1981 wurde der ukrainische Schriftsteller Lew Kopelew mit dem Friedenspreis ausgezeichnet. Die Verleihung fand am Sonntag, den 18. Oktober 1981, in der Paulskirche zu Frankfurt am Main statt. Die Laudatio hielt Marion Gräfin Dönhoff.
Begründung der Jury
Den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verleiht der Börsenverein im Jahre 1981Lew Kopelew,dem in Kiew geborenen Germanisten, der wegen seiner humanen und moralischen Haltung einen Leidensweg durchschreiten mußte, aber dennoch von der Erkenntnis beseelt blieb, daß vorbehaltlose Wahrheit, bereitwilligste Toleranz und Menschenliebe, die alle Arten von Haß und Feindseligkeit überwindet, unerläßlich sind, soll die Menschheit in Freiheit und Frieden am Leben bleiben.
Reden
Günther Christiansen
Grußwort des Vorstehers
Ein Rebell, der keine Angst mehr hat vor den Mächtigen, deren Zorn er so oft zu spüren bekam, und der keine Achtung hat vor dem, was Georg Büchner »die Paradegäule und Eckensteher der Geschichte« nannte, dem kann niemand mehr etwas anhaben.
Marion Gräfin Dönhoff - Laudatio auf Lew Kopelew
Marion Gräfin Dönhoff
Auf den Friedenspreisträger 1981
Laudatio auf Lew Kopelew
Viele von uns kannten den, der an diesem Tage geehrt wird, lange bevor wir ihn heute hier vor uns sehen. Solschenizyn hat ihn in seinem unvergeßlichen Buch »Der erste Kreis der Hölle« unter dem Namen Lew Rubin geschildert. Dort in der Scharaschka, unweit Moskaus - einem besonderen Lager, in dem hochqualifizierte Häftlinge zusammen mit freien Ingenieuren und Technikern an Spezialaufgaben arbeiten mußten - hatten sich 1947 drei ungewöhnliche Geister zusammengefunden: Dmitrij Panin, Alexander Solschenizyn und Lew Kopelew.
Kopelew, damals noch gläubiger Kommunist, obgleich er bereits während dreier Jahre durch ungezählte Lager und Gefängnisse geschleppt worden war, dozierte gern über Goethes Faust, über indische Philosophie, russische Geschichte, auch über Stalin, den er für Robespierre und Napoleon in einer Person hielt. Panin dagegen war ein gläubiger Christ, der alle anderen Wahrheiten als Häresie ablehnte und für den es nur einen Maßstab gab: die christliche Ethik.
Solschenizyn, von Natur skeptisch, konnte sich sehr über Kopelew ärgern, wenn dieser von objektiven Bedingungen und sozial-ökonomischen Voraussetzungen sprach. Diese Erklärungen der Geschichte sind im nachhinein ausgedacht worden, meinte er. Sie sollen erhärten, daß, weil etwas so gewesen ist, es nicht anders hätte sein können. Aber die Ermordung Alexander II. hätte ja auch mißlingen können. Und was eigentlich wäre passiert, wenn Kornilow den Schwätzer Keremskij besiegt hätte? Wenn Krasnows Kosaken den Räte-Kongreß auseinandergejagt, Lenin und Trotzkij erschossen hätten? Diese Möglichkeit hat ja bestanden. Dann wäre eben eine andere historische Unvermeidlichkeit dabei herausgekommen.
Es ist klar, daß bei drei so verschiedenen Gesprächspartnern die Diskussionen, die Lew Kopelew in seinem Buch »Tröste meine Trauer« schildert und die von Rußland handeln, vom Sinn der Geschichte, von Literatur und Musik, oft heftig und kontrovers waren. Es mutet einen phantastisch an, wie diese drei Menschen auf dem winzigen Raum zwischen den zweistöckigen Eisenbetten oder im Hof unter den Augen der Aufseher die letzten Dinge der Kunst, des Lebens, der Geschichte abhandeln, so, als befänden sie sich auf dem Marktplatz in Athen oder in dem Luxus-Sanatorium des Zauberbergs.
Phantastisch mindestens für die heutige Generation im Westen, die ungewöhnlich komfortabel lebt, die mehr Freiheit und mehr soziale Sicherheit genießt als alle vorangegangenen, und die doch von Ratlosigkeit und Angst geplagt wird - Angst vor der Zerstörung der Natur, Angst vor der Allmacht der Technik, Angst vor der Herrschaft der Industrie mit all ihren Sachzwängen - und die dabei vergißt, daß die Vorstellung, die wir uns von den Fakten machen, im positiven und im negativen Sinne, viel entscheidender ist als die Fakten selbst. Es gibt nämlich keinen Sachzwang, wenn man ihn nicht als solchen anerkennt, und es gibt nur das Wertsystem, das man selber für verbindlich hält. Wenn immer mehr Menschen diesen Willen und diese Gewißheit verlieren, dann werden wir in der Tat eines Tages alle miteinander eine Beute der vermeintlichen Sachzwänge werden.
Die entschuldigende Motivation: Was kann denn ich gegenüber der gigantischen Maschine, die wir alle bedienen, von der wir alle abhängig sind, ausrichten? Was bin denn ich im Widerstreit gegen die Übermacht von Bürokratie und Technik? Diese Motivation ist zu billig. Es gibt Leute, die meinen, es müsse wie in einem komfortablen Wohnzimmer alles schon zurechtgerückt am richtigen Platz stehen: der Sessel bereit zum Niedersitzen, der Schreibtisch einladend zum Nachdenken und Aufzeichnen der gewonnenen Einsichten - nur so ließe sich das eigene Selbst verwirklichen, nur so könne man menschlich leben. Daß es auch anders geht, daß man auch ohne alle diese Voraussetzungen und gegen den Geist aller Mächte und Mächtigen zu einem souveränen Menschen werden kann, das hat Lew Kopelew bewiesen.
Es gibt eine merkwürdige Dialektik zwischen Macht und Ohnmacht. Sie bewirkt, daß die Mächtigen zur Stabilisierung ihrer Macht zu Mitteln greifen, die gerade das Gegenteil provozieren und die dem Ohnmächtigen eine große Souveränität und unbeirrbaren Mut verleihen. In einem Brief, den Kopelew mir vor Jahr und Tag aus Moskau schrieb zu einer Zeit, da ihm längst keine Post mehr ausgeliefert wurde und das Telefon gesperrt worden war, wird dies sehr deutlich. Er schrieb - und es klang fast zufrieden: »Ich bin nur mehr meinem eigenen Gewissen verantwortlich. Ich gehöre zu keiner Partei, auch nicht zu den Dissidenten. Ich glaube nicht mehr an charismatische Verheißungen. Mein Imperativ lautet, ich will mich nie mehr fürchten und immer so handeln, daß ich mich nie wieder meiner Taten und Reden zuschämen brauche.«
In der Tat: Ein Rebell, der keine Angst mehr hat vor den Mächtigen, deren Zorn er so oft zu spüren bekam, und der keine Achtung hat vor dem, was Georg Büchner »die Paradegäule und Eckensteher der Geschichte« nannte, dem kann niemand mehr etwas anhaben. Wer könnte denn etwas ausrichten gegen einen Revolutionär der Aufklärung, der an die Autonomie des Menschen glaubt und darum gegen die alleinseligmachende Ideologie eines Herrschaftssystems aufstand, von dessen Machtfülle sich die Rhetoren, die einst in dieser Kirche diskutierten, nichts haben träumen lassen.
Ich kenne kaum jemand, der wie Lew Kopelew sein Land, dessen Geschichte und Literatur so tief und in so umfassender Weise zu seinem geistigen Besitz gemacht hat. Aber er ist genauso zuhause in der deutschen geistigen Welt, pflegt ebenso vertrauten Umgang mit den deutschen Dichtern und Schriftstellern, die er besser kennt als die meisten von uns.
Viele deutsche Schriftsteller - von Goethe bis Anna Seghers - hat er übersetzt; er schrieb eine große Brecht-Biographie, ein Buch über Goethes Faust und jetzt eine Heine-Biographie; auch gab er die »Geschichte der deutschsprachigen Theaterwissenschaft vom 18. bis 20. Jahrhundert« heraus. Lew hat, und das ist vielleicht typisch russisch, ein noch ganz ungebrochenes Verhältnis zu der Welt der Literatur. Ihr Reichtum, der heute für viele bei uns - nicht durch äußere Ereignisse, sondern durch den eigenen inneren Zerfall der Betrachter - beeinträchtigt wurde, ist für ihn vollständig unangefochten.
Er, der sein Leben als Arbeiter begann, der jahrelang in Moskau mit seiner Familie zu fünf Personen in einem Zimmer wohnte, der vier Jahre im Krieg und neun Jahre in brutalen Gefängnissen und isolierten Straflagern zubringen mußte, er ist im wahren Sinne des Wortes in der weiten Welt zuhause - in der großen Welt der unsterblichen Dichter.
