Friede als Ruhe: das kann es eigentlich nur auf dem Friedhof geben.
Denn der Friede in der Welt ist kein Zustand, sondern eine Forderung, die manchmal durch Erklären und Überzeugen der Erfüllung nähergebracht wird und manchmal durch Druck und Kampf.
Unser Liberalismus, unsere Toleranz sind nur vollkommen, wenn wir sie bis zur schwierigsten Einsicht treiben: der Friede wird zwar nur erreicht sein, wenn alle Menschen liberal und tolerant sind, aber solange das nicht der Fall ist, ist es gut, ist es notwendig, daß der Friede als Forderung nicht nur von Toleranten vorangetrieben wird.
Und doch glaube ich, daß ein Wirken wie das Ihre vorbildlich ist, weil Sie, durch Ihre Persönlichkeit wie in Ihren Schriften, zeigen, was heute allzu oft vergessen wird, nämlich, daß man die Ordnung der Welt nicht zum Guten verändern kann, ohne sich selbst verändern zu müssen. Das Überwinden ist nur fruchtbar, wenn es mit Selbstüberwindung verbunden ist.
Der Friede in mir ist eng mit dem Frieden in der Welt verbunden. Auch er ist Forderung. Es ist schwer, ihr zu folgen, weil sie zugleich Zufriedenheit und Nichtzufriedensein verlangt. Zufriedensein: ein Element des Friedens. Sich nicht zufriedengeben: unabdingbare Voraussetzung für die Schaffung des Friedens.
Wenn man Ihre Schriften liest, wenn man Sie kennt, da weiß man, wie gut Sie beides verbunden haben. Sie fordern von sich ebensoviel wie von der Umwelt. Sie finden Ihren Frieden in der Sisyphos-Arbeit, auf die Umwelt einzuwirken. Sie widerstehen der deutschen, der christlich-pietistischen, der schönen Versuchung, die einmal bei der Erzählung einer Ihrer Ritte durch Masuren zum Ausdruck gekommen ist:
Solche Bilder: das Fallen der Blätter, die blaue Ferne, der Glanz der herbstlichen Sonne über den abgeernteten Feldern, das ist vielleicht das eigentliche Leben. Solche Bilder schaffen mehr Wirklichkeit als alles Tun und Handeln - nicht das Geschehene, das Geschaute formt und verwandelt uns.
Zum Schauen bestellt? Das stand schon am Ende des Zweiten Faust. Ja, zum inneren Frieden, zur Gelassenheit und zur Freude, die nötig sind, um tatkräftig zu sein, gehören sowohl der beglückte Blick auf die weißen Segel, die in der Hamburger Abendsonne die blaue Alster mit dem blauen Himmel verbinden, wie auch der Blick nach innen, bei dem die Zeit stillsteht und die Umwelt verschwindet.
Aber der Augenblick, dem Faust sagen möchte »Verweile doch, du bist so schön!« wäre doch der, wo er auf freiem Grund mit freiem Volk stehen würde.
Die tägliche Eroberung der Freiheit und des Friedens: nun, meine Damen und Herren, Ihre Anwesenheit beweist, daß auch Sie davon überzeugt sind, daß Marion Dönhoff Goethes »Weisheit letzter Schluß« verwirklicht hat und sich dadurch nicht nur »die Freiheit und das Leben« verdient hat, sondern auch den Friedenspreis.
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Laudatorname
Laudatio
Dieses Kapitel wird kaum Entspannung heißen – die wird wohl nur sehr unvollständig zur Geltung kommen. Aber vielleicht könnte man es mit »Friedens-Umrisse« überschreiben: eine Phase, in der man behutsam ein Problem nach dem anderen untersucht, gemeinsame Interessen herausschält, Konflikte entschärft und die Fragen, die unlösbar sind, einstweilen zurückstellt.
Marion Gräfin Dönhoff - Dankesrede
Marion Gräfin Dönhoff
Zur Konvergenztheorie
Dankesrede
Als im Jahr 1957 Milovan Djilas Buch »Die neue Klasse« erschien, veränderten die Betrachtungen dieses jugoslawischen Kommunisten in entscheidender Weise das Bild, das sich die westliche Welt von der sowjetischen Gesellschaft gemacht hatte. Bis dahin hatte man angenommen, in Rußland, wo die Klassenstruktur des alten Regimes durch die Revolution beseitigt worden war, gäbe es nun die klassenlose Gesellschaft - eine unstrukturierte Masse von Werktätigen, über der ein Diktator schwebt.
In der Nachfolge von Djilas erschienen dann allenthalben Artikel, die zeigten, daß in der Sowjetunion der Technokrat im dunklen Anzug den Kommissar im Ledermantel abgelöst hatte. Und soziologische Studien wiesen nach, daß es auch in der Sowjetunion verschiedene gesellschaftliche Schichten und Gruppeninteressen gibt.
