Der Stiftungsrat hat den deutschen Bürgerrechtler und Pfarrer Friedrich Schorlemmer zum Träger des Preises gewählt. Die Verleihung fand während der Frankfurter Buchmesse am Sonntag, 10. Oktober 1993, in der Paulskirche statt. Die Laudatio hielt Bundespräsident Richard von Weizsäcker.
Begründung der Jury
Den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verleiht der Börsenverein 1993 Friedrich Schorlemmer und ehrt damit einen aufrechten und couragierten Mann, der durch seine Worte und Taten seinen Mitmenschen den Glauben an die eigene Kraft wiedergab und sich mit ihnen Gewalt und Unterdrückung entgegenstellte.
Friedrich Schorlemmer hat integer in der DDR gelebt und in dieser Zeit Zivilcourage und unerschütterlichen Mut bewiesen. Um ihn haben sich Menschen zusammengefunden, die mit ihm inneren und äußeren Frieden leben und weitergeben wollten und wollen; als deren Stellvertreter sieht er sich, und in ihrem Sinne leistet er seine engagierte Arbeit. Er kämpft für die Beseitigung neuer innerer Mauern mit einer Sprache, die von Versöhnungsbereitschaft getragen ist und die von Menschen in Ost und West gleichermaßen verstanden wird.
Friedrich Schorlemmer wird damit und durch seine grenzenlose Friedensarbeit zu einem Vorbild für die Menschen in Deutschland und in der Welt.
Reden
Gerhard Kurtze
Grußwort des Vorstehers
Wie kaum ein anderer fragt Friedrich Schorlemmer in Predigten, Reden und Schriften nach der Wahrheit von Teilung und Einheit, von Opfern und Lasten, von Wunden und ihrer Heilung. Er, der so viel dazu beigetragen hatte, das geistige Band zwischen beiden Teilen Deutschlands nicht reißen zu lassen, er spricht es aus, daß wir über die Idee des neuen vereinigten Deutschland zu wenig vor- und nachgedacht haben. Er mahnt uns, daß wir mit den Grautönen leben müssen, auch mit den eigenen, und daß wir uns dies auch zutrauen können.
Richard von Weizsäcker - Laudatio auf Friedrich Schorlemmer
Richard von Weizsäcker
Auf den Friedenspreisträger 1993
Laudatio auf Friedrich Schorlemmer
Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wird in diesem Jahr an einen im deutschen Gemeindewesen verwurzelten Pfarrer verliehen. Das hat die Paulskirche bisher noch nicht erlebt. Ich freue mich darüber und erlaube mir zunächst einige allgemeine Worte der Begründung.
In der ruhmreichen Geschichte des Friedenspreises war schon deutlich von dem »stark befestigten Wall zwischen Kultur und Religion« die Rede (Paul Tillich), von der Abgrenzung zwischen Glauben, Politik und literarischer Kunst. Im Zeichen des Friedens, dem der Preis gilt, ist dies eher merkwürdig, auch wenn man Gründe dafür finden kann. - Unsere heutige säkularisierte Gesellschaft bekennt sich mit ihrer politischen Verfassung zum Pluralismus und zur weltanschaulichen Neutralität. Es geht um die Regeln des Zusammenlebens, nicht um die Suche nach Wahrheit.
Wer sich als Politiker programmatisch auf seinen Glauben beruft, darf damit nur die Maßstäbe nennen, an denen er sich selbst orientieren will und auch von anderen streng gemessen werden sollte. Er gerät zu Recht ins Abseits, wenn er versucht, aus seiner Position eine Überlegenheit gegenüber Andersdenkenden abzuleiten oder intolerant zu werden. Ein Pfarrer wird zunächst mißtrauisch beäugt, wenn er in der Politik auftaucht. Kann er dort ein frommer Bekenner seines Glaubens bleiben? Wird er der Versuchung widerstehen, im Namen des von ihm bezeugten Glaubens den Pluralismus in die Schranken zu rufen? Gibt es härtere Widerstände gegen Frieden als die kleinen und großen Kämpfe um letzte Wahrheiten?
Und dennoch ist die Abgrenzung der Bereiche gerade dann merkwürdig, wenn es um den Frieden geht. Keiner Friedenspolitik bleibt es erspart, einen tieferen Grund für die Verständigung untereinander zu suchen als das bloße Vertrauen auf den Pluralismus.
Heute leben wir innerhalb unserer liberalen Demokratien wie auch zwischen den Völkern in einer Phase der moralischen Erschöpfung. Das ist eine elementare Gefahr für den Frieden. So unendlich wichtig und schwer es ist, immer von neuem Toleranz zu lernen und zu üben, so bleibt sie doch allzuoft passiv und gleichgültig gegenüber Not und Leid und Ungerechtigkeit.
Ein Wall zwischen Kultur und Politik? Was sollte er helfen? Kultur lebt ja nicht abgeschottet gegen die harten Tatsachen, Interessen und Kämpfe des Lebens. Sie ist kein Vorbehaltsgut für ein paar Eingeweihte, sondern sie ist die Fülle unserer menschlichen Lebensweise mit allen ihren Unterschieden. Sie ist damit die wesentliche Substanz, um die es in der Politik gehen sollte. Wer die Bedeutung begreift, die der Nachbar seiner Kultur zumißt, lernt ihn und lernt zugleich sich selbst besser verstehen. Er beginnt, ihn zu achten, und hört auf, in ihm einen Fremdling oder gar Feind zu sehen.
Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels ist eine Einrichtung unseres kulturellen Lebens. Mit seinem Friedenspreis gewinnt er gerade damit sein hohes Ansehen, daß er die Kultur herausfordert, indem er ihr etwas Zentrales abverlangt und zutraut, nämlich kraftvolle Schritte in Richtung auf den Frieden.