Auch jetzt, als er ausgebürgert wurde, dachte er zuerst an seine geistige Heimat und blickt nicht haßerfüllt auf die Mächtigen, die sie pervertieren. In der ZEIT schrieb er damals: »Der Geist einer Nation lebt in ihrer Sprache, Religion, Literatur, Kunst, Philosophie. Und dieser unermüdlich schöpferische Geist verhält sich den meisten Herrschern gegenüber wenn nicht direkt gegnerisch, so doch häufig ablehnend, oft auch aufsässig. Totalitäre Staatsmächte können Literaten, Künstler und Wissenschaftler verhaften, quälen, umbringen. Aber die können nicht eine Kultur nach ihrem Geschmack entstehen lassen. Und ebensowenig können sie die natürliche Entwicklung einer nationalen geistigen Kultur auf die Dauer blockieren.«
Wer heute etwa siebzig Jahre alt ist, hat den chaotischsten Teil dieses ungestümen und umwälzenden Jahrhunderts bewußt erlebt. Lew Kopelew war fünf Jahre alt, als die Oktober-Revolution seine Heimat in den Grundfesten erschütterte: Tage in Kellern, auf Kleiderbündeln schlafend, während draußen Gewehrschüsse und Maschinengewehrsalven durch die Straße peitschten, unverständliche Wortfetzen wie Tscheka, Pogrom, Entente, das sind seine Erinnerungen an jene Zeit. Nach den Roten waren es die Weißen, die die Stadt Kiew, seine Heimatstadt, eroberten - alle gleichermaßen grausam und furchterregend. Das Kind rettete sich unter das Bett, während die Eltern verhaftet wurden.
Er wächst auf in dem einzigartigen Milieu einer ukrainisch-russisch-jüdischen Familie, charakterisiert durch geistige Neugier und intellektuelle Frühreife. Mit zehn Jahren spricht er ukrainisch, russisch und deutsch. Bald kommt noch polnisch hinzu, weil in dem Arbeitsgebiet des Vaters, der als Agronom tätig ist, polnische Familien leben, mit deren Kindern Lew spielt.
Mit elf Jahren entdeckt er die großen polnischen Schriftsteller Mickiewicz und Sienkiewicz. Er hatte bereits Nekrassow, Korolenko, Dickens, Jules Verne, Jack London verschlungen und begann nun zum erstenmal, wie er sagt, »erwachsene«, politische Bücher zu lesen: Liebknecht: »Die Kommune«, die das erregende und tragische Ende der Pariser Kommunarden schildert.
Die vielen religiösen und politischen Gegensätze, zwischen denen er aufwuchs, lehrten ihn früh, selbständig zu denken und sich zu behaupten. Auch für seine große Toleranz anderen Völkern und andersdenkenden einzelnen gegenüber wurde wohl damals der Keim gelegt. Lew war ein begeisterter Kommunist, er war stolz darauf, junger Pionier zu sein, aber der Vater drohte: »Wenn ich Dich mit dem roten Lappen um den Hals sehe, kriegst du Dresche, daß du nicht mehr sitzen kannst. Ich sperre dich ein und laß' dich nicht mehr in die Schule.«
Die jüdischen Kinder höhnten ihn, als sie erfuhren, daß er Schweinefleisch ißt, wobei die doch so plausible Erklärung, daß das Verbot nur für das palästinensische Klima gegolten habe, gar nichts fruchtete. Wenn die anderen Kinder ihn »Saujud« nannten oder »Wurstfresser«, prügelte er sich mit ihnen, »aber niemals - nicht als kleiner Junge und auch später nicht -«, so schreibt er, »empfand ich das Bedürfnis, den anderen wegen seiner Nationalität oder seiner Religion zu verspotten«. Es gab auch endlose politische Auseinandersetzungen mit den Kameraden: für oder gegen Trotzkij, für oder gegen die Leningrader - und mit sich selbst: Bin ich Russe oder Ukrainer? Wobei die Antwort stets lautete: »Russe« - schon wegen der Literatur.
Lew liebte und bewunderte die Deutschen; auch den Polen, die von den anderen Kameraden mißachtet wurden, war er zugetan und sang mit ihnen das Lied der Freiheitskämpfer des vorigen Jahrhunderts: »Noch ist Polen nicht verloren.« In seinem großen Herzen hatten sie alle Platz: Christen und Juden, Polen und Deutsche, Kommunisten und Oppositionelle. Allgemeine Menschenliebe und echter Internationalismus hatten ihn frühzeitig in den Bann geschlagen.
In seinem Buch: »Und schuf mir einen Götzen« schreibt er: »Es gelang mir nicht, an den nörglerischen, strengen, jüdischen Gott zu glauben. Gleichzeitig entwuchs ich, unmerklich für mich selbst und völlig ohne Trauer, auch dem erhabenen, feierlichen und gnädigen Gott der orthodoxen Kirche. . . Als ich elf Jahre alt war, glaubte ich an einen Gott, der am ehesten dem von Schiller besungenen ähnelte: »Brüder, überm Sternenzelt, muß ein lieber Vater wohnen.« Später dann wurde sein Gott der gute Vater aller Menschen, aller Völker und Stämme, der Gott Tolstojs. Aber immer wieder brachen Anfechtungen über ihn herein, die aus dem Absolutheitsanspruch der neuen Ideologie erwuchsen, an der gemessen vieles, was er liebte, auch ihm selber als »bürgerliches Überbleibsel«, als »sentimentale Entwicklungskrankheit« oder schlicht als Schwäche erschien.
Damals waren er und seine Kameraden von den jungen Pionieren überzeugt von der Notwendigkeit der Weltrevolution, deren Resultate sie natürlich genau voraussahen: Alle Gefangenen würden aus den bürgerlichen Kerkern befreit, die Hungernden in China und Indien gespeist, Kapitalisten und Faschisten werde es keine mehr geben, aber in Rußlands Städten werde es Wolkenkratzer geben und in den Straßen viele Autos und Fahrräder; die Bauern werden alle gut gekleidet sein, mit Hüten auf dem Kopf und mit Uhren; Grenzen gibt es dann natürlich keine mehr - was die angenehme Folge haben wird, daß Bessarabien wieder zu Rußland gehört.
Ein unendliches Hochgefühl des Wir-seins erfüllte die jungen Komsomolzen bei den Versammlungen, und die beglückende Gewißheit unverbrüchlicher Solidarität begleitete sie auf dem abendlichen Rückmarsch nach Haus. In den Erinnerungen des Vierzehnjährigen heißt es: »Und während wir sangen und untergehakt mit den Mädchen marschierten, wollten wir nicht daran denken, daß sie weiche runde Schultern hatten, an die man sich enger anschmiegen konnte. Für solche niedrigen Gefühle war kein Platz, wenn alle gemeinsam lauthals das Lied von der Kommunarden-Abteilung sangen, die da kämpfte: >Im Donnerhagel der Granaten< oder jenes andere Lied: >Wir brauchen eine Flotte, viele Dutzend schwimmende, stählerne Festungen<.«
Das letzte Schuljahr, Lew war damals noch nicht sechzehn, verbrachte er in Charkow, wohin der Vater versetzt worden war. In Charkow gab es nun endlich die Möglichkeit, das, was er bisher als Amateur und Autodidakt betrieben hatte, systematisch zu vervollkommnen. Er besuchte regelmäßig den Schriftsteller-Club und trat der literarischen Jugendvereinigung »Avantgarde« bei. Dort war es üblich, daß nach vorheriger Verabredung jeder seine Gedichte oder eine Erzählung vorlesen konnte und alle Anwesenden das Gehörte dann kritisierten.
Wo immer Lew in den folgenden Jahren arbeitete - als Hilfsarbeiter, Metalldreher, Lehrer an einer Abendschule, Redakteur der Radio-Zeitung einer Lokomotivfabrik -, immer lebte er mit und in der Literatur, hatte Umgang mit den Großen der geistigen Welt Rußlands und Deutschlands. Es war im Grunde eine schizophrene Existenz, die es ihm ermöglichte, die Ungerechtigkeiten und Perversitäten der realen Welt, in der er lebte, nicht zu sehen oder sie angesichts des erträumten Zieles zu rechtfertigen.
Freunde und Kollegen, später auch er selber, wurden aus der Partei ausgestoßen, verbannt, eingesperrt, weil sie Trotzki nicht verdammten oder nicht überzeugend genug die reine Ideologie vertraten; manchmal auch nur, weil ein Genosse beobachtet hatte, daß verderbliche Gedanken in des Betreffenden Hirn Einzug hielten. Wachsam sein, Schädlinge ausfindig machen, sie rechtzeitig ausmerzen, das war für alle die wichtigste patriotische Aufgabe. So faszinierend und verpflichtend, so alles legitimierend erschien das leuchtende Ziel eines neuen Menschen in einer veränderten Welt, daß auf dem Wege dorthin keinerlei Bedenken aufkommen durften.
