Der Stiftungsrat hat den ungarischen Schriftsteller György Konrád zum Träger des Preises gewählt. Die Verleihung fand während der Frankfurter Buchmesse am Sonntag, 13. Oktober 1991, in der Paulskirche statt. Die Laudatio hielt Jorge Semprún.
Begründung der Jury
Den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verleiht der Börsenverein im Jahre 1991 György Konrád. Er würdigt mit dieser Auszeichnung Konráds Entwurf eines Mitteleuropa, das als eigenständiger Raum mit jahrhundertealten gemeinsamen Traditionen in Politik und Kultur Bestandteil Gesamteuropas ist.
Konráds Denken und Schreiben zielt auf die Überwindung der aus dem Zweiten Weltkrieg resultierenden Teilung Europas. Zugleich richtet er sich gegen die Allmacht des Staates und tritt für das Ethos einer zivilen Gesellschaft ein, die auf den einzelnen, dessen Freiheit und soziale Verpflichtung ausgerichtet ist.
In der Betonung der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit Europas von militärischen Großmächten hat Konrád den Weg friedlicher Umgestaltung in Mittel- und Osteuropa vorgedacht und formuliert.
Reden
Dorothee Hess-Maier
Grußwort der Vorsteherin
Außergewöhnlich bei György Konrád ist meiner Meinung nach seine Art, auf die totalisierende Invasion alles Öffentlichen, auf die drückende Historifizierung des persönlichen Lebensbereiches, die unsere Epoche auf die eine oder andere Art kennzeichnen, zu reagieren.
Jorge Semprún - Laudatio auf György Konrád
Jorge Semprún
Auf den Friedenspreisträger 1991
Laudatio auf György Konrád
I.
Es war in Paris. Seit dem Ende der sechziger Jahre, ungefähr zehn Jahre lang, klingelte es manchmal an meiner Haustür. Ich erwartete niemanden und ging die Tür öffnen. Und sogleich erkannte ich oder besser gesagt identifizierte ich den oder die Unbekannte, die mir auf dem Treppenabsatz gegenüberstanden.
Ich erkannte sie sogleich, wußte, daß sie aus einer Hauptstadt Mittel- oder Osteuropas kamen. Jener oder jene Unbekannte brauchten mir nichts zu sagen: Ich machte ihnen die Tür weit auf und ließ sie hereinkommen. Ich wußte, daß sie mit einem Empfehlungsschreiben kamen, mit einer Losung, die es uns sogleich ermöglichte, eine schon begonnene und nie endende Unterhaltung fortzuführen, obwohl sie mit irgendeinem anderen Gesprächspartner angefangen worden war.
Sie traten dann in die Wohnung, zeigten mir natürlich einen Brief oder teilten mir irgendwelche Informationen mit, die es mir erlaubten, Vertrauen zu fassen. Es konnten Polen sein, und dann bezogen sie sich zum Beispiel auf Adam Michnik. Es konnten DDR-Deutsche sein, und dann berichteten sie mir zum Beispiel von Walter Janka. Es konnten Tschechen oder Slowaken sein, und dann erzählten sie zum Beispiel von Karel Bartošek oder Karel Kosík.
Infolge einer Reihe von Umständen, die hauptsächlich mit der Publikation meines ersten Romans, »Die große Reise«, in Budapest zu tun haben, sowie mit den Kommentaren, die György Lukács dazu gab, kam die Mehrheit dieser unangemeldeten, aber sehr willkommenen Besucher aus Ungarn.
Sie kamen herein, setzten sich. Ein endloses Gespräch wurde fortgeführt, und obwohl seine Teilnehmer, das heißt die Besucher, wechselten, blieb sein Inhalt stets der gleiche.
Es ging um die Geschichte unseres Europas, seit Jalta, um es metaphorisch auszudrücken. Ganz besonders aber um Europa seit der ungarischen Revolution von 1956 und seit der Invasion in die Tschechoslowakei 1968.
Es ging um das blutige Scheitern der kommunistischen Revolution, eine ganz ohne Zweifel essentielle Erfahrung des 20. Jahrhunderts.
Es ging um die politische Zukunft Mitteleuropas, wie man in diesen Ländern die demokratischen Freiheiten rückgewinnen könne. War das vorstellbar, solange die Teilung Europas, symbolisiert durch die Existenz zweier deutscher Staaten und die Berliner Mauer, fortbestand? Solange die antagonistischen Militärbündnisse fortbestanden?
Sicher wird sich inzwischen der eine oder andere von Ihnen gefragt haben, wie und warum ich jene Unbekannten, die vor meiner Tür standen, sogleich erkennen konnte. Welches geheimnisvolle Zeichen machte das möglich, noch bevor sie sich vorgestellt hatten? Die Antwort ist einfach. Ich erkannte ihren Blick: die nackte, verzweifelte Luzidität ihres Blickes, in dem jedoch keine Spur von Resignation lag.
René Char sagt in einem seiner blendenden Aphorismen aus »Feuillets d'Hypnos«: »La lucidité est la blessure la plus rapprochée du soleil.« Die Luzidität ist die der Sonne nächststehende Wunde.
Der Blick jener Unbekannten - Schriftsteller, Soziologen, Cineasten -, dieser ganz allgemein mitteleuropäische Blick, konnte als Schimmer jener Luzidität angesehen werden, die René Chars Metapher so wunderbar definiert. Luzidität, die von der blind machenden Sonne des Totalitarismus verletzt wurde: von der Staatsraison, dem korrekten Denken, der rituellen Sprache, die sich immer der ersten Person Plural bedient und monolithisch und monologisierend ist, und das alles inmitten des Schweigens der Völker oder Individuen.
Deshalb erkannte ich Jahre später, 1983 in Berlin - und Ort und Zeit sind von Bedeutung, wie man noch sehen wird - György Konrád, noch bevor ich ihm vorgestellt wurde. Ich erkannte seinen Blick, genau den gleichen Blick, wie ihn die vielen und sehr willkommenen Besucher der letzten Zeit hatten. Ein Blick, der gelassen und heiter glänzte und eine metaphysische Ambivalenz zum Ausdruck brachte: zum einen eine verständnisvolle Zartheit. Zum anderen eine unbeugsame Hartnäckigkeit. Oder besser gesagt: eine unbeugsame Zartheit, eine verständnisvolle und lächelnde Hartnäckigkeit.
II. In Berlin also, 1983.
Einige Schriftsteller waren eingeladen worden, über Probleme der Zensur und über die intellektuelle Freiheit zu diskutieren. An einem Abend fand in einer großen Berliner Galerie - damals West-Berlin - eine Lesung unserer Texte statt. Anlaß war der fünfzigste Jahrestag der ersten Bücherverbrennungen der Nazis.
Dort lernte ich György Konrád kennen, oder besser, dort erkannte ich ihn.
Aber 1933 war nicht nur das Jahr der Machtergreifung Hitlers. Es war nicht nur das der ersten Bücherverbrennungen. Es war auch das Jahr, in dem György Konrád geboren wurde.
In einem seiner Essays, »Die Antipolitik eines Romanschriftstellers« - und hier möchte ich daran erinnern, daß für Konrád, wie auch für Václav Havel, der diesen gleichen Preis 1989 erhielt, »Antipolitik der geistige Widerstand eines Autors gegen die überzogene Macht der politischen Klassen, der politischen Strukturen ist. Antipolitik ist die Selbstverteidigung des bürgerlichen Individuums gegen seinen aufgerüsteten Staat...« -, in jenem Essay spricht Konrád also über sich selbst: »Der Antipolitiker ist im Jahr der Machtergreifung und im Monat der Bücherverbrennungen geboren. Im Jahr des Anschlusses hat ihn seine kluge Mutter darüber informiert, daß ihn der Führer eines Nachbarstaates töten wollte. In der Zeit von 1944 bis zum Kriegsende hat er die Erfahrung machen müssen, daß von den zweihundert jüdischen Kindern seines Dorfes, die alle ungarische Staatsbürger waren, infolge der vom kollaborierenden Parlament des besetzten Landes zum Gesetz erhobenen Zwangsmaßnahmen nur sieben am Leben blieben.«
Das Leben György Konráds wurde also seit seiner Kindheit von den dramatischen Umständen der Geschichte dieses Jahrhunderts bestimmt, bedroht, beherrscht. Was natürlich keineswegs außergewöhnlich ist. Dieses Jahrhundert wird - neben anderen essentiellen Faktoren - durch den Einbruch der geschichtlichen und politischen Imperative in den privaten Lebensbereich charakterisiert werden. Vielleicht ist dies einer der Beweggründe des gegenwärtigen Individualismus, der gegenwärtigen Rückeroberung des Privaten und Antipolitischen durch die Bürger der demokratischen oder sich demokratisierenden Länder.
Außergewöhnlich bei György Konrád ist meiner Meinung nach seine Art, auf die totalisierende Invasion alles Öffentlichen, auf die drückende Historifizierung des persönlichen Lebensbereiches, die unsere Epoche auf die eine oder andere Art kennzeichnen, zu reagieren.
Konrád sagt in seinem bereits erwähnten Essay: »Wenn alles so unsicher ist, was ist dann sicher? Die gute Literatur ist ziemlich sicher. Das Persönliche ist ziemlich sicher. Wovor eine Person Angst hat und welche Ansprüche sie stellt, das läßt sich noch immer genauer formulieren als das, was eine Klasse, eine Nation, ein Weltbündnis wollen.«
Und in »Der Standpunkt des Opfers«, einem anderen Aufsatz, beharrt er auf dieser Idee: »Zweisichere Realitäten gibt es: die Person und die Menschheit. Inwieweit die Nation, das Militärbündnis und das Weltsystem Realität sind, darüber läßt sich bereits streiten.«
Abschließend in diesem Kontext noch eine weitere Behauptung von Konrád, die ich einem Text mit dem Titel »Gewalt ist Voreiligkeit« entnehme: »Für einen Schriftsteller gibt es nur eine einzige Verpflichtung, nämlich um nichts auf der Welt wem auch immer ideologische Dienste zu leisten. Zu engagieren haben wir uns nur für die Artikulation unserer eigenen verborgenen Wahrheit.«
Die ins Auge springende originelle Haltung Konráds, sowohl intellektuell wie ethisch, kann letztlich so zusammengefaßt werden: Es geht selbstverständlich nicht darum, die Forderungen der Geschichte abzulehnen, die schöpferische Tätigkeit in einen Turm oder ein Gefängnis aus Elfenbein zu stellen. Es geht darum, die Risiken und Herausforderungen der Geschichte zu akzeptieren, sie auf sich zu nehmen, ihnen aber die eigenen Spielregeln, die eigene moralische und in diesem Sinne antipolitische Initiative aufzuerlegen. Es geht darum, der massiven Geschichtsevidenz der Staaten und Parteien - und im Falle Mitteleuropas handelte es sich von 1949 bis 1989 um einen Parteistaat - die »eigene verborgene Wahrheit« aufzuerlegen.
Daß György Konrád dieser Verhaltensweise treu geblieben ist, sie gegenüber Zensur, bürokratischen Schäbigkeiten und polizeilicher Überwachung praktiziert hat, das hat aus ihm einen freien Menschen gemacht - im stärksten und besten Sinne des Wortes.