Könnte und dürfte er da aus rein prinzipiellen Gründen haltmachen vor dem Bezirk des Glaubens? Doch gerade deshalb nicht, weil die Mentalität von Kreuzzügen, Inquisitionen und kirchlicher Machtpolitik, von Fundamentalisten und radikalen Schwärmern die Glaubwürdigkeit der Religionen in Frage stellen und den Frieden unter den Menschen bedrohen kann. Die menschliche Zivilisation muß von jeder Religion Auskunft darüber verlangen, was aus ihrer Wahrheit für das friedliche Zusammenleben der Menschen und Völker folgt.
Unter dem Eindruck schwerer Gefahren für den inneren und äußeren Frieden erleben wir zum Beispiel im Islam gegenwärtig eine geistige Auseinandersetzung über den tiefen Sinn des soviel mißbrauchten Begriffs des Heiligen Krieges. Dabei hören wir auch die Stimmen von starken, oft einsamen Rufern, die sich aus ihrem Glauben heraus dafür verzehren, der Gleichgültigkeit ebenso die Stirn zu bieten wie dem friedensgefährdenden Fanatismus.
Die Geschichte des Christentums, das unsere Kultur geprägt hat, gibt uns wahrlich keinen Grund, uns über andere Religionen zu erheben. Aber seine Abirrungen sind unsere wichtigsten Lehren, um seine zentrale Botschaft der Liebe freizulegen, die ja kein anderes Ziel als den Frieden verfolgen kann. Und immer wieder begegnen wir Menschen, die mit ihrem Leben die Kraft dieses Glaubens bezeugen.
Viele von ihnen bleiben verborgen. Wir mögen ihre segensreiche Wirkung verspüren und können ihnen doch nicht danken, da wir ihre Namen nicht wissen. An sie alle wollen wir denken, da nun heute einer unter uns ist, den wir kennen und dem wir danken wollen: Friedrich Schorlemmer.
Er nimmt seinen Glauben ernst und hilft uns in unserer Zeit und unserem Land zu verstehen und zu tun, worauf es um des Friedens willen ankommt. In jeder Phase seines Lebens stellt er sich gegen die wechselnden Gefahren. Die Machthaber der Diktatur forderte er heraus mit seinem Kampf gegen die anbefohlene Erziehung der Jugend zur Feindschaft. Er klagte die Rüstungsspirale in einem politischen System an, in dem man für solchen Freimut verfolgt und nicht, wie im Westen, zumeist nur verfilmt wurde.
Als die Freiheit näherrückte, nahm er seine ganze Autorität zusammen, um der Revolution ihren friedlichen Verlauf zu gewährleisten. Der erregten Bevölkerung redete er mit aller Kraft ins Gewissen, aufrecht und gewaltlos für die Freiheit einzutreten. Und seitdem sich die Vereinigung vollzieht, ringt er um Versöhnung in der Wahrheit und um solidarischen Ausgleich der Lasten.
In der Altmark, im heutigen Bundesland Sachsen-Anhalt, ist Friedrich Schorlemmer 1944 nahe der Elbe geboren und aufgewachsen. Er sah die Dampfer nach Hamburg fahren, ohne daß sie ihn mitnahmen. Aber auch von sich aus faßte er den Entschluß, nicht in den Westen zu gehen. Er hat sich nie als DDR-Deutscher gefühlt, sondern als ein Deutscher, der nicht zulassen wollte, daß die SED sich einbilden dürfe, die DDR gehöre ihr allein.
Im elterlichen Pfarrhaus begegnete er schon als Halbwüchsiger den politischen Konflikten. Seine Ausbildung wurde staatlich behindert. Doch er ließ sich nicht beugen. Von Jugend an ging er nie die leichteren Wege. Bereits im Alter von 14 Jahren wurde er zum erstenmal politisch überwacht. Als Jüngling verweigerte er den Wehrdienst - wissen die jungen Menschen im Westen, welcher Mut dazu in der damaligen DDR gehörte?
In der DDR lebten die meisten Menschen in einem Winkel. Doch nicht alle taten es zum eigenen Schutz. Der Winkel, in dem Friedrich Schorlemmer lebte, war der »Untergrund«, wie ihn die Staatssicherheit nannte, deren Abteilung »Politischer Untergrund« für ihn zuständig war. Sie führte ihn als gefährlichen operativen Vorgang, als OV »Johannes«. Wußte die Stasi, wie treffsicher sie mit ihrer Namensgebung war? Konnte sie ahnen, wie ernst es diesem Johannes mit dem Auftrag des gleichnamigen Vierten Evangeliums war, im Kampf zwischen Wahrheit und Lüge Zeugnis von Jesus von Nazareth abzulegen, auch auf die Gefahr hin, dafür verfolgt zu werden?
Er ließ sich von keiner Überwachung abschrecken. Er nutzte die Abende, um an der Volkshochschule das Abitur nachzumachen, das ihm auf der regulären Schule verweigert worden war. Er studierte Theologie, kam in eine Gemeinde, wurde Jugendpfarrer und Dozent am Predigerseminar in der Lutherstadt Wittenberg. So wuchs er in eine Kirche hinein, die wieder einmal, wie so oft in ihrer Geschichte, mit aller Schärfe einer Spannung zwischen den ewigen und den zeitlichen Fragen ausgesetzt war.
Die großen Konflikte der Zeit wären lösbar, wenn wir Menschen die Kraft fänden, persönlich und politisch gemäß der Bergpredigt zu handeln. Ihren absoluten sittlichen Forderungen zu entsprechen wäre vielleicht die einzige ausreichende Antwort, um Frieden und Gerechtigkeit zu erlangen. Wir Menschen scheitern immer wieder an diesen Forderungen.