Stalin hatte gesagt: »Der Kampf ums Getreide ist ein Kampf um den Sozialismus.« Lew, der damals, als die Zwangskollektivierung begann und mit ihr die große Hungersnot, gerade zwanzig Jahre alt war, glaubte der Parole aufs Wort: »Wir waren Soldaten an einer unsichtbaren Front, bekämpften die Sabotage der Kulaken, kämpften um Brot für das Land, für den Fünfjahresplan. Vor allem um Brot, aber auch um die verstockten Seelen jener Bauern, die in falschem Bewußtsein und in Unwissenheit der feindlichen Agitation Glauben schenkten und die große Wahrheit des Kommunismus nicht begriffen.«
Er wurde mit hineingeworfen in das tragische und grausame Geschehen jener Jahre. Er mußte mit agitieren, sollte die Bauern überzeugen, sah die Brigaden, die Haus und Hof durchsuchten, alles beschlagnahmten, oft noch die letzte Kuh, das letzte Pferd und die Schweine forttrieben. Sah die Frauen sich verzweifelt an die Säcke klammern, hörte sie schreien und flehen: »Laßt mir einen Sack für die Kinder zum Brei - sonst werden sie verhungern.«
Und sie verhungerten zu Tausenden. Viele verließen Haus und Hof - auch zu Tausenden - und versuchten, dem Hunger zu entfliehen: in die Städte, irgendwohin. Krankenhäuser und Leichenhäuser waren überfüllt. Jede Nacht wurden die Leichen mit besonderen Autos auf den Bahnhöfen, unter Brücken, in Torwegen und Einfahrten eingesammelt. Die Bauernhäuser standen leer - die Fenster waren eingeschlagen, die Türen stets offen, hingen lose in den Angeln. Zwei Millionen Kulaken wurden, ihrer Habe beraubt, nach Sibirien transportiert.
Kopelew schreibt: »Ich wagte nicht, schwach zu werden und Mitleid zu empfinden. Wir vollbrachten doch eine historisch notwendige Tat. Wir erfüllten eine revolutionäre Pflicht... Wir glaubten, daß die Beschleunigung der Kollektivierung notwendig sei, um die Eigenmächtigkeit des Privatmarktes und die Rückständigkeit der Einzelbauern-Wirtschaften zu überwinden, um künftig Getreide, Milch, Fleisch planungsmäßig erzeugen zu können; um die Millionen von Bauern in bewußte Werktätige zu verwandeln, sie von Unwissenheit und Vorurteilen zu befreien, ihnen Kultur und alle Güter des Sozialismus zu bringen.«
Und die Zeitungen jener Zeit lieferten Beweise dafür, daß die Träume sich schon zu verwirklichen begannen. Sie berichteten von ungezählten Fabriken, Hochöfen und Maschinen-Traktoren-Stationen, immer neuen Erfolgen und Errungenschaften. »Die Technik entscheidet alles«, hatte Stalin gesagt, und so verneigte man sich vor ihr in Gedichten, Malerei, Film und Musik. Die Partei hatte inzwischen alle anderen Kirchen und Häresien siegreich überwunden, bald würde sie allen Völkern der ganzen Menschheit ewige Seligkeit auf Erden und Frieden für immer bringen. Das waren die Hoffnungen und zugleich die Überzeugungen, die damals junge Menschen und somit auch Lew erfüllten.
Eine Auswertung sowjetischer offizieller Statistiken hat ergeben, daß zu jener Zeit, also zwischen 1931 und 1934, rund sechs Millionen Menschen durch Hunger und Zwangsmaßnahmen umgekommen sind.
1931, mitten in der großen Hungersnot, wurde Lew schwer krank. Von körperlicher Arbeit dispensiert, durfte er ein Studium an der philosophischen Fakultät der Universität Charkow beginnen. Er hatte schon als Achtzehnjähriger ein gleichaltriges Mädchen geheiratet, wohnte aber noch bei den Eltern, weil es für Neuvermählte keine Wohnungen gab. Als dann der Vater 1935 nach Moskau versetzt wurde, zog die ganze Familie mit. Vater, Mutter, Lew und seine Frau sowie Lews zwei Jahre jüngerer Bruder - es waren also fünf Personen, die in ein Zimmer von 18 Quadratmetern Größe zogen. Das Zimmer war Teil einer Wohnung, in der noch zwei andere Familien hausten, aber Kopelews meinten, im Vergleich mit anderen seien sie gar nicht so schlecht dran.
Lew studierte Germanistik am Moskauer Spracheninstitut und zugleich Philosophie und Literatur am Institut für Geschichte. Im Mai 1941 promovierte er dort mit einer Arbeit über »Schillers Dramatik und die Probleme der französischen Revolution«; gleichzeitig erschienen seine ersten Aufsätze, Essays und Gedichte - auch hielt er Vorlesungen über »Sturm und Drang und die deutsche Romantik«.
Nach der Promotion wurde er zum stellvertretenden Chef der Abteilung für ausländische Dramatik bei der Theatergesellschaft in Moskau ernannt. Aber die Freude darüber, nun endlich ganz in der Welt leben zu können, die ihm so viel bedeutete, währte nicht lang. Als Hitler am 21. Juni 1941 die Sowjetunion überfiel, meldete er sich sofort als Freiwilliger.
Man sollte meinen, nun werde ein Prozeß des Umdenkens beginnen, bei dem sein Deutschland-Bild, das von Goethe, Heine und den Klassikern geprägt worden war, von der Wirklichkeit überlagert werden würde; einer Wirklichkeit, die die neuen Barbaren schufen, die jetzt Deutschland regierten. Viele sprachen auch nur mehr mit Haß und Abscheu von den Deutschen. Sie waren empört über den Agronomen Kopelew, der - in der humanistischen Tradition der russischen Intelligenz erzogen - die Verdammung des ganzen deutschen Volkes nicht mitvollzog. Und auch über dessen Sohn Lew, der immer weiter an einen humanistischen Internationalismus glaubte und sich weigerte, Rache an der deutschen Nation zu nehmen.
Zwar begann er einzusehen, daß der Traum von der a-nationalen Bruderschaft, in der alle Völker der Erde vereint sein würden, wie der jugendliche Schwärmer es sich einst vorgestellt hatte, utopisch ist - »Eine Absage an die Nation ist ebenso irreal wie eine Unterbrechung der Erdanziehung«, meinte er -, aber das Wissen um die Gleichwertigkeit aller Völker und Rassen, das wollte er nicht preisgeben und auch nicht den Glauben an die Möglichkeit, ethischen Vorstellungen entsprechend leben zu können. Übrigens ist er diesen Maximen treu geblieben. Anders als die meisten Emigranten, die ich kenne, hat er sich von dem Umkehr-Effekt, der jene so leicht befällt, freigehalten. So viele von ihnen werden in ihrem Haß auf das Regime zu umgekehrten Stalinisten, weil der Oppositionelle in einem autoritären System im allgemeinen dazu verdammt ist, das Spiegelbild dessen zu werden, was er verabscheut: Was das Regime zu verehren gebietet, verachtet der, der in Opposition ist, und was er zu verachten gehalten ist, verehrt er. Die Vorzeichen werden also nur vertauscht, sonst bleibt alles beim alten. Lew Kopelew hat dieser Versuchung immer widerstanden. Für ihn sind Toleranz, Objektivität und Humanität immer die höchsten Werte gewesen - auch in der Zeit, in der er ein glühender Kommunist war.
So konnte es denn nicht ausbleiben, daß er während des Krieges in Konflikt mit seinen Vorgesetzten geriet. Er war in Anbetracht seiner Sprachkenntnisse Führer einer Propaganda-Abteilung. Im letzten Jahre des Krieges - er war damals Major - wurde ein leidenschaftlicher, brutaler Deutschenhasser sein Vorgesetzter, der parteiische Wachsamkeit und rücksichtslose Disziplin zur obersten moralischen Maxime des Polit-Offiziers machte. Für ihn war Kopelew mit seinen »obskuren Idealen« ein »kleinbürgerlicher Intelligenzler«, ein »nichtsnutziger Büchernarr«. Es ärgerte ihn maßlos, daß sein Untergebener die Schriften von Lenin und Stalin besser zu zitieren wußte als er selbst. Auch empörte ihn, daß Kopelew bereit war, Unterschiede zwischen dem deutschen Volk und den Nazis zu machen.
Beim Einmarsch in Ostpreußen ließen dieser Vorgesetzte und seine Gesinnungsfreunde ihren Rachegefühlen freien Lauf. Voller Zorn trat Kopelew in der Parteizelle gegen sie auf. Er war außer sich über die Schande, die sie der Partei und der Armee zufügten. Als dann Plünderungen und Vergewaltigungen vom Frontkommando unter Strafe gestellt wurden, befürchteten jene wohl eine Anzeige und beschlossen darum, ihr zuvorzukommen: Im März wurde Kopelew aus der Partei ausgeschlossen, seines Postens enthoben und bald darauf im Raum von Danzig im Lazarett, wo er schwer verwundet lag, verhaftet.
Die Anklage lautete »bürgerlich-humanistische Propaganda des Mitleids mit dem Feind. Nichterfüllung von Befehlen, Verleumdung der eigenen Truppenführung, der sowjetischen Presse, des Schriftstellers llja Ehrenburg und der Verbündeten.« Das Urteil: zehn Jahre Straflager.
Hunderte, Tausende von Erniedrigten und Beleidigten, am System gescheiterten kreuzten Kopelews Weg auf dem langen, verzweifelten Marsch durch Gefängnisse und Straflager. Allein die Geschichte der eigenen Familienmitglieder, in kurzen Anmerkungen in seinen Büchern verstreut, fügt sich zu einer Kette unvorstellbaren Martyriums, zu einer unbegreiflichen Mischung von Tragik und Absurdität.