Diese persönliche Haltung Konráds erklärt ebenfalls, warum er trotz seiner Kenntnis des Werkes von Marx, trotz seines Umgangs mit dem philosophischen Zirkel von Lukács niemals marxistischen Gehorsam (welch zutreffendes Wort) zeigte. Niemals hat er sich dem Diktat der dominierenden Ideologie gebeugt, eben weil sie dominierend war und eine willkürliche und absolute Macht legitimierte, kurzum: weil sie eine fundamentalistische Ideologie war.
Sein Aufsatz »Gewalt ist Voreiligkeit« erläutert dies sehr gut. Hier deckt er den manichäischen Dualismus aller Fundamentalismen auf: »Ich erinnere mich an das Jahr 1949, als in Ungarn die Einbuchzeit begann. Index in den Bibliotheken, die verbotenen Bücher wurden eingestampft. Selbstverständlich gab es auch Verbrennungen. Der andere Teil der Bücher kam in den Giftschrank; zu ihnen konnte man nur mit einer Sondergenehmigung vordringen. Und auch dort gab es schon das einzige Buch, die Bibel der Parteimitglieder, aus der sich alles erklären läßt, das Maß sämtlicher anderer Bücher, der >Kurze Lehrgang der Kommunistischen (bolschewistischen) Partei der Sowjetunion<. Auf dem Buchumschlag fehlte der Name des Autors, doch die eingeweihten Leser wußten, daß der große Stalin selbst dieses Buch geschrieben hatte, daß er lediglich zu bescheiden war, um seinen Namen nennen zu lassen. In der dritten Person Einzahl teilt er mit, daß Stalin die verfaulten Anschauungen der Parteiopposition durch seine brillante und unerbittliche Logik ausgerottet hatte. Anschließend die Parteiopposition selbst. Wenn es nur ein Buch gibt, müssen wir die begründete Angst haben, für verfault erklärt und ausgerottet zu werden.«
III.
Wenn man von mir eine knappe Definition des Denkens von György Konrád verlangte, der »verborgenen Wahrheit« seiner philosophischen Gedankengänge - die sich in seinen Essays ebenso findet wie in seinen Romanen, wenngleich in radikal anderer Form -, würde ich sagen, es sei ein dialektisches Denken.
Sicherlich wird jetzt jemand erstaunt sein. Hatte ich nicht soeben gesagt, daß Konrád nie Marxist gewesen sei? Eben darum: Der Marxismus - und ich beziehe mich auf den realen Marxismus, der im Dickicht der Geschichte dieses Jahrhunderts gewirkt hat, ohne hier bestimmen zu wollen, welcher Teil dieser totalitären Ideologie seine Wurzeln im eigentlichen und authentischen Denken von Marx hat -, der Marxismus kommt jedenfalls der Ermordung der Dialektik gleich.
Seit Georg Wilhelm Friedrich Hegel den unseligen Begriff der »Aufhebung« in das dialektische Denken eingebracht hat, vergaßen die Theoretiker des Marxismus, fasziniert von diesem Begriff, daß der Motor des historisch-sozialen Prozesses nicht die Überwindung der objektiven Widersprüche ist, sondern ganz im Gegenteil ihr stetiges und unaufhebbares Funktionieren, immer wieder erneuert und dadurch operativ. Daher ist die politische Demokratie - die formale und repräsentative Demokratie - das einzige bis jetzt bekannte dynamische System. Sie befindet sich unaufhörlich in der Krise, da die Krise ja Teil ihrer Normen für das Funktionieren ist, aber immer auch im Ausbau. Die Demokratie ist nämlich ein System, das seine inneren Konflikte auf sich nimmt und von ihnen lebt, von ihrer kollektiven, bürgerrechtlichen und transparenten Handhabung, mit dem Wissen, daß sie nicht aufgehoben werden können. Jeder Versuch der »Aufhebung« der Konflikte der Demokratie, der Demokratie der Konflikte, endet in einer autoritären oder totalitären Diktatur. Das 20. Jahrhundert hat uns davon eine ausreichende Anzahl und ausreichend blutige Beispiele geliefert.
Das Denken von György Konrád ist daher nicht dialektisch gemäß dem marxistisch-hegelianischen Usus. Es kennt keine dogmatischen oder doktrinären Wurzeln. Es entwickelt sich auf nahezu natürliche Weise, trotz seiner konzeptuellen Nuancen, trotz seines Reichtums an ästhetischen Inhalten, und geht dabei von einer vitalen, konkreten Erfahrung aus.
Um dieses Denken ungefähr zu definieren, werde ich auf keinen der marxistisch-hegelianischen Klassiker zurückgreifen, und auch nicht auf Bertolt Brecht, der den gescheiterten Formulierungen dieser Klassiker manchmal eine schöne poetische Form verlieh. Ich werde nicht einmal auf die dialektischen Vorhegelianer zurückgreifen.
Auch wenn es einige von Ihnen überraschen mag, steht die beste Definition eines dialektischen Denkens, in dem Sinne, wie ich es Konrád auf eigene Verantwortung zuschreibe, in einer Erzählung des empfindsamen, dekadenten und verzweifelten Francis Scott Fitzgerald, »The Crack-up«.
Laut Fitzgerald liegt der Beweis einer Intelligenz ersten Grades darin, zwei widersprüchliche Ideen auf einmal im Sinn zu haben und dennoch fähig zu sein zum Handeln. So müßte man zum Beispiel wissen, daß den Dingen nicht zu helfen ist, und dennoch bereit sein, sie zu verändern.
Dieses Wissen, diese Weisheit erklären zweifelsohne die unruhige Gelassenheit und Heiterkeit des Blickes von György Konrád, der es mir erlaubte, ihn 1983 in Berlin zu erkennen, obwohl wir uns noch nicht kannten.
IV.
Ein Aspekt der komplexen Persönlichkeit Konráds, in dem sich diese metaphysische Ambivalenz, auf die ich mich bezogen habe, dieses gelassen-heitere Erleben seiner eigenen Gegensätze, seines Andersseins, seines Verschiedenseins am besten und mit größter Dramatik ausdrückt, ist sein Judentum.
Von den ersten Zeilen seines Textes »Im Angesicht Gottes« an, sicher eines der bewegendsten Kapitel seines »Stimmungsberichts«, verkündet Konrád: »Ich bin Jude, ich bin anders als die anderen. Wenn ich mich zu meinem Judentum bekenne, so bekenne ich mich eher zu meinem Anderssein als zur Gemeinschaft mit einem Volk, dessen Religion der Monotheismus ist. Assimiliert werden, aufgenommen werden, eins werden mit den anderen, das ist es, was wir gern gesehen hätten. Es ist nicht gelungen. Es hat nicht gelingen können. Eine Außenseiterstellung kann man nicht völlig verlieren, sie gehört zu unserem Wesen.«
Aber dieses Eingeständnis, diese Akzeptierung seines Andersseins, Verschiedenseins, am Rande Stehens, funktioniert weder in der Kultur noch in dem moralischen Verhalten Konráds als reduzierendes Element. Es führt ihn nicht dazu, die ethnische oder nationale Identität in den Himmel zu heben oder zumindest zu privilegieren. Es führt ihn ganz im Gegenteil dazu, sein Judentum als eine Öffnung zum Universalen hin zu verstehen und zu verbegrifflichen, auf das spezifisch und weltweit Menschliche hin. Nur innerhalb dieser Perspektive - die hauptsächlich die eines Juden der Diaspora ist - findet die Beziehung zum Staat Israel statt, der notwendig und unverzichtbar ist, aber nicht ausreicht, um die ganze komplexe historische Realität eines Volkes aufzufangen, das im Sinne von Nation in Israel lebt, im Sinne von nationaler Gemeinschaft jedoch in der ganzen Welt.
»Die Juden in der Welt, in der Diaspora« - so schreibt Konrád - »haben für die kulturelle Integration der Menschheit ziemlich viel getan. Agenten der Planetarisierung, nötigt sie ihre paradoxe Existenz zum Verständnis für die anderen ... Das Volk der Schrift, der Zeichen und Ersatzsymbole wurde Wortführer der universalen Bestrebungen. Weltmarkt, internationale Wissenschaft, Weltrevolution, solche Begriffe gefallen ihnen. Durch Verweltlichung treten die Juden von der Tradition der ethnischen Gemeinschaft in die Kultur der gesamten Menschheit über...«
Sicher mußte man diesen wesentlichen Zug der moralischen und intellektuellen Persönlichkeit von György Konrád erwähnen, und sei es nur als kurzen Hinweis: sein Judentum. Besonders notwendig ist dies jedoch hier und jetzt.
Denn vor fünfzig Jahren, fast auf den Tag genau, begann in Frankfurt am 19. Oktober 1941 die Deportierung der Juden, und ich beziehe mich natürlich auf jene, die deutsche Bürger waren. Mehr als eintausend jüdische Bürger, Deutsche, wurden an diesem Tag in das Ghetto von Lodz deportiert, der ersten Etappe auf dem Weg in die Vernichtung, und genau dieser Tag wird demnächst in Frankfurt durch eine Gedenkveranstaltung in Erinnerung gebracht werden.
Man muß das auch in diesem Augenblick der Geschichte Europas in Erinnerung bringen. Der Zerfall des sowjetischen Imperiums, eine historisch positive und vielversprechende Tatsache, hinterläßt trotz seines vorwiegend friedlichen Charakters dennoch ein Machtvakuum, institutionelle Leerräume. Ausbrüche von Autoaffirmation der ethnischen, linguistischen oder religiösen Identität, Bekräftigungen, die sicher während der Resistenz gegenüber dem Totalitarismus wichtig waren, jetzt aber zu Einengungen geraten können, wenn man an die historischen Anforderungen denkt, die für die Konstruktion eines imaginativen und kühnen Europas erforderlich sind.
Innerhalb dieser Entwicklung entstehen in einigen europäischen Ländern national-populistische Bewegungen, die Besorgnis wecken und wie üblich mit Konnotationen von Rassismus und Xenophobie einherkommen.
Die Bundesrepublik Deutschland war bis heute eines der Länder, in denen diese Phantasmen mit besonderem Nachdruck denunziert wurden und wo die demokratische Vernunft die Achse einer jeden Debatte über das historische Gedächtnis und die nationale Identität gebildet hatte. Im gegenwärtigen europäischen Moment ist es notwendig, daß sie sich weiterhin so verhält: Das ist die beste Garantie für das Engagement der Bundesrepublik in dem europäischen Vorhaben, das wir unbedingt brauchen. Ein Vorhaben, das darauf abzielt, die Europäische Gemeinschaft zu konsolidieren und sie zugleich mit Umsicht und Eile zu erweitern, ein Vorhaben, das Assoziationsabkommen mit den Ländern Ostmitteleuropas beschleunigen soll. Abkommen, die diesen Ländern wiederum helfen und dazu führen, daß sie ihrerseits Föderationen bilden.
In dem hervorragenden Text »Im Angesicht Gottes«, den ich schon erwähnt habe, sagt Konrád folgendes: »Die Juden sind eine auch heute nicht beliebte Minderheit. Die Vernichtung der Mehrheit brachte den Überlebenden nicht die ersehnte Ruhe. Die Davongekommenen waren etwas Bedrückendes. Aus dem Tod zurückzukommen ist eine Ungehörigkeit. Unbehaglich, wenn die Zeugen aus dem Massengrab hervortappen.«
Das stimmt ohne Zweifel.