Doch dürfen wir daraus kurzerhand ableiten, mit der Bergpredigt lasse sich die Welt nicht regieren? Können wir uns auf so einfache Weise von ihren hohen Geboten dispensieren, nur weil gefährliche Schwärmer Unheil mit ihnen angerichtet haben? Uralt und ohne Ende ist die Auseinandersetzung, ob Christus mit der Bergpredigt das Reich Gottes verkündet, auf das wir hoffen, das wir aber nicht mit unserer kleinen menschlichen Kraft schaffen können, oder ob wir in der Bergpredigt die bleibenden Maßstäbe für unser Denken und Handeln finden, an denen wir uns stets von neuem orientieren sollen, sooft wir sie auch verfehlen. Am Leben und Wirken von Friedrich Schorlemmer lernen wir eindrucksvoll, daß es sich niemand leichtmachen sollte zu glauben, er könne dieser Spannung wirklich entgehen. Für Schorlemmer ist sie unaufhebbar. Er hält ihr stand, so gut er es vermag, ohne in einen bindungslosen Aktionismus zu verfallen, zum Glaubenstyrannen zu werden oder voller Frömmigkeit die Welt sich selbst zu überlassen.
Die Kirchen in der DDR befanden sich von vornherein im frontalen Widerspruch zu den Maximen jenes Staates. Sie stellten den einzigen, über das ganze Land verteilten, organisierten Freiraum in der Gesellschaft dar, der nicht in der Hand und unter der direkten Kontrolle der politischen Herrschaft stand. Deshalb waren sie auch der für die SED wichtigste Gegenstand des Mißtrauens, der Überwachung und der Unterwanderungsversuche. Die SED agierte gegenüber den Kirchen mit einem doppelten Ansatz. Einerseits war es die flächendeckende und individuell hochnotpeinliche Bespitzelung und Kontrolle, zum anderen bemühte sich die Staatsmacht im Laufe der Zeit darum, die Kirchen zu einer Stabilisierung der immer gefährlicher schwankenden Stimmung in der Bevölkerung nutzbar zu machen. Ohne Frage gab es in dieser großen Organisation Kirche, wie überall in der Welt, starke und schwache Menschen oder Kirchenleitungen, die mehr oder weniger eindrucksvoll operierten. Bei einigen Personen ist auch eine veritable Unterwanderung gelungen.
Doch aufs Ganze gesehen, haben SED und Staatssicherheit den Kampf um Überwachung und Aushöhlung, um Gleichschaltung und Instrumentalisierung der Kirche verloren. Jahrzehntelang hat sich die Kirche gegen die staatliche Indoktrinierung der Kinder in der Schule gewehrt, gegen die Minderachtung der Behinderten, gegen die Rüstungspolitik, sich für die Freizügigkeit der Menschen, gegen das unmenschliche Grenzregime an Mauer und Stacheldraht und für die Menschenrechte nach Geist und Buchstaben der Schlußakte von Helsinki eingesetzt. Seit Anfang der 80er Jahre boten die Kirchen auch Dach und Schutz für Bürgerrechtler, die den aktiven Widerstand suchten. Der Schutz galt Christen und Nichtchristen.
Friedrich Schorlemmer ist einer von vielen Bekannten und Unbekannten, denen wir dies zu danken haben. Wenn es Menschen gab, die sich unter jenem Regime bemühten, in der Wahrheit zu leben, so gehörte er dazu. Er wollte keine Märtyrerrolle. Er spannte den Bogen, soweit es irgend ging, aber mit der Absicht, gerade noch außerhalb der Gefängnisse zu bleiben oder nicht außer Landes verwiesen zu werden. Treu nach Martin Luther begegnete er den Mächtigen mit dem Wort, nicht mit Gewalt. Er wußte, daß sie nichts mehr fürchteten als Gewalt, aber daß sie auch auf nichts weniger gefaßt waren als auf Gewaltlosigkeit.
Heute wissen wir, daß die Stasi trotz aller Perfektion ihrer Mittel Friedrich Schorlemmers Wirkung unterschätzte. Was die Stasi als »Untergrund« betrachtete, war bei ihm in Wirklichkeit bezwingende Offenheit. Er dachte und handelte so, daß er seine Nische zum Raum der Auseinandersetzung werden ließ. Die Stasi überwachte ihn mit den ihr eigenen Waffen. Dagegen waren seine Waffen entwaffnend: Er gab einfach nur zu erkennen, was er als wahr erkannte. Er wollte Ernst machen mit dem, was das Regime lediglich vorgab zu wollen: Frieden und soziale Gerechtigkeit. Öffentlich verbieten ließ sich das schlecht. Es war der unbeirrbare und gelassene Weg des kategorischen Imperativs der Aufklärung gegen den hypothetischen Imperativ der Parteidialektik.
Denken und Handeln gehören bei Schorlemmer unmittelbar zusammen. Auf das Handeln in Freiheit kommt es an. Zur Freiheit gehört der Mut, sich der Einsicht zu stellen. »Verweigerung von Einsicht ist Verweigerung konkreter Verantwortung. Wer sich der Einsicht nicht stellt, schränkt seine Handlungsfähigkeit bis zur Entscheidungsunfähigkeit ein.« Gelegentlich beschreibt er den Kampf für eine demokratische Emanzipation. Um die Erneuerungsbedürftigkeit eines jeden einzelnen als Voraussetzung für eine Erneuerung der Gesellschaft zu begründen, zitiert er Kant, Marx und Paulus:
- »Habe den Mut, dich deines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen.«
- »Alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, geächtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.«
- »Verändert euch durch die Erneuerung eures Denkens, damit ihr erkennen könnt, was der Wille Gottes ist.«
Der Kommunismus hat die Erneuerung der Gesellschaft verfehlt. Er hat sie erzwingen wollen, ohne sie auf die Erneuerung des Menschen zu bauen.
