Der Stiftungsrat hat den israelischen Schriftsteller Amos Oz zum Träger des Preises gewählt. Die Verleihung fand während der Frankfurter Buchmesse am Sonntag, 4. Oktober 1992, in der Paulskirche statt. Die Laudatio hielt Siegfried Lenz.
Begründung der Jury
Den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verleiht der Börsenverein im Jahre 1992 Amos Oz und würdigt damit den herausragenden Schriftsteller des heutigen Israel. In seinen politisch engagierten Werken vermittelt Amos Oz ein lebendiges Bild der israelischen Gesellschaft mit ihren vielschichtigen und schwierigen Beziehungen der Menschen untereinander und zu der Welt; er schildert die Vielfalt der Stimmen im Staat Israel. Er würdigt zugleich den Mitbegründer der israelischen Friedensbewegung Peace Now, mit der er gegen Fanatismus, Gewalt, aber auch gegen Gleichgültigkeit kämpft.
Amos Oz setzt sich mit aller Kraft für ein dauerhaftes und friedvolles, für ein gerechtes Zusammenleben von Israelis und Palästinsern ein - und zwar in ihrer angestammten Heimat. Frieden gilt es zu leben, nicht Krieg. Dies bedeutet für Amos Oz, der die Philosophie des Kompromisses und der Verständigung vertritt, gute Nachbarschaft und Fairneß zwischen den Nationen, Toleranz und Menschlichkeit.
Reden
Dorothee Hess-Maier
Grußwort der Vorsteherin
Mit Erbarmen und Erbitterung, mit Trauer, Scharfsinn und seinem abgründigen Humor erzählt er von Menschen, die dazu verurteilt sind, die Rätsel und Widersprüche des Lebens auszuhalten. Dabei bringt er die Gründe zum Vorschein, die uns unfriedlich sein lassen, und indem er das tut, verweist er zugleich auf eine Friedensmöglichkeit.
Siegfried Lenz - Laudatio auf Amos Oz
Siegfried Lenz
Auf den Friedenspreisträger 1992
Laudatio auf Amos Oz
I.
Kein Schriftsteller der Gegenwart - da bin ich mir sicher- läßt seine erfundenen Personen so oft Nachrichten hören wie Amos Oz. Vor welche Tagesprobleme er sie auch stellt, welche Heimsuchungen er ihnen bereitet, was er sie auch erleben und erleiden läßt: Plötzlich läßt er sie alle Hypotheken ihres privaten Schicksals vergessen und setzt sie ans Radio, vors Fernsehen. Als hätte sie ein Appell erreicht oder als folgten sie der schreckhaften Erinnerung, eine lebensentscheidende Medizin einnehmen zu müssen, hören seine erfundenen Personen schnell noch die letzten Nachrichten. Der Zwang ist so bemerkenswert, daß sie sogar ihren Schlaf unterbrechen, um nicht die 23-Uhr-Nachrichten zu versäumen. Hungrig auf das Neueste, bedürftig nach dem letzten Stand der Dinge, scheinen sie sich Klarheit darüber verschaffen zu müssen, ob die bevorstehende Nacht problemlos sein wird. Sie möchten vorbereitet sein, möchten nicht überrascht werden - von einer befürchteten Katastrophe ebensowenig wie von einem lange ersehnten Wunder, zum Beispiel dem Wunder ungefährdeter Existenz. »Wer weiß«, heißt es einmal im »Perfekten Frieden«, »welche Berechnungen da im Dunkel der Nacht angestellt werden, welche Lagebewertungen, welche schwindelerregenden Möglichkeiten die Feldherren und die Experten flüsternd diskutieren, ebenso wie es Mann und Frau im nächtlichen Schlafzimmer tun: Was wird werden?«
Die Sehnsucht nach Gewißheiten, der oft verzweifelte Wunsch, im Verläßlichen zu leben: Sie kennzeichnen israelische Wirklichkeit - eine Wirklichkeit, der Amos Oz auf eigene, auf empfindliche und erschütternde Art Ausdruck verliehen hat.
Es ist klar: Wo die Realität zu wünschen übrigläßt, wachsen Träume, blühen Visionen. Sie entstehen wie von selbst, sie sind Antwort, sie sind Gegenentwurf, sie sind aus Notwehr geborene Korrekturmodelle für ein annehmbares Dasein. Was ihnen zugrunde liegt, ist das Eingeständnis: So kann es nicht bleiben; und was von ihnen ausgeht, ist ein Plädoyer für Veränderung, ist eine Überredung zum Wandel. Auch wenn wir wissen, daß die Träume scheitern, die Visionen nie einlösbar sind - wir riskieren es wieder und wieder, sie einer ungenügenden Wirklichkeit entgegenzusetzen, ähnlich wie die handelnden Personen im Werk von Amos Oz, seine Lehrer, seine Kibbuzniks, seine Aussteiger, Agenten, Angestellten, Studenten und weltberühmten Gelehrten. All diese von der Realität enttäuschten Zeitgenossen scheitern nicht allein deshalb, weil ihre Träume zu monumental sind, sondern weil es in der grundsätzlichen Beschaffenheit aller Träume liegt, zu zerfallen, sobald sie verwirklicht werden. Der große Geschichtenerzähler Amos Oz beweist es uns mit den epischen Berichten aus seinem Land, aus Israel.
Doch schon sein Großvater, der aus Odessa stammte, gab ein Beispiel dafür, daß es sich ohne Träume nicht leben läßt, ohne den phantastischen Entwurf, der die Realität zurückweist. Im fernen Odessa schrieb er Gedichte auf Jerusalem, sentimentale, süße Gesänge, wie Amos Oz erzählt, in denen eine Stadt gefeiert wird, in der »die Straßen mit Smaragden gepflastert sind und Engel an den Straßenecken herumstehen«. Er schrieb auf russisch. Als es ihn dann selbst nach Jerusalem verschlug, als er sich der Wirklichkeit der Heiligen Stadt ausgesetzt fand, fragte ihn sein Enkel, ob es nicht an der Zeit sei, sein Bild von Jerusalem zu korrigieren. Der alte Dichter war empört: »Was zum Teufel weißt du über das echte Jerusalem«, brüllte er, »das echte Jerusalem ist das meiner Gedichte.«
Israels Träume sind aus Sorge, aus Not, aus Angst geborene Träume. Was sie erklärt, ist die jahrtausendealte jüdische Geschichte mit ihren Zeugnissen von Leiderfahrung und Exil, von Hoffnung und Tränen, von Sehnsucht und endlicher Sicherheit. Denn Jude sein, heißt es in »Black Box«, »das bedeutet einstecken und durchstehen und unverwandt weiterschreiten auf unserem uralten Pfad. Das ist die ganze Tora auf einem Bein: sich überwinden und durchstehen. Und auch sehr gut begreifen, weswegen das Leben dich geschlagen hat...«.
Einmal, im Kibbuz Hulda, sagte mir Amos Oz: Wenn du Israel verstehen willst, wenn du die Seele des Landes wirklich erfahren willst, dann geh nachts durch die Straßen. In der sommerlichen Hitze der Nacht schlafen viele Leute auf ihren Balkonen. Wer stillsteht, still geht, hört sie in ihren Angstträumen seufzen und stöhnen und wimmern, sie träumen in mehreren Sprachen, überwältigt von Vergangenheiten, die nicht aufhören wollen.
Auch seine eigene Familie, die aus Rußland und Polen stammt - überzeugte, kosmopolitisch denkende Europäer -, blieb nicht verschont von den Delirien der Zeitgeschichte, mußte, Wahn und Gewalt weichend, auf den »uralten Pfad«, der Rettung, der Überleben versprach. Amos Oz' Vater, ein namhafter Literaturwissenschaftler, der sechzehn europäische Sprachen beherrschte, wurde nicht, wovon er träumte - Professor an der Hebräischen Universität -, doch er fand eine Stelle als Bibliothekar in Jerusalem. Die Bücher, die er schrieb, werden mit Hochachtung genannt. Hier, in dieser Stadt der Könige und Propheten, der Weltverbesserer und Schmerzensmänner, wurde Amos Oz geboren, und wann immer er sie beschreibt: Erstaunlich oft stellt er sie im Regen dar, nur selten beschwört er sie in ihrem einzigartigen Licht: »Jerusalem, das Wunschziel vieler Generationen in den dunklen Tiefen der Diaspora.«
Es hielt ihn nicht sehr lange in seiner Stadt. Schon in jungen Jahren - als fünfzehnjähriger - verließ er sie und ging in einen Kibbuz; dieser Entschluß stellte wohl eine Rebellion gegen das intellektuelle Elternhaus dar, gewiß aber wurde er auch durch das leidenschaftliche Bedürfnis nahegelegt, in einer solidarischen Gemeinschaft an der Kultivierung des Bodens teilzuhaben. »Die Wüste und das trockene Land sollen sich freuen, die Steppe soll jubeln und blühen. Denn in der Wüste brechen Quellen hervor, und Bäche fließen in der Steppe.« Die Vision eines alten Kibbuzniks veranschaulicht die Begeisterung des Aufbruchs.