Als Kopelew im April 1944 auf der Durchreise von einem Frontabschnitt zum anderen durch Kiew kam, berichtete die Hausmeisterin ihm von den Ereignissen des September 1941: »Die Deutschen haben am zweiten Tag alle in die Schlucht Babij Jar gebracht. Es ging der Reihe nach. Der Großvater war sehr krank, konnte nicht mehr gehen. Großmutter und Ronja fuhren ihn in einem Wägelchen. Die Großmutter war die Stärkste, über achtzig, hustete immerzu, ganz dünn geworden aber aufrecht ging sie wie ein Stock. Und Ronja sagte zu mir: >Ich weiß, man wird uns dort umbringen, aber wir werden trotzdem siegen. Und wenn die Unsrigen zurückkommen, sagt ihnen, daß sie uns rächen sollen.<«
Ronja war Lews Lieblingstante. Als Gymnasiastin hatte sie 1919 Beziehungen zum illegalen Kiewer Revolutionskomittee. Darum wurde sie verhaftet und von den Weißen so brutal zusammengeschlagen, daß sie einen lebenslänglichen Schaden davontrug. Ihr späterer Mann, Marc Klubmann, ein Jurist, wurde 1937 als Instrukteur des ZK der Kommunistischen Partei der Ukraine verhaftet und zu zehn Jahren Lager verurteilt. Alle Versuche Ronjas, ihn freizubekommen, scheiterten.
Lew Kopelews Tochter ist verheiratet mit Pawel Litwinow, dem Enkel des Außenministers, der 1968 auf dem Roten Platz gegen die Invasion der CSSR protestiert hatte und darum verurteilt wurde. Sie folgte ihrem Mann in die Verbannung nach Sibirien.
Nicht viel besser erging es den Freunden: Weil sie ein Gnadengesuch für ihn unterschrieben hatten, wurden Kopelews Freunde Mussja, Walja, Mischa, Galina und Michail 1948 aus der Partei ausgeschlossen, aus der Armee entlassen oder ihrer Posten enthoben. Auch der Oberstleutnant, der ihn 1946 freigesprochen hatte, und der Oberst, der ihn 1947 zu nur drei Jahren verurteilt hatte - was in den Augen der Funktionäre viel zu wenig war - sowie der Vorsitzende des Militärkollegiums und seine zwei Stellvertreter, die Kopelews Straffrist von zehn Jahren auf sechs reduziert hatten, wurden ihrer Posten enthoben.
Doch wäre es falsch zu verallgemeinern und zu meinen, dies alles sei typisch russisch. Wir sollten uns, im Gegenteil, Kopelews Erkenntnis zu eigen machen und zwischen dem System und dem russischen Volk differenzieren. Haben nicht unsere Landsleute, die aus oft langjähriger Gefangenschaft zurückkamen, ihre Berichte fast immer mit einem Lob auf das liebenswerte russische Volk geschlossen?
Ich habe einmal Albert Speer, der zwanzig Jahre im Spandauer Gefängnis alle vier Wochen den turnusmäßigen Wechsel der Bewachung von Amerikanern, Russen, Engländern und Franzosen erlebt hat, gefragt, welcher Nation er als ständigem Bewacher den Vorrang gegeben haben würde, wenn er hätte wählen dürfen. Seine Antwort kam ohne Zögern: »Den Russen.« »Warum?« »Weil sie so menschlich sind«, sagte er - sie haben Mitleid.
Und ein anderes Erlebnis, das mich verblüffte: Kopelew hat im Sommersemester in Göttingen ein Seminar für Germanisten gehalten. Er mochte die Studenten besonders gern, war aber enttäuscht darüber, wie wenig die jungen deutschen Germanisten von Goethe gelesen haben - in der Sowjetunion müssen sie viel mehr über ihn wissen. »Gab es denn nicht auch Ausnahmen?« »Doch, ein Mädchen war ganz ausgezeichnet und auch ein junger Mann.« Unser Gespräch wandte sich dann anderen Dingen zu, aber nach einiger Zeit fiel mir ein zu fragen: »Wo kam denn das Mädchen her?« Antwort: »Aus Kasachstan!« Und der Junge? Antwort: »Aus Riga.«
Zum Schluß möchte ich zwei Wünsche aussprechen dürfen: Lew und seiner lieben Frau Raja wünsche ich, daß sie bei uns ein Stück Heimat finden mögen, wenn es auch nie ein Ersatz für das sein wird, was sie verloren haben. Und uns wünsche ich, daß wir durch sie wieder lernen, was Heimat ist.
Vielen meiner Generation - auch mir selber - ist dieser Begriff durch Hitler ausgetrieben worden; und vielen Jungen, die dabei nur an Kapitalismus und Konsumgesellschaft denken, war er von vornherein fremd. Von Dir, Lew, könnten wir wieder lernen, daß Heimat ein geistiger Begriff ist, der mehr mit den Dichtern zu tun hat als mit Wirtschaft und Wohlstand und der einem nicht zufällt, sondern erworben werden muß.
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Marion Gräfin Dönhoff
Laudatio
Heute müßte es bereits allen eindeutig klar sein, daß der Friede auf dieser Welt nur dann wirklich erhalten bleibt, wenn auch die Menschenrechte gesichert werden – die Rechte der kleinsten nationalen und sozialen Minderheiten und die Rechte jedes einzelnen Menschen. Deswegen sind alle, die sich heute für Menschenrechte einsetzen, wahre Friedenskämpfer.
Lew Kopelew - Dankesrede
Lew Kopelew
Die Waffen des Wortes nie ruhen lassen
Dankesrede
I.
Danke! Danke soll hier mein erstes Wort sein. Um die verwirrten Empfindungen, die mich erfüllen, seit ich von dieser Preisverleihung erfahren habe, richtig auszudrücken, fände ich auch in meiner Muttersprache nicht die angemessenen Worte. Herzlich danke ich allen, die dazu beigetragen haben, daß ich hier sprechen darf. Ich weiß, daß mit dieser Ehrung nicht ich allein gemeint bin, sondern viele meiner Landsleute, deren Tun, Mühen und Leiden von dem selbstlosen Einsatz für Menschenrechte, für Versöhnung der Völker und für den Frieden bestimmt sind, und nicht wenige Autoren, deren Werke von Menschenliebe und Friedenswillen durchdrungen sind.
Daß solche Menschen in einem totalitären, ideologisch regierten Staat in dieser Weise wirken können, erscheint manchen Kollegen hier im Westen unwirklich, geradezu paradox. Über dieses nur scheinbare Paradoxon habe ich ein Buch geschrieben, das im kommenden Jahr erscheinen soll. Hier will ich einige Thesen anführen.
Das wahre geistige Leben in allen Ländern, besonders in denen, die autoritär oder gar totalitär beherrscht werden, entwickelt sich unabhängig von der Staatsmacht. Staatspolitische Traditionen, administrative Routine und ideologische Überlieferungen bleiben entweder fremd oder stehen den geistigen, sittlichen Traditionen, den Überlieferungen nationaler Kultur direkt feindlich gegenüber.
Die einheitliche deutsche Nation und die in all ihrer farbenreichen Vielfalt einheitliche deutsche Nationalkultur entstand und entwickelte sich in vielen, auch kleinen Staaten. Sie entstanden und entwickelten sich trotz Fehden und Kriegen, trotz der einst unversöhnlichen Feindschaft zwischen Konfessionen und Ständen. Selbst die erfolgreichsten und kulturfreundlichsten Könige und Fürsten blieben immer nur Landesherren ihrer Untertanen, Verfechter ihrer dynastischen Interessen.
Luther und Lessing, Goethe und Kant gehörten der ganzen deutschen Nation. Noch Jahrzehnte bevor hier in diesem ehrwürdigen Raum die ersten Diskussionen über die Gründung eines einheitlichen deutschen Staates begannen, wurde das kleine Weimar zur Hauptstadt der deutschen Kultur.
Goethe - der hier in Frankfurt Geborene - schöpfte seine Erkenntnisse und Erfahrungen an verschiedenen Orten, die zu verschiedenen Staaten gehörten. Aber alle deutschen Staatsmächte - die preußischen, österreichischen, weimarischen, sächsischen - ebenso wie alle französischen - die königlichen, die republikanischen, die napoleonischen und wieder die königlichen -, denen Goethe auch manchmal aufrichtige Verehrung zollte, waren entweder unwesentliche oder störende, bestenfalls nur als Dünger brauchbare Bestandteile des Grundes, aus dem der ewig grüne Baum seines Werkes entwachsen war und immer weiter über immer neue Länder seine Zweige ausbreitete.
Staaten und Ideologien vergehen; aber für alle Zeit währt der Geist der Nation; er lebt in der Sprache, in der Dichtung, in der Kunst, in der vielschichtigen Gedankenwelt, er beseelt immer neue Generationen und wird auch von anderen Völkern übernommen und weiterentwickelt.
Jede nationale Kultur erfährt Einflüsse und Überlieferungen aus dem Kulturgut anderer Nationen. Heute sind die meisten Völker in ihrer geistigen Entwicklung vielfach miteinander verbunden. Aber die jeweiligen Staatsgewalten können den Denkern, Dichtern und Künstlern wohl das Leben sauer machen, können sie begünstigen oder verfolgen, können Kulturschätze vergeuden oder auch sammeln, aber produzieren können sie nichts. Keine Staatsmacht, keine politische Partei vermochte oder vermag Kultur zu schaffen. Korrumpierte oder vergewaltigte Künstler werden steril. Dagegen sind geistige Unabhängigkeit und geistiger Widerstand, offene Auflehnung oder auch nur stille Entfremdung Vorbedingungen einer fruchtbaren Entwicklung - auch dann, wenn einzelne Poeten, Künstler oder Philosophen selbst aufrichtig glauben, sie seien gehorsame Staatsbürger.