Aber, lieber György Konrád, ich bitte Sie - und ich glaube, daß ich in diesem Fall im Namen von uns allen sprechen kann -, wir bitten Sie dennoch, auch weiterhin ein »unbehaglicher Zeuge dieser Ungehörigkeit« zu sein.
V. Ich habe György Konrád 1983 kennengelernt. In Berlin.
Wenn wir uns in einem Roman befänden und nicht eingeengt wären von den Grenzen, die der Gattung der Laudatio eigen sind (Konrád vertritt sehr brillante, erhellende Ideen über die Kunst des Romans: Vor drei Jahren antwortete er auf eine Frage über die Möglichkeit, den Roman als Mittel für politische Kritik zu nutzen, folgendes: »In einem Roman spricht nicht nur ein Sprecher, vielmehr gibt es verschiedene Personen mit verschiedenen Meinungen. Der Roman ist also ein sehr pluralistisches Genre. Wenn man radikale Kritik übt, gibt es immer auch auf der anderen Seite eine konservativere Stimme, die darauf antwortet. So ist der Roman eher eine Bühne als ein Protagonist auf einer Bühne«) - wenn wir uns also, ich wiederhole, in einem Roman befänden, wären einige von uns jetzt wahrscheinlich Protagonisten - unter ihnen Konrád und ich, warum nicht - und säßen in einem Café in Budapest und sprächen über Berlin. Konrád - oder vielleicht einfach nur K.: In diesem Roman würde Konrád vielleicht nur seinen Anfangsbuchstaben tragen - würde uns also von seinem Aufenthalt in Berlin berichten, von seinem Leben in dieser Stadt, einer wichtigen Etappe für das Reifen seiner Ideen und seiner Sensibilität. Und ich würde K. von einigen meiner Berliner Obsessionen berichten, würde ihm zum Beispiel vom Krankenhaus Charité erzählen, diesem Romanschauplatz par excellence: Es genügt bereits, an das Leben von Bertolt Brecht zu denken. Und wenn wir schon von Brecht sprechen, würde ich ihm vom Friedhof an der Chausseestraße erzählen, dem alten Friedhof der französischen Hugenotten, wo die Gruft Brechts neben der von Hegel liegt, umgeben von den Gräbern all seiner Frauen (natürlich beziehe ich mich auf Brecht, nicht auf Hegel).
Aber wir befinden uns nicht in einem Roman und auch nicht in einem Café von Budapest.
Dennoch ist auch die Frankfurter Paulskirche bei weiterem Nachdenken durchaus ein recht romanhafter Schauplatz, im pluralistischen Sinn, den Konrád dem Roman zu Recht zuerteilt. Auch die Paulskirche ist ein adäquater Ort, um von einem demokratisch vereinigten Deutschland zu sprechen, das in einem demokratisch expandierenden Europa verankert ist. In gewisser Weise kann das, was hier 1848 eher verworren und widersprüchlich seinen Anfang nahm, heute zu sagen wagen, daß es einen Moment historischer Reife erreicht hat.
Wie dem auch sei, Konrád hat die deutschen Probleme immer in den Mittelpunkt seiner Reflexionen über Europa gestellt.
Ich werde das kurz erläutern und zitiere daher einige Sätze aus seinen Essays vieler Jahre:
»Wer ein Beispiel sucht für die Schwäche Europas, der möge sich eine Stunde lang die Berliner Mauer ansehen...«
»Europas heutige Lage hängt mit jener elementaren Tatsache zusammen, daß es vier Jahrzehnte nach Kriegsende immer noch keinen Friedensvertrag mit den Deutschen gibt ...«
»Der Zustand der Deutschen hängt mit dem Zustand sämtlicher anderen Völker Europas, ja der ganzen Welt zusammen...«
»Um einen dritten Weltkrieg zu vermeiden, muß mit dem deutschen Volk ein Friedensvertrag geschlossen werden ...«
»Im Begriffsarsenal der deutschen Linken läßt sich der Nationalismus vom Nationalsozialismus, vom Faschismus nicht trennen. Dennoch ist es absurd, eine historische These, in der eine bedeutende Nation die grundlegenden Fragen ihres nationalen Selbstbewußsteins und ihrer nationalen Strategie für ewige Zeit auf Eis gelegt hat, nicht als eine Übergangsperiode anzusehen...«
»Ich habe viele Gründe, um mich zu dieser Frage zu äußern. Ich tue dies als ost-mitteleuropäischer Bürger, der sich darüber im klaren ist, daß die sowjetischen Truppen in unserem Raum bleiben werden, solange die deutsche Frage nicht gelöst sein wird. Solange die Sache der Deutschen so steht, wie sie steht, wird das sowjetische Sozialismusmodell die gesellschaftliche Selbstentfaltung der Menschen Osteuropas durch dezente militärische Bedrohung bremsen ...«
Und zum Abschluß noch dieses letzte Zitat: »Der deutsche Friedensvertrag sei, wie ich höre, eine Utopie. Eine Utopie ist er deshalb, weil die Politiker noch nicht darüber reden, noch nicht darüber verhandeln, weil er noch immer nicht in Mode gekommen ist. Doch warum sollten sich die Deutschen nicht bewußt werden, daß ihre nationale Angelegenheit zugleich die Schlüsselfrage des internationalen Systems ist? Zwei Kriege haben sie uns beschert, nun könnten sie uns einen anständigen Frieden schaffen. Sie haben den anderen gegenüber eine Verantwortung als Nation, sie schulden uns die Lösung der eigenen problematischen Existenz ...«
In der Tat sind der utopische Friedensvertrag, die utopische Vereinigung Deutschlands Wirklichkeit geworden, wenngleich nicht genau gemäß den von Konrád entwickelten politischen und moralischen Auffassungen. Die Geschichte hat jedoch durch ihre Wahl der unvorhergesehenen und unvorhersehbaren Wege denkbar gemacht, was vor noch wenigen Jahren unwirklich schien. Und hat Wirklichkeit werden lassen, was undenkbar schien.
Zum Glück ist die Geschichte kein Prozeß von Selbstverwirklichung eines listigen und finsteren Weltgeistes: Die Geschichte hat keine Endzwecke, unterliegt keiner theologischen Teleologie. Aber die Geschichte ist auch nicht, wie es der Marxismus von Althusser vorgab, dieser letzte Versuch einer positivistischen und willkürlichen Rationalisierung, entstanden am Vorabend seiner irreversiblen theoretischen Agonie, sie ist auch nicht ein »Prozeß ohne Subjekt noch Ziele«. Ohne Ziele, ja, in der Tat. Ohne Endzwecke und ohne Ende also. Aber mit Subjekten: Individuen, sozialen Gruppen, Kirchen, Mythen, die in der dichten sozialen Wirklichkeit verkörpert sind, moralische Ideen, Wünsche und Werte. Dieser Einbruch der Subjekte der Geschichte in die scheinbare Unbeweglichkeit der totalitären Gesellschaft ist genau das, was sich in den Ländern des mitteleuropäischen Ostens ereignet hat. Das erhellt auch, daß die Geschichte in diesen Jahren in Europa klüger und erfinderischer war als die Geschichtswissenschaftler, die Politologen. Auch als die Romanciers. Aber das erstaunt Konrád sicherlich nicht, noch bereitet es ihm Sorge. In seiner persönlichen antipolitischen Politik hat er immer gefordert, daß die Geschichte fähig sein möge, uns durch ihre erfinderische Fähigkeit in Erstaunen zu versetzen.
VI.
Bevor ich zum Ende komme, möchte ich mich noch an andere Begegnungen mit György Konrád erinnern: Eine fand in Budapest statt, und zwar in diesem wunderbaren und ereignisreichen Jahr 1989. Es war April, die letzten Apriltage. Ich war offiziell als Kulturminister der Regierung Felipe González zu Besuch in Budapest. Im Reiseprogramm war nicht vorgesehen, daß ich mit irgendeinem Vertreter der demokratischen Opposition zusammenträfe. Es war also nicht vorgesehen, daß ich mich mit Konrád zum Gespräch träfe. Aber natürlich traf ich Konrád in Budapest, traf ich andere Führer der demokratischen Opposition.
Konrád hatte den gleichen Blick wie früher. Genauso fest wie früher. Vielleicht etwas heiterer, mit etwas mehr Zuversicht als früher. Es stimmt, daß in Ungarn das Ende des realen Sozialismus näherrückte, der Beginn der demokratischen Utopie.
Drei Wochen später, am 18. Mai, traf ich Konrád von neuem. Diesmal in Brüssel, im Gebäude der Europäischen Gemeinschaft. Konrád war dort als Repräsentant der demokratischen Opposition, neben ihm der Kulturminister der ungarischen Regierung: ein diskreter und liebenswürdiger Historiker, der sehr wohl wußte, daß er nur vorübergehend Minister war, und zwar der eines zum Tode verurteilten Regimes. Es schien diesem Historiker-Minister weder viel auszumachen, daß sein Amt wahrscheinlich ephemer war, noch daß das kommunistische Regime verurteilt war.
Am 18. Mai fand in Brüssel eine ordentliche Sitzung der Kulturminister der Europäischen Gemeinschaft statt, die letzte Tagung unter spanischer Präsidentschaft, deren sechsmonatige Amtszeit im Juni zu Ende ging. Zu dieser Sitzung hatte ich je eine Delegation aus Polen und aus Ungarn eingeladen, die sich beide aus den amtierenden Ministern und einzelnen Vertretern der demokratischen Opposition zusammensetzten.
Es war aber nicht leicht, die Einwilligung der Kommission in Brüssel zu erhalten. Meine Initiative schien voreilig, ein wenig abenteuerlich, nahezu verdächtig. Schließlich fand man einen Kompromiß, der sehr typisch ist für die politischen Bürokratien. Man vereinbarte, daß ich als amtierender Präsident die Delegationen aus Polen und Ungarn einlüde. Aber das Treffen mit ihnen müßte nach der ordentlichen Sitzung der zwölf Kulturminister in einem anderen Saal stattfinden.
Außerdem entschied das Komitee der ständigen Vertreter, daß die beiden Delegationen nicht von allen zwölf Ministern empfangen würden: nur von der Troika der Präsidenten - dem griechischen Minister, der die Präsidentschaft vor Spanien innegehabt hatte, sowie dem französischen, der sie anschließend wahrnehmen würde, und mir natürlich - nur wir drei also würden mit den Ungarn und den Polen sprechen.
Trotz dieses ganzen bürokratischen Getues, dieser ganzen diplomatischen Zaghaftigkeit, um nicht zu sagen Feigheit, war die Sitzung wichtig, zumindest auf symbolischer Ebene. Zum erstenmal nahmen Vertreter aus den alten europäischen Ländern, aus dem Herzen des alten Europa, an einer Tagung der Gemeinschaft teil.
Ich bin sehr froh darüber, daß György Konrád einer der Protagonisten einer solchen Wiederbegegnung gewesen ist.
Abschließend möchte ich noch einmal dem Schriftsteller das Wort erteilen, den Ihr, liebe Freunde, heute mit dem Friedenspreis ehrt: Schließlich gibt es keine bessere Laudatio als eine solche, die man mit den Worten des Geehrten selbst hält.