Für viele Jahre blieb der Kibbuz der Ort für Amos Oz. Hier begann er zu schreiben, hier begann er zu veröffentlichen, hier unterrichtete er, hier formulierte er seine Erwartungen an den Schriftsteller. Und hier, so schrieb er in seinem Brief aus Arad, entdeckte er auch eines Tages besondere Schuldgefühle gegenüber denen, die gepflügt und gemolken und Äpfel gepflückt und sich damit ihr Mittagessen verdient hatten, während er gerade eineinhalb Zeilen geschrieben und sechs Zeilen vom Vortag gelöscht hatte: - das vorübergehende Dilemma des Schriftstellers in einer körperlich hart arbeitenden Gesellschaft. Ich sage: vorübergehend, denn in seinem Werk hat Amos Oz - bildhaft und bezwingend wie Heinrich Heine - die Bedeutung bestätigt, die die Literatur seit jeher für einen Juden gehabt hat: Unsere Pyramiden, sagte er einmal, sind aus Büchern errichtet.
In dem imponierenden, dem sprachmächtigen Werk von Amos Oz hat mir manches zu denken gegeben; ganz besonders aber die dargestellten Entscheidungsnöte von Menschen, die sich dem Zwang ausgesetzt sehen, ein neues Leben zu planen. Gewiß, sein Werk spiegelt sehr viel mehr: Es zeigt die Spannungen und Gefährdungen der israelischen Gesellschaft, es zeigt die Krisen, die hochgestimmten Aufbrüchen folgen, es begründet den Antagonismus zwischen Kollektiv und Individuum und stellt die Frage, ob Kriege auch vergebens gewonnen werden können. Mich aber berührten immer wieder die Situationen, in denen der Autor seine Personen dahin bringt, ein neues Leben zu planen. Wo ein neues Leben geplant wird oder geplant werden muß, möchte man das verflossene als vergangen, als mißglückt und überholt ansehen.
Aber ist das möglich? Kann man sich von einer Vergangenheit amputieren? Kann man, den neuen Lebensentwurf im Blick, den bedrückenden Fundus der Erfahrungen übergehen? Amos Oz gibt uns zu verstehen, daß gewisse Vergangenheiten nicht enden und daß eine übermächtige Gegenwart Einspruch erhebt gegen allzu bedenkenlose Pläne.
Seine erfundenen Personen, die sich verheißungsvolle Ziele wählen, werden irgendwann zurückverwiesen auf die Forderungen des Tages, einer unbarmherzigen Wirklichkeit, zu der die Komplexität alltäglichen Lebens ebenso gehört wie die permanente Bedrohung durch den Feind an den Grenzen. ».. .denn hier ist doch alles Heer und Militär« heißt es im »Perfekten Frieden«, das »ganze Volk Armee, das ganze Land Front«. Dennoch hören sie nicht auf, ein neues Leben zu planen - vor allem die Jungen, die sich vom Enthusiasmus und der Ausdauer der Gründerväter kaum noch verpflichten lassen.
Die Wirklichkeit hat verschiedene Aspekte, kann verschieden ausgelegt werden; nicht interpretierbar aber ist die Tatsache, daß Israel seit siebzig Jahren unter einer Todesdrohung lebt: Arabische Führer haben keinen Zweifel darangelassen, welch ein Schicksal sie dem Land und den Menschen bereiten möchten. Unter solch einer Drohung zu leben, kann nicht folgenlos bleiben, es beeinflußt die Mentalität, die Psyche, es nötigt zu Skepsis und Hellhörigkeit und hält die Ängste wach. Niemand kann die Tragik der Situation übersehen, zumal, wenn man diese lange Existenzbedrohung Israels vor dem Hintergrund jüdischer Geschichte bewertet. Wie reagiert ein Schriftsteller auf diese Lage? Welche Forderungen stellt er - angesichts eines kollektiven Todesurteils über sein Volk - an sich selbst? Was bewirkt er, er, der auf den unterwandernden Einfluß von Wörtern vertraut, auf die Überzeugungskraft der Sprache? Amos Oz, der Mann, den wir heute ehren, hat ein Beispiel dafür gegeben, was ein Schriftsteller tun kann, um den Frieden in einem Land zu bereiten, in dem Starrsinn, Vorurteil und Haß unentwegt Opfer fordern.
Daß er in all seinen Romanen auf das israelisch-arabische Verhältnis eingeht, ist nur selbstverständlich. Sein inständiges Werben für Verständigung ist unüberhörbar. Er, dessen Selbstversetzung in andere Charaktere oft erstaunen läßt, weist unermüdlich auf die Gottesebenbildlichkeit des Menschen hin. Er, der Erzähler, mahnt und beschwört, überredet und klagt an, wo es not tut. Keinem erspart er die Wahrheit. Geschieht etwas, was er für eine Schande hält, dann spricht er von »unserer Schande«.
Wenn eine seiner epischen Personen in den Nachrichten hört, daß ein junger Araber von einem Plastikgeschoß tödlich getroffen wurde, dann läßt er sie sich über das Passiv in öffentlichen Verlautbarungen ereifern. Und wenn eine andere Person erfährt, daß ein Kibbuzmitglied von einem Araber erschossen wurde, dann quittiert sie diese Tat mit dem Bekenntnis: Nicht die Araber sind unsere Feinde, sondern der Haß. Ihm, dem scharfsinnigen Beobachter, bleibt bewußt, daß die Selbstbeschuldigung zum jüdischen Wesen gehört - im Unterschied, wie er feststellt, zu deutscher Art, denn hierzulande wird die Schande vornehmlich als eine Sache der anderen angesehen. Amos Oz zögert nicht, seinen Landsleuten Selbstgerechtigkeit gegenüber den Arabern vorzuwerfen; andererseits weist er die Araber darauf hin, daß sie sich darin gefallen, ein von Vorurteil verdunkeltes Bild Israels zu pflegen. Seine Bücher sind auch Einladungen zu einem Erkenntnisprozeß: Gemeinsam sollten beide Seiten zunächst versuchen, einander sehen zu lernen - ohne Trugbilder, ohne Ideologie.
Der Schriftsteller weiß selbstverständlich, daß die Wirkung von Literatur unkalkulierbar, nicht abrufbar ist, daß sie weder auf ein Losungswort hin Kräfte mobilisieren noch auf eine Parole hin Politik beeinflussen kann.
Von der Notwendigkeit überzeugt, den israelisch-arabischen , aber zunächst einmal den israelisch-palästinensischen Konflikt auf friedliche Art beizulegen, gründete Amos Oz mit Gleichgesinnten die Peace now-Bewegung. Diese Bewegung ist, wie er einmal selbst sagte, keine Partei, sondern eher eine Stimmung, die mit der Aktualität wächst oder schrumpft. Illusionslos, pragmatisch, begleitet vom Protest der Falken treten ihre Mitglieder, die fast alle einmal in einem Krieg kämpfen mußten, dafür ein, Frieden mit den Palästinensern zu schließen. In der Gewißheit, daß auch die Palästinenser im Herzen den Wunsch nach Frieden hegen, setzen sie jeder extremistischen Politik ihr Konzept einer Zwei-Staaten-Eösung entgegen. Sie, die »peaceniks«, wie Amos Oz sie nennt, befürworten ausdrücklich die Souveränität und Nationalstaatlichkeit Palästinas - allerdings nur um den Preis verläßlicher Sicherheitsgarantien. Wer durch Blut und Feuer mußte, hat wohl keine andere Wahl, als auf einem durch Garantien gesicherten Frieden zu bestehen, noch bevor man sich darum bemüht, Vertrauen zu schaffen. Vertrauen, sagt Amos Oz - und seine und die Erfahrungen seiner Landsleute nötigen zu dieser Feststellung -, Vertrauen ist ein wünschenswertes Resultat des Friedens, doch was am Anfang stehen muß, ist ein Friedensvertrag. Über den Inhalt eines möglichen Friedensvertrags besteht Einmütigkeit unter den Friedensaktivisten: Die nationalen Rechte der Palästinenser werden grundsätzlich anerkannt; die Besiedlung der besetzten Gebiete wird beendet; Land wird zurückgegeben für den Preis solider Sicherheit. Ins Bild gefaßt: Es muß eine faire, eine nüchterne Scheidung sein, wie nach einer gescheiterten Ehe, und da man nicht über beliebige Möglichkeiten verfügt, muß die Wohnung geteilt werden. Mit seinem Gespür, das sich Amos Oz als »Spezialist für vergleichenden Fanatismus« erworben hat - einen Titel, den er sich wohl achselzuckend, selbst gegeben hat -, sieht er die Zeit für Verhandlungen gekommen. Auch wenn der arabische Fundamentalismus manche Erwartungen beeinträchtigt: Die von etlichen arabischen Staaten geäußerte Bereitschaft zur Koexistenz mit Israel rechtfertigt gewisse Hoffnungen. Auf Versammlungen und Demonstrationen, in Artikeln und Aufrufen nimmt dieser Schriftsteller das Wort, um für seine Konzeption eines gewaltlosen Zusammenlebens zu werben: Initiativen unterstützend, die dem Frieden förderlich sind, zornig protestierend, wenn Gewalt zu eskalieren und ein neuer Krieg auszubrechen droht. Unbeirrbar, gefaßt auf Widerspruch, ehrsam umstritten, wie es für einen Rufer wie ihn unausbleiblich ist, geht er seinen Weg. Politiker zu werden: dafür hält Amos Oz sich nicht für qualifiziert genug, denn er könnte niemals »no comment« sagen.