Davon zeugt die Geschichte der deutschen Kultur in allen deutschsprachigen Gebieten; davon zeugt die Geschichte der polnischen Kultur, die trotz der hundertfünfzigjährigen Teilung und Unterdrückung in drei verschiedenen Staaten sich großartig entwickelte; davon zeugt auch die Geschichte der russischen Kultur, der russischen Dichtung von ihren frühesten Anfängen bis heute.
Die Entfremdung des alten russischen Staates vom Volk erkannten viele große Geister Rußlands. Es beklagten oder geißelten diese Entfremdung konservative und liberale Patrioten, Slawophile und Westler, gemäßigte Volkstümler und radikale Revolutionäre. Seit Anfang des 18. Jahrhunderts waren die Petersburger Kaiser schon in äußerlichen Formen volksfremd und antinational. Um wieviel antinationaler wurde der Staat, der sich sozialistisch und in seinem Grundgesetz sogar Volksstaat nennt!
Nach der bolschewistischen Machtergreifung im November 1917 wütete vier Jahre lang ein grausamer Bürgerkrieg. Die neue Staatsmacht überrannte alle Rivalen - die Armeen der »weißen« Generäle, die uneinig und altmodisch reaktionär waren, die ausländischen Interventionsarmeen - und überwältigte so gut wie alle revolutionären Kräfte. Das ist es eben, was von sowjetischen und prosowjetischen Historikern einfach mißachtet oder bewußt verfälscht und von den meisten Antikommunisten verkannt wird. Die bolschewistische Regierung unterdrückte von Anfang an vor allem die revolutionären Kräfte - sowohl die soziale Revolution der russischen Bauern, Arbeiter und Intelligenzija als auch die soziale und nationale Revolution der Völker, die zuvor vom Zarenreich unterjocht worden waren. Im letzten Jahr des Bürgerkriegs 1921 wurden die Aufstände der Bauern in der Ukraine, in Sibirien im Gebiet von Tambow und der Aufstand der Matrosen in Kronstadt blutig niedergeschlagen, der Widerstand der georgischen und armenischen Sozialisten gebrochen. Es gelang damals den Polen, Finnen, Esten, Letten und Litauern, ihre nationale Unabhängigkeit zu erkämpfen. Doch kaum zwanzig Jahre später hat Stalin im Bündnis mit Hitler die drei baltischen Völker und ein Stück Polens »heim ins Reich« geholt. Die Finnen blieben ungebrochen.
Daß der Sowjet-Staat, der in seinen Anfängen recht schwach war, den Bürgerkrieg gewonnen hat und einer Übermacht feindlicher Staaten trotzte, wurde möglich, weil die Bolschewiki nicht bloß die Revolution unterdrückten, sondern gleichzeitig revolutionäre Kräfte demagogisch zu nutzen verstanden. Das wiederum konnte geschehen, weil Lenin, Trotzkij und deren Genossen auch selbst glaubten, daß die Wiederherstellung des Staates, die Wiedereroberung der vom Zaren annektierten Gebiete und der Aufbau eines zentralisierten militärischen, polizeilichen und bürokratischen Machtapparats nur Mittel zu revolutionären Zwecken seien, Vorbedingungen für eine utopische, sozialistische Erneuerung Rußlands und für eine proletarische Weltrevolution. Deswegen kämpften die meisten Bolschewiki fanatisch und schonten weder Feind noch Freund noch sich selbst. Stalin war nicht nur heimtückischer als seine sonst intelligenteren Vorgänger; er hat die Geschichte und Politik auch viel realistischer und pragmatischer aufgefaßt. Für ihn war eben der Staat, die Wiederherstellung des Imperiums das eigentliche Ziel; dagegen aber all die sozialistischen und kommunistischen weltrevoluzzerischen Parolen der Komintern nur ideologische Kampfmittel. Die Stalin'sche Regierung hat ihre Verbindung zu der früheren imperialen Großmacht bereits in den 30er Jahren offen bekundet, feierte Zaren und zaristische Feldherren, glorifizierte selbst den paranoid blutrünstigen Iwan den Schrecklichen so uneingeschränkt, wie es im alten Rußland kaum möglich gewesen wäre.
Der totalitäre Sowjetstaat wurde weitgreifender und grausamer als alle seine Vorgänger. Verstaatlicht wurden Landwirtschaft, Industrie, Handel, Gewerkschaften, Bildungswesen, angefangen beim Kindergarten, Massenmedien, Verlage, Presse, Kultur- und Freizeitstätten sowie alle gesellschaftlichen Organisationen. Von neuem verstaatlicht wurde auch die Kirche. Der riesige, unübersehbare Machtapparat in all seinen komplizierten, vielschichtigen Gliederungen ist meistens unproduktiv, oder auch direkt schädlich.
Doch trotz alledem entwickelt sich das geistige Leben des russischen Volkes und aller anderen Völker der Sowjetunion unabhängig von diesem Apparat. So war es, so ist es, und - ich bin überzeugt - so wird es sein.
In den Jahren der rücksichtslos terroristischen und selbstsicheren Willkür, als die Henker und die Hetzer von keiner Proteststimme gestört wurden, hat man mehr als 600 Schriftsteller verhaftet und 180 von ihnen umgebracht. Noch größer war die Zahl der verbannten und ermordeten Künstler, Wissenschaftler, sonstiger Intellektueller. Aber auch damals in den finsteren Jahren versiegten die Quellen der russischen geistigen Tradition nicht. Denn es lebte ja das Wort. Die Bücher von Babel und Pilnjak wurden vernichtet, Anna Achmatowa durfte nicht publizieren, aber die Bücher von Puschkin, Tolstoj, Tschechow, selbst Dostojewskij waren nicht zu verbieten. Man konnte es nicht. Man versuchte sie immer wieder ideologisch umzudeuten, aber sie waren da, sie lebten in Schulen, in Theatern, Bibliotheken, in den Bücherschränken vieler Familien . . . Und trotz der tödlichen Gefahren, trotz des ungeheuren Drucks einer ideologischen Indoktrinierung, von der viele Menschen auch berauscht waren, wirkten in Rußland im Stillen Philosophen wie Michail Bachtin und Wladimir Wernadskij, die Dichter und Schriftsteller Anna Achmatowa, Wsewolod Iwanow, Boris Pasternak, Michail Bulgakow, Michail Soschtschenko, Andrej Platonow, Alexander Twardowskij. Damals waren ihre Gedanken, ihre Schriften nur zum Teil oder nur in engeren Kreisen bekannt. Aber in den folgenden Jahren erhielten sie immer weitere und größere Bedeutung. Die Machwerke der indoktrinierten oder korrumpierten Autoren wurden trotz Massenauflagen, trotz vieler Preise und Orden bald vergessen. Jedoch: Es lebte das Wort, das den wahren Geist der Nation verdichtete. Es lebte so im Inland wie im Ausland in den Werken von Bunin, Zwetajewa oder Nabokow.
In den demokratischen Staaten darf man von einem gewissermaßen friedlichen Zusammenleben der Staatsgewalten und der freien Dichter, Denker und Künstler reden, von einem toleranten Nebeneinander des staatspolitischen Alltags und des geistigen Lebens. In despotischen, in totalitären Staaten sind es immer dramatische Gegensätze, hoffnungsvoller oder verzweifelter Widerstand. Doch eben diese Gegensätze, die grundsätzlichen, unausgleichbaren Widersprüche zwischen Gewalt und Geist, zwischen herrschender Macht und beherrschtem Volk nähren heute unsere Hoffnung auf den Frieden.
II.
Frieden oder Krieg. Verständigung oder Feindschaft. Dies oder jenes wählen mußten die Menschen, seitdem sie Menschen geworden. Doch Kriege und Kriegshelden wurden meistens wort- und farbenreicher geehrt als Friedenshüter und Friedensstifter. Die antiken Musen bewunderten den Zorn des Achilles, den schlauen Odysseus; in Ost und West erklangen die schönsten Lieder »von helden lobebaeren«, von russischen Bogatyri und deutschen Recken, von Rittern und Chevaliers. Krieger hatten bei den Dichtern mehr Erfolg als die stille Iris, die Göttin des Friedens.
Heraklit lehrte: «Der Krieg ist der Vater aller Dinge«, und Nietzsches Zarathustra verkündete: »Ihr sollt den Frieden lieben als Mittel zum neuen Krieg . . . Der Krieg und der Mut haben mehr große Dinge getan als die Nächstenliebe.« »Wer Frieden will, bereite den Krieg«, sagten die wehrtüchtigen Römer; »Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln«, behauptete Clausewitz; Hegel und Marx haben ihm zugestimmt.
»Krieg und Frieden«, der Roman des großen Pazifisten Tolstoj, ist auch heute noch das meistgelesene Buch in Rußland. Zum ersten Mal las ich es mit 13 Jahren, und wie alle meine Kameraden wollte ich dann hauptsächlich über den Krieg lesen, der Frieden schien uns uninteressant.