György Konrád sagt: »Die Idee von einer gerechten, als gut verstandenen, utopischen Gesellschaft wird um die zweite Jahrtausendwende individualistisch und nicht kollektivistisch sein, komplex und nicht monolithisch, dezentralisiert und nicht zentralisiert, heterogen und nicht homogen, künstlerisch und nicht militärisch. Für die lernende Gesellschaft wäre Utopie kein Schimpfwort: Utopie hieße lediglich, daß wir uns nicht abgestumpft mit dem Bestehenden abfinden, daß wir aber auch nicht den Gordischen Knoten mit dem Schwert zerschlagen wollen.«
Kann man es besser ausdrücken?
Aus dem Spanischen übersetzt von
Michi Strausfeld
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Jorge Semprún
Laudatio
Ein jeder trägt Verschiedenes in sich. Notwendigerweise sind die homogenen Identitäten verlogen. Sie leugnen eine menschliche Erfahrung und suggerieren, es sei besser, bestimmte Eigenschaften von uns zu verschweigen. Wo die homogene Identität Mode ist, dort ist die Freiheit keine Mode.
György Konrád - Dankesrede
György Konrád
Sondermeinungen eines Urlaubers
Dankesrede
Während ich im August 1991 diese Zeilen schreibe, die ich Ihnen anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 13. Oktober in deutscher Übersetzung und im dunklen Anzug vortragen darf, stelle ich mir, der ich an jenem warmen, doch bewölkten Sommernachmittag in einem Bauernhaus, im weißen Hemd, in einem weißen Zimmer bemooste Baumstümpfe und einen in grellen Farben prangenden Blumengarten betrachte, Fragen, mit denen vermutlich auch Sie in der Ferienzeit, im Garten, im Boot oder auf einem Felsen sitzend konfrontiert werden: Wer bist du? - Unseren Namen könnten wir nennen; Alter, Schulabschluß, Beruf, Familienstand, Staatsbürgerschaft, Religion, Abstammung, nationale Zugehörigkeit und so weiter. Würde es unser Sinn für Humor zulassen, könnten wir einen kleinen Lexikonartikel zusammenstellen. Doch richtiger wäre, wenn wir sagten, wir seien jemand, der im Garten, im Boot oder auf einem Felsen sitzt, der einfach nur so hier ist, in leichter Bekleidung, und dem diese abstrakten Bezeichnungen jetzt ziemlich fremd sind, derartig, daß sie ihm kaum etwas bedeuten, wesentlich fremder als das nunmehr schon fallende Laub, die vom üppigen Regen angeschwollenen Gewässer und der Sternenhimmel, der dem spätabends verträumt Dreinblickenden auf dem Land sehr nahe rückt. Gestern am frühen Nachmittag trafen wir im Dorf ein, in dem frisch getünchten und ziemlich leeren Haus. Eine kräftige morgendliche Sommerbrise kämmt die Blätter der Bäume, läßt sie tanzen und sich kräuseln, schillernd vibriert die sich spiegelnde Oberfläche der Blätter.
Ein wohltuender Mangel, kein Telefon und drinnen nicht die vielen Menschen, die alle etwas wollen, was mir von selbst nicht einfallen würde. Selten tauchen hier wichtige Personen auf, denen es einfallen könnte, mich treffen zu wollen; zu der Annahme also, daß uns andere unbedingt brauchen würden, besteht kein Anlaß. Physisch kehrt Ruhe ein; ein Mensch, der keineswegs meint, etwas anderes als das, was seine engere Umgebung betrifft, könne an ihm liegen, betrachtet die Dinge nun von außen und von unten.
Einem jeden Entgegenkommenden wünsche ich einen guten Tag, am Fuße des Sankt-Georg-Bergs schlendere ich auf einem Feldweg zwischen Maisfeldern und Weinbergen ins Nachbardorf, am Steinkreuz da oben leidend Jesus. Maria zu seinen Füßen ruhend, um sie her wilder, duftender Hanf. Später ergötze ich mich wieder am Anblick der weißen Wände und der alten Holzdecke des quadratischen Zimmers.
Eigenartig, daß ich in diesen Tagen gelegentlich eines Treffens der osteuropäischen Liberalen, der Dissidenten von gestern, gemeinsam mit Adam Michnik eine transnationale mitteleuropäische Demokratische Charta vorgeschlagen habe, ein intellektuelles Forum, das die nationalen Streithähne zur Ordnung rufen könnte.
Das Weltbild dieser zornigen Leute ist ein geschlossenes. Freund und Feind zeigen sich ihnen in Schwarz-Weiß. Ein solches Bild projiziert die natürliche Angst des Menschen auf einen Feind: Entweder du oder ich! Ein Kampf auf Leben und Tod, der Feind muß bezwungen werden. Große Worte, Blutzeugen und Racheengel unter einem Buchdeckel vereint.
Meine Familie ist eingetroffen. Mein Sohn József hat sich übergeben, irgendeine Infektion mag schuld daran sein. Vielleicht hat er Seewasser getrunken, an dessen Oberfläche krepierte Aale mit aufgebissenem oder von selbst aufklaffendem Bauch treiben. Irgendein sich seuchenartig ausbreitender Wurm nistet sich in ihren Kiemen ein und bringt sie zur Strecke. Am Ufer werden die Leichname mit Hilfe einer Mistgabel auf Haufen geworfen, nachdem die Fischkörper aus dem Ried herausgeholt worden sind. Die Menschen gewöhnen sich daran, schwimmend weichen sie den Kadavern aus.
Den Strand mag ich nicht sonderlich, ich sehe nicht gern die vielen nackten Leiber dicht an dicht. In diesem Sich-Suhlen, Eisessen und Nichtstun verwandeln sich die Menschen in bloßes Fleisch. Auch gefällt es mir nicht, wenn ältere Menschen den Niedergang ihres Körpers öffentlich zur Schau stellen. Der Urlauber ist der allgemeine Mensch: kein Chirurg und kein Sprachwissenschaftler, kein Busfahrer und keine Sekretärin, sondern ein entblößter Mensch, der entkleidet nichts anderes ist als sein Körper.
Viele Leiber gibt es am Strand, und alle liegen sie, schwimmen, bauen Schlammburgen, baden ihre Kinder, spielen Wasserball, schmieren sich am Ufer mit Sonnenöl ein, essen Hähnchenkeulen, trinken Bier, liegen gedankenverloren auf Luftmatratzen, tun etwas, was auch die anderen tun, sie überlassen sich einer Situation, freuen sich, daß all das, was sie sonst umgibt, auf Distanz geht zu dem Selbst des Nicht-Urlaubers, und nach einigen Tagen senkt sich Ruhe auf sie herab.
Allabendlich verspürt er keine allzu große Lust, sich vor den Fernseher zu hocken, lieber schon vertieft er sich in irgendeinen unzeitgemäßen Anblick. Auf dem Stuhl lehnt er sich zurück und stellt sich die namhaften Formationen in der Unzahl namenloser Sterne vor. All das, was uns Menschen, die wir die Sterne beobachten und die es angesichts der Vergänglichkeit der Zeit schaudert, voneinander trennt, hat in den Augen des Urlaubers nunmehr keine Bedeutung. In einer solchen sternklaren Nacht erscheinen alle Affären und Ziele, um derentwillen die Einwohner zweier Nachbardörfer aufeinander schießen, als Unsinn.
Hundert Kilometer entfernt von hier wird in serbischen und kroatischen Dörfern geschossen, während bei uns kein einziger Schuß fällt. Ein Autobus ist in eine Schlucht gestürzt, durch eine Schlagwetterexplosion ist ein Bergwerkstollen eingestürzt, das entsetzt uns, gern haben wir Angst vor einem Tyrannen, einem Nachbarn, wir sind besorgt um das, was noch vor uns liegt. Im Urlaub sind wir für all das am sensibelsten.
Mit irgend etwas müßte ich in der Paulskirche unzufrieden sein, der Essay ist eine unpersönliche Klage. Entweder beklagt sich der Mensch über seine Angehörigen oder darüber, daß er keine Zeit hat, daß er durch Quengeln, überzogene Forderungen, Schimpfen und Weinen belästigt wird, daß seine Studenten nicht lernen wollen, die Regierenden willkürlich, die Regierten unersättlich sind, die Anhänger ihn im Stich lassen, beklagen kann er sich innerhalb der kleinen und der großen Familie, innerhalb des Staates oder der Menschheit über dies und jenes, über jedermann.
Beklagen kann er sich in Klatsch und Prophetie, über die gesamte Geschichte der Menschheit könnte er das Seine sagen, besonders viel könnte er gegen eine gewisse Periode murren und sich in Konfrontation dazu auf ein Goldenes Zeitalter berufen, an dem gemessen ein unaufhörlicher Niedergang wahrzunehmen sei.
Für das kommende Jahrtausend könnte er ein Goldenes Zeitalter versprechen, in dem die Wilden zahm, die Raubtiere Pflanzenfresser werden, der Regen von unten nach oben fällt und nicht auf seine unnatürliche Weise von oben nach unten, sich irgendwelchen Gravitationen unterwerfend. Anders sollten die Dinge sein, als sie sind, das könnte er fordern, planen könnte er, wie durch gemeinsames Vorgehen der Stand der Dinge, die anderen Menschen, die ja der Grund für das Übel sind, zu verändern seien.
Andererseits wissen wir von unserem Nächsten, der uns das Leben schwermacht, all das, was wir wissen, daß er ein Hochstapler ist, ein Tyrann, ein Trinker, ein Wüstling, daß er sechs Fußzehen hat und nur ein Auge, und auch darin glüht Bosheit, all das wissend meinen wir dennoch, er solle sich austoben, solle rauben, betrügen, huren, solle sich mit Trotteln zusammentun, mit Zuhältern und Dirnen, und, ja, verraten solle er uns, sich säbelrasselnd über das Schlechte hinwegretten, selbst dann werden wir ihn lieben, er ist einer von uns.
In einem Schloßpark am 19. August in der Frühe schlendere ich müßig durch die Zitruspromenade, vorbei am Rosengarten, zwischen Birken und griechischen Säulen. Umgeben von Wohlgerüchen, Stille und Säuseln des Windes, erwarte ich meinen Freund. Es gibt Stunden, in denen das Bewußtsein unangefochten bleibt und das Atmen dem ganzen Brustkorb Genuß bereitet.
Ich vertraue darauf, daß sich die folgende Minute von der gegenwärtigen nur dadurch unterscheidet, daß sich der Uhrzeiger einen Schritt weiter vorangetastet hat hin zum Tod, was als Gedanke für Mozart beruhigend und wünschenswert ist. Der vollkommenste unter den Künstlern wurde so achtlos in ein Massengrab geworfen, daß nicht einmal seine Gebeine von den anderen menschlichen Skeletten unterschieden werden konnten.
Die Kelchblätter der hybriden Teerosen öffnen sich und spinnen sich ein, buhlen mit Licht und Regen, erstrahlen in ihrem Glanz und verdorren, die fallenden Kelchblätter der Narzisse sind ein vorbildlicherer Tod als der des seufzenden Menschen.