Über seinen Friedensbegriff läßt Amos Oz, der selbst in zwei Kriegen kämpfte, kämpfen mußte - im Sinai und auf dem Golan -, keinen im unklaren. Manche einäugigen Friedensschwärmer werden wohl aufhorchen, wenn sie erfahren, daß er sich nicht für einen Pazifisten hält, und daß er, um es überspitzt zu sagen, nicht bereit ist, gewaltsam für Gewaltlosigkeit in jeder Lage einzutreten. Wer einmal verurteilt war, mit dem Rücken zur Wand zu kämpfen, kommt wohl oder übel zu eigenen Schlußfolgerungen. Und so bekennt er: »Während die deutsche Friedensbewegung behauptet, daß der Krieg das absolut Böse ist, sage ich als Angehöriger unserer Friedensbewegung, daß Aggression das absolut Böse ist; während die europäische Friedensbewegung behauptet, daß alles, wirklich alles der Gewalt vorzuziehen ist, behaupte ich, daß eine Einzelperson oder ein Land, die unter allen Umständen Gewalt vermeiden wollen, Gewalt heraufbeschwören.«
Ein Friedenskämpfer, der bereit ist, die Waffe in die Hand zu nehmen? Allerdings, doch niemals, wenn es um nationale Interessen geht, um Gebietsansprüche, um Prestige oder Ressourcen. Der Kampf ist nur das letzte Mittel, auf das man zurückgreift, wenn es um Leben und Tod der eigenen Familie geht oder wenn das eigene Volk versklavt zu werden droht. Leben und Freiheit: Nichts unterhalb dieser Schwelle, sagt Amos Oz, könnte mich oder meine Mitstreiter in der Friedensbewegung dazu bringen, zu kämpfen. Kann einer weitergehen in seiner Friedenswilligkeit? Kann einer mehr einbringen, zumal wenn er die Parolen arabischer Politiker vernehmen muß, die dazu auffordern, die Juden ins Meer zu treiben?
Wenn ich Amos Oz richtig verstanden habe, dann beweist sich für ihn Friedensfähigkeit auch in der unbedingten Bereitschaft zum Kompromiß. Geben, um zu behalten; verzichten, um zu bewahren; entgegenkommen, um sich zu einigen: Mit allem, was er einschließt, bietet der Kompromiß eine Hoffnung auf realistische Lösungen. Die Versteifung aufs Absolute ist keine Alternative. Die Forderungen, die im Namen des Absoluten gestellt wurden, haben noch jedesmal eine furchtbare Schreckensspur in der Welt hinterlassen. Auch deshalb hört der Schriftsteller nicht auf, beredt für den Kompromiß zu werben, für die zwar naheliegende, doch aus Starrsinn verschmähte Einigungsformel, zu der die Vernunft rät. Partei zu nehmen, sich einzumischen in öffentliche Angelegenheiten ist etwas Selbstverständliches für ihn; jüdische Tradition verlangt es sogar.
Es ist klar, daß im Werk eines israelischen Schriftstellers der Gegenwart von Deutschland die Rede sein muß. Wer nicht gelitten hat, hat nicht gelebt, heißt es in einem frühen Roman von Amos Oz, und als Bewahrer und Erinnerer hat der Schriftsteller keine andere Wahl, als durchlebtes Leid aufzuheben. Er kann es nicht übergehen, wenn er die Menschen seines Landes in ihrer Eigenart darstellt. Als traumatische Erfahrung wirkt das Leid fort: Es erklärt Obsessionen und Weigerungen, es begründet die Gebrochenheit eines Charakters, es macht die Sehnsüchte und die schweren Träume verständlich. Immer wieder - und wir sind nicht überrascht - begegnen wir in diesem Erzählwerk Menschen, die, wenn sie ihre Biographie überdenken, nach Deutschland blicken müssen; denn hier liegt der Erklärungsgrund für unfaßbares Schicksal. Hier liegt die Antwort auf verzweifeltes Fragen. Hier stößt sich die suchende Erinnerung immer von neuem wund. Vielfältig sind die Lebensäußerungen und Erfahrungen, die unwillkürlich auf Deutschland verweisen; sie tun es bereits, unscheinbar, wenn eine alte Frau ein mangelhaftes Hebräisch mit polnischem Akzent spricht, und sie drücken sich in der selbstverständlichen Achtung aus, die man einem Überlebenden des Holocaust entgegenbringt. Beiläufig manchmal, doch unüberhörbar, zeigt Amos Oz, welch eine unerbittliche Nähe zu Deutschland besteht, welch eine Verantwortung Deutschland hat für die Existenznot vieler Menschen in Israel. Und da es so ist, kann es nur eine Konsequenz geben: Die Existenz des jüdischen Volkes ist auch ein deutsches Problem. Gewiß sind wir verpflichtet, uns gegen jede Art von genozider Politik aufzulehnen, gleich, wo in der Welt sie erkennbar wird, doch wenn die Existenz Israels bedroht ist, sind wir es in besonderem Maße. Unsere Erbschaft läßt uns keine Wahl.
Der Erzähler Amos Oz klärt uns darüber auf, daß es im Hebräischen kein Äquivalent für das Wort »Glück« gibt; es gibt das Wort »Freude«, aber keine Entsprechung für »Glück«. Diese Tatsache, scheint mir, trägt in nicht unerheblichem Maß zum Verständnis seines bewundernswerten Werks bei. Hier nämlich erzählt einer, der, bedrängt von Wirklichkeit, auch selber verstehen möchte, warum es den Menschen so oft mißlingt, Frieden bei sich selbst zu finden. Er stellt sie mit ihren Idealen vor, teilnahmsvoll oder jedenfalls mit Langmut schildert er ihre Versuche zur Selbstbefreiung aus unerträglicher Lebenslage, er verschafft ihnen eine Gelegenheit zur Erkenntnis und läßt sie scheitern - an ihresgleichen oder an sich selbst. Was den Erzähler in ihm weckte, sagt Amos Oz, war immer das menschliche Elend, die Einsamkeit, der Verlust von Illusionen - das Scheitern. Im Spektrum seiner Romane spielen deshalb Abschiede eine wesentliche Rolle: Abschiede von der Gemeinschaft des Kibbuz, Abschiede von Grundsätzen oder einem einst geliebten Partner. Das ist kennzeichnend für seine Protagonisten: Sie sind fast alle auf der Suche nach Sicherheit und Liebe, Liebe inspiriert ihre Handlungen, Liebe führt sie auf Irrwege - der Verlust von Liebe kommt mitunter einer Lebensgefährdung gleich. Was zum Schluß bleibt, ist häufig genug ein Rückzug auf sich selbst.
Aufschlußreich, was dieser souveräne Erzähler, den wir heute ehren, über die Entstehung einer Geschichte sagt: »Wenn ich voller Übereinstimmung mit mir selbst bin, so erläutert er, gleichgültig, worum es sich dabei handelt: um einen Teil des Lebens oder den Aufbau des Landes: dann schreibe ich einen Artikel. Wenn ich jedoch auch nur ein bißchen ambivalent bin, wenn ich mehr als eine Stimme in mir habe, wenn ich mehrere Seiten, drei, vier oder fünf in mir spüre, dann kann ich diese Widersprüchlichkeit, die Verschiedenartigkeit der Stimmen zu dem Embryo einer Geschichte machen. Vielleicht können die verschiedenen Stimmen zu verschiedenen Charakteren werden, und wenn es Charaktere gibt, dann geraten sie in Konflikte, und die Konflikte ergeben Handlung.« Diese knappe Genealogie einer Geschichte wird durch meine persönliche Wahrnehmung beglaubigt: Leben behauptet sich zwischen Hinneigung und Abwehr, zwischen Spruch und Widerspruch, zwischen Zustimmung und Zurückweisung.
Doch welcher Art sind die Konflikte, die der Erzähler austragen läßt? An welchen Personen stellt er sie im einzelnen dar? Um dies deutlich zu machen, ist es wohl unerläßlich, einige seiner Romane zu nennen, die, facetten- und metaphernreich, ein authentisches Bild israelischer Wirklichkeit vermitteln.