Seither sind mehr als zehn Jahre hektischer Industrialisierung vergangen. Als ich vor einiger Zeit Gelegenheit hatte, die neuen Industrien Sibiriens zu besuchen, ihre Werkhallen, Rechenzentren, Chef- und Planungsbüros, da schien mir der Unterschied zu dem, was ich in Essen oder Duisburg gesehen hatte, nur im äußeren Zuschnitt groß, im Grundsätzlichen dagegen war eine bemerkenswerte Ähnlichkeit festzustellen.
Solche Beobachtungen liegen der seit Jahren diskutierten Konvergenztheorie zugrunde - der Behauptung nämlich, daß es eine Eigendynamik des industriellen Prozesses gäbe, die dazu führt, daß das östliche und das westliche System sich aufeinander zubewegen. Sich aufeinander zubewegen, weil beide gleichermaßen von den Gesetzen der Industriegesellschaft geprägt werden, weshalb denn für beide die gleichen Sachzwänge bestünden. Zu dieser Theorie möchte ich Ihnen heute ein paar Gedanken vortragen.
Zunächst ist festzustellen, daß die beiden Systeme einander ohnehin auf sehr spezifische Weise bedingen. Jedes von ihnen denkt immer zugleich das andere mit, sieht neidvoll dessen Vorteile, ängstigt sich vor dessen Rivalität, antizipiert dessen Bedrohung, die oft nur Projektionen der eigenen Angst sind. Und auch dies: Im Westen ist in den letzten hundert Jahren keine politische Philosophie und keine politische Partei neu entstanden, die sich nicht in Pro- oder Anti-Reaktion auf Karl Marx definieren ließe.
Umgekehrt geht die moralische, wissenschaftliche und wirtschaftliche Begründung des kommunistischen Systems, das vor fünfzig Jahren in Rußland entstand, auf die Negation des kapitalistischen Systems zurück, als dessen Antithese es sich versteht.
Mit anderen Worten, das eine System ist durch das andere determiniert, und die Reformen, die jedes bei sich vorgenommen hat, sind auf seltsam dialektische Weise jeweils am anderen orientiert: Mehr Sozialismus und Planifikation bei den Kapitalisten - mehr Dezentralisierung der Entscheidungsbildung und mehr marktwirtschaftliche Anreize bei den Kommunisten.
Unsere Fortschritte auf sozialem Gebiet wurden akzeleriert durch das rivalisierende Modell der sozialistischen Staaten. Diese aber sehen sich genötigt, den Konsumbedürfnissen ihrer Völker stärker Rechnung zu tragen und ihre Strafen für Abweichler und Häretiker zu mildern. Jeder hat so bei der Korrektur der Fehler des anderen mitgewirkt.
Hierfür gibt es zwei Gründe, einmal politische, zum anderen wirtschaftliche. Zunächst die politischen:
Beide Systeme, so verschieden sie sein mögen, stehen unter ähnlichem Erfolgszwang: Beide sind bestrebt und müssen bestrebt sein, das Tempo des Wirtschaftswachstums ständig zu beschleunigen, um den Ansprüchen, die ihre Bürger an den Lebensstandard stellen, entprechen zu können. Beide haben überdies das gleiche Problem: nämlich die Opfer, die vom Bürger gefordert und die Vorteile, die ihm geboten werden, so gerecht wie möglich zu verteilen. Denn beide sind ja auf die Zustimmung der Bürger angewiesen - die einen, weil sie wiedergewählt werden wollen, die anderen, weil auch sie balancieren müssen.
Freilich ist die Toleranzschwelle in Ost und West verschieden hoch. Für Kommunisten ist Wohlstand kein so eindeutiges Rezept wie für das kapitalistische System, denn Wohlstand untergräbt, wie man weiß, die politische Disziplin und droht, das ideologische Dogma aufzuweichen. Wohlstand minimiert zwar die sozialen Spannungen, aber maximiert die Aufsässigkeit gegen die Führung.
Darum hat sich der XXIV. Parteitag in Moskau nur schweren Herzens - und zum erstenmal seit fünfzig Jahren - entschlossen, der Konsumgüterindustrie den Vorzug zu geben, obgleich doch nach klassisch-marxistischer Auffassung die Entwicklung des Kommunismus mit dem Aufbau der Schwerindustrie synchronisiert ist, also von eben dessen Tempo abhängt. Dem Parteitag blieb einfach nichts anderes übrig: auch die sowjetische Führung will schließlich geliebt werden. Und das polnische ZK hofft, der innenpolitischen Schwierigkeiten Herr zu werden, indem es eine Steigerung der Konsumgüterindustrie um mehr als ein Drittel bis 1975 zugesagt hat.