Ich stelle das Radio an. Heute im Morgengrauen hat in der Sowjetunion ein bolschewistischer Staatsstreich stattgefunden, die auf Integrität bedachte Nomenklatura hat zurückgeschlagen. Auch nach 1917 waren nur die Bolschewiki in der Lage, das Russische Reich zusammenzuhalten, damals wollten sich die lokalen Nationalismen dem Zarenreich entziehen und souveräne Staaten gründen, das wollen sie auch jetzt. Sollte sich der bisher übliche Fahrplan durchsetzen, sollten die Pläne gelingen, dann würde aus dem für sechs Monate ausgerufenen Notstand ein System werden. In solchen Zeiten sind die Ermordung, Inhaftierung und Verbannung des Widersachers wahrscheinlich. Die Partie da draußen ist noch nicht entschieden.
Ein Tag später. Angeblich gleicht die Welt heute nicht mehr der von vorgestern, der Garten aber und die Kinder sind sich gleichgeblieben. Seit gestern ist es klargeworden, auch in Rußland nehmen die Menschen nicht mehr alles unwidersprochen hin, die Moskauer und die Leningrader lassen sich nicht einschüchtern. Unabhängige Bürger haben ihre eigene Meinung zu den Dingen, und die wagen sie selbst angesichts von Panzern zu artikulieren. Ein Putsch ändert nichts an ihrem Denken, gelegentlich schließen sie sich sogar zusammen, den Launen der Regierung unterwerfen sie sich nicht.
Ihrem Wesen nach ist ungesetzliche Gewaltanwendung ein vorübergehendes Phänomen. Wieder erweist sich die angebliche Realpolitik, die nur die bewaffnete Gewalt ernst nimmt, als eine dilettantische Phantasmagorie. Gefährlich ist der Zynismus der Macht nur so lange, wie er sich nicht einer Übermacht gegenübersieht.
Und die Zeit, sie ist die größte Übermacht. Allen Worten und Taten folgt ein Morgen, das sie einer Überprüfung durch Distanzierung unterwirft. Die Zehn Gebote oder die Magna Charta wurden vom nächsten Tag nicht verworfen. Es gibt Wörter, die nicht veralten und aus dem Geschwafel herausragen wie Granit aus dem Sand.
In der Nachbarschaft Waffengetöse, es kommen die Flüchtlinge. Es hat den Anschein, daß die Aggression sogleich auf die Co-Nation übergreift, sobald auf den Vielvölkerstaaten kein äußerer Druck lastet. Mittel- und Osteuropa sind nicht nur in einer starken Tradition des Strebens nach Freiheit verankert, sondern zum Gesamtbild gehört auch das Ausbrechen von Feindseligkeiten zwischen den Nachbarn und Mitmenschen, aufgeputscht durch gesellschaftliche, nationale und rassistische Überlegenheits- und Feindmythen.
Da es in der östlichen Hälfte Europas wesentlich mehr Nationen gibt als Staaten, da eine Menge neuer Staaten entstehen könnte, gelänge jeder Nation - als Verwirklichung ihrer historischen Träume - eine Staatsgründung, da homogene Nationalstaaten nicht einmal bei einer Vervielfachung der Anzahl der Staaten zu bilden wären, ganz zu schweigen von den unabsehbaren Grenzkonflikten, denn nationale Minderheiten würden immer noch bestehen bleiben, und da die Minderheit immer unruhig ist, während ihr die Mehrheit deshalb zürnt, muß man die These aufstellen, daß es in der östlichen Hälfte Europas keinen Frieden geben wird, sollte die Schaffung von Nationalstaaten in der postkommunistischen Ära zur herrschenden politischen Doktrin erhoben werden. Die Idee der Föderation ist im postkommunistischen Raum Osteuropas vom Ideal des homogenen Nationalstaats überwältigt worden. Dieser Erfolg kreiert neue Minderheiten und vermag einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung zu diskriminieren und zu benachteiligen, wodurch ethnisch bestimmte Bürgerkriege heraufbeschworen und unter Umständen fluchtartige Migrationen verursacht werden.
Da die Staaten, selbst wenn sie autoritär sein wollten, alle gezwungen sind, sich auf die Demokratie zu berufen, können sie nicht die Strenge von totalitären Polizeistaaten annehmen, um die Autonomiebewegungen der ethnischen Minderheiten noch im Keim zu ersticken. Deshalb sind die neuen Regierungen gezwungen, mit den Minderheiten einen Ausgleich zu finden. Im Paradigma des homogenen Nationalstaats aber ist für einen Kompromiß mit den Minderheiten kein Platz. Grundlage für einen Ausgleich könnte die Idee eines multinationalen und multikulturellen Nationalstaats sein, der fähig ist, die komplizierten Bindungen der Individuen zu respektieren.
Akzeptiert werden muß die zweifache Bindung der Staatsbürger beziehungsweise die Doppelstaatsbürgerschaft von den einzelnen ethnisch-nationalen Minderheiten. Alle anderen verfassungsmäßigen Lösungen würden Lügen zum Gesetz erheben. Es ist nicht mehr als logisch, daß der Angehörige einer Minderheit das Recht auf eine Doppelstaatsbürgerschaft haben muß. Die Aushändigung des einen Reisepasses sollte bindend durch die territoriale Realität, den Aufenthaltsort, das Heimatland, das dauerhaft gewählte oder vom Schicksal bekommene Zuhause des Menschen bestimmt werden. Die Aushändigung des anderen Reisepasses dagegen sollte nicht obligatorisch, wunschgemäß aber mit einem staatsbürgerschaftlichen Status verbunden sein und sollte aufgrund einer gewählten und erklärten Identität erfolgen, aufgrund der Zugehörigkeit zu einer ethnischen, sprachlichen, kulturellen und religiösen Gemeinschaft.
Wenn nun schon solche bürokratischen Zwänge zur Vereinfachung existieren, dann müssen die europäischen Demokratien die Realität pluraler Identitäten und vielfacher Bindungen akzeptieren und allen Bürgern die Möglichkeit geben, ihre einfache oder mehrfache Identität in ungeschmälerter Würde zu artikulieren, läßt sich doch die eigentliche Identität eines Menschen nur mit Hilfe seiner vollständigen Biographie erfassen.
Primär sind wir nicht wegen unseres nationalen Charakters legitime Anteilseigner der Autorität, sondern allein durch unser Sein, durch unser Hier-Sein, durch unser Hier-Leben. Es wäre vorstellbar, daß die Selbstbestimmung von Städten und Dörfern sowie kleineren territorialen Einheiten für die ethnischen Gruppierungen vernünftigere Kompromisse zustande bringen könnte als nationale Regierungen. Die Antwort auf die Frage, wer ich bin, ist schwieriger als die, wo ich bin. Die territoriale Selbstbestimmung ist eine ebenso menschliche Maxime wie die nationale Selbstbestimmung. Es ist vorstellbar, daß sich jemand vor allem als Zagreber begreift und erst in zweiter Linie als Kroate oder Serbe.
Vielfalt mögen die Fundamentalismen nicht. Gleichartigkeit erwarten sie von uns, und wenn wir uns nicht verlogen zum Uniformismus bekennen, dann halten sie uns für Verräter. Die Welt der Kunst ist von vornherein heterogen und paradox. Die eingesichtige Kunst ist der freudlose Traum der Zensur. Der Wirklichkeit entspricht die plurale Identität. Ein jeder trägt Verschiedenes in sich. Notwendigerweise sind die homogenen Identitäten verlogen. Sie leugnen eine menschliche Erfahrung und suggerieren, es sei besser, bestimmte Eigenschaften von uns zu verschweigen. Wo die homogene Identität Mode ist, dort ist die Freiheit keine Mode. Stets ist die Selbstbeschränkung auf eine einzige Identität die Folge kollektivistischer Ideologien, Huldigung vor einem lebenden Idol, dem Führer einer Gemeinschaft.
Durch Erneuerung des Stammesnationalismus gaben Intellektuelle unreifen Menschen ein mörderisches Instrument in die Hand. Die Gefahr eines Weltkrieges ist im Schwinden begriffen. Sollte nun die Gefahr nationaler Kriege aufkommen? Wenn wir gegen kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Nationen sind, dann müssen wir Partei für die Menschheit ergreifen. Lehnen wir den Kosmopolitismus prinzipiell ab, dann werden wir logischerweise irgendeinen nationalen Krieg rechtfertigen.
Eine supranationale ideelle Autorität steht uns auf der Bühne des internationalen Lebens nicht zur Verfügung. Die Religionen können diese Rolle nicht übernehmen. Das Christentum und der Islam beziehungsweise dessen Strömungen ziehen zwischen den Völkern gelegentlich Grenzen, mit religiösem Eifer paaren und sanktionieren sie nationale und politische Konflikte.
Der Intelligenz des Westens geht die Problematik der nationalen Autonomie und der Nationalitätenrechte nicht mehr wirklich unter die Haut. Die in das Problem verwickelten Osteuropäer meinen, jede föderative, transnationale, europäische, internationale Rede sei realistischer, diene also der Verdrängung einer nationalen Aspiration. Dem Nationalisten zufolge sei jedermann Nationalist, und jede Regierung wolle ihre Hoheitsrechte bewahren oder ausdehnen, natürlich auf Kosten der Nachbarn, und die eigentliche Realität sei das Interesse des Nationalstaats. Sie fügen hinzu, internationaler Druck könne sie nicht erschrecken, in erster Linie seien sie Nationale und erst in zweiter Linie Europäer.
An den Angehörigen der neuen Nationen nagt ein nervöser Argwohn, die anderen, die Nachbarn, fühlten sich ihnen überlegen und säßen auf dem hohen Roß. Die drei mitteleuropäischen Länder seien die drei besseren Schüler, irgendwann würden sie Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft werden, seien sie doch bei den anderen keineswegs beliebt. Ganze geographische Räume erleben das Syndrom des schlechten Schülers, die Trotzreaktionen der Zu-kurz-Gekommenen.
Eine Gruppe von Staaten kann sich nicht damit abfinden, daß man ihnen einen Teil weggenommen hat oder wegnehmen will, eine andere Gruppe schafft es noch immer nicht, die entrissenen Minderheiten zu beherrschen, und hat Angst davor, die beraubte Seite könne das einstige Eigentum zurücknehmen. In allen Ländern gerät die Intelligenz unter Druck. In der Atmosphäre gesteigerten Patriotismus können abweichende Stimmen die Abstemplung als Vaterlandsverräter auslösen. Immer wieder nimmt die Gewalt in Osteuropa einen Anlauf und schaudert zurück. Der Haß bricht hervor und erlahmt. Hier und da Konfrontationen, es werden die Toten gezählt, und die Banalität gewinnt die Macht zurück.
Die Vorahnung sagt mir, geben wird es weder Heil noch Katastrophe. Der Kommunismus kann nicht zurückkehren, am Horizont taucht der Schatten des Neofaschismus auf, eine Massenstimmung aber, die ihm Gestalt verleihen könnte, gibt es nicht. Entgegen seiner Absicht hat der Kommunismus gewissermaßen als Gegengift eine Art kritischen Mißtrauens, Ungläubigkeit und obrigkeitsfeindlichen Humor hervorgebracht. Überschwemmungen und Erdrutsche sind nicht in Sicht. Fallen ethnische Gemeinschaften irgendwo übereinander her, kehren anschließend Ernüchterung und Entsetzen ein, also setzen sie sich an den Verhandlungstisch, der Fanatismus flaut ab. Verbreitung dagegen finden die Sorge um das Leben und die Achtung davor. Die kriegerischen, soldatischen, selbstaufopferungswilligen und todbringenden Tugenden zeigen Ermüdungserscheinungen und können sich nicht in einem kollektiven Begeisterungssturm zusammenfinden.