»Lieber stehend sterben als kniend leben«, rief die spanische Arbeiterführern La Passionaria. Diese Worte wurden zum Schlachtruf im spanischen Bürgerkrieg und zum Schlagwort aller Antifaschisten.
Vor 40 Jahren um diese Zeit trat die nazistische Wehrmacht zum letzten Sturm auf Moskau und Leningrad an - siegesgewohnte Soldaten aller Waffengattungen, die bereits den Kontinent Europa erobert hatten, gewaltige Panzerkolonnen, Riesengeschwader von Bombern, Schlacht- und Jagdfliegern. Die russischen Städte und Dörfer brannten, russische Armeen wichen der Übermacht; Hitler hatte ja bereits eindeutig gesagt: »Dieser Feind liegt am Boden und wird sich nie wieder erheben.« Für uns, für alle meine Kameraden gab es nur eine Wahl: Krieg bis zum letzten Atemzug. Aber wir glaubten, daß es der letzte Krieg sein werde. Gläubig sangen wir das Lied der Flieger »Für den ewigen Frieden vorwärts ins letzte Gefecht«, ebenso die Internationale, die damals noch Staats- und Nationalhymne war: »Völker hört die Signale, auf zum letzten Gefecht.«
Vor 40 Jahren um diese Zeit gehörte ich zu denen, die überzeugt waren, daß die Vernichtung der faschistischen Kriegsmächte einen breiten lichten Weg zum ewigen Weltfrieden ebnen müsse.
Das waren nicht die ersten Illusionen solcher Art, wir waren nicht die ersten Utopisten.
Vor zwei Jahrhunderten glaubten nicht nur naive Aufklärer an die Kraft der Vernunft, der humanen Erziehung. Denis Diderot und Immanuel Kant waren überzeugt, daß Aufklärung, internationaler Handel und vernünftige sittliche Staatspolitik allmählich alle Völker von Mißtrauen und feindseligen Instinkten befreien müssen und daß Kriege unmöglich werden, zunächst in Europa und dann in aller Welt.
Vor hundert Jahren behaupteten Marx, Engels und ihre Schüler, daß grundsätzliche soziale Veränderungen, sozialistische Revolutionen, die alle früheren Eigentums- und Produktionsverhältnisse umgestalten, damit auch einen ewigen Frieden sichern werden.
Und noch vor fünfzig Jahren sah man in den Straßen europäischer Städte die beschwörenden Plakate: »Nie wieder Krieg!«
Heute erschallen wieder Alarmsignale. Aber heute ist die Wahl nicht mehr wie einst: Krieg oder Frieden, Verständnis oder Feindschaft. Jetzt heißt es: Entweder Frieden oder globale Katastrophe, entweder Verständigung oder Vernichtung der meisten Menschen auf Erden und Verkrüppelung der wenigen, die überleben.
III.
Darf dies aber bedeuten, daß der Frieden eine Kapitulation verlangt, daß friedenswillige Völker und Staaten sich einem brutalen Diktat, einer totalitären Staatsmacht unterwerfen müssen? Gibt es wirklich nur die beiden Möglichkeiten, die man manchmal lapidar formuliert: «Lieber tot als rot« oder aber »Lieber rot als tot«?
Nein, die Aussichten für eine friedliche Menschheit sind viel farbenreicher. Hier will ich über keine staatspolitischen und strategischen Probleme sprechen, weder über Aufrüstung und Nachrüstung noch über Entspannung oder Abschreckung. Auf diesem Gebiet bin ich inkompetent, und stammtischpolitischer Dilettantismus verlockt mich nicht.
Aber als höchste Pflicht empfinde ich die Möglichkeit, über die Kräfte des Friedens zu sprechen, die unbestreitbar wirksam »allen Gewalten zum Trutz sich erhalten«.
Da sind die polnischen Arbeiter und Intellektuellen, Bauern und Pfarrer, die heute unter schwersten Lebensbedingungen einer ungeheuren Übermacht tapferen und gewaltlosen Widerstand leisten. Ihr dauernder, unbestreitbarer Triumph wäre von größter segensreicher Bedeutung für die ganze Welt. Doch unabhängig davon, wie es weitergeht in Polen, - was schon im verflossenen Jahr gelungen ist, festigt die Hoffnung: Was wenigen für kurze Zeit gelang, das kann, das muß vielen auf die Dauer gelingen.
Heute müßte es bereits allen eindeutig klar sein, daß der Friede auf dieser Welt nur dann wirklich erhalten bleibt, wenn auch die Menschenrechte gesichert werden - die Rechte der kleinsten nationalen und sozialen Minderheiten und die Rechte jedes einzelnen Menschen. Deswegen sind alle, die sich heute für Menschenrechte einsetzen, wahre Friedenskämpfer.
Aber Menschenrechte zu verteidigen, ist heute gefährlich in mehreren Staaten - von Südafrika bis Korea, von Santiago bis Moskau, in Staaten, die wohl ganz verschiedene ideologische Fahnen schwenken, aber in Willkür und Intoleranz sich verwandtschaftlich gleich sind. Doch ich will hier vor allem über die Friedenskämpfer in der Sowjetunion sprechen.
Ich nannte bereits Autoren, die selbst in den schlimmsten Jahren der Gewaltherrschaft den wahren Geist der Nation verkörperten, Menschlichkeit und Friedenswillen zum Ausdruck brachten. Auch jetzt haben sie Nachfolger.
Ich wage nicht, alle Namen zu nennen: russische, ukrainische, georgische, estnische, armenische und andere für Sie ungewöhnlich klingende Namen. Für einige von diesen Menschen könnte mein Lob gefährlich werden. Deswegen nenne ich nur diejenigen, die es nicht zu fürchten brauchen: Wassilij Aksionow, Josif Brodskij, Wladimir Bukowskij, Pjotr Grigorenko, Efim Etkind, Wladimir Maksimow, Viktor Nekrassow, Andrej Sinjawskij, Alexander Sinowjew, Alexander Solschenizyn, Walerij Tschalidse, Wladimir Wojnowitsch leben jetzt im Ausland, sind exiliert oder zur Emigration gezwungen worden. Ihre Bücher sind auch in der Bundesrepublik in deutscher Sprache verlegt. Und ich möchte in dieser Stunde, an diesem besonderen Orte auch die Autoren nennen, die in Rußland leben, aber nur im Ausland publizieren können: Raissa Lert, Inna Lisnjanskaja, Lidija Tschukowskaja, Wladimir Kornilow, Semjon Lipkin, Roj Medwedjew, Grigorij Pomeranz, Andrej Sacharow, Georgij Wladimow. Sie werden schwer bedrängt und Tag für Tag durch Schikanen bedroht.
Mancher von ihnen hat diesen ehrenvollen Friedenspreis mehr als ich verdient. Vor allem Andrej Sacharow, der geniale Wissenschaftler und sclbstaufopfernde Menschenfreund, der jetzt allen Gesetzen zum Spott verbannt ist, von seiner Arbeit, seinen Freunden isoliert. Sehr viele Menschenrechtler in der Sowjetunion wurden verhaftet, in Straflager und Irrenhäuser eingesperrt. Stellvertretend für Tausende seien hier nur genannt: Igor Ogurzow, ein Philologe und christlicher Philosoph, ist schon mehr als 14 Jahre im Gefängnis. Tatjana Welikanowa, Mathematikerin, seit zwei Jahren im Straflager; Jurij Orlow, Physiker, und Mykola Rudenko, ein ukrainischer Lyriker, beide seit mehreren Jahren in strengster Haft dafür, daß sie die sogenannten Helsinki-Kommissionen - loyale Gruppen aufrichtiger, ehrlicher Friedenskämpfer - organisierten. Anatolij Martschenko, ein Arbeiter, der zum Schriftsteller wurde - seine Bücher sind in vielen Ländern erschienen -, ist jetzt zum sechsten Mal verhaftet. Konstantin Asadowskij, ein Germanist, der sich in der Erforschung deutsch-russischer Literaturbeziehungen verdient machte, ist auf Grund einer Verleumdungsanklage im Straflager; dieselbe Methode wird zur Zeit angewendet gegen den Historiker Arsenij Roginskij. In der Tschechoslowakei sind in Gefängnissen der weltbekannte Dramatiker Vaclav Havel, der junge Historiker Petr Uhl und viele, sehr viele andere Kämpfer für Menschenrechte und Weltfrieden.
Die Sorge um sie und um ihre Leidensgenossen möchte ich allen ans Herz legen, die mich hören und die später diese Worte lesen werden. Vergessen Sie sie nicht! Erinnern Sie an sie immer wieder sowjetische und tschechoslowakische Behörden und jeden Bürger dieser Staaten, mit dem Sie korrespondieren oder sprechen werden!
Aber nicht nur im Exil, in Straflagern oder im Untergrund äußert sich heute das geistige Leben Rußlands, der Friedenswille und die schöpferische Kraft des russischen Volkes und aller anderen Völker der Sowjetunion. Es sind viele Autoren, die jetzt auch dort publizieren; es sind manche Lyriker und Epiker, Philosophen, Theologen, Philologen, Historiker, Kunst- und Naturwissenschaftler, die trotz aller ideologischer Tabus und Zensurschranken Wahrheit, Menschlichkeit und Friedenswillen zum Ausdruck zu bringen vermögen.