Einen zentralen Raum nahmen bei Schorlemmer die Ziele der Abrüstung, der Entspannung und der Friedenspolitik ein. Aus einer bloßen Friedensrhetorik der SED machte er mit seinen Freunden Ernst. Öffentlich prangerten sie an, wie der Staat die Kinder und Jugendlichen anhand von Feindbildern aufwiegelte. Aktiv griffen sie die zur Entspannung ermunternde Schlußakte von Helsinki mit dem Gedanken auf, daß Frieden nach außen nur glaubwürdig und haltbar ist, wenn er sich mit Frieden nach innen verbindet.
Ein Beispiel, das ich erwähnen möchte, habe ich 1983 aus einiger Nähe selbst miterlebt. Ich war Gast auf dem Landeskirchentag in Wittenberg. Es war nicht nur das 500. Geburtsjahr von Martin Luther und das 100. Todesjahr von Karl Marx, sondern auch das Jahr der Raketenstationierung. Mit erheblichen Bedenken hatte die SED den Kirchentag genehmigt. Sie hatte sich schließlich dazu durchgerungen, weil sie sich wohl etwas kirchlichen Rückenwind für ihren Feldzug gegen die westliche Nachrüstung versprach. Doch wieder nahm Schorlemmer mit seinen Freunden das Vokabular der östlichen Führung ernster, als sie es selber meinte. Im völlig überfüllten Lutherhof ließen sie ein geschmiedetes Schwert feierlich durch die Massen hereintragen, und sie gedachten der Worte des Propheten Micha:
»Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen
und ihre Spieße zu Sicheln machen.
Es wird kein Volk wider das andere
das Schwert erheben,
und sie werden hinfort nicht mehr lernen,
Krieg zu führen.«
So wurde unter den Augen der Stasi - mit ihren Infrarotfilmen dokumentiert - das Schwert zur Pflugschar umgeschmiedet. Die Aktion erfolgte ohne Gewißheit auf Erfolg, ohne konkrete Perspektive auf Wirkung. Sie war eine Aussaat, ohne Kenntnis, wann und wie es zur Ernte kommen werde, aber in der Zuversicht darauf. Haben wir denn jetzt schon geerntet? Oder liegt die wahre Ernte noch vor uns? Fragen, die noch offen sind. Doch was damals, vor zehn Jahren, in Wittenberg in einer bewegenden Zeremonie konkret geschah, wurde zu einem Symbol, das dann immer mehr Menschen als Zeichen trugen, auch wenn es ihnen oft genug durch die sogenannten Ordnungshüter von den Jacken gerissen wurde.
Die Wittenberger Aktion löste also heftige Reaktionen der Sicherheitsorgane aus: Doch sie ermutigte auch eine wachsende Zahl von Menschen zu den ersten öffentlichen freiheitlichen Demonstrationen auf den Straßen der DDR, die in immer steigendem Umfang ihren Weg durch die achtziger Jahre nahmen.
»Die Faust des anderen öffnen mit Worten« (Heinz Czechowski), darauf kam es Friedrich Schorlemmer an. Er setzte nicht nur strikt auf Gewaltlosigkeit, sondern auch auf die Kraft des Wortes, getreu nach Martin Luther. Dankbar empfand er die Verse und Texte von Schriftstellern, die ihm geholfen haben, in der DDR zu existieren und zu bleiben und nicht zu kapitulieren beim Versuch, mit der Wahrheit zu leben. Er nennt Reiner Kunze, Thomas Brasch, Wolf Biermann, Christa Wolf und andere, von denen er bekennt, daß sie nicht das Regime stabilisierten, sondern ihn und seine Freunde.
Mit seiner Friedensgruppe verfaßte er zum Kirchentag in Halle 1988 zwanzig Thesen. Es war die denkbar klarste Herausforderung an die Adresse der SED mit dem Ziel einer Erneuerung der Gesellschaft. Die Freiheit für Erziehung und Bildung wurde ebenso gefordert wie die Freizügigkeit der Begegnungen, der Pluralismus bei Wahlen und die Preisgabe des mit Macht ausgeübten Anspruchs und Monopols auf Wahrheit durch die SED. Jedermann wurde zur verantwortlichen Teilnahme an einer Reform der Verhältnisse aufgerufen. Der Impuls dieser Thesen war so groß wie die Heftigkeit der staatlichen Reaktion gegen diese gefährlichen Feinde des Regimes.
Vom Sommer 1989 an überschlugen sich die Ereignisse. Im Juni war es zu den furchtbaren Gewaltakten in Peking gekommen. Die SED-Führung hatte sich eindeutig und scharf zu den dortigen Unterdrückungsmethoden bekannt. Die chinesische Angst ging nun um im Land. Zugleich schwollen die Flüchtlingsströme über Ungarn in die Bundesrepublik an. Mahnwachen und Friedensgebete in den Kirchen und Demonstrationen auf den Straßen nahmen zu. Die Sicherheitsorgane waren in höchster Alarmbereitschaft. Alles war so zugespitzt, daß ein Funke genügt hätte, um blutige Auseinandersetzungen auszulösen. Und dann wurde die große Demonstration am 9. Oktober 1989 zum Kulminationspunkt der friedlichen Revolution. Die im Land stationierten fremden Truppen wurden in den Kasernen gehalten.