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Soweit die politischen Gründe. Und nun einen Blick auf die wirtschaftstheoretischen Erwägungen, die der Konvergenzthese zugrunde liegen. Für die industrielle Gesellschaft - gleichgültig welcher ideologischen Prägung - sind folgende Kriterien charakteristisch:
- Der in früheren Zeiten unvorstellbar hohe Kapitalbedarf und die lange Vorbereitungszeit der Investitionen: Als Philipp II. im Jahre 1588 die Armada - es waren 130 Schiffe - zur Eroberung Englands ausschickte, hatte er diese vorwiegend aus Handelsschiffen bestehende Flotte erst kurz zuvor von überallher zusammengekauft. John Kenneth Galbraith, der darüber Betrachtungen anstellt, sagt: »Für die Schaffung einer modernen Kriegsflotte von der zahlenmäßigen Größe der Armada - mit Flugzeugträgern, den dazugehörenden Flugzeugen, Versorgungsbasen und einem Nachrichtensystem - würde heute eine erstrangige Industrienation mindestens zwanzig Jahre brauchen.«
- Die moderne Technologie - also die systematische Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Praxis - mit ihrem Aufwand an Kapital und Zeit verlangt eine umfassende Planung. Es ist unerläßlich, den Bedarf der Verbraucher, die Materialbeschaffung und Absatzmöglichkeiten auf weite Sicht vorauszuplanen, denn wenn in der freien Wirtschaft das Management oder in den sozialistischen Staaten die staatliche Planungskommission erst einmal entschieden haben, wo wieviel investiert werden soll, dann sind diese Entscheidungen meist irreversibel.
- Hieraus folgt, daß die moderne Technologie zur größeren, das heißt leistungsfähigeren Einheit, also zur Konzentration drängt aus Gründen der Kostendegression und weil der Großbetrieb mit den Unsicherheiten des Marktes besser fertig wird - entweder durch Diversifizierung oder durch marktbeherrschende Anteile. Aber auch innerhalb des Großbetriebes besteht die Tendenz zur steigenden Einheitsgröße: beispielsweise rechnete man in den fünfziger Jahren im Ruhrgebiet mit Kosten von 50 Millionen DM pro Hochofen; die heute allein rentable Größe kostet 250 Millionen DM. Bei Kraftwerken steigt aus technologischen Gründen die Einheitsgröße noch rascher, sind also die erforderlichen Kapitalinvestitionen heute vergleichsweise noch gigantischer.
- Bei dem hohen Grad an Spezialisierung von Mensch und Arbeit nimmt die Bedeutung von Erziehung und Ausbildung der Arbeitskräfte und damit der Einfluß des Staates ständig zu. Für die industrielle Gesellschaft ist die immer stärkere Rationalisierung und Durchkalkulierung ökonomischer Prozesse typisch, was dazu führt, daß der Bedarf an hochqualifiziertem Führungspersonal ständig wächst. Der Typ des Karrieristen, der gefordert wird: robust, leistungsfähig, einsatzfreudig, konformistisch, zum Teamwork geeignet, läßt in beiden Systemen ähnliche Führungsschichten heranwachsen.
In der Moskauer »Literaturnaja Gaseta« wurden vor einiger Zeit unter der Überschrift »Wie ein leitender Angestellter sich benehmen sollte« die Maximen für die Führung herausgestellt. Es hieß dort: »Vor allem muß der Chef ein Manager sein und kein Sklaventreiber. Der Sklaventreiber treibt, der Manager führt. Der Treiber verläßt sich auf seine Macht; der Manager stützt sich auf die Hilfe und Mitarbeit seiner Untergebenen. Der Treiber findet Sündenbocke, die er für alle seine Fehler verantwortlich macht, während der Chef diese Fehler selbst korrigiert.« Solche Maximen könnten genausogut für einen westlichen Lehrgang konzipiert sein.
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Das bisher Gesagte läßt sich folgendermaßen resümieren: Für beide Systeme ist die jährliche Zunahme des Bruttosozialproduktes der Maßstab des Erfolges. Ferner, das Wesen der modernen industriellen Produktionsweise bringt es mit sich, daß man ohne Planifikation nicht mehr auskommt und daß der Einfluß des Staates ständig wächst; in beiden Systemen entscheidet der Staat darüber, wieviel konsumiert wird - im Kapitalismus durch die Höhe der Steuern, im Kommunismus durch die Höhe der Akkumulationsrate.
Ähnlich sind sich beide Systeme übrigens auch in der Unterschätzung aller musischen Komponenten. Für die Rangordnung der Staaten spielt die Qualität von Literatur, Malerei oder Musik überhaupt keine Rolle, und unter den Wissenschaften interessieren im Grunde doch nur die, die sich direkt oder indirekt in einer Zunahme des Sozialprodukts oder der waffentechnischen Verfeinerung niederschlagen.
Schließlich entspringt auch noch die Hauptgefahr für beide Systeme der gleichen möglichen Fehlerquelle, nämlich falscher Information. In der Planwirtschaft summieren sich Fehlkalkulationen über den Umfang der Nachfrage, die Höhe des Produktionsangebotes und die Konsumentenwünsche zu riesiger Materialvergeudung und unabsetzbaren Lagerbeständen.
In der Marktwirtschaft ist diese Gefahr weit geringer, aber auch die Marktwirtschaft leidet unter Fehldispositionen der Unternehmer. Sie treffen ja schließlich ihre Entscheidungen aufgrund von Erwartungen - sind diese Erwartungen unzutreffend, so werden auch die Entscheidungen falsch. Auf diese Weise kann es zu Über- oder Unterproduktion kommen; wenn die Fehlentscheidung auch noch auf optimistischen oder pessimistischen Psychosen basiert, kann dies sogar zu den berüchtigten Konjunkturzyklen führen.