Solche Menschen guten Willens gibt es gewiß in allen Ländern der Welt, Menschen verschiedener Völker und Stände, verschiedener Konfessionen und Weltanschauungen, aber eines guten Willens.
IV.
Ein guter Wille kann vieles leisten, kann den bösen Gewalten widerstehen und kann sie auch bewältigen.
Nach dem letzten Krieg waren viele Menschen in Rußland, in der Sowjetunion Deutschen gegenüber mißtrauisch oder gar feindselig eingestellt. Denn die eigene und die hitlersche Kriegspropaganda überzeugten sie davon, daß der Nazi-Staat und das deutsche Volk identisch seien, daß die SS, die brutalste Soldateska, typische Vertreter der Nation seien.
Die unsichtbare, aber undurchdringliche Mauer des Mißtrauens, des Hasses haben als erste die deutschen Schriftsteller durchbrochen. Dafür kann ich Zeuge sein. Vor 15 Jahren waren es vor allem die Bücher von Heinrich Böll - der auch heute noch der meistgelesene ausländische Autor in Rußland und anderen Sowjetrepubliken ist - und die Bücher von Erich Maria Remarque. Inzwischen sind dort auch andere deutsche bzw. deutschsprachige Schriftsteller bekannt geworden und gewinnen immer mehr Freunde unter den Lesern: Alfred Andersch, Wolfgang Borchert, Bertolt Brecht, Friedrich Dürrenmatt, Bernt Engelmann, Hans Magnus Enzensberger, Max Frisch, Leonhard Frank, Günter Grass, Peter Handke, Wolfgang Koeppen, Siegfried Lenz, Paul Schallück, Anna Seghers, Erwin Strittmatter, Martin Walser, Peter Weiss, Christa Wolf und viele andere.
Sie haben Millionen Menschen in der Sowjetunion viel wirksamer geholfen, ihre deutschen Zeitgenossen zu verstehen und zu achten, als es alle Staatsmänner, alle Konferenzen und Pakte je vermochten.
Heinrich Böll sagte in einer Rede über »Die Sprache als Hort der Freiheit«: ». . . wer mit Worten umgeht, wie es jeder tut, der eine Zeitungsnachricht verfaßt oder eine Gedichtzeile zu Papier bringt, sollte wissen, daß er Welten in Bewegung setzt, gespaltene Wesen losläßt: was den einen trösten mag, kann den anderen zu Tode verletzen ... Es ist kein Zufall, daß immer da, wo der Geist als eine Gefahr angesehen wird, als erstes die Bücher verboten, die Zeitungen und Zeitschriften, Rundfunkmeldungen einer strengen Zensur ausgeliefert werden... In allen Staaten, in denen Terror herrscht, ist das Wort fast noch mehr gefürchtet als bewaffneter Widerstand, und oft ist das letzte die Folge des ersten. Die Sprache kann der letzte Hort der Freiheit sein ...« Diesen Text habe ich vor 20 Jahren ins Russische übersetzt. Er ging von Hand zu Hand als Manuskript des sogenannten Samisdat, wurde immer wieder neu getippt, und ich fand Abschriften dann in Saratow und in Nowosibirsk.
Puschkin nannte die Buchdruckerkunst eine neue Art der Artillerie.
Ja, das Wort ist Waffe, eine Waffe, die man oft unterschätzt oder auch mißbraucht - mit Worten hantieren ja auch gewissenlose Demagogen, Verleumder und Kriegshetzer.
Es gibt Worte wie Spreu und Worte wie Korn. Spreu wird verweht, das Korn aber keimt, wächst, bringt Früchte und wird immer wieder zu neuem Leben geboren. In den vielen Worten, die über Frieden und Krieg gesagt, gesungen, geschrieben wurden, gab es sowohl Spreu wie Korn. Es sei nicht vergessen: Auch das beste Korn kann zu Brot verarbeitet wie zu Schnaps gebrannt werden, und der beste Trank kann zum schlimmsten Rausch führen.
Aber das wahre, mutige Wort der Dichter und Pastoren, der Denker und der Berichterstatter - das Wort aller tapferen Friedenskämpfer - ist eine Waffe des Friedens.
Nach neuen, ungekannten Wörtern zu suchen, bleibt Aufgabe der Poeten. Aber viele altbekannte Wörter können heute ganz besonders hilf- und segensreich werden.
Sechs Jahrhunderte vor Christus lehrte Laotse, daß Kriege nicht nur für das leibliche Leben todesgefährlich, sondern auch für Geist und Seele verderblich sind. Die menschenfreundlichen Lehren des chinesischen Denkers ebenso wie die Buddhas überdauerten all die waffenklirrenden Gegenargumente, überdauerten Kriege und Eroberungen, Gewaltverehrung und Anbetung erfolgreicher Gewaltherrscher.
Jahrtausendelang opferten Menschen den Göttern, opferten Früchte, Weihrauch, Tiere und manchmal auch Menschen; Abraham war bereit, seinen Sohn dem Allmächtigen zu opfern.
Jesus aber opferte sich den Menschen; der Gottessohn wurde zum Opferlamm, erlitt alles, »was der ganzen Menschheit zugeteilt ist«, wurde verfolgt, geschmäht, gepeinigt, grausam hingerichtet.
Wäre ich in Indien oder in China aufgewachsen, hätte ich vielleicht andere göttliche Gestalten verehrt. Doch aus allem, was ich erlebt und erfahren habe, wuchs die Überzeugung, daß die Bergpredigt der höchste, der reinste Gipfel ist, den der menschliche Geist zu erreichen vermag.
Die Friedensbotschaft der Bergpredigt, die Liebe selbst zu den hassenden Feinden verkündet, erklang zuerst nur für wenige Hörer, wurde nur von einigen hundert Hirten, Fischern, Bauern und frommen Schülern gehört; von den armen, leidenden, erniedrigten, wehrlosen Menschen in einem winzig kleinen Lande.
Seitdem aber erreicht diese Botschaft hunderte Millionen Menschen aller Kontinente, aller Stände und Rassen; und kein Kriegslärm, keine Haßpredigten konnten sie übertönen, keine noch so spitzfindigen Umdeutungen konnten ihren wahren Geist, ihren wahren Sinn entstellen.
Denn eindeutig sind diese Worte der Liebe und des Friedens.
Die skeptischen Zeitgenossen der beiden Weltkriege konnten das Verlangen nach Völkerverständigung und Weltfrieden noch als wirklichkeitsfremde Wunschträume abtun. Doch jetzt sind zum erstenmal in der Weltgeschichte globale Probleme für alle Völker, für alle Menschen zu ihren eigenen Problemen geworden: die Gefahren des Atomkrieges, die Zerstörung der Umwelt, der Biosphäre, die Bevölkerungsexplosion ... Gleichzeitig aber haben die Massenmedien, die neuesten Verkehrsmittel es möglich gemacht, daß diese Gefahren den meisten Menschen bewußt werden.
Dadurch erhält das alte Wort des Predigers Salomo (3,5) einen neuen inhaltsschweren Sinn: »Steine schleudern hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit . . . Zerreißen hat seine Zeit und zusammenfügen, Zeit zu schweigen und Zeit zu reden ...«
V.
Reden und schreiben - die Waffen des Wortes nie ruhen lassen.
Die Waffenträger sind Poesie und Wissenschaft, Kirche und Zeitung, Schule und Rundfunk, Bühne und Fernsehen; sie alle verfügen über Kräfte, die dauerhafter und wirksamer als alle Bomben und Raketen sein können und sein sollen. Man muß sie nur erkennen und gebrauchen lernen.
Seit dem Altertum preist man die Kriegskunst - die Kunst Cäsars, Friedrichs des Großen, Napoleons, Suworows, seit alters her achtet man die Helden der Kriege. Es gibt auch eine Kriegswissenschaft, um die sich mancher verdient gemacht hat.
Jetzt ist es höchste Zeit, die Kunst des Friedensstiftens, die Ästhetik und das Heldentum des Friedens zu erkennen; denn heute wissen wir, daß den Frieden zu meistern viel schwieriger, viel komplizierter ist, als einen Krieg zu führen. Und wissenschaftlich exakt muß man die Mittel und Methoden der Friedenserhaltung erforschen und gestalten.
In dem Buch »The Social Contra«« schreibt Robert Ardrey: »... in der ... Natur des Menschen (ist) eine Union des Sichtbaren und des Unsichtbaren erkennbar. Das sichtbare Wesen: der Mensch, der vor dir sitzt .. . Das Unsichtbare ist unsere Gemeinschaft und die Ewigkeit unserer Interessen ... Ein Kodex gemeinsamer Voraussetzungen, gemeinsamer Verpflichtungen, gemeinsamer Sicherheiten kann . . . eines Tages möglich werden. Obwohl die Explosion der Wissenschaften alle bisherigen Glaubensartikel hinweggefegt hat, ist eine von der Wissenschaft unangreifbare Religion immer noch ein Ziel, das wünschenswerter ist denn je. Nur dürfen wir uns nicht selbst belügen.« Ich glaube, Ardrey hat Recht. Die unveräußerlichen Vorbedingungen und Grundsätze der Kunst und der Wissenschaft des Friedens sind Wahrheit, Toleranz und der Geist der Bergpredigt.