Hier in den Weinbergen wird es wahrscheinlich keinen Krieg geben, doch eine Autostunde entfernt lassen dröhnende Jagdflugzeuge und Hubschrauber die Dorfbewohner auf der anderen Seite der Grenze nicht schlafen. Ein Weinbauer regte an, auch das Zusammenleben der Nationen müsse einen gesetzlichen Rahmen erhalten. Wie der einzelne in der Gesellschaft dem Gesetz unterworfen sei, so müßten auch außerhalb der Gesellschaften, wo es kein gemeinsames Gesetz gebe, als gemeinsames Dach über unserem Kopf Gesetze geschaffen werden, durch die das Verhältnis zwischen den Nationen zu regeln sei. Von ganzem Herzen stimme ich der Meinung dieses Weinbauern zu. Gebraucht werde ein internationaler Gerichtshof, der den Tyrannen, sei es in Abwesenheit oder inmitten seiner Machtfülle, zu schwerster Gefängnisstrafe verurteile, gebraucht werde eine internationale Polizei, der die Fahndung obliege. Gäbe es ein solches internationales Gesetz, müßte jemand damit rechnen, daß Willkür ebenso Bestrafung nach sich zöge wie zivilrechtliche Straftaten des einzelnen, das würde die Junten, Putschisten und Diktatoren erschaudern lassen. Daß sich die Mächtigen, die Gesetzeshüter, dem Gesetz entziehen können, sei unannehmbar. Und daß zur Strafe durch einen Krieg das Volk des Tyrannen und nicht der Tyrann selbst hingemordet werde, sei ebenfalls unannehmbar. Solche und ähnliche Gedanken gaben wir von uns, vor dem Weinkeller sitzend, die Ellenbogen auf den Eichentisch gestützt und den Weinkrug bis auf den Grund leerend. Überzogene Vorstellungen, das weiß ich, aber keineswegs absurd. Der Tyrann bedroht uns gemäß seinem Beruf mit dem Tod. Das kann er um so leichter tun, als ihn die Führer der internationalen Gemeinschaft mitnichten mit dem Tod bedrohen, im Gegenteil, die Hand reichen sie ihm, lassen sich zusammen fotografieren und speisen mit ihm zu Abend. Wären Hitler und Stalin beizeiten durch ein internationales Gericht verurteilt worden, und hätten alle ihre Bürger Kenntnis davon erhalten, daß ein internationales Gericht ihre Führer als Mörder und die Regierung als Verbrecherbande abgestempelt habe, hätte die Geschichte einen anderen Verlauf genommen.
Eine Eigenart im Zeitalter der Barbarei, das heißt des 20. Jahrhunderts, ist darin zu sehen, daß sich viele Verbrecher im Namen nationaler Souveränität einer Bestrafung entziehen konnten. Die Herausforderung des 21. Jahrhunderts besteht darin, allen Menschen auf der Erde gesetzlichen Schutz angedeihen zu lassen, das Recht auf Leben unabhängig von der Staatsbürgerschaft als ein grundlegendes Menschenrecht zu betrachten und jedwede Macht der Herrschaft eines irdischen Universalgesetzes zu unterstellen, wobei der Mißbrauch von Waffengewalt verboten wäre und schwerer Strafe unterläge. Morde lassen sich durch keinerlei Patriotismus rechtfertigen. Verfügen müssen wir zum Schutz des menschlichen Lebens über ein Weltrecht, das auf der ganzen Erde Geltung hat, damit das Töten von Menschen ein ebensolches Tabu wird wie der Kannibalismus, damit sich unsere ganze Rechtsordnung auf das Gebot »Du sollst nicht töten!« gründet und damit wir insofern tatsächlich die Zeit der Barbarei überwinden und eintreten in das Zeitalter der irdischen Zivilisation.
Das 19. Jahrhundert brachte die ideologischen Legitimationen für die Kriege zwischen den Nationen beziehungsweise den Klassen hervor. Wissenschaft und Religion, Philosophie und Journalismus vereinigten sich in allen möglichen schwülstigen Phrasen als Apologeten, um bewaffnete Konfrontationen zwischen den Nationen, Staaten oder verbündeten Staaten zu legalisieren. Als oberstes Ziel der sich Nationen anschließenden Menschheit wurde die nationale Souveränität ins Auge gefaßt, die um so prachtvoller erschien, je größer der Raum war, für den sie Geltung hatte, und je mehr Menschen ihr unterlagen.
Um die Größe eines Staates zu unserer Herzenssache zu machen, um uns dem Streben nach scheinbarer Größe zu unterwerfen, dazu bedurfte es der Nationalismen, jener paradoxen Schöpfungen des 19. Jahrhunderts, die sich für einmalig halten, obwohl sie in ihrer Art weitestgehend internationale Produkte sind.
Die natürliche und nicht ideologisch bestimmte Heimatliebe beinhaltet von vornherein die freundliche und neugierige Sympathie für den anderen, die sensuelle Sehnsucht nach Andersartigkeit. Die meisten Menschen wählen einen Ehepartner aus der näheren Umgebung, doch in der Unzahl der Fälle, wenn eine Heirat von Liebenden, die aus fernen Landen zueinander gefunden haben, gut gelungen ist, läßt sich beweisen, daß selbst persönlichste Zuneigung transnational sein kann, daß selbst in der fundamentalsten Beziehung zwischen Mensch und Mensch eine Trennwand nicht existiert.
Angesichts der absoluten Wahrheit, daß die menschliche Art durch gemeinsame Interessen und Gegebenheiten auf dem ganzen Erdball miteinander verbunden ist, lassen sich sämtliche nationalen oder kulturellen Unterschiede relativieren.
In der pathetischen Unterordnung der universellen Wahrheit und des universellen Gesetzes unter partielle Wahrheiten und Gesetze wird das gemeinsame Wesen des Nationalismus, des Kommunismus, des Fundamentalismus und der politischen Ideologien erkennbar. Aus dem Relativen das Absolute machen, aus dem zu Beweisenden das Axiom, darin besteht der geistige Betrug, der mit den entschiedenen Partikularismen, den Ideologien, einhergeht.
Möglicherweise wird es im kommenden Jahrhundert ein Gesetz geben, das Herstellung und Besitz von Massenvernichtungswaffen, den Handel damit und vor allem natürlich ihren Einsatz verbietet. Selbstverständlich wird das, was gegenwärtig im legalen Waffenhandel normal ist und dem sich noch heute keine einzige der zivilisierten Nationen entziehen kann, als Straftat eingestuft werden. Zum Schutz unserer Gesundheit hat sich die Polizei auf der ganzen Welt zusammengeschlossen, um die Produktion verschiedener als Rauschgift betrachteter Drogen, deren Genuß und den Handel damit zu verfolgen, vermutlich in der Annahme, daß die schicksalhafte Abhängigkeit von diesen Mitteln für die Gesundheit des Menschen schädlicher sei als der Einsatz von Waffen.
Was hat die Intelligenz zu verteidigen? Sich selbst. Sie rechtfertigt den eigenen Platz in der Gesellschaft, sie beruft sich auf das, was ihr eignet und anderen weniger. Die Aristokratie beruft sich auf die Tradition, das Priestertum auf die Religion, der Unternehmer auf das Kapital, der Politiker auf die Wählerstimmen oder auf die Ernennung. All das sind transpersonale Werte, die dem einzelnen vorausgehen und ihn überleben. Ihr Träger kann es sich erlauben, mittelmäßig zu sein. Allerdings gibt es eine Sphäre, das schöpferische Denken, sei es im wissenschaftlichen oder im künstlerischen Bereich, das unvereinbar ist mit dem Mittelmaß. Wenn sich die Intelligenz selbst verteidigt, dann verteidigt sie das Ethos schöpferischen Denkens, das Beste, was sie besitzt, das, worauf sie sich im allgemeinen beruft. Aus der Selbständigkeit bezieht der Denker seine Stärke. Verzichtet er auf die Macht seiner Autonomie, gefährdet er sie. Um zu inhaltlich fundierten Erkenntnissen zu gelangen, bedarf es einer Distanz, jener Unbefangenheit, für deren Handeln eine Rechtfertigung nicht erforderlich ist. Die Expansion der Intellektuellen und die Verfilzung der Zuständigkeiten waren ein großer Fehler, woraus die ideologischen Staaten entstanden sind. Dehnt die Intelligenz ihre Macht auch auf Sphären aus, für die sie nicht zuständig ist, gibt sie sich nicht mit der kulturellen Macht zufrieden, sondern beansprucht auch politische und wirtschaftliche Macht, gibt sie sich nicht mit der indirekten, der durch den Austausch von Ideen vermittelten Macht zufrieden, sondern strebt unverzüglich und direkt Machtpositionen an, dann wird sie mitarbeiten am Ausbau und an der Aufrechterhaltung der Zensur.
Hat die Intelligenz Sonderinteressen? Soll sie im eigenen Namen sprechen? Wenn jeder seine Sonderinteressen artikuliert, warum sollte sich ausgerechnet die Intelligenz schämen, dies ebenfalls zu tun? Was außer Toleranz und Subvention , was außer Pressefreiheit und Mäzenatentum könnte sie zu Recht anstreben? Die Intelligenz ist tatsächlich eine neue Klasse, weder eine dienende noch eine herrschende. Der Begriff der Intelligenz muß weder mit dem der Elite noch mit dem der Mittelklasse verschmelzen. Die Intelligenz ist an erster Stelle Inhaberin von Macht und Ethos des Kulturkapitals. Die Sozialgeschichte der Intelligenz ist eindeutig identisch mit der abenteuerlichen Geschichte der eigenen Emanzipation. Das Kapital der Intelligenz ist unersetzbar und persönlichkeitsgebunden. Das determinierende Angebot an Werten, Geschmack, Neugier und Rhetorik wird von einer sich unabhängig machenden Intelligenz produziert, und gleichzeitig lenkt sie den Verkehr von Verhaltensmoden.
Gehirnhedonisten sind die Intellektuellen, lustvoll geben sie sich der Reflexion hin, gern erfinden, erraten, entdecken, erinnern und phantasieren sie, gern lassen sie etwas aus dem Nichts zum Leben erstehen, ebenso wie andere basteln, montieren und gärtnern. Durch passionierte Betätigung des Verstands entscheiden sich die Intellektuellen für ihren Beruf, für das, was sie als ihr Werk betrachten, worin sie sich eitel oder demütig einbringen.
Wählen sie beispielsweise das Medium des Buches, das seit mehreren hundert Jahren existierende Handwerk des Büchermachens, worin Autor, Verlag, Drucker und Buchhändler ein und derselben Bande angehören, dann interessiert sie nicht nur der Gewinn, sondern auch das Buch selbst, denn schließlich gibt es Berufe, in denen sich mehr Geld machen läßt, doch halsstarrig geht es ihnen vor allem um dieses Produkt und erst in zweiter Linie um Geld, wovon wenigstens so viel hereinkommen muß, daß den mit den Lettern verbundenen Passionen auch weiterhin gefrönt werden kann. Andere produzieren gemeinsam Lebensmittel und Kleidung, wir machen gemeinsam Lektüre.