Schorlemmer und alle Gleichgesinnten redeten mit ihrer ganzen Macht den Menschen Mut zum offenen, aber absolut friedlichen Bekenntnis des Freiheitswillens zu. Die Kirchen waren in diesen Tagen überfüllt. Die Straßen gehörten wieder den Bürgern selbst.
Am 4. November, fünf Tage bevor die Mauer fiel, gab es die größte Kundgebung in der ganzen Geschichte der DDR auf dem Alexanderplatz in Berlin, einberufen von Künstlern und spontan befolgt aus allen Schichten der Gesellschaft. Viele Millionen Menschen haben diese bewegende historische Stunde am Fernsehschirm verfolgt.
Schorlemmer gehörte zu den Rednern. Seine mehr improvisierten als geplanten Worte trafen die Lage. Die Gefahr des Blutvergießens war noch nicht endgültig gebannt. Die Sorge vor einem letzten gewaltsamen Aufbäumen der Staatsmacht war groß. Schorlemmer warnte vor der Versuchung des simplen »Dampfablassens«, vor der Entartung des Dialogs zum »bloßen Papperlapapp des Volkes«, vor der »Ersetzung alter durch neue Intoleranz«. Er beschrieb Toleranz als die »Erkenntnis, daß wir irren und alten Fehlern neue hinzufügen werden«. »Reißen wir nun nicht neue Gräben auf! Trauen wir jedem eine Wende zu, auch wenn nicht jeder in seiner alten Position verbleiben darf. Aber, bitte, keine Rachegedanken.« »Wir werden noch durch ein Tal hindurchgehen. Wir werden uns nicht durch besonderen Wohlstand auszeichnen können, aber vielleicht durch mehr Freundlichkeit und Wärme.« In diesem Sinne plädierte er für eine Koalition der Vernunft, nun, da die Menschen im Begriff waren, aus Objekten zu Subjekten des politischen Handelns zu werden. Und er, der aus Wittenberg kam, schloß mit den Worten Martin Luthers: »Lasset die Geister aufeinanderprallen, aber die Fäuste haltet stille.«
Das alles hat Schorlemmer ein paar Tage vor dem Fall der Mauer in Ost-Berlin gesagt. Inzwischen sind vier Jahre vergangen. Die konkreten Gefahren haben sich verändert. Die Aufgaben sind neu. Aber die Maßstäbe, die uns zur Orientierung dienen sollten, behalten ihre zwingende Gültigkeit. Wie halten wir es mit einer Koalition der Vernunft im Angesicht unserer großen mitmenschlichen und sozialen Aufgabe der Vereinigung, der gewachsenen Arbeitslosigkeit in Ost und West, der notwendigen Hilfe für die Reformprozesse in Osteuropa, der Leiden und Flüchtlingsschicksale auf und aus dem Balkan? »Wer der Vernunft dient, kommt der Notwendigkeit zuvor« (Herder). Sind wir zuvorkommend genug? Wie bewahren wir unsere freiheitliche politische und mediale Streitkultur vor bloßem Papperlapapp? Wie begegnen wir der Neigung des Dampfablassens gegen Ausländer oder sonstige Schwächere? Wie halten wir es beim Umgang mit der Vergangenheit, jedem eine Wende zuzutrauen und keine Vergeltung obwalten zu lassen? Praktizieren wir eine Toleranz, die auf Einsicht in die eigene Fehlbarkeit beruht?
Wie kaum ein anderer fragt Friedrich Schorlemmer in Predigten, Reden und Schriften nach der Wahrheit von Teilung und Einheit, von Opfern und Lasten, von Wunden und ihrer Heilung. Er, der soviel dazu beigetragen hatte, das geistige Band zwischen beiden Teilen Deutschlands nicht reißen zu lassen, er spricht es aus, daß wir über die Idee des neuen vereinigten Deutschland zuwenig vor- und nachgedacht haben. Er mahnt uns, daß wir mit den Grautönen leben müssen, auch mit den eigenen, und daß wir uns dies auch zutrauen können.
Versöhnung unter Menschen kann ohne Ringen um Wahrheit nicht gelingen. Aber Wahrheit wäre unmenschlich ohne das Ziel der Versöhnung. Die Richtenden - und das sind wir alle, nicht nur die Richter - mögen sich hüten vor neuer Ungerechtigkeit bei dem Versuch, endlich Gerechtigkeit herzustellen. Nicht die Sündhaftigkeit ist das Thema, sondern die Bedürftigkeit und Fähigkeit zur Veränderung.
Friedrich Schorlemmer ist auch nach der Wende politisch aktiv geblieben, und zwar dort, wo die Demokratie wurzelt: in der Kommune. Er ist ein engagierter Teilnehmer an der demokratischen Bürgergesellschaft. Zuerst und zuletzt aber ist er Pfarrer, Pfarrer aus Wittenberg, geprägt von Luther, der darauf baut, daß sich die Wahrheit im Streit durchsetzt, und auch von Melanchthon, der der Wahrheit eher mit dem Streben nach Harmonie dient. Schorlemmer vertraut auf die Kraft des Wortes. Er verbindet sie überdies mit einer Liebe zur Dichtung. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels hat einen Preisträger ausgesucht, dessen zweite Examensarbeit - als Theologe - die Sprache der modernen Poesie zum Thema hatte. Und so hat er selbst in der Sprache des ja gewiß zur Grobheit befähigten Martin Luther Poesie entdeckt.
Auch von Bertolt Brecht hat er gelernt. Es gilt, den Leser und Hörer ohne Hinterhalt, aber mit Geschick dafür aufzuschließen, daß er sich der Einsicht öffnen kann.