In »Black Box« werden sozusagen die Absturzursachen einer Ehe aufgeklärt: Alexander Gideon, ein Gelehrter, der mit einer Studie in »Vergleichendem Fanatismus« internationales Ansehen erworben hat, setzt sich in weitläufigen Korrespondenzen mit seiner geschiedenen Frau auseinander. Hart und abweisend nach außen, nachgiebig und keinesfalls gefühlsarm im stillen, bringt er seinen eigenen, seinen problematischen Charakter zum Vorschein. Da seine ehemalige Frau, die auf eine »Erlösung durch Liebe« wartet, mit der Erziehung ihres gemeinsamen Sohnes nicht fertig wird, bittet sie den großen Gelehrten um Hilfe, und diese lange andauernde Hilfeleistung für den Sohn Boas wird für manche der Beteiligten zu einem Rollenspiel mit durchaus fragwürdigem Resultat: Sie demaskieren sich als selbstgefällige, als begehrliche, als machtbesessene Individuen, die signalhaft zeigen, daß es einen wünschenswerten Dialog in der Gesellschaft kaum noch gibt. - An Jonathan Lifschitz, dem Protagonisten aus »Der perfekte Frieden«, stellt Amos Oz nicht allein den Generationskonflikt dar, sondern macht auch deutlich, an welche Grenzen der Aussteiger gerät, der den Verheißungen von Luftspiegelungen folgt. In der bedrohlichen Schönheit der Negev-Wüste, gestreift von der Erfahrung der Todesnähe, erkennt Jonathan, daß das Leben, das ihm angemessen ist, doch nur in seinem Kibbuz zu finden ist, in einer von Einengung und auch Bevormundung gekennzeichneten Gemeinschaft, die mittlerweile auch alte Pioniere für überprüfenswert halten. Ein Opfer ihrer Träume und unangemessenen Erwartungen ist auch Hannah, die Hauptfigur des Romans »Mein Michael«. Sie, die Literaturstudentin, heiratet einen sachlichen, auf seine Karriere bedachten Studenten der Geologie. Während der ersten Schwangerschaft bricht sie ihr Studium ab, flüchtet sich in Krankheiten, verfällt in Depressionen - Krieg und die Situation des Landes bekümmern sie nicht. Sie glaubt erkannt zu haben, daß sie um ihr Leben betrogen wurde; was ihr bleibt, sind ihre Phantasien , in denen sie unter anderem die arabischen Zwillingsbrüder beschwört, mit denen sie als Kind gespielt hat. Ihnen fühlt sie sich so verbunden, daß sie sie - wenn auch nur träumend - mit einem furchtbaren Auftrag betraut.
Viele der Werke von Amos Oz verdienen es, noch genannt zu werden: »Keiner bleibt allein« zum Beispiel, ein Roman, der die menschlichen Konflikte in einem Kibbuz spiegelt, in einer Welt, in der der Traktor mit Panzerplatten verkleidet wird, in der ein Melker nachts Hegel und Saint-Simon liest und in der sich die Probleme genossenschaftlichen Lebens wie zwangsläufig zu erkennen geben. Oder »Eine Frau erkennen«, ein Buch, in dem ein Geheimagent des Mossad erfährt, wie Vergangenheit und Gegenwart sich prekär durchdringen, und schließlich und nicht zuletzt »Der dritte Zustand«, dies Meisterwerk über den politischen Theoretiker Fima, der, ähnlich wie Pascal, »Gewöhnung als den Beginn des Todes« ansieht und der sein Dasein rechtfertigt, indem er alles und jeden leidenschaftlich kritisiert und korrigiert. Ich halte das Buch für eine subtile, eine wunderbare Inschutznahme des Intellektuellen.
Umfangreich ist das Werk von Amos Oz. In seinen parabolischen Geschichten, in seinen luziden Essays finde ich eine Diagnose der Gegenwart. Mit Erbarmen und Erbitterung, mit Trauer, Scharfsinn und seinem abgründigen Humor erzählt er von Menschen, die dazu verurteilt sind, die Rätsel und Widersprüche des Lebens auszuhalten. Dabei bringt er die Gründe zum Vorschein, die uns unfriedlich sein lassen, und indem er das tut, verweist er zugleich auf eine Friedensmöglichkeit.
Wie ich höre, hängt im Arbeitszimmer von Amos Oz, in Arad, am Rande der Wüste, eine wohl launige Urkunde, eine »Lizenz«, die es Amos Oz erlaubt, solange er lebt, das zu sagen, was sein Herz bewegt! Lieber Amos, ich wünsche Dir sehr, daß in nicht allzu ferner Zeit noch einige gleichlautende Lizenzen dazukommen, in allen nur möglichen, aber ganz besonders in den Sprachen Deiner Nachbarn.
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Siegfried Lenz
Laudatio
Ich glaube nicht an die Möglichkeit eines perfekten Friedens – denken Sie an jenes ›krumme Holz‹. Ich arbeite vielmehr für einen kläglichen, nüchternen, unvollkommenen Kompromiß zwischen einzelnen Menschen und Gemeinschaften, die immer getrennt und unterschiedlich sein werden, die aber gleichwohl fähig sind, ein unvollkommenes Miteinander herbeizuführen.
Amos Oz - Dankesrede
Amos Oz
Friede und Liebe und Kompromiß
Dankesrede
Der Prophet Jesaja sagt: »Denn schon erschaffe ich einen neuen Himmel und eine neue Erde . . . Denn ich mache aus Jerusalem Jubel und aus seinen Einwohnern Freude . . . Wolf und Lamm weiden zusammen, der Löwe frißt Stroh wie das Rind, doch die Schlange nährt sich von Staub. Man tut nichts Böses mehr und begeht kein Verbrechen auf meinem ganzen Heiligen Berg, spricht der Herr« (Jesaja 65, 17-18,25).
Neben diesem himmlischen Frieden handelt die Bibel auch vom zeitlichen, prosaischen Frieden: »Da sagte Abraham zu Lot (seinem Neffen): Zwischen mir und dir, zwischen meinen und deinen Hirten soll es keinen Streit geben; wir sind doch Brüder. Liegt nicht das ganze Land vor dir? Trenn dich also von mir! Wenn du nach links willst, gehe ich nach rechts; wenn du nach rechts willst, gehe ich nach links« (Genesis 13, 8-9).
Und dies ist meiner Meinung nach das Modell eines pragmatischen Friedens in einer unvollkommenen Welt: Gerade damit Menschen weiterhin miteinander brüderlichen Umgang pflegen, ist es manchmal notwendig, ihre jeweiligen Gebiete abzugrenzen. Während wir nach einer Vereinigung in Liebe streben, müssen wir gleichwohl den von unserer menschlichen Endlichkeit gesetzten Grenzen Rechnung tragen.
Meine Damen und Herren, vor 144 Jahren versammelten sich mehr als 500 Menschen in dieser Paulskirche, um ein demokratisches Deutschland zu schaffen. Wäre ihnen Erfolg beschieden gewesen, hätte nicht nur das Schicksal Deutschlands und Europas vielleicht einen anderen Verlauf genommen, auch das Schicksal meines Volkes und meiner eigenen Familie wäre ein anderes gewesen.
In den frühen dreißiger Jahren machte sich meine Familie aus Osteuropa auf den Weg nach Jerusalem, mit einer Wunde versehen, die niemals heilen sollte: Sie hatten sich als Europäer betrachtet, während der größte Teil Europas in ihnen unerwünschte Kosmopoliten sah. Miteinander sprachen sie Russisch und Polnisch, sie lasen der Kultur wegen Deutsch und Englisch, sie träumten Jiddisch, mich aber lehrten sie einzig und allein Hebräisch. Vielleicht fürchteten sie, falls ich europäische Sprachen beherrschte, könnte ich von den tödlichen Reizen Europas verführt werden, jenes Europas, das meine Eltern durch Antisemitismus und Verfolgung buchstäblich hinausgeschmissen hatte. Und dennoch sagten meine Eltern mir während meiner gesamten Kindheit immer wieder, mit Schmerz und Sehnsucht in der Stimme, daß unser Jerusalem eines Tages eine »wirkliche Stadt« werden würde. In ihren Augen hieß das, eine Stadt mit einem Fluß, einer Kathedrale im Zentrum und mit Wäldern ringsherum. Sie sehnten sich nach Europa in demselben Maße, wie sie sich davor fürchteten. Inzwischen weiß ich, daß man ein derartiges Durcheinander von Gefühlen »unerwiderte Liebe« nennt. In den zwanziger und dreißiger Jahren, als sich meine Eltern für Europäer hielten, war beinahe jedermann in Europa ein Pan-Germane. ein Pan-Slawe oder ein bulgarischer Patriot. Die wirklichen Europäer im damaligen Europa waren zum größten Teil Juden wie meine Familie.
Die Schaffung des modernen Israel ist unter anderem ein Ergebnis der traurigen Erkenntnis vieler Juden, auch meiner Familie, daß zwar zuweilen und hier und dort eine tiefe und schöpferische Beziehung zwischen Gästen und Gastgebern zustande gekommen war, es aber gleichwohl an der Zeit war, in die Heimat zurückzukehren und diese Heimat wieder aufzubauen. Die ursprüngliche Hoffnung bestand darin, diese Heimat auf der Grundlage von Frieden und Gerechtigkeit zu errichten. Der Massenmord an den europäischen Juden, die blutige Auseinandersetzung mit den Arabern und der tragische Konflikt mit den Palästinensern haben die idealistischen Träume der Gründer Israels in gewisser Weise zunichte gemacht. Ein gerechter und umfassender Frieden wird die Chance zu einem Neuanfang bieten.
Der Grund, warum ich diese Geister heute morgen heraufbeschwöre, liegt darin, daß meine schriftstellerische Tätigkeit wie auch mein Engagement für den Frieden von dieser Vergangenheit geprägt sind. Dennoch bin ich der Meinung, daß die Vergangenheit keine Herrschaft über uns erlangen darf. Jegliche Form einer Tyrannei der Vergangenheit ist mir zuwider.
Ich möchte Ihnen auch meine tiefe Zwiespältigkeit, die ich heute hier empfinde, nicht verhehlen: Ein Jude in einer Kirche, ein Israeli in Deutschland, ein Mitglied der Friedensbewegung, das zweimal aufs Schlachtfeld gezogen ist wegen seiner Überzeugung, daß das äußerste Übel nicht der Krieg ist, sondern die Aggression.