Ließ sich bisher feststellen, daß unsere Ära der technologisch-industriell bestimmten Wirtschaft, ungeachtet der verschiedenen Gesellschaftssysteme, eine weitgehende Parallelität der Produktionsweise hervorbringt, so treffen wir nun an dieser Stelle zum erstenmal auf einen grundlegenden Unterschied. Es handelt sich um die verschiedenartige Methode der Steuerung aller wirtschaftlichen Vorgänge: Entweder steuert der Markt über den Preis oder die zentrale Planungsbehörde über Zuteilungsquoten und Ablieferungssoll - hier scheiden sich die Geister. Im Westen entscheidet der Glaube an den Markt, im Osten der Glaube an die Partei.
Jedes der beiden Systeme ist aufrichtig überzeugt, daß sein Glaube sich am Ende durchsetzen werde. Und hier beginnen denn auch die Konvergenztheoretiker, die Weiß und Rot zu Rosa sich vermischen sehen, hinsichtlich der Schattierungen - hell- oder dunkelrosa; - zu schwanken. Die einen glauben, der Konvergenzpunkt werde mehr im Bereich des östlichen Systems liegen, die anderen meinen, die neue Mischform werde dem westlichen näherstehen.
Ich möchte hier die Betrachtung der technologischen und organisatorischen Beschaffenheit der Industriegesellschaft und ihrer Gesetze verlassen und nun die Glaubensinhalte der beiden Systeme beleuchten. Es scheint mir nämlich, daß die ursprünglichen Leitbilder - Markt oder Partei -, die hüben und drüben noch heute als Mythos verehrt und propagiert werden, sich in der Realität bereits weit von ihren idealtypischen Formen entfernt haben.
Dies legt den Schluß nahe, daß, ungeachtet der Annäherung im praktischen Bereich, die Vorstellungen, die die Menschen von ihrem jeweiligen System haben, unwandelbar sind und daß von daher der Konvergenz Grenzen gesetzt sind.
Fangen wir also mit dem Westen an: Im Westen bilden das Privateigentum und die Marktwirtschaft die Säulen des Glaubensgebäudes. Die Marktwirtschaft entspricht im wirtschaftlichen Bereich der Funktion, die der Pluralismus auf der politischen Ebene ausübt. Beide zusammen bilden die Grundlage für die Freiheit des Individuums. Sie nämlich sorgen dafür, daß der Raum der Freiheit nicht eingeengt wird: Eine Vielzahl von politischen Meinungen, beziehungsweise ökonomischen Angeboten, rivalisiert miteinander, und dieser immerwährende Wettbewerb verhindert, daß ein Einzelner die Macht ergreift und den anderen seinen Willen diktiert. So jedenfalls die Theorie.
Tatsächlich aber hat die Entwicklung dazu geführt, daß die Wirtschaftsabläufe auch im kapitalistischen System weitgehend geplant werden, daß das Eigentumsrecht vielfach eingeschränkt wurde und Eingriffe in den Marktmechanismus selbstverständlich geworden sind. Man hat sogar ein ganzes Instrumentarium hierfür entwickelt, dessen Kennworte lauten: Stabilitätsgesetz, Globalsteuerung der Konjunktur, Planung von Forschung und Entwicklung, steuerliche Maßnahmen zur Erreichung bestimmter gesellschaftlicher Ziele.
Eine lupenreine Konkurrenzwirtschaft, wie sie sich in der Idealvorstellung präsentiert, gibt es gar nicht. Sie kommt nirgendwo vor. Unsere Märkte sind unvollkommen: Wir haben Oligopole und Monopole, es gibt eine strenge Tarifpolitik, die Macht der Gewerkschaft wächst, desgleichen der staatliche Sektor der Wirtschaft.
Dieses alles sind Fakten, die man kennt; über diese Abweichungen von der Idealvorstellung kann sich jeder leicht Rechenschaft geben. Ich möchte aber gern hier noch kurz jene Kritik an der Realität des kapitalistischen Systems streifen, die den Kern des Protestes der jungen Generation dargestellt, weil er häufig nicht recht verstanden wird. Es ist aber wichtig, ihn zu verstehen - gerade wenn man das System erhalten und verbessern will.
Am klarsten hat Herbert Marcuse in seinem Buch »Der eindimensionale Mensch« diese Kritik formuliert. Seine Deduktion lautet: Die Naturbeherrschung, die das Ziel des Menschen war, hat auf dem Wege zu diesem Ziel den Produktionsapparat geschaffen, der als ein Mittel hätte dienen sollen, sich aber verselbständigt hat und mittlerweile zum Herrn geworden ist. Und zwar deshalb, weil alle bei der Aufrechterhaltung seiner Herrschaft mitwirken, denn die große Leistungsfähigkeit des Produktionsapparates und der steigende Lebensstandard führen dazu, daß jedermann ein Interesse am Status quo hat.