Der Stiftungsrat des Börsenvereins sagt in seiner Begründung für den Friedenspreis, das Beispiel von Friedrich Schorlemmer habe gezeigt, daß auch weiches Wasser den Stein bricht. Damit bezieht sich die Jury auf das wunderbare Gedicht von Brecht, in dem geschildert wird, wie Lao-Tse beim Verlassen des Reiches seine Weisheitslehre für den einfachen Grenzwächter aufschreibt, der neugierig gefragt und dies zur Antwort erhalten hatte: »Daß das weiche Wasser in Bewegung / mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt. / Du verstehst, das Harte unterliegt.« Weich und sanft ist unser Preisträger eigentlich nicht. Aber er hat ein gutes Gefühl für den sprachlichen Tiefsinn des Wortes Sanftmut, wo Sanftsein sich mit Mut paart. Es ist die Stetigkeit, die ihn auszeichnet, die unablässige, entwaffnende Offenheit, die unerschrockene Gewaltlosigkeit, mit denen er nach Wahrheit sucht, um Einsicht ringt, mit seinen Worten Fäuste öffnet. Damit setzt er dem Harten zu, bis es unterliegt. - Der Friedenspreisträger 1993 ist ein Mann der Zuversicht. Sie stützt sich auf seinen Glauben. Neben dem Hebräerbrief des Neuen Testaments zitiert Friedrich Schorlemmer auch einen Inder: »Der Glaube ist wie ein Vogel, der schon singt, wenn es noch Nacht ist.«
Ich gratuliere uns, und ich beglückwünsche den Börsenverein des Deutschen Buchhandels zu seinem Preisträger 1993. Friedrich Schorlemmer hat sichtbar gemacht und zur Sprache gebracht, was viele andere Ungenannte und Unbekannte empfunden und durchgehalten haben in einer schweren Zeit. Sie haben sich nicht durch kleine oder große Vorteile korrumpieren lassen. Ungebeugt und solidarisch, die Bergpredigt nicht außer acht lassend, haben sie menschlich gelebt.
Wir danken Friedrich Schorlemmer und mit ihm diesen seinen wahren Brüdern und Schwestern für ihr Leben und ihr Beispiel.
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Richard von Weizsäcker
Laudatio
Wir setzten wieder alles aufs Spiel, wenn wir dem Geist, der Logik und der Praxis der Abschottung nicht widerstehen. Die Öffnung zueinander schließt Respektierung unterschiedlicher Identitäten nicht aus, sondern gerade ein. Integration kann ohne Verwischung der Unterschiede und Interessenlagen gelingen. Gerade der Schutz der Fremden und der Minderheiten gehört zu den immer wieder gefährdeten menschlichen Kulturleistungen.
Friedrich Schorlemmer - Dankesrede
Friedrich Schorlemmer
Den Frieden riskieren
Dankesrede
In einer Bürgerkirche, einem Tempel der Demokratie sind wir - und Sie erlauben mir, daß ich Sie als >Bürger< begrüße und nicht mit Ihren Funktionen. Ich begrüße Sie in den vorderen wie in den hinteren Reihen.
Zwei Bürger darf ich stellvertretend begrüßen. Der eine hat sich noch nachgemeldet - ein Hallenser! Ich möchte Hans-Dietrich Genscher sehr, sehr herzlich begrüßen und mit Ihnen alle, die den Weg zur Einheit geschafft haben und sich jetzt den Schwierigkeiten auch stellen, ehrlich und hoffnungsvoll.
Verehrter, lieber Herr von Weizsäcker, Sie haben in einer mich berührenden Weise einen Weg nachgezeichnet, auf dem ich zusammen mit anderen versucht habe zu gehen. Ohne uns zu erhöhen oder zu erniedrigen, haben Sie es wohl vermocht, uns gerecht zu werden. Unsere innere Einheit lebt von solchem gesuchten Mit-Verstehen. Das tut mir und gewiß vielen anderen auch einfach gut. Danke.
Ich danke allen, die in diesen bewegten Jahren durch ihren Mut zum Risiko beigetragen haben, daß ich mit vielen Ostdeutschen zusammen heute hier überhaupt sein und frei sprechen kann. Ich erinnere mich, wem wir entronnen sind. Ich sehe nicht ohne Sorge und nicht ohne Hoffnung, was vor uns liegt.
Sehen Sie es mir bitte nach, wenn ich an einem Sonntagmorgen in der säkularisierten Pauls-Kirche sage: Zuerst HALLELUJA, dann KYRIE.
Und das Zweite: In so einer Kirche darf ich als Pfarrer einen solchen Preis nicht annehmen. Paulus sagte: »Was soll das Rühmen; es ist ausgeschlossen.« Aber er fährt dann fort - ich habe nachgesehen, ob ich es darf: »Wir sind euer Ruhm.«
Vergessen wir nicht das Leben zu preisen für jeden Tag, den wir leben dürfen, gar mit Brot, Wohnung, Arbeit. Nichts ist selbstverständlich. Wer das weiß, kann seine Lebensansprüche zugunsten anderer gelassen reduzieren.
Ich spreche hier nicht ex cathedra; ich bringe Streitbares in Strittiges ein - aber es ist nicht fertig, sondern will Gespräch.
So sehr es um Politik geht, so sehr geht es letztlich um jeden von uns, seine Friedensfähigkeit und Zivilcourage im Konflikt.