Juden und Deutsche - worüber können wir sprechen? Was müssen wir miteinander besprechen? Ein Thema sind unsere Eltern und Großeltern, das andere Thema betrifft die Zukunft. Die europäische und die jüdische Zivilisation waren lange innig miteinander verbunden. Diese Verbindung wurde durch ein böses Verbrechen zerstört. Aus dieser Verbindung gingen jedoch Nachkommen hervor. In unserer Kultur finden sich europäische Erbanlagen, und in Ihrer Kultur finden sich jüdische Erbanlagen. Sie sind nicht nur Phantasien, sie enthalten die gemeinsame Grundlage für eine gegenseitige schöpferische Beeinflussung der Zukunft. Ich möchte hier nicht den Ausdruck »Normalisierung« verwenden. Worauf ich hoffe, ist eine Verstärkung des Dialogs, der Schmerz, Entsetzen und unerwiderte Liebe nicht ausschließt. Meiner Meinung nach kann man die Gefahren der Geschichtsvergiftung oder Geschichtsabhängigkeit nur dadurch umgehen, daß man die Geschichte nicht als einen Haufen von Fakten, einen Berg von erdrückenden Erinnerungen ansieht, sondern vielmehr als ein fruchtbares Feld von Erkundungen und Interpretationen, indem man also die Vergangenheit als Baumaterial für die Zukunft verwendet.
Angesichts der Angriffe auf Einwanderer in Deutschland bin ich mir der Tatsache bewußt, daß Deutschland wahrscheinlich in der letzten Zeit mehr Flüchtlinge aufgenommen hat als jedes andere westeuropäische Land. Rassisten und Fanatiker gibt es auch andernorts, aber es stellt sich doch die Frage: Wo sind die Menschenmassen, die auf die Straße gehen, um dieses Land zu verteidigen?
Der Brandanschlag auf die Gedenkstätte Sachsenhausen sollte wohl darauf zielen, die monströse Vergangenheit Deutschlands auszulöschen. Aber nicht die Vergangenheit wird in Sachsenhausen verbrannt - die Vergangenheit, Ihre wie auch unsere, kann man nicht verbrennen. Nein, in Gefahr, Feuer zu fangen, sind Deutschlands Gegenwart und Zukunft.
Heute hat Deutschland nicht nur die Pflicht, den Einwanderern Schutz zu gewähren und jüdische Gedenkstätten zu schützen - heute sind die Deutschen mit der unabweisbaren Herausforderung konfrontiert, sich selbst gegen gewalttätigen Rassismus und Gleichgültigkeit zu verteidigen.
Wie können wir aus der Vergangenheit Nutzen ziehen? Was kann Auschwitz den Lebenden heute noch bedeuten, über Schrecken, Schmerz und Schweigen hinaus? Vielleicht kann es neben anderem die dringliche Erkenntnis vermitteln, daß es das Böse gibt. Das Böse existiert nicht etwa in der Art wie ein Unfall, nicht wie ein unpersönliches, geschichtsloses soziales oder bürokatisches Phänomen, nicht wie ein ausgestopfter Dinosaurier in einem Museum. Das Böse ist eine allgegenwärtige Möglichkeit, um uns herum und in uns selbst. Vorurteil und Grausamkeit zeigen ihre schreckliche Gestalt nicht etwa in dem ständigen Zusammenprall zwischen dem netten, einfachen Mann auf der Straße und dem fürchterlichen politischen System. Der nette, einfache Mann auf der Straße ist häufig weder nett noch einfach. Vielmehr stoßen ständig relativ anständige Gesellschaften mit mörderischen Gesellschaften zusammen. Um es noch genauer zu sagen: Es besteht Grund zu der Sorge darüber, daß relativ anständige Menschen und Gesellschaften sich häufig feige verhalten, wenn sie sich rücksichtslosen und grausamen Menschen und Gesellschaften ausgesetzt sehen. Kurz, das Böse ist nicht etwa »da draußen« - es lauert im Inneren, manchmal listigerweise hinter der Maske der Hingabe oder des Idealismus.
Wie kann man aber human sein, also skeptisch und moralischer Zwiespältigkeit fähig, und gleichzeitig versuchen, das Böse zu bekämpfen? Wie kann man gegen Fanatismus angehen, ohne fanatisch zu werden? Wie kann man für eine edle Sache kämpfen, ohne zum Kämpfer zu werden? Wie kann man Grausamkeit entschieden bekämpfen, ohne sich selbst anzustecken? Wie kann man aus der Geschichte Nutzen ziehen und gleichzeitig die giftigen Auswirkungen einer Überdosis Geschichte vermeiden? Vor einigen Jahren sah ich in Wien eine Straßendemonstration von Umweltschützern, die gegen wissenschaftliche Experimente an Meerschweinchen protestierten. Sie trugen Schilder, auf denen Jesus abgebildet war, umgeben von leidenden Meerschweinchen. Die Aufschrift lautete: »Er hat auch sie geliebt.«
Vielleicht hat er das, aber einige Demonstranten wirkten auf mich beinahe so, als seien sie letztlich fähig, Geiseln zu erschießen, um dem Leiden von Meerschweinchen ein Ende zu bereiten. Dieses Syndrom eines glühenden Idealismus beziehungsweise eines antifanatischen Fanatismus sollen wohlmeinende Menschen sich bewußtmachen, hier, andernorts, überall. Als Erzähler und politisch aktiver Mensch muß ich mir unablässig in Erinnerung rufen, daß es vergleichsweise einfach ist, Gut und Böse voneinander zu unterscheiden. Die eigentliche moralische Aufgabe aber besteht darin, zwischen verschiedenen Grautönen zu unterscheiden; das Böse in seinen Abstufungen wahrzunehmen; zwischen dem Bösen, dem noch Böseren und dem Allerbösesten zu differenzieren.
Seit vielen Jahren widme ich mich nun der israelischen Friedensbewegung, schon vor der Gründung der »Frieden jetzt«-Bewegung im Jahre 1977. Die Friedensbewegung in Israel ist keine pazifistische Bewegung; sie ist auch kein Resultat der amerikanischen und westeuropäischen Sensibilisierung der sechziger Jahre. Die Westbank und der Gazastreifen sind weder Vietnam noch Afghanistan. Israel ist nicht Südafrika, und der israelisch-arabische Konflikt hat wenig mit der imperialistischen oder kolonialen Vergangenheit zu tun. Die Friedensbewegung in Israel ist für mich ein Ausdruck der humanistischen Aspekte des Zionismus und der universalistischen Züge des Judentums.
Zweimal in meinem Leben, 1967 und 1973, war ich auf dem Schlachtfeld und habe die gräßliche Fratze des Krieges gesehen. Und doch bleibe ich bei meiner Überzeugung, daß man Aggression niemals aus der Welt schafft, indem man ihr nachgibt, und daß nur zwei Dinge den bewaffneten Kampf rechtfertigen: das Leben und die Freiheit. Ich werde wieder kämpfen, wenn jemand versucht, mir oder meinem nächsten Nachbarn nach dem Leben zu trachten. Ich werde kämpfen, wenn irgend jemand versucht, mich zum Sklaven zu machen. Aber niemals werde ich für »die Rechte der Vorväter« kämpfen, für mehr Raum, für Ressourcen, für den trügerischen Begriff »nationale Interessen«.
Die Auseinandersetzung zwischen Israelis und Palästinensern ist ein tragischer Konflikt zwischen Recht und Recht, zwischen zwei sehr überzeugenden Ansprüchen. Eine Tragödie dieser Art läßt sich entweder durch die totale Vernichtung eines der beiden Kontrahenten (oder beider) lösen oder aber durch einen traurigen, schmerzvollen, widersprüchlichen Kompromiß, wodurch jeder lediglich etwas von dem erhält, was er ursprünglich wollte, so daß niemand vollständig zufrieden ist, aber jeder dem Sterben ein Ende bereitet und sich dem Leben zuwendet. Palästina wird in einem Teil des Landes Unabhängigkeit und Sicherheit erhalten; Israel wird in einem anderen Teil des Landes in Frieden und Sicherheit leben. Irgendwann wird es durchaus möglich sein, sich allmählich zu versöhnen, dem Wettrüsten ein Ende zu setzen, einen gemeinsamen Markt aufzubauen und die Wunden heilen zu lassen.
Unsere Friedensbewegung in Israel ist nicht pro-palästinensisch. Es ist absolut notwendig, daß Israelis und Palästinenser Frieden schließen, und damit auch Israel und die arabischen Länder, und dies nicht aus Gründen von Schuld und Versöhnung, sondern aus Gründen des Überlebens. Wir, die Israelis, sind in Israel, um dort zu bleiben. Die Palästinenser sind in Palästina, und sie werden nicht fortgehen. Wir müssen zumindest vernünftige Nachbarn werden.
Obwohl ich mich für die Aufteilung eines kleinen Landes unter zwei Nationen einsetze, bin ich doch davon überzeugt, daß dies nur ein aus der Notwendigkeit geborener Schritt ist. Ich halte Nationalstaaten für schlechte, unzureichende Systeme. Meiner Meinung nach sollte es auf diesem überfüllten, hungergeplagten, zerfallenden Planeten Hunderte von Zivilisationen, Tausende von Traditionen, Millionen von regionalen und lokalen Gemeinschaften geben, aber keine Nationalstaaten. Insbesondere heutzutage, da nationale Selbstbestimmung in einigen Teilen der Welt zu blutiger Desintegration verkommen ist und womöglich jeden von uns zu einer Insel machen wird, ist eine ganz andere Sicht geboten.