Der Produktionsapparat und die Güter und Dienstleistungen, die er hervorbringt, verkaufen - dank des Ineinandergreifens aller Mittel, einschließlich des Massentourismus und der Massenkommunikation - das System stets als Ganzes: Eines hängt immer am anderen, und einer hängt am anderen, weil alle am Prinzip des Profits orientiert sind. Die Unterhaltungsindustrie bindet die Konsumenten an die Produzenten und erzeugt so einen Widerstand gegen qualitative Veränderungen. Auf diese Weise entsteht - so meint Marcuse - das »eindimensionale Denken«.
In der Tat wird durch die totale Kommerzialisierung und technische Rationalisierung die Metaphysik und jedes den wirtschaftlichen Erfolg transzendierende Denken verdrängt. Es findet also eine Verkürzung des Denkens statt, und allmählich geht die philosophische Dimension verloren. Der Mensch wird an Zwecke versklavt, die er sich als absolut vorstellt. Marcuse nennt das »Herrschaft in der Maske von Überfluß und Freiheit«.
Folgt man dieser Betrachtungsweise, so scheint jedes der beiden Gesellschaftssysteme sich ausschließlich nach dem Gesetz, nach dem es angetreten ist, zu erweitern und immer von neuem zu reproduzieren - im Westen getrieben von den Bedürfnissen, die das System selbst erst propagiert, dann erzeugt und schließlich befriedigt; im Osten geleitet von einer Partei, die am Anfang das Muster der Entwicklung selbst entworfen hat, seither seine Einhaltung streng überwacht und Kritik nicht duldet, weil sie - die Partei - immer recht hat.
In der Tat ist auch im Westen eine merkwürdige Identität von Produktionssystem, gesellschaftlichen Zwecken und staatlichen Interessen entstanden. Dem einzelnen werden Konsumbedürfnisse andressiert, er paßt sich in seinem Marktverhalten den Erfordernissen der Produktion an, und dieser Produktion werden gleichzeitig bestimmte Ziele und Ideale unterlegt. Auf solche Weise werden die Zwecke des Industriesystems zu sozialen Zielen der Gesellschaft, und eben darum fühlen viele Menschen sich manipuliert.
Ich glaube, daß das, was linke Analytiker da herausgefunden und liberale oder rechtsorientierte Denker wie Galbraith und Brzezinski bestätigt haben, im Grunde für jedes System gilt, gleichgültig ob es sich um religiös bestimmte, mittelalterliche Gesellschaften, um Absolutismus, Faschismus, Kommunismus handelt. Immer befriedigt das System die Bedürfnisse der Menschen, die zuvor entsprechend programmiert wurden; in der Folge paßt der Mensch sich dann dem System und seinen Bedürfnissen an. Immer gibt es eine Symbiose von Ideen und politisch-ökonomischen Zwecken - das war schon zur Zeit der Kreuzzüge so: Die Ideen legitimieren das System, weil der Mensch für Organisation und materielle Zwecke allein nicht leben mag und weil Macht immer das Bedürfnis hat, sich moralisch einzukleiden.
Hieran ließen sich viele interessante Betrachtungen knüpfen, mir geht es jetzt aber nur darum, nachzuweisen, wie weit die Realität des kapitalistischen Systems sich von der marktwirtschaftlichen Idealvorstellung entfernt hat, ohne daß dies zur Kenntnis genommen wird. Für die Öffentlichkeit ist das Wesen des westlichen Wirtschaftssystems weiterhin der freie Markt und der allgegenwärtige Wettbewerb. Die Schlußfolgerung drängt sich auf: Die Vorstellungen der Menschen von den Tatsachen sind eben stärker als die Tatsachen selbst.
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Und im Osten? Gilt auch dort der Satz, daß die Vorstellungen stärker sind als die Tatsachen? Offenbar ja, denn noch immer herrscht dort uneingeschränkt der Glaube an die Erkenntnisse, die Karl Marx in einer Zeit gesammelt hat, in der sich niemand auch nur im Traum vorzustellen vermochte, wohin uns die Entwicklung führen werde. Seine Einsichten gelten als unveränderliche Wahrheiten, obgleich die alte marxistische Klassenvorstellung längst überholt worden ist, teils durch den Wohlfahrtsstaat, teils durch die Gewerkschaften, die als Vertretung der Arbeiter ebenso mächtig sind wie die Unternehmerverbände.
Karl Marx' Einsichten herrschen, obgleich die Arbeitswertlehre im Zeitalter der Automation höchst fragwürdig geworden ist und auch der Satz vom ökonomischen Sein, das das Bewußtsein bestimmt, nicht mehr ganz überzeugt. Denn ein Gutteil dessen, was man sich früher nur bei bestimmten Einkommen erlauben konnte, wird ja in unseren Tagen durch die staatliche Umverteilung vielen zugänglich - beispielsweise fast alles, was mit Bildung, Gesundheit und Verkehr zusammenhängt.