Vor acht Tagen erst schlitterten wir - diese vielgestaltige, widersprüchliche Menschheit - wieder am Rande des Abgrunds. Es ist schon verwunderlich, daß wir noch einmal knapp davongekommen sind. Ist das geschenkte Gnadenfrist? Gelingt es uns, die Lern-Pausen zu nutzen oder sollten diejenigen recht behalten, die meinen, wir hätten nach wie vor die innere Verfassung und den äußeren Horizont von Neandertalern, doch mit Verfügungsgewalt über Atomwaffen? Krieg und fortwährendes zentrifugales Konfliktpotential im Herzen einer Atommacht mit xfachem Overkill läßt uns den Atem anhalten und weist uns schmerzhaft darauf hin, wie gefährdet der in sich unberechenbare und im Konflikt sich maßlos vergessende Mensch ist.
Und dieser Mensch kann über gattungsgefährdende Machtmittel verfügen. Bleibt der Koffer mit den entscheidenden Zahlenkombinationen in »guten Händen«? - 26.500 Nuklearsprengköpfe! Wenn dort Armeeteile gegeneinander gekämpft hätten... Nicht auszudenken! Und ein Land, das zur Erhaltung der Demokratie Militär braucht, begibt sich in die Hand des Militärs. Was wird aus der Demokratie werden, was aus den Abrüstungsverträgen?
Es ist wieder komplizierter geworden, dem Frieden das rechte Wort zu reden, wo sich Welt-Wirrnis und Wort-Wirrnis den Rang ablaufen. Mehr denn je spüre ich, wie wahr Satz und Gegen-Satz sind, wie Licht zu Zwie-Licht wird, wie wir ausgerechnet im hitzigen Streit um den wirksamen Weg zum Frieden den Frieden verlieren.
Und doch sehe und säe ich - und nicht nur ich - unverdrossen das Senfkorn Hoffnung, genieße die Früchte unseres Friedens, blende das Weltelend zeitweilig aus, will leben.
Nur unter einem doppelten Vorbehalt kann ich annehmen, was mir, einem Verehrer all derer, die Sie bisher geehrt haben, zugekommen ist.
Ich stehe jetzt hier oben und kann hier nur stehen, weil ich für Euch und mit Euch hier stehe, meine lieben Freunde und Weggenossen, damals und jetzt. Wir haben versucht zu tun, was wir zu tun schuldig waren. Daraus mag uns Selbstbewußtsein ohne Selbstüberhebung und niederlagengetröstete Gewißheit erwachsen sein. Was wir taten, war so unscheinbar wie wunderbar, so beglückend wie bedrückend, bisweilen auch so kümmerlich wie jämmerlich, so daß weder nachträgliche Feiglings-Denunziation noch eine Opfer-Heroisierung angemessen wäre.
Ich jedenfalls bin dankbar für eine Kirche, in der mir große Verantwortung auferlegt wurde und die mir stets große Freiheit ließ und läßt. Dafür bin ich sehr dankbar. Ein Pfarrer ist ein freier Mann. Wenn Sie seine Lasten vergessen, ist es das Schönste, was man sein kann auf dieser Welt.
Kirchenleitungen, mit denen ich zu tun hatte, bewährten sich zuallermeist - vergessen wir das nicht - als Prellböcke, nach allen Seiten hin. Synoden wurden Ort demokratischer Streitkultur: auch kleine Gemeindeversammlungen waren Übungsfelder für aufrechten Gang, für Friedfertigkeit und Friedensengagement. Das soll so bleiben.
Tagtäglich schlägt uns nun soviel Gewalt und Armut, Zerstörung und Haß, Tränen und Blut, letztlich so viel Sinn-Losigkeit entgegen, daß wir an der Menschheit zu verzweifeln beginnen, dessen Einzelexemplar jeder selbst ist. Wir können nur froh sein, wenn wir - noch - nicht mittendrin sind. Wo unsere Welt in gefährlichen Aufruhr, unwägbare Umbrüche, soziale und ökologische Katastrophen taumelt und unser eigenes Land in eine merkwürdig diffuse Gemütslage, mit irritierenden Anleihen an dunklere Vergangenheit gekommen ist, da kann ich diesen »Friedenspreis« nur als Würdigung eines bestimmten Weges, mehr noch als eine Ermutigung verstehen, weiter aus einem DENNOCH zu leben, unbeirrt dabei zu bleiben, dem inneren und äußeren Frieden mit Mitteln des Friedens zu dienen.
Aufgewachsen bin ich in einer Religiosität, in der wir »Beten und das Tun des Gerechten unter den Menschen« zu verbinden suchten, wo das Beten nicht das Tun ersetzte, wo Beten vielmehr selber ein Tun wird, das durch kein anderes Tun ersetzt werden kann. (Werner Krusche)
Das aber ist nicht etwas Rituelles, sondern etwas Expressives: Hoffen und Klagen, Singen und Spielen, Fragen und Hadern, Sprechen und Schweigen, Protestieren und Bitten, Danken und Staunen, Weinen und Lachen und schließlich immer: Wohnung finden im Haus der Sprache, in Worten und Geschichten des Glaubens.