Wir sollten versuchen, innerhalb einer umfassenden Gemeinschaft der Menschheit die verschiedenen Wünsche nach Identität und Selbstbestimmung zu verwirklichen. Wir sollten eine vielstimmige Welt errichten und nicht eine voller Dissonanzen, voller selbständiger und selbstsüchtiger Nationalstaaten.
Unsere conditio humana, unsere Einsamkeit auf der Oberfläche eines verletzbaren Planeten, ausgesetzt dem kalten kosmischen Schweigen, der unentrinnbaren Ironie des Lebens und der gnadenlosen Gegenwart des Todes, all diese Gegebenheiten sollten letztlich ein Gefühl menschlicher Solidarität hervorrufen und den Schall und den Wahn unserer Differenzen überwinden. Der Patriotismus der Flagge muß einem Patriotismus der Humanität weichen, einem Patriotismus der Erde, der Wälder, des Wassers, der Luft und des Lichts, einer schöpferischen Beziehung zur Schöpfung selbst.
Wie kann sich hierfür ein Geschichtenerzähler einsetzen, außer dadurch, daß er eben Geschichten erzählt? Kann ein Schriftsteller vernünftigerweise hoffen, einen gewissen Wandel in den Herzen herbeizuführen? Ich habe auf alle diese Fragen nur teilweise Antworten. Nehmen Sie zum Beispiel den alten Tolstoj: Er hatte wahrscheinlich einen größeren Einfluß auf seine Zeitgenossen als jemals irgendein anderer Schriftsteller. Er wurde von Millionen gelesen, und Hunderttausende sahen in ihm einen Propheten. Gleichwohl übernahmen kaum zehn Jahre nach seinem spektakulären, »biblischen« Tod nicht etwa die Tolstojaner Rußland, sondern Gestalten aus Dostojewskis »Dämonen«. Letztlich vernichteten die Stawrogins die Tolstojaner, sie schlachteten Turgenjews Hauptfiguren und exekutierten Dostojewski im nachhinein. Keine zehn Jahre nach Tolstojs Tod galten die Ideen Tolstojs im Land der Sowjets als subversiv. Soviel zum wahren Einfluß der Literatur auf die Politik und den Gang der Geschichte. Ich hätte meine Beispiele ebenso leicht wie aus der russischen auch aus der deutschen Literatur wählen können.
Da ich nun deutlich gemacht habe, daß die Geschichte literarische Visionen gänzlich außer acht läßt, hole ich tief Luft und widerspreche mir sogleich: Ich möchte doch die Tatsache festgehalten wissen, daß siebzig Jahre nach Lenins verheerendem Umsturz Rußland vielleicht nicht zu Tolstoj zurückkehrt, wohl aber ironischerweise zu einer gewissen Tschechowschen Grundhaltung von Melancholie und Gelähmtsein.
Als jemand, der aus Israel kommt und in Jerusalem aufgewachsen ist, ist mir natürlich bewußt, welch vielfältigen Einfluß die Bibel auf die Schaffung Israels und auf einige heutige Plagen hat. Zuweilen hat es den Anschein, als wäre nahezu alles in Israel Büchern entsprungen. »Der Judenstaat« ist der Titel eines Buches, erschienen fünfzig Jahre bevor Israel zu einer Nation wurde, gesund und munter (tatsächlich manchmal allzu munter). »Alt-Neuland« hieß ein futuristisches Buch, dessen hebräischer Titel »Tel Aviv« lautet. Es wurde, zehn Jahre bevor man überhaupt das erste Haus in Tel Aviv erbaute, veröffentlicht. Auch der Kibbuz ist eine ruhelose Verknüpfung gewisser jüdischer Traditionen mit vorrevolutionären sozialistischen Texten.
Nachdem ich nun behauptet habe, daß Literatur keinerlei Wirkung hat, und dann das Gegenteil, stellt sich die Frage, was ich genau sagen will. Ich glaube, kurz gesagt, daß ein Buch zuweilen das Leben vieler Menschen zu ändern vermag, wenn auch nicht unbedingt in der Weise, wie der Autor es beabsichtigt hat. Und selbst dies geschieht fast nie im Handumdrehen, sondern erst nach vielen Jahren und häufig infolge beträchtlicher Entstellungen und Vereinfachungen. Wir stellen häufig fest, daß schlechte Bücher und Bücher voller Haß viel schneller ihren Weg machen als gute und feinsinnige Bücher.
Manch einer wird der Meinung sein, daß im Lande der Propheten und innerhalb der prophetischen Tradition Schriftsteller und Dichter die Rolle von Propheten übernehmen. In einigen westlichen Kulturen gelten Schriftsteller und Dichter hauptsächlich als hervorragende und einfühlsame Unterhalter. Innerhalb der jüdischen - oder sollte ich besser sagen: der jüdisch-slawischen - Tradition erwartet man von ihnen, daß sie als Stellvertreter der Propheten wirken. Manch einer ist tatsächlich versucht, sich hin und wieder so zu verhalten. Wir sollten aber nicht vergessen, daß selbst die Propheten zu ihrer Zeit nicht sehr viel Erfolg damit hatten, den Willen ihrer Herrscher oder das Herz ihres Volkes zu beeinflussen. Es wäre daher äußerst romantisch, erwartete man von den heutigen Schriftstellern und Dichtern, daß sie einflußreicher seien als die Propheten zu ihrer Zeit.
Lassen wir aber die Prophezeiungen beiseite. Gibt es irgend etwas, wirklich irgend etwas, was Schriftsteller genauer kennen als Taxifahrer, Programmierer oder selbst Politiker? Womit ließe sich überhaupt die weitverbreitete Erwartung begründen, wonach literarische Werke Handlungsanleitungen bieten und Schriftsteller das Gewissen der Gesellschaft sein könnten?
Eins haben wohl Schriftsteller und Geheimagenten gemeinsam: Wenn man eine Geschichte oder einen Roman schreibt, versetzt man sich in die Situation anderer Menschen , wenn nicht sogar in diese Personen selbst hinein. Man stellt sich ständig vor, man sei diese Frau oder jener Mann. Man läßt eine Reihe von einander widerstreitenden und sich widersprechenden Gesichtspunkten zu Wort kommen, und zwar mit gleicher Einfühlung, Leidenschaft und bisweilen Mitgefühl. Dadurch schärft sich wohl die emotionale und intellektuelle Fähigkeit, verschiedene, einander ausschließende Ansichten über ein und dieselbe Sache auf ihre Gültigkeit hin zu überprüfen.
Eine weitere »Qualifikation« des Schriftstellers besteht in seinem innigen Verhältnis zur Sprache. Ein Mensch, der die Hälfte seines Lebens damit verbringt, zwischen verschiedenen Adverbien und Adjektiven zu wählen, der Substantive und Verben prüft, der sich über die Interpunktion den Kopf zerbricht, ein solcher Mensch ist wahrscheinlich wohlgerüstet, die ersten Zeichen jeglicher Sprachentstellung zu bemerken. Ich brauche Ihnen nicht zu erläutern, daß eine verdorbene Sprache häufig die schlimmsten Grausamkeiten ankündigt. Wo bestimmte Menschengruppen etwa »negative Elemente« oder »Parasiten« genannt werden, wird man sie früher oder später auch nicht mehr als Menschen behandeln.
Schriftsteller sind also mit der Fähigkeit ausgestattet, als Rauchmelder, vielleicht sogar als Feuerwehr der Sprache zu dienen. Sie sind, um im Bild zu bleiben, die ersten, die eine unmenschliche Sprache wittern, und daher rührt ihre moralische Verpflichtung, »Feuer!« zu rufen, sobald sie Brandgeruch wahrnehmen. (Ob sich irgend jemand darum schert, steht auf einem anderen Blatt: Man erinnere sich an Kierkegaards Geschichte vom Schauspieler, der »Feuer!« schrie, woraufhin das gesamte Publikum applaudierte und »Bravo!« jubelte.)
Ob sie nun Berge versetzen oder nur Kommata hin und her schieben, Schriftsteller sind vor allem Fachleute für die Auswahl von Worten und deren ständige Neuordnung. Meiner Ansicht nach ist die Wahl und Ordnung von Worten in einem bescheidenen Maße eine moralische Entscheidung. Indem man einem bestimmten Verb den Vorzug gibt, Klischees und eingefahrene Bilder vermeidet oder sie im entgegengesetzten Sinn verwendet, trifft man eine Entscheidung mit zumindest mikroskopisch kleinen ethischen Folgen. Worte können töten, das wissen wir nur zu genau. Aber Worte können auch, obwohl nur begrenzt, manchmal heilen. Hier liegt mein Dilemma: Wie soll sich ein Mann der Sprache verhalten, wenn er nun einmal in unmittelbarer Nachbarschaft von Unrecht, Vorurteil und Gewalt lebt? Was kann dieser Mensch tun, wo doch alles, was er besitzt, eine Feder, eine Stimme und manchmal ein relativ aufmerksames Publikum ist? Wie soll man handeln, wenn die Grundregeln des Verhaltens fordern, politische Gemeinheiten zu bekämpfen, anstatt sie lediglich zu beobachten, zu beschreiben und zu entziffern? Wie soll man eine allem Anschein nach unmögliche Entscheidung zwischen staatsbürgerlicher Anteilnahme und künstlerischer Integrität treffen?