Wie also ist es um die Realität der kommunistischen Wirtschaftstheorie bestellt? Da ist zunächst die Vorstellung von den antagonistischen Widersprüchen des kapitalistischen Systems. Marx glaubte, die Disproportionalität zwischen Produktion und Absatzmöglichkeit sei unüberwindlich, weil für den Kapitalismus der Zwang bestehe, die Kapitalakkumulation immer weiter zu treiben und gleichzeitig die Masseneinkommen so niedrig wie möglich zu halten. Inzwischen ist der Massenkonsum im Kapitalismus viel höher als im Sozialismus, aber der Osten spricht immer noch von Ausbeutung.
Die Kommunisten glauben ferner noch immer daran, daß im Kapitalismus der Unternehmer der Kontrahent des Arbeiters sei. Dabei ist bei den großen Gesellschaften die Macht längst von den Eigentümern der Produktionsmittel an die Manager und Technokraten übergegangen. Sie sind es, die die Entscheidungen treffen. Die leitenden Männer der Großindustrie gründen ihre Autorität längst nicht mehr auf Eigentum.
Im Osten ist man überzeugt, die Befreiung der Arbeiterklasse dadurch erreicht zu haben, daß die Produktionsmittel in Gemeineigentum überführt wurden - dabei weiß heute jedermann, daß dort nicht die Arbeiterklasse den Produktionsapparat übernommen hat, sondern die Bürokratie. Milovan Djilas spricht sogar spöttisch von einer »speziellen Form des Eigentums, dem >Kollektiveigentum<, das die Neue Klasse im Namen des Volkes und der Gesellschaft verwaltet und verteilt«. Es hat sich längst gezeigt, daß, wenn das Eigentum abgeschafft ist, es andere Möglichkeiten gibt, sich Privilegien und Vorteile zu verschaffen.
Offenbar haben die Unternehmer im Westen und die Arbeiter im Osten ein ähnliches Schicksal: Beide haben keine Macht. Die Unternehmer haben sie im Neokapitalismus verloren, die Arbeiter sie im Kommunismus nicht gewonnen. Der Kommunismus hat zwar die kapitalistischen Produktionsverhältnisse aufgehoben, aber an ihre Stelle nicht sozialistische, sondern staatsmonopolistische gesetzt.
Die wesentlichen Prophezeiungen des Marxismus sind also nicht eingetreten:
Der Kapitalismus ist nicht zusammengebrochen, sondern wurde sozialer gestaltet - also korrigiert.
Die Massen sind nicht verelendet, sondern haben einen optimalen Lebensstandard erreicht.
Die Krisen wurden dem System nicht zum Verhängnis, sondern regten die Entwicklung eines neuen Instrumentariums zu ihrer Überwindung an.
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Im ersten Teil dieser Darlegung konnte man resümieren, daß die Gesetze der modernen industriellen Gesellschaft tatsächlich so zwingend sind, daß sie die Verschiedenartigkeit der beiden Gesellschaftssysteme überdecken, also im wirtschaftlichen Bereich eine Annäherung von Kapitalismus und Kommunismus erfolgt. Gleiches läßt sich im zweiten Teil, der von den geistigen Vorstellungen, dem Selbstverständnis der konkurrierenden Systeme handelt, nicht sagen.
Die Ideologien von Ost und West sind heute so verschieden, wie sie je waren. Ja, beide Seiten haben nicht einmal zur Kenntnis genommen, daß hüben wie drüben die Realität sich von der jeweiligen Idee weit entfernt hat. Eine Konvergenz auf diesem Gebiet gibt es also bisher nicht, und vermutlich wird es sie auch nicht geben - eben weil die Vorstellungen stärker sind als die Tatsachen. Die Frage stellt sich allerdings: Was sind eigentlich Tatsachen, und was sind Vorstellungen? Das, was eine bestimmte Epoche für Tatsachen hält, erscheint unter Umständen einer anderen als Vorstellung.
Bis 1789, bis zur Französischen Revolution, waren alle Kriege des 18. Jahrhunderts Erbkriege; beim Spanischen, Polnischen, Österreichischen und Bayerischen Erbfolgekrieg ging es um Sukzessions-Fragen. Das große Habsburgische Reich ist im Grunde zusammengeheiratet worden. Die Erbfolge war damals der einzig gültige Ausweis für Legitimität, und die Heiratspolitik der Herrscherhäuser beraubte unter Umständen ganze Völker ihrer geschichtlichen Kontinuität. Das war ganz selbstverständlich. Obgleich uns diese Vorstellung heute absurd erscheint, war sie für die damaligen Zeitgenossen die einzig glaubwürdige Grundlage politischer Existenz.
Wir Heutigen wiederum teilen die Welt in entwickelte und unterentwickelte Staaten ein, weil wir meinen, das technische Können zeige die Höhe der Entwicklungsstufe an. Vielleicht wird man im Jahr 2000 auch darüber ganz anders denken.
Es gab Zeiten, es gibt heute noch Gebiete, wo die Verpflichtung zur Blutrache als unumstößliches Gesetz allgemein anerkannt wird. Für uns, die wir nicht in jener Epoche oder jenen Gebieten leben, ist das eine überkommene Vorstellung, aber ganz gewiß keine vorgegebene Tatsache.