Wenn die Intelligenz den Sachverhalt ihrer vorhandenen Sonderinteressen verschleiert, dann dissimuliert sie. Jeder Kollektivismus, jede transindividuelle Idee sind für die Gedankenfreiheit, den größten Schatz der Intelligenz, gefährlich. Es langt mit dem Gehabe des Musterschülers, es langt mit der als Dienstwilligkeit getarnten Gewalttätigkeit! Intellektuelle Macht ist kein Postulat, sondern Realität. Es ist nicht gut, wenn die Intelligenz mit den anderen Klassen im Hader lebt, aber gut ist es auch nicht, wenn irgendeine Klasse meint, die Intellektuellen reglementieren zu können. Verhalten sich Regime gegenüber der Intelligenz dauerhaft unfreundlich, so werden sie allgemein durch deren indirekte Macht gestürzt.
Die Gedankenfreiheit wurde weder vom Sozialismus noch vom Nationalismus freundlich aufgenommen. Beide sind sie an den Staatsapparat gebunden, beide sind sie dem Etatismus verpflichtet. Beide können sie gemäßigt und liberal sein. Liberalen Sozialismus und liberalen Nationalismus gibt es. Beide haben sie ihre radikale und extreme Variante, die Anspruch auf staatliche und zentrale Gewalt sowie auf Säuberungen erhebt: Faschismus und Kommunismus. Auch sie haben autoritäre und totalitäre Spielarten. Eine Zone wachsender Finsternis geht über von der einen zur anderen Variante. Beide sind belastet von einer zunehmenden Neigung zur Zensur. Das Ethos von Kreativität und Zensur lebt in einer Erbfeindschaft, die ihre Form verändert und sich vielleicht sogar aneinanderklammert.
In der Geschichte lassen sich wechselnde Modewellen von Denkweisen ausfindig machen. Wo allerdings die Mentalität eine Schlüsselrolle spielt, dort sucht die intellektuelle Mythologie nach ihren großen Heiligen und Ungeheuern. Und das keineswegs nur im Hintergrund. Ebenso wie ein Kind Eltern hat, so hat das, was Verbreitung findet und sein eigenes Leben lebt, einen Urheber. Für das Tun eines Kindes oder eines Werks tragen wir einige Verantwortung, wenn auch nicht ausschließliche oder strafrechtlich verwertbare. Geschichtsformendes Denken ist die Verkörperung intellektueller Macht. Sich dieser nüchternen Betrachtungsweise nur deshalb zu entziehen, um einer Bestrafung zu entgehen, um nicht mit Schuldbewußtsein ringen zu müssen, kommt einer Selbsttäuschung gleich. Ein originaler Gedanke kann für die anderen, für die Nachfahren sowohl
Segen als auch Fluch sein. Diese Art Macht wirkt nicht unmittelbar und gleich. Ein Intellektueller kann am Hungertuch nagen, hingerichtet werden, es kann sein, daß ihm niemand die letzte Ehre erweist, daß er in ein Massengrab geworfen wird, all das macht nichts, dem einen oder anderen Kollegen fällt dennoch eine außergewöhnliche und mit der Zeit noch wachsende Macht zu.
Durch die Souveränität der Firma, des Berufs, der Nation wird die Souveränität der Person nicht garantiert. Die eigentliche Stärke ist die Stärke der Person. Die Person ist das Resultat getaner Dinge, getaner Arbeit. Die Person ist die Schöpfung ihrer selbst, die Schöpfung des Eigenen, das sich selbst schaffende Subjekt. Eine serienmäßige Erziehung ist nicht möglich, das Subjekt erzieht sich selbst. Die Person ist identisch mit ihrer Geschichte, ihrer Lebensstrategie, ihren in anderen zurückgelassenen Erinnerungsbildern, zusammen mit dem Einzigartigen und dem Gemeinsamen. Für den Augenblick einer Sternschnuppe können wir auch mit jenem Gedanken spielen, daß der Zweck der Geschichte nur darin bestünde, die Menschheit von einer Masse zur Person werden zu lassen, zu einer Unzahl von Sternen, am schwarzen Firmament aufleuchtender und hervorragender Personen.
Es ist legitim, wenn die Intelligenz zu jeder Zeit auf ihrem Recht besteht, die Dinge von außen zu betrachten, denn der Verlust dieses Rechts macht sie zum propagandistischen Knecht. Konservativen Auffassungen zufolge wird die Existenzberechtigung einer fragenden, kritischen und oppositionellen Intelligenz nur in einem totalitären Regime gebilligt. In Demokratien, so meinen sie, gebe es dafür keinen Bedarf. Wenn aber die kritische Opposition von der Mehrheit beziehungsweise der Mehrheit der abstimmenden Minderheit als Fall für die Psychiatrie oder als moralische Verirrung hingestellt wird, dann wird die schöpferische Intelligenz ähnlich wie im Kommunismus Angst haben, wenn auch nicht ganz so schlimm. Auf die eine oder andere Weise will sie oder wird sie sich von dieser Angst frei machen. Wer jedoch für die Kultivierung der Bedrängnis verantwortlich war, dem wird in den Memoiren von Intellektuellen kein ehrenvoller Platz eingeräumt werden.
Angesichts der Wahrheit von Gedanken ist das Wort der Mehrheit ebensowenig ein Argument wie das irgendeiner Autorität. Der kommunistische Fundamentalismus ist zur Neige gegangen, nun ist die Zeit des nationalen und des religiösen Fundamentalismus gekommen. Aus der Tatsache, daß sich die Menschen vom Kommunismus abgewendet haben, folgt nicht zwangsläufig, daß dessen Gegenteil von vornherein gut wäre. Zu vergessen, daß der kämpferischste Antikommunismus der Faschismus gewesen ist, wäre ein Fehler.
Hat die antipolitische Haltung überhaupt noch eine Existenzberechtigung? Hat die Kritik an der Politik eine Existenzberechtigung? Manch einer meint, gegenüber dem Totalitarismus sei eine antipolitische Haltung angebracht gewesen, nicht aber in der parlamentarischen Demokratie. Denn was eigentlich soll abgelehnt werden? Soll aber im Namen eines anderen Teils nur irgendein Teilmoment verneint werden, dann befindet sich der Kritiker bereits bis über beide Ohren in der Politik.
Antipolitik? Überprüfung der herrschenden politischen Philosophien, der ideologisch bestimmten Pseudorealpolitik, Verteidigung der Menschenrechte aus der Perspektive der möglichen Opfer. Individuelle Reflexion als höchste Instanz. Auflehnung gegen offizielle oder nicht-offizielle Haß-Rhetorik. In einer sich wandelnden Welt das Neue wittern und darüber nachdenken, ob es uns gefällt. Eine unerschütterliche Ironie das, wenn uns von der Umgebung Behauptungen aufgezwungen werden, die wir für falsch halten.
Es ist üblich, das Phänomen Hitler zu erwähnen, unter parlamentarischen Rahmenbedingungen das allmähliche Hinübergleiten von der Demokratie zur Diktatur. Es ist üblich, die peronistisch geprägten populistischen Regime Lateinamerikas unter charismatischen Führern zu erwähnen, die ihren Platz nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch Militärdiktaturen überlassen. Die Herrschaft der Mehrheit in Ländern, in denen die Mehrheit keine Achtung vor der Minderheit haben will, in denen das Prinzip der Alternanz von Regierungspartei und Opposition gegen die Tradition einer harten und ungeteilten Gewalt verstößt, kann als Ergebnis die Beseitigung der Minderheit im Namen der Mehrheit nach sich ziehen.
Gibt es eine höhere Priorität als die nationalstaatliche? Wenn dem nicht so ist, dann gehört das letzte Wort dem, der von der parlamentarischen Mehrheit unterstützt wird. Der antipolitische Intellektuelle dagegen ist ein Krakeeler. Besonders in Kriegszeiten oder bei Kriegsgefahr ist es besser, wenn du deinen Mund hältst, sonst könnte es passieren, daß patriotische Empörung über dich herfällt. Wer auf die andere Seite nicht schießen will oder gar mit deren Menschen weiterhin Gesprächskontakte unterhält, der kann als Vaterlandsverräter abgestempelt werden. Auch dein Wohnungsnachbar kann zur anderen Seite gehören, denn von den Führern der Mehrheit wird die Minderheit zur Fünften Kolonne erklärt.
Ein Rätsel, weshalb so vielen Menschen dasselbe in den Sinn kommt. Jetzt gewähren wir in unserem Kopf einem Ideenpaket namens Europa Platz. Wenn eine Integration in die Nationalstaaten möglich war, warum sollte dann nicht eine Integration in ein Europa möglich sein, das im Zuge seiner organisatorischen Verflechtung auch selbst zu einer Nation zusammenwächst? Was sozusagen schon ein Impuls für einen transeuropäischen Horizont wäre.
Versuchen wir, uns eine Vorstellung davon zu verschaffen, was eigentlich Europa als »Ismus«, als Utopie bedeutet, dann denken wir als erstes an die ästhetische Huldigung, die der vielschichtigen Einmaligkeit entgegengebracht wird, der komplexen Singularität, der Persönlichkeit und dem Kunstwerk, der sich selbst erbauenden Stadt, der unübersehbaren und verschwenderischen Anhäufung selbständiger Teile.
Progressiver und regressiver Bewußtseinszustand, Sich-Öffnen und Sich-Verschließen, Wahn und Depression, Hoffnung und Resignation, Elan am frühen Vormittag und Müdigkeit am späten Abend haben ihren eigenen Rhythmus. Jawohl, die Sache des Nachbarn, des Nächsten, des Landsmannes, des Erdbewohners ist meine Sache. Wenn allerdings das Viele zuviel wird, dann revoltiere ich, dann höre ich keine Nachrichten, ziehe mich aufs Dorf zurück, nehme Montaigne oder Tschechow zur Hand, selbst in jener Stille wohltuende Stimmen, schließlich aber nehme ich auch von ihnen Abschied und sehe mich nur im Garten um.
Auch das Selbstbewußtsein eines Erdteils kann jenem Rhythmus folgen, es erobert, kolonisiert, dann zieht es sich zurück und schämt sich seiner Vergangenheit, stimmt den Ressentiments der Dritten Welt zu, identifiziert sich mit dem verhaltenen Groll der anderen Kontinente, um sich endlich wieder zu akzeptieren und die Chancen für das Zusammenwachsen zu einer europäischen Nation zu erkennen. Es ist vorstellbar, daß jenes gemeinsame Projekt angesichts jenes Pulsierens bei der Assoziation nationaler Egoismen, beim Regionalismus der Europafestung, beim Knüppel der Euroglatzköpfe, der den nicht-europäischen Gast windelweich prügelt, ins Stocken gerät.
Noch umschließt uns die Finsternis des Universums, Zellengenossen sind wir auf dieser Kugel. Je kleiner die Erde, desto eher können wir solidarisch mit ihr sein. Unser Bewußtsein vermag sich in Bruchteilen von Sekunden auf die andere Seite der Erde zu begeben. Fortwährend üben wir uns in der Kunst des Ortswechsels, sei es als Reisende, sei es als von Nachrichten betroffene Phantasten. Im dritten Jahrtausend wird jeder ein Weltbürger sein; wenn nichts anderes, dann werden seine Ängste ihn dazu machen.