Handelt ein Schriftsteller unmoralisch, wenn er seine Feder zur politischen Waffe macht, oder ist es unmoralisch, wenn er seine Feder nicht in ein Schwert der Polemik verwandelt?
Ich kann Ihnen keine allgemeingültige Antwort anbieten, wohl aber meinen widersprüchlichen Kompromiß. Ich habe mich auf die Politik eingelassen, ohne mich vollständig der simplen Praxis zu verschreiben, Manifeste, undifferenzierte Predigten oder vereinfachte politische Allegorien zu verfassen.
Wenn ich feststelle, daß ich mit mir selbst hundertprozentig übereinstimme, schreibe ich keine Geschichte, sondern einen wütenden Artikel, in dem ich meiner Regierung erläutere, was sie tun soll, manchmal auch, wohin sie sich scheren soll (was nicht bedeutet, daß man mir Gehör schenken würde). Wenn ich hingegen nicht nur ein einziges Argument in mir spüre, nicht nur eine Stimme, kommt es bisweilen vor, daß sich diese unterschiedlichen Stimmen zu Gestalten entwickeln, und dann weiß ich, daß ich mit einer Geschichte schwangergehe. Geschichten schreibe ich genau dann, wenn ich mich mit verschiedenen, einander widersprechenden Forderungen identifizieren kann, mit einer Vielzahl moralischer Standpunkte, widerstreitender Gefühle. Es gibt eine alte chassidische Geschichte von einem Rabbi, den man ruft, um über zwei Ansprüche auf ein und dieselbe Ziege zu entscheiden. Er befindet, daß beide Parteien recht haben. Zu Hause sagt ihm später seine Frau, daß dies unmöglich sei: Wie können beide im Recht sein, wenn sie Ansprüche auf ein und dieselbe Ziege stellen? Der Rabbi denkt einen Augenblick nach und sagt: »Weißt du, meine Liebe, auch du hast recht.«
Hin und wieder bin ich dieser Rabbi.
In Israel unterscheiden die Leser nicht immer streng zwischen Fiktion und Essay. Häufig lesen sie eine einfache politische Botschaft aus einem Text heraus, der als vielstimmige Erzählung gedacht war. Außerhalb Israels neigt man ebenfalls dazu, unsere Literatur als politische Allegorie zu nehmen, aber dies ist häufig das Schicksal von Romanen, die aus unruhigen Teilen der Erde stammen. Da denkt man, man habe ein Stück Kammermusik geschrieben, die Geschichte einer Familie etwa, und was sagen die Leser und Kritiker: »Aha! Sicherlich repräsentiert die Mutter die alten Werte, der Vater steht für die Regierung, und die Tochter ist ohne Zweifel ein Symbol der zerrütteten Wirtschaft.«
Am Ende des Tages, und ich meine dies ganz buchstäblich, am Ende fast eines jeden Tages voller Schall und Wahn kommt die Zeit einer dünnen leisen Stimme (kol d'mama daka), das ist die Zeit, wenn ich manchmal nachdenke, nicht nur über dieses oder jenes nützliche politische Argument, nicht einmal über das richtige Adverb in einem widerspenstigen Satz einer Geschichte, sondern etwa über Jesus' berühmte Worte »Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun«. Ich bin der Meinung, daß er hier nicht recht hat, nicht was die Vergebung betrifft, sondern das Wissen. Ich glaube, wir alle wissen nur zu gut, was wir tun. Ganz tief im Innern wissen wir es. Wir haben alle von der Frucht jenes Baumes gegessen, dessen vollständige Bezeichnung lautet »der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse« (Ez ha da'at tow we ra'). Meiner Überzeugung nach weiß jedes menschliche Wesen sehr genau, was Schmerz ist - wir alle machen die Erfahrung des Schmerzes -, und daher weiß jedes menschliche Wesen, wenn es Schmerz zufügt, schlimmer noch, einem anderen Menschen Schmerz zufügt, was es da tut.
Dies ist mein einfaches Bekenntnis. Und da wir wissen, was wir tun, wenn wir anderen Schmerz zufügen, sind wir auch verantwortlich für das, was wir tun. Wir können immer noch vergeben, uns kann immer noch vergeben werden, aber nicht aufgrund kindlicher Unschuld oder moralischer Unreife.
Aber was tue ich hier? Da habe ich den weiten Weg von Jerusalem hierher in die Paulskirche zurückgelegt, um einen Streit mit Jesus vom Zaun zu brechen? Wir Juden haben es eben nie geschafft, unsere widersprüchlichen Ansichten für uns zu behalten. - Manchmal denke ich am Ende eines Tages über Immanuel Kants Bemerkung nach: »Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.« Immer wieder frage ich mich, warum seit Tausenden von Jahren so viele Erlöser, Ideologen und Weltverbesserer unablässig eben dies versucht haben, häufig mit Säge und Axt, nämlich etwas Gerades und Wohlgeformtes aus dem krummen Holz der Menschheit zu zimmern. Anstatt ständig ohne Ergebnis zu versuchen, einander zu ändern, sollten wir uns da nicht selber besser von Zeit zu Zeit daran erinnern, daß niemand all die Qual, die uns im Leben und durch den Tod beschieden ist, noch vergrößern sollte? Und daß tief in uns all unsere Geheimnisse wirklich ein und dieselben sind? Daß niemand eine Insel ist, wie John Donne sagt, und der Tod keine Macht haben darf, wie Dylan Thomas es nennt.
Schließlich und endlich, wenn der Abendwind über den dämmrigen Bergen der Wüste aufkommt, nimmt man seine Feder zur Hand, man beginnt wiederum zu schreiben und arbeitet wie ein altmodischer Uhrmacher; mit einem Vergrößerungsglas im Auge und einer Pinzette zwischen den Fingern; man hält ein Adjektiv prüfend gegen das Licht, wechselt ein fehlerhaftes Adverb aus, macht ein lockeres Verb wieder fest und bessert eine abgenutzte Redewendung aus. Zu dieser Tageszeit fühlt man etwas, das weit entfernt von jeglicher politischer Rechtschaffenheit ist. Es ist eher eine seltsame Mischung aus Wut und Mitleid, aus Intimität mit seinen Charakteren und gleichzeitig äußerster Distanz. Wie eisiges Feuer. Und dann schreibt man. Man schreibt nicht als jemand, der für den Frieden kämpft, sondern vielmehr als jemand, der den Frieden hervorbringt und begierig ist, diesen Frieden mit seinen Lesern zu teilen. Man schreibt unter einem einfachen ethischen Imperativ: Versuche, alles zu verstehen. Vergib manches. Und vergiß nichts.
Und worüber schreibt man? Der israelische Dichter Natan Zach hat mir eine gute Definition meiner Themen gegeben:
»Dies ist ein Gedicht über Menschen
Über das, was sie denken
Und über das, was sie wollen
Und über das, was sie meinen zu wollen.
Wenig anderes auf der Welt
Verdient unsere Beachtung . . .«
Und so schreibe ich über Menschen und was sie denken und was sie wollen und was sie meinen zu wollen. Was gibt es ansonsten dort draußen? Nun, es gibt ebenfalls seit Urzeiten jenen Chor: den Tod und das Begehren, die Einsamkeit und den Wahn, die Eitelkeit, die Leere, den Traum und die Verzweiflung. Es gibt die schäumenden Flüsse und die schweigenden Berge und die Meere und die Wüsten. Und es gibt natürlich die Sprache selbst - das gefährlichste Musikinstrument von allen. Schließlich gibt es jene uralten, verdrießlichen siamesischen Zwillinge, das Gute und das Böse, die sich aus dem Leben in die Bücher und zurück bewegen, niemals getrennt, niemals zufrieden, immer zeigen sie mit ihren knorrigen Fingern auf einen, daß man sich zuweilen wünscht, man wäre besser Musiker geworden. Aber nein: Man ist auf Worte eingeengt und damit verantwortlich für jedes falsche Wort, zumindest in der Sprache, in der man schreibt.
Die Verteidigung der Sprache ist mein Weg, den Frieden zu befördern: ein unablässiger Kampf gegen die Verschandelung der Sprache, gegen die ständige Wiederholung von Stereotypen, gegen Rassismus und Intoleranz, gegen die Verherrlichung von Gewalt. Immer wieder bin ich von Worten angewidert, die man sogar benutzt, um für Romane zu werben: »kraftvoll«, »umwerfend«, »überwältigend«, »explosiv«.