Die Frage, was sind Tatsachen, ist also in der Tat schwer zu beantworten. Wie wir gesehen haben, werden unter bestimmten Voraussetzungen Vorstellungen zu Tatsachen. Das ist das eine. Das andere ist: daß oft Tatsachen als solche nicht erkannt werden, wenn unser Vorstellungsvermögen sie nicht erfaßt.
Daß es in der Bundesrepublik zuwenig Lehrer gab - zuwenig, verglichen mit den 1964 zur Bildung drängenden Nachkriegs-Jahrgängen und verglichen sogar mit dem Bildungsprogramm der Regierung -, hat die Statistik seit vielen Jahren ausgewiesen. Jedermann hätte dies rein rechnerisch konstatieren können. Aber erst, als Georg Picht 1964 seine Artikelserie über die Bildungskatastrophe schrieb, wurde diese Tatsache apperzipiert, ging sie in die Vorstellungswelt aller Beteiligten ein.
Auch die Verschmutzung der Meere und Gewässer und die Verpestung der Luft datieren nicht von gestern. Seit vielen Jahren wird Gift auf Müllhalden gekippt, chemische Rückstände in die Flüsse geschüttet, Natur zerstört. Aber erst jetzt ist diese Tatsache in das Bewußtsein der Öffentlichkeit eingedrungen.
Was folgt aus alledem für unsere Fragestellung? Doch wohl dies: Es gibt keinen technischen Automatismus, keine Eigendynamik der industriellen oder irgendeiner anderen Gesellschaft, die die Menschen mehr oder weniger ohne ihr Zutun in eine bestimmte Richtung lenkte und ihnen auf solche Weise die bewußte Entscheidung abnähme, sie der verzweifelten Mühe, immer wieder neue Schwierigkeiten auszuräumen, enthöbe - ihnen, mit einem Wort, den Frieden einfach in den Schoß legte.
Solch monokausale Zwangsläufigkeit entspricht weder dem Wesen des Menschen noch der politischen Realität, genauso wenig wie es ein Patentsystem gibt, das automatisch soziale Gerechtigkeit und Konfliktlosigkeit garantiert. Nicht die Wirtschaftstheorie - mit oder ohne Privateigentum - ist das Entscheidende, sondern die Wirtschaftspolitik, also das, was die Menschen aus der jeweiligen Theorie machen.
Wir haben in den Monaten, die hinter uns liegen, einen eindrucksvollen Anschauungsunterricht dessen bekommen, was Politik ist und sein sollte. Zwei Jahrzehnte lang sind alle Verhandlungen zwischen West und Ost am Ziel der bedingungslosen Kapitulation des Gegenüber orientiert gewesen. Jeder hielt den anderen für eine Ausgeburt der Hölle, mit der es eine Grundlage des gemeinsamen Handelns nicht geben dürfe. Keine Seite war bereit, irgendwo auch nur einen Zentimeter nachzugeben. Jetzt ist zum erstenmal ein Vertrag zustande gekommen, der von der Erkenntnis ausgeht, daß Ost und West zur Koexistenz verdammt sind; ein Vertrag, bei dem beide Konzessionen machen mußten.
Mancher wird das für den Anfang vom Ende halten. Ich denke, es ist das Ende einer sterilen Epoche, der Anfang eines neuen Kapitels. Dieses Kapitel wird kaum Entspannung heißen - die wird wohl nur sehr unvollständig zur Geltung kommen. Aber vielleicht könnte man es mit »Friedens-Umrisse« überschreiben: eine Phase, in der man behutsam ein Problem nach dem anderen untersucht, gemeinsame Interessen herausschält, Konflikte entschärft und die Fragen, die unlösbar sind, einstweilen zurückstellt.
Ein solches Vorgehen erfordert viel Geduld und Detailplackerei. Himmelstürmende Geister kommen da nicht auf ihre Kosten, und den Akteuren werden die Zeitgenossen keinen Lorbeer winden. Diejenigen, die große Worte lieben und deren Devise lautet »alles oder nichts«, werden nicht zufrieden sein und auch die nicht, deren weitgestecktes Ziel es ist, die Welt mit einem Schlage zu verändern. Kurzum: Es wird keine heroische Epoche sein, sondern eine Periode mühsamer Kleinarbeit - aber es lohnt sich, dabei mitzumachen.