Werden wir fähig sein, unseren Gesichtskreis flexibel einzuengen und zu erweitern, werden wir zu jenem Pulsieren zwischen dem Ich und der Welt, dem Individuum und der Menschheit fähig sein? Bett und Tisch sowie die daran Sitzenden, sie sind meine engste Heimat, dann stelle ich das Radio an und befinde mich plötzlich in Jugoslawien oder Japan, Namen werden genannt, an denen ein Gesicht klebt, ach ja, dem bin ich schon mal persönlich begegnet, ach ja, in dem Gebäude bin ich schon gewesen. Dann gehe ich auf die Straße, steige in den Zug ein, die Heimat nimmt Gestalt an. Wo ist ihre Grenze? Stunden gibt es, in denen überall dort Heimat ist, wo du dich gerade aufhältst. Und auch andere Stunden gibt es, da du Heimweh hast, nach zu Hause, vielleicht sehnst du dich sogar hinweg aus dem eigenen Bett.
Die Zunahme imaginärer Laufbahnen, das vermehrte äußere und innere Wimmeln bringen den eigenen Antizustand hervor, das Festhalten an dem Einzigen und begründen meine Angst, zu wieviel Prozent auch ich aus Kunststoff, Plastik und Knetmasse bestehen könnte und ob die hochkomprimierten Magnetplatten in meinem Gehirn nicht abhängig von Zeiten und Umständen ausgetauscht werden. Der Mensch will wissen, wer er ist.
Sterblich ist der Mensch, ein Urlauber ist er, fast nackt also. Was er anhat, ist ohnehin unwichtig, denn in einer Leinenhose und einem Hemd, das sich schnell waschen und nach dem Trocknen im Garten ungebügelt anziehen läßt, nimmt er etwas wahr vom Wunderbaren der Bedürfnislosigkeit, davon, daß all das, was sonst zu ihm gehört, keine so große Bedeutung hat. Hier zwischen den anmutigen Vulkanen hat der Budapester Urlauber mehr Zeit, ist eher zum Kichern aufgelegt als in der weniger lockeren Atmosphäre daheim.
Würdet ihr bloß nicht schießen, würdet ihr bloß warten, würdet ihr bloß noch ein paar Tage Geduld haben, dann würden nicht so viele Menschen sterben müssen. Die meisten Probleme resultieren aus der Streitsucht. Ohne gemeinsamen Feind kriecht in der Kreatur die Einsamkeit empor. Seit ich denken kann, haben meine Mitmenschen ständig nach einem Sündenbock gesucht, und immer gelang es ihnen, ihre Herzlosigkeit durch irgendeine modische Denkweise zu rechtfertigen.
Es kommt ein Besucher, er lacht über unsere menschlichen Affären, über unsere kleinlichen und argwöhnischen Abgrenzungsversuche. Diese irdische Welt, so flüstert er mir zu, sei tatsächlich ein Körper, ein stetes Strömen zwischen den Teilen und dem Ganzen, zwischen dem einzelnen und der Menschheit. Kann ich den Fremden auf der anderen Seite des Erdballs lieben? Kann ich den Fremden auf der gegenüberliegenden Straßenseite lieben? Das Gemeinsame lacht über Grenzen hinweg. Eine Welt werden wir, das ist es, was uns erwartet.
Allein im Weltall hockend, Angst habend vor der Finsternis ringsumher, fröstelt es uns ohnehin. Gleich dem Aufflakkern eines Streichholzes tauchen wir ein in die Dunkelheit. Der Mensch wundert sich: Das war alles? Tatsächlich alles? Nacht ist es, angenehm, wach zu sein, wenn die anderen zur Ruhe kommen. Das ist die Zeit, da nur die Träume durch die Wände dringen, das ist die Zeit, da sich die Wogen der Erregung legen, das ist die Zeit, da wir uns nur in Geistgestalt besuchen. Ein Nachtfalter flattert im Lichtkegel der Lampe umher.
Aus dem Ungarischen übersetzt von
Hans-Henning Paetzke
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György Konrád
Dankesrede des Preisträgers
Chronik des Jahres 1991
+++ Nachdem in Genf Verhandlungen über eine friedliche Lösung der Golfkrise scheitern, beginnt am 17. Januar 1991 eine multinationale Truppe unter Führung der USA mit Luftangriffen auf den Irak. Die irakische Armee setzt daraufhin in Kuwait Ölquellen in Brand. Am 24. Februar starten die Alliierten ihre Bodenoffensive gegen den Irak, der zwei Tage darauf seine Truppen aus Kuwait abzieht. Die Kampfhandlungen werden eingestellt. +++ Erich Honecker wird im März aus dem sowjetischen Militärhospital Beelitz nach Moskau gebracht, um die Vollstreckung eines deutschen Haftbefehls zu verhindern. +++
In Zwickau läuft am 30. April nach fast 35 Jahren der letzte von 3 Millionen »Trabbis« vom Band. +++ Boris Jelzin wird im Juni zum Präsidenten der sowjetischen Teilrepublik Russland gewählt. Im August versuchen reformfeindliche Kräfte in Russland einen Putsch. Jelzin ruft die Bevölkerung zum Widerstand auf, die Putschisten ergeben sich am 21. August. Im Dezember gründen Russland, die Ukraine und Weißrussland die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Staatspräsident Gorbatschow tritt zurück und übergibt Russlands Präsidenten Boris Jelzin das Kommando über die strategischen Atomwaffen. Die Europäische Gemeinschaft und die USA erkennen Russland als Rechtsnachfolger der UdSSR an. +++ Der Bürgerkrieg zwischen Serben und Kroaten in Jugoslawien geht unvermindert weiter. Im September erklärt die jugoslawische Teilrepublik Mazedonien ihre Unabhängigkeit, Bosnien-Herzegowina, Slowenien und Kroatien folgen. Das nur noch mit Serben besetzte Staatspräsidium ordnet angesichts des Bürgerkriegs die Teilmobilmachung an. +++ Am 20. September kommt es im sächsischen Hoyerswerda zu schweren Ausschreitungen Rechtsradikaler gegen Ausländer und Asylbewerber, in deren Verlauf unter dem Beifall vieler Zuschauer auch ein Wohnheim angegriffen wird. In den folgenden Wochen werden im gesamten Bundesgebiet Anschläge auf Unterkünfte von Asylbewerbern verübt. +++
Biographie György Konrád
Der am 2. April 1933 in Berettyonjfalu bei Debrecen in Ungarn geborene Autor zählt zu den bedeutendsten und einflussreichsten Schriftstellern seines Landes. Der Sohn eines jüdischen Eisenwarenhändlers überlebt die nationalsozialistische Herrschaft unter dem Schutz der Schweizer Gesandtschaft des Roten Kreuzes in Budapest. Nach dem Krieg studiert Konrád Literaturwissenschaft, Soziologie und Psychologie.
1969 erscheinen erste Veröffentlichungen, in denen er sich kritisch mit der ungarischen Gesellschaft auseinandersetzt. 1974 wird er verhaftet, wegen internationaler Proteste jedoch wieder freigelassen. 1978 erhält Konrád Publikationsverbot, das erst 1989 aufgehoben wird.
In der Folge hält er sich immer häufiger im westlichen Ausland auf und gerät mit seinen Ideen eines blockfreien Europas und seinen offenen Sympathiebekundungen für die polnische Solidarnoœæ in Ungarn immer stärker unter Druck. Nach Ende des Sozialismus gründet er 1991 die »Demokratische Charta«, um die zögerlichen Demokratiebewegungen zu stärken. 1990 wird György Konrád zum Präsidenten des Internationalen PEN-Clubs gewählt.
Als Essayist begleitet er den Demokratisierungs-Prozess seines Landes und der Staaten des ehemaligen Ostblocks. Auch als Präsident der Berliner Akademie der Künste (1997–2003) nimmt er immer wieder kritisch Stellung zu politischen Themen.
Am 13. September 2019 stirbt Konrád im Alter von 86 Jahren nach langer, schwerer Krankheit in Budapest.
Auszeichnungen
2014 Buber-Rosenzweig-Medaille
2007 Franz-Werfel-Menschenrechtspreis
2003 Komtur mit Stern des Verdienstordens der Republik Ungarn
2003 Großes Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland
2001 Internationaler Karlspreis der Stadt Aachen als „Brückenbauer für Gerechtigkeit und Versöhnung in Europa“
1998 Lubiesa-Preis für Dichtung
1991 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
1991 Aufnahme in die Akademie der Künste (Berlin)
1990 Manès-Sperber-Preis
1990 Kossuth-Preis
1989 Wilhelm-Heinse-Medaille der Akademie der Wissenschaften und der Literatur
1989 Maecenas-Preis
1986 Preis des skandinavischen Verbandes der Friedensforscher und Südwestfunkpreis der Literaturforscher
1985 Europäischer Essay-Preis der Charles-Veillon-Stiftung
1983 Herder-Preis
Bibliographie
Über Juden. Essays
Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke, Jüdischer Verlag, Berlin 2012, ISBN 9783633542604, Gebunden, 246 Seiten, 21.95 EUR
Heimkehr. Roman
Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke, Suhrkamp Verlag, Berlin 2019 (dt. Erstausg. 1988), ISBN 978-3-518-24186-8, Taschenbuch, 70 Seiten, 10.00 EUR
Der Besucher. Roman
Mit einem Nachwort von Walter Jens. Aus dem Ungarischen von Mario Szenessy, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1983, ISBN 978-3-518-36992-0, Taschenbuch, 209 Seiten 11.00 EUR
Laudator Jorge Semprún
Jorge Semprún, geboren am 10. Dezember 1923 in Madrid als Sohn eines Juraprofessors, gilt als einer der herausragenden Schriftsteller und Denker.
Seine Familie muss 1936 vor den Truppen Francos aus Spanien nach Frankreich fliehen. Semprún, der an der Pariser Sorbonne Literatur und Philosophie studiert, schließt sich 1941 einer kommunistischen Widerstandsgruppe gegen die deutsche Besatzung an. 1943 wird er von der Gestapo verhaftet und in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Nach der Befreiung kehrt er nach Paris zurück, arbeitet als Übersetzer bei der UNESCO und beteiligt sich am Widerstand gegen das Franco-Regime.
Seit den 60er Jahren rückt das literarische Schaffen in den Mittelpunkt seines Lebens. 1963 erscheint sein erster, autobiographischer Roman Die große Reise, für den er gleich zwei Literaturpreise erhält. Schon in diesem Roman, in dem er den Transport von Gefangenen nach Buchenwald nachzeichnet, ist sein von Rückblenden und assoziativem Erinnern geprägter Stil zu erkennen, der auch in den folgenden Romanen wiederzufinden ist. Mit den Mitteln der Fiktion die Fakten erkennbar zu machen, ist seine von der Kritik hochgelobte literarische Intention.
1988 kehrt Semprún aus dem Pariser Exil nach Madrid zurück und wird überraschend von Felipe González zum Kulturminister ernannt. Er verliert jedoch 1991 sein Amt, nachdem er den Zweiten Golfkrieg als »gerechten Krieg« bezeichnet hat, und konzentriert sich wieder auf das Schreiben. Seine Essaysammlung Blick auf Deutschland (2003), in der auch die Rede vor dem Deutschen Bundestag zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus abgedruckt ist, findet weithin Beachtung.
Jorge Semprún stirbt am 7. Juni 2011 im Alter von 87 Jahren in Paris.