Ich glaube nicht an die Möglichkeit eines perfekten Friedens - denken Sie an jenes »krumme Holz«. Ich arbeite vielmehr für einen kläglichen, nüchternen, unvollkommenen Kompromiß zwischen einzelnen Menschen und Gemeinschaften, die immer getrennt und unterschiedlich sein werden, die aber gleichwohl fähig sind, ein unvollkommenes Miteinander herbeizuführen. Der Psalmist sagt: »Es begegnen einander Huld und Treue; Gerechtigkeit und Frieden küssen sich« (Psalm 85, 10). Der Talmud jedoch legt eine innere Spannung zwischen Gerechtigkeit und Frieden offen und bietet eine eher pragmatische Vorstellung: »Wo aber Gerechtigkeit vorherrscht, da ist kein Frieden, und wo Frieden herrscht, da ist keine Gerechtigkeit. Wo also ist Gerechtigkeit, die Frieden enthält? Sie sind in der Tat gesondert.«
Rabbi Nachman aus Brazlaw (1772-1810), einer der herausragenden Führer der chassidischen Bewegung, sagt: »Das Wesen des Friedenstiftens liegt darin, zwei Gegner zusammenzubringen. Erschrick niemals (. . .), wenn du zwei Parteien siehst, die einander vollständig entgegengesetzt sind. (. . .) Es ist in der Tat der entscheidende Punkt der Ganzheit des Friedens, zu versuchen, Frieden unter zwei Gegnern zu schaffen« (Likutei ha'Moharan, Teil A). Dem kann ich nur hinzufügen, daß allein der Tod vollkommen ist. Der Frieden ist, wie das Leben selbst, kein Ausbruch der Liebe, keine mystische Kommunion unter Feinden, sondern nicht mehr und nicht weniger als ein gerechter und vernünftiger Kompromiß unter Gegnern.
Ich möchte dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels dafür danken, daß er mich mit diesem äußerst bedeutenden Preis ehrt und damit vielleicht Israels Geist des Friedens und die moralische wie auch politische Haltung der Mehrheit der hebräischen Literatur stärkt. Dank möchte ich meinem lieben Freund und geliebten Schriftsteller Siegfried Lenz dafür sagen, daß er mich heute morgen so warmherzig eingeführt und daß er mir durch seine Romane und Essays manches von Deutschland nahegebracht hat.
Ich danke meinen Freunden, daß sie heute hier anwesend sind; am meisten danke ich meiner Frau und meinen Kindern, daß sie mir Liebe und Frieden schenken. Ihnen allen, Shalom!
Aus dem Englischen von Christoph Groffy
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Amos Oz
Dankesrede des Preisträgers
Chronik des Jahres 1992
+++ Der südafrikanische Präsident de Klerk kündigt im Januar 1992 die Bildung einer Übergangsregierung an, an der auch Vertreter der schwarzen Bevölkerungsmehrheit beteiligt werden sollen. Im März votieren mehr als zwei Drittel der weißen Bevölkerung Südafrikas für die Abschaffung der Rassentrennung und die Fortsetzung der Reformpolitik. +++
Trotz der Stationierung von UN-Friedenssoldaten und der diplomatischen Anerkennung von Kroatien, Slowenien und Bosnien-Herzegowina durch die Europäische Gemeinschaft geht der Krieg auf dem Balkan unvermindert weiter. Gegen Serbien und Montenegro wird im Mai ein Handelsembargo beschlossen. Im Dezember wird durch eine Großoffensive serbischer Truppen die bosnische Hauptstadt Sarajewo von der Außenwelt abgeschnitten. +++ Im August zünden in Rostock rechtsextreme Jugendliche unter dem Beifall erwachsener Sympathisanten und ungehindert von der Polizei einen Wohnblock an, in dem vor allem Vietnamesen leben. +++ Ende September wird bei einem Brandanschlag auf die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen ein Museumsgebäude zerstört. +++ Am 23. November kommen in Mölln drei Türkinnen bei einem Brandanschlag rechtsextremer Gewalttäter ums Leben, sieben Personen werden verletzt. Am 6. Dezember protestieren in München mehr als 400 000 Menschen mit einer 45 Kilometer langen Lichterkette gegen Ausländerfeindlichkeit. Am gleichen Tag einigt sich die Regierungskoalition mit der SPD auf eine Änderung von Artikel 16 des Grundgesetzes: Asylbewerber, die aus anderen EG-Staaten und sogenannten sicheren Drittländern nach Deutschland kommen, sollen künftig ohne Gerichtsverfahren zurückgeschickt werden können. +++
Biographie Amos Oz
Mit fünfzehn Jahren tritt Amos Klausner, als Sohn eines russischen Literaturwissenschaftlers geboren am 4. Mai 1939 in Jerusalem, dem Kibbuz Hulda bei und ändert seinen Nachnamen in Oz um, das hebräische Wort für Kraft, Stärke. Er studiert Literatur und Philosophie und veröffentlicht 1960 erste Kurzgeschichten.
Der erste Roman Keiner bleibt allein über die Bedrohung der Ideale des Kibbuzlebens durch Missgunst und Egoismus erscheint 1966. Schon hier wird seine Sehnsucht nach Verlässlichkeit sichtbar, die sich aus der Unsicherheit des Staates Israel seit seiner Gründung ergibt und die sich durch sein Leben und durch sein literarisches Werk zieht.
Die Erfahrungen, die er 1967 als Soldat im Sechstagekrieg und im Jom-Kippur-Krieg 1973 macht, befördern seine Einsicht, dass ein Kompromiss zwischen Israelis und Palästinensern gefunden werden muss, der die Autonomie der Palästinensergebiete vorsieht. 1977 wird die Friedensbewegung Schalom Achschaw (Frieden jetzt, Peace Now) gegründet, auf deren Basis Amos Oz und seine Mitstreiter sich für eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts einsetzen – eine Haltung, die in Israel, zusammen mit den zeit- und gesellschaftskritischen Bezügen der Romane und Essays von Amos Oz, heftige Kontroversen auslöst.
Während der zweiten Intifada versucht er, mit der Unterscheidung zwischen dem Kampf der Palästinenser um einen eigenen Staat und dem Kampf fanatischer Islamisten gegen die Existenz des Staates Israel, der Diskussion um eine friedliche Lösung des Konflikts eine neue Grundlage zu geben. 2008 erscheint sein Roman Verse auf Leben und Tod, ein subversives Wechselspiel von Leben und Literatur. Im gleichen Jahr kündigt er die Gründung einer neuen Linkspartei an.
Am 28. Dezember 2018 stirbt Amos Oz in Petach Tikwa.
Auszeichnungen
2018 Stig-Dagerman-Preis
2017 Mount Zion Award
2017 Abraham Geiger Preis
2015 Park-Kyung-ni-Literaturpreis
2015 Internationaler Literaturpreis – Haus der Kulturen der Welt mit der Übersetzerin Mirjam Pressler
2014 Siegfried Lenz Preis
2013 Franz-Kafka-Literaturpreis
2012 Premio Letterario Internazionale Giuseppe Tomasi di Lampedusa
2010 Siegfried Unseld Preis gemeinsam mit Sari Nusseibeh
2008 Internationaler Stefan-Heym-Preis der Stadt Chemnitz
2008 Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf
2008 Dan David Prize
2007 Prinz-von-Asturien-Preis
2007 Literatur im Nebel Heidenreichstein
2007 Aufnahme in die American Academy of Arts and Sciences als auswärtiges Ehrenmitglied
2006 Corine-Ehrenpreis des Bayerischen Ministerpräsidenten2005 Wingate Literary Prize
2005 Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main
2004 Preis des Senders France Culture für ausländische Literatur
2004 Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch (Hauptpreis) für das Buch Eine Geschichte von Liebe und Finsternis
2003 Friedenspreis der Geschwister Korn und Gerstenmann-Stiftung
1998 Israel-Preis für Literatur
1992 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
1986 Bialik-Preis
1984 Offizier des Ordre des Arts et des Lettres
Bibliographie
Liebe Fanatiker. Drei Plädoyers
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, Suhrkamp Verlag, Berlin 2018, ISBN 9783518428023, Kartoniert, 143 Seiten, 18.00 EUR
Judas. Roman
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, Suhrkamp Verlag, Berlin 2015, ISBN 9783518424797, Gebunden, 335 Seiten, 22.95 EUR
Eine Geschichte von Liebe und Finsternis. Roman
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004, ISBN 9783518416167, Gebunden, 850 Seiten, 26.80 EUR
Laudator Siegfried Lenz
Siegfried Lenz, geboren am 7. März 1926 in Lyck / Ostpreußen, wird nach dem Abitur 1943 zur Marine einberufen. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs desertiert er und versteckt sich die letzten Kriegsmonate in Dänemark.
Nach dem Krieg beginnt er in Hamburg ein Philosophie- und Literaturstudium, das er jedoch 1948 abbricht, um als Volontär, später als Feuilletonredakteur bei der Zeitung Die Welt zu arbeiten. Seit 1951 ist Siegfried Lenz als freier Schriftsteller tätig.
Bereits sein erster Roman Es waren Habichte in der Luft (1951) handelt von der Erfahrung totalitärer Herrschaft – eins seiner wichtigsten literarischen Themen, mit denen er eine sozialkritische Perspektive entwickelt, gebrochen durch existentielle, manchmal gar pessimistische Motive. Sein 1968 veröffentlichter Roman Deutschstunde macht ihn weltberühmt.´
Lenz engagiert sich politisch für die SPD und begleitet 1970 zusammen mit Günter Grass Bundeskanzler Brandt zur Unterzeichnung des deutsch-polnischen Vertrages nach Warschau. Auch seine jüngste Erzählung Schweigeminute (2008) wurde zu einem Bestseller.
Siegfried Lenz ist am 7. Oktober 2014 im Alter von 88 Jahren in Hamburg gestorben.