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Marion Gräfin Dönhoff
Dankesrede der Preisträgerin
Chronik des Jahres 1971
+++ Der Bundesgrenzschutz berichtet im Januar 1971, dass die DDR die deutsch-deutsche Grenze mit neuen Maßnahmen, d. h. mit mehr als zwei Millionen Minen und über 80.000 km Stacheldraht abgesichert habe. +++ Walter Ulbricht tritt im Mai aus Altersgründen vom Amt des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der SED zurück. Sein Nachfolger wird Erich Honecker. Als erster Vertrag zwischen den beiden deutschen Staaten wird im Dezember das Transitabkommen unterzeichnet. Der Handel, aber auch der Reise- und Besucherverkehr zwischen der DDR und der BRD werden dadurch erheblich erleichtert. +++
US-Präsident Richard Nixon gibt im April den Abzug von 100.000 Soldaten aus Vietnam bekannt. Langfristig wird ein vollständiger Abzug amerikanischer Truppen aus Vietnam angestrebt, der Krieg soll allein von vietnamesischen Truppen fortgeführt werden. +++ Bei der Fahndung nach Mitgliedern der »Baader-Meinhof-Gruppe« wird Mitte Juli in Hamburg die mutmaßliche Terroristin Petra Schelm erschossen. Im Dezember wird in West-Berlin Georg von Rauch bei einem Schusswechsel mit Polizisten getötet. +++ Der Film "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt" von Rosa von Praunheim hat im August Premiere. Der Film endet mit einem Appell an die Homosexuellen, stolz und selbstbewusst zu sein. +++ Auf dem 38. Kongress des Internationalen PEN-Clubs wird der Schriftsteller Heinrich Böll im Herbst als erster Deutscher zum Präsidenten gewählt. +++
Biographie Marion Gräfin Dönhoff
Marion Gräfin Dönhoff wird am 2. Dezember 1909 auf dem Familiensitz Schloss Friedrichstein in Ostpreußen geboren. Nach dem Abitur, das sie in Potsdam ablegt, studiert sie Volkswirtschaft in Frankfurt am Main. 1933 wechselt sie an die Universität Basel, wo sie zwei Jahre später promoviert.
1938 übernimmt sie die Verwaltung eines großen Güterkomplexes in Ostpreußen. 1945 flieht Marion Dönhoff in den Westen. Diese Erfahrung thematisiert sie in ihrem Buch Namen, die keiner mehr nennt (1962).
1946 beginnt sie ihre Arbeit in der Redaktion der Zeit und wird 1955 Ressortleiterin für Politik. Acht Jahre später übernimmt sie die Chefredaktion der Zeitung und Ende 1972 wechselt sie in die Position der Herausgeberin. In diese Zeit fällt auch die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, deren Vizepräsidentin sie bis 1981 ist.
Marion Gräfin Dönhoff setzt sich in den 60er Jahren für ein aktives Engagement in der deutschen Ostpolitik ein und plädiert für eine Politik der Versöhnung. Sie ist eine der meistgelesenen politischen Kommentatorinnen ihrer Zeit.
Marion Gräfin Dönhoff stirbt am 11. März 2002 im Alter von 92 Jahren.
Auszeichnungen
1999 Hermann-Sinsheimer-Preis
1999 Ehrenbürgerin der Stadt Hamburg
1996 Reinhold Maier-Medaille der Reinhold-Maier-Stiftung
1996 Erich-Kästner-Preis des Presseclubs Dresden e. V.
1994 Four Freedoms Award
1993 Internationaler Brückepreis
1990 Mitglied der American Academy of Arts and Sciences
1988 Heinrich-Heine-Preis
1971 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
1966 Theodor-Heuss-Preis
1964 Joseph-E.-Drexel-Preis
Bibliographie
Was mir wichtig war. Letzte Aufzeichnungen und Gespräche
Siedler, Berlin 2002, ISBN 3-88680-784-3; btb, 2. Aufl., München 2004, ISBN 978-3-641-03506-8
Kindheit in Ostpreußen
btb, München 1998, ISBN 3-442-72265-9; (Originalausg. 1988)
Namen, die keiner mehr nennt. Ostpreußen – Menschen und Geschichten
Diederichs, Düsseldorf/Köln 1971, ISBN 3-424-00410-3; Neuausgabe, Rowohlt, Reinbek 2009, ISBN 978-3-499-62477-3
Laudator Alfred Grosser
Der am 1. Februar 1925 in Frankfurt am Main geborene Alfred Grosser muss 1933 im Alter von acht Jahren mit seiner Familie Deutschland verlassen und nach Frankreich emigrieren. Nach dem Studium und dem Staatsexamen in Germanistik schließt er sich der französischen Widerstandsbewegung an.
Von 1950 bis 1951 ist Grosser stellvertretender Leiter des UNESCO-Büros in der Bundesrepublik. Anschließend nimmt er eine Dozentenstelle an der Sorbonne an. Ab 1956 ist Grosser hauptamtlicher Forschungsdirektor an der «Fondation nationale des sciences politiques» und Professor am «Institut d’etudes politiques» in Paris.
In zahlreichen Veröffentlichungen und Vorträgen setzt er sich immer wieder für den Dialog zwischen den Nationen ein und nimmt unter anderem in Le Monde als Kolumnist öffentlich Stellung zu politischen Fragen. Hierfür wurde er 1975 selbst auch mit Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
Als Generalsekretär des »Französischen Komitees für den Austausch mit dem neuen Deutschland« gilt Alfred Grosser als Wegbereiter der deutsch-französischen Aussöhnung. Durch seinen Einsatz für eine friedliche Zweistaatenlösung im israelisch-palästinensischen Konflikt stößt er besonders in Israel immer wieder auf Kritik.
Alfred Grosser lebt heute in Paris.