Davon zeugen die Lehren der Weltgeschichte, der Geschichte Deutschlands und Rußlands. Seit Jahrhunderten sind Russen und Deutsche untrennbar miteinander verbunden, in Handel und Wandel, in Krieg und Frieden und vor allem und am dauerhaftesten im Geist. Darüber sollen noch Bücher geschrieben werden; hier nur einige Beispiele.
Die erste poetische Würdigung Moskaus stammt aus einer deutschen Feder. Paul Fleming, der 1637/39 durch Rußland reiste, dichtete begeistert über Moskau und andere russische Städte, über Landschaft und Menschen. Im vergangenen Jahrhundert lebte in Moskau der deutsche Arzt Friedrich Joseph Haass - weit bekannt als der heilige Doktor Fjodor Petrowitsch, selbstloser Beschützer und Freund der Strafgefangenen, aller Erniedrigten, der Ärmsten der Armen. Er starb vor 128 Jahren, aber heute noch bringen unbekannte Menschen Blumen an sein Grab auf dem Moskauer Friedhof, der im Volksmund nach wie vor der »deutsche Friedhof« heißt.
Deutsche Dichtung, deutsche Philosophie, deutsche Musik sind zu unablösbaren Bestandteilen des russischen geistigen Lebens geworden. Die Vorkämpfer der russischen nationalen Eigenständigkeit, die Slawophilen, nannten Schelling und Goethe ihre Lehrer.
Aus Goethes »Faust» keimten die russischen Faust-Welten Puschkins, Dostojewskijs, Pasternaks, Bulgakows ...
Und Thomas Mann schrieb von der »heiligen russischen Literatur", deren Bedeutung für seinen Werdegang und für die geistige Entwicklung vieler deutscher Menschen er außerordentlich hoch wertete. Er erhoffte sich russisch-deutsche Beziehungen als eine »Kameradschaft zweier großer, leidender und zukunftsvoller Völker«.
Der Verwirklichung dieser fruchtbaren »Kameradschaft« bestimmt den Sinn und das Ziel meines Lebens.
Das russische Wort »rodina« ist unübersetzbar, es kann nur erklärt werden: Das Land, wo man geboren ist. Meistens übersetzt man rodina mit dem trauten deutschen Wort »Heimat«. Heimat kann auch Wahlheimat sein. Deutschland war für mich seit Kindheit zur Heimat meiner Träume, meines geistigen Strebens geworden. Jetzt fand ich hier Zuflucht und Arbeitsstätte, die Möglichkeit, frei zu sprechen und zu schreiben. Rossija - moja rodina, Rußland ist meine Heimat; Deutschland ist meine Wahlheimat. Und darin ist kein Widerspruch, sondern eine kontrapunktisch harmonische Einheit. Genauso wie es Goethe meinte: »Lassen wir also gesondert, was die Natur gesondert hat, verknüpfen wir aber dasjenige, was in großen Fernen auf dem Erdboden auseinandersteht, ohne den Charakter des Einzelnen zu schwächen, in Geist und Liebe.«
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Lew Kopelew
Dankesrede des Preisträgers
Chronik des Jahres 1981
+++ Nach Abschluss einer iranisch-amerikanischen Vereinbarung werden im Januar 1981 die Geiseln in der US-amerikanischen Botschaft nach 444 Tagen freigelassen. Am gleichen Tag wird Ronald Reagan als 40. Präsident der USA und Nachfolger von Jimmy Carter in sein Amt eingeführt. +++ Nachdem Bundeskanzler Helmut Schmidt Mitte Mai sein politisches Schicksal an die Zustimmung der SPD zum NATO-Doppelbeschluss knüpft und sie erhält, fordern am 10. Oktober in Bonn in der bisher größten Demonstration dieser Art 300 000 Menschen Frieden und Abrüstung und protestieren gegen die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen in Europa. Auch in der DDR erreicht die unabhängige Friedensbewegung mit dem Motto »Schwerter zu Pflugscharen« und der Bewegung »Sozialer Friedensdienst« eine immer breitere Öffentlichkeit. +++
Anfang Oktober wird der ägyptische Staatspräsident Anwar as Sadat bei einer Militärparade ermordet. Mitglieder der islamischen »Organisation zur Befreiung Ägyptens« schießen mit Maschinengewehren auf die Ehrentribüne, dabei kommen sieben Menschen ums Leben und 28 werden verletzt. Sadat war wegen seiner Bemühungen um eine friedliche Beilegung des israelisch-ägyptischen Konflikts in der arabischen Welt als »Verräter« isoliert worden und hatte sich wegen seines harten Vorgehens gegen religiöse Extremisten innerhalb Ägyptens viele Feinde geschaffen. +++
Biographie Lew Kopelew
Lew Kopelew wird am 9. April 1912 in Kiew geboren und arbeitet, nach dem Studium der Germanistik, Philosophie, Literatur und Geschichte, während des Zweiten Weltkriegs in der sowjetischen Propagandaabteilung als »Instrukteur für Aufklärungsarbeit im Feindesheer«. 1945 wird er festgenommen, weil er angeblich »bürgerlich-humanistische Propaganda« verbreitet. Tatsächlich versucht er Ausschreitungen und Plünderungen durch sowjetische Soldaten beim Einmarsch in Ostpreußen zu verhindern. Kopelew bleibt die folgenden zehn Jahre in sowjetischen Lagern und Gefängnissen inhaftiert. In seiner Autobiographie Einer von uns. Lehr-und Wanderjahre eines Kommunisten (1985) verarbeitet er diese Erfahrungen.
1956 wird er rehabilitiert, doch zehn Jahre später aus der Partei ausgeschlossen und schließlich 1980 ausgebürgert, weil er sich für Kritiker des Regimes einsetzt. Konkreter Anlass ist sein öffentlicher Protest gegen die Behandlung des Regimekritikers und Friedensnobelpreisträgers Andrei Sacharow.
Kopelew wird aus der Sowjetunion ausgebürgert und zieht in die Bundesrepublik. Ihn verbindet eine enge Freundschaft mit Heinrich Böll. Gemeinsam gründen sie die Gesellschaft »Orient-Occident«, die Übersetzungen von unterdrückten Autoren in Osteuropa und der UdSSR fördert.
Im Jahr 1990 wird Kopelew von Michail Gorbatschow offiziell rehabilitiert. Von Deutschland aus setzt er sich weiterhin für Frieden und Verständigung und für die Einheit von Politik und Moral ein. Er geißelt die Politik Boris Jelzins während des Tschetschenien-Kriegs und fordert von westlichen Politikern eine stärkere Einmischung, um sich nicht mitschuldig zu machen.
Lew Kopelew stirbt am 18. Juni 1997 im Alter von 85 Jahren.
Auszeichnungen
1993 Goldene Goethe-Medaille der Goethe-Gesellschaft Weimar
1992 Senatsmedaille für Kunst und Wissenschaft der Freien Hansestadt Bremen
1991 Staatspreis des Landes Nordrhein-Westfalen
1991 Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis, zusammen mit Anja Lundholm
1983 Lessing-Ring zusammen mit dem Kulturpreis der deutschen Freimaurer
1981 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
1980 Friedrich-Gundolf-Preis
Bibliographie
Ein Dichter kam vom Rhein. Heinrich Heines Leben und Leiden
Aus dem Russischen von Helga Jaspers und Ulrich H. Werner. Vom Autor gemeinsam mit Edith Kaiser überarbeitete Ausgabe. München: Goldmann Taschenbuchverlag 1997.
Kinder und Stiefkinder der Revolution. Unersonnene Geschichten
Aus dem Russischen von Albert Knieriem und Elisabeth Markstein. Göttingen: Steidl 1997.
Und schuf mir einen Götzen. Lehrjahre eines Kommunisten
Aus dem Russischen von Heddy Pross-Weerth und Heinz-Dieter Mendel. Göttingen: Steidl 1996.
Tröste meine Trauer. Autobiographie 1947-1954
Aus dem Russischen von Heddy Pross-Weerth und Heinz-Dieter Mendel. Göttingen: Steidl 1996.
Laudatorin Marion Gräfin Dönhoff
Marion Gräfin Dönhoff wird am 2. Dezember 1909 auf dem Familiensitz Schloss Friedrichstein in Ostpreußen geboren. Nach dem Abitur, das sie in Potsdam ablegt, studiert sie Volkswirtschaft in Frankfurt am Main. 1933 wechselt sie an die Universität Basel, wo sie zwei Jahre später promoviert.
1938 übernimmt sie die Verwaltung eines großen Güterkomplexes in Ostpreußen. 1945 flieht Marion Dönhoff in den Westen. Diese Erfahrung thematisiert sie in ihrem Buch Namen, die keiner mehr nennt (1962).
1946 beginnt sie ihre Arbeit in der Redaktion der Zeit und wird 1955 Ressortleiterin für Politik. Acht Jahre später übernimmt sie die Chefredaktion der Zeitung und Ende 1972 wechselt sie in die Position der Herausgeberin. In diese Zeit fällt auch die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, deren Vizepräsidentin sie bis 1981 ist.
Marion Gräfin Dönhoff setzt sich in den 60er Jahren für ein aktives Engagement in der deutschen Ostpolitik ein und plädiert für eine Politik der Versöhnung. Sie ist eine der meistgelesenen politischen Kommentatorinnen ihrer Zeit.
Marion Gräfin Dönhoff stirbt am 11. März 2002 im Alter von 92 Jahren.