Heute sind hierher viele Menschen gekommen, die Zivilcourage zeigten, diesen täglich neu aufzubringenden Mut, ein eigenverantwortetes JA oder NEIN zu sagen und danach zu tun: der Lehrer, der Stasiwerbungen widerstand, die Schülerin, die nach ihrem Brief an »den Minister für Volksbildung, Margot Honecker« gegen Wehrunterricht in erniedrigende Verhöre geriet, auf sich allein gestellt, tapfer bestand und trotzdem Lehrerin wurde, der Elektriker, der wegen seiner Friedensseminararbeit ins Gefängnis ging, rauskam, nicht wegging, weitermachte und -macht (er kommt direkt von einem Friedensseminar in Friedenswalde), der Leipziger Nicolai-Kirchen-Pfarrer, der Tierpräparator, der minutiös unwürdige Geheimnisse um das strahlende Wismut offenlegte, der Pflugschar-Schmied, der Flanell-Aufnäher-Erfinder, die Ärztin, die auf dem Lande Leute für Demokratie und Frieden sammelt, der Mathematiker, der in schwierigen Konfliktsituationen das Nötige mit dem Machbaren zu vermitteln verstand, der Theologe, der 25 Jahre lang unser horizonterweiternder Vordenker wurde, der Bischof, der mich damals begleitete, schützte, dessen Schüler ich bin und der andere, der jetzt mein Bischof ist. Oder die Kantorin, die Kindern mit Musik das Gemüt zum Frieden hin öffnete, die Freunde, die mit gewitzter Phantasie die anstößigen Plakate entwarfen und es jetzt wieder tun. Sie und viele andere, die aus den östlichen Bundesländern heute hier sein können, widersprachen praktisch dem Satz »Man kann doch nichts machen« und taten, was sie für nötig und richtig hielten, oft allein, ja auch vereinsamt. Doch wir fanden uns in kleinen, vertrauten Gruppen, in denen Beunruhigung zur Sprache kam und Hoffnung zur (zeichenhaften) Handlung wurde. Wir wurden einander eine Ermutigung. Repressive Folgen selbstverantworteter Einmischung trieb viele, zu viele entnervt aus dem Land.
Es ist wahrlich »unendlich viel leichter, im Gehorsam gegen einen menschlichen Befehl zu leiden als in der Freiheit eigenst verantwortlicher Tat«. Widerstehen kann scheitern oder gar zu rechthaberischer Eigenbrötelei verkommen - auch das ist uns widerfahren. Andere mögen ihre Kraft zum Durchstehen woanders her bekommen; für uns Christen beruhte und beruht freie Verantwortung »auf einem Gott, der das freie Glaubenswagnis verantwortlicher Tat fordert und der dem, der darüber zum Sünder wird, Vergebung und Trost zuspricht«.
Ein Zeuge wie Bonhoeffer hat uns zum eigenen Zeugnis inspiriert.
Ein von den einen bewunderter, von anderen belächelter Glaube hat uns aufrechter und aufrichtiger leben lassen, als wir uns das selber zutrauten in den Landschaften der »dialektischen« Lügen und der geballten Friedensfäuste. Mein auch leidenschaftliches Plädoyer für einen Frieden, der nicht nur Ziel, sondern zunächst Weg ist, kommt nicht zuletzt aus der Begegnung mit meinen eigenen Abgründen und mit meinem Scheitern.
Ich - und das sind Erkenntnisse, die mir Literatur, neben dem großen Buch der Bücher vermittelt hat - ich bin zu allem fähig: Ein Kreuzritter der Welterlösung und Kleininquisitor der Wahrheit, Eichmann-Sohn und Mielke-Nachbar, Serben- und Kroatenbruder, ich, Brand-Satz-Sprecher, Befehlender und Gehorchender eines Schießbefehls, einer Vergeltungsaktion, einer Brandrodung. Und ich, auf dem Wege mit Jesus und Maria, Theresa und Mahathma, Franz und Nelly, Lew und Edith, Dom Helder und Rosa*. Und ich bin ein seliggepriesen Sanftmütiger, ein barmherzig Liebenswürdiger, ein friedfertig Friedensfähiger. Wohin führt mich mein Weg, welche Wahl wird mir gelassen, wer geht mit mir? Es ist offen, wunderbar offen, drohend offen.
So wird mir heute eine Dennoch-Urkunde verliehen, die mir sagt: Mach einen neuen Versuch. Verlier nicht den Mut, wo doch das Erschrecken über »den Menschen« zugleich ein Erschrecken über dich selbst wird, der du zufällig, ganz zufällig nicht auf dem Balkan oder im Kaukasus wohnst. Wie steht es um den Welt-Frieden in dir? Wie dünn ist die Haut deiner Friedfertigkeit? Wie lange hältst du den anderen aus, du, ich, mit dem Kainsmal Gezeichneter? »Nenne mir ein Verbrechen, das ich nicht auch hätte begehen können!«
Kain, der Mensch mit verfinstertem Blick, der Andersartigkeit nicht erträgt, Ausschließlichkeit beansprucht, den Anruf nicht hört, Antwort und Verantwortung verweigert, Fürsorge abweist. Unstet ist er, in sich zerworfen. Am Anfang, erste Tat außerhalb des Paradieses - ein Mord und nicht nur dies: Verweigerung der Antwort. An unserem Ende könnte die Zerstörung des Paradieses »Erde« stehen, des Gartens, von dem wir leben. Dennoch: Wort-Antwort-Verantwortungswesen sind wir.
Am Anfang steht nichts anderes als ein gesenkter Blick, der zum bösen wird. Den anderen nicht mehr ansehen, sich in sich selbst verkrümmen, das Gesicht des anderen, des Menschenbruders, der Menschenschwester, nicht mehr sehen, den Zorn in sich wachsen und wuchern lassen, die inneren Spannungen und äußeren Verletzungen auf ihn konzentrieren, um dann, nicht mehr Herr im eigenen Hause, zuzuschlagen und im selben Moment noch die Verantwortung für die Tat abweisen - das ist unser wiederkehrendes Schicksal, von dem wir uns befreien können, wenn wir rechtzeitig aufsehen, im Gesicht des anderen uns selber entdecken, auch in der Fratze des anderen, die aus Angst Angst macht, aus Wut Gewalt werden läßt, aus Verletzung verletzt, aus Ungerechtigkeitsgefühl ungerecht wird, sich Gerechtigkeit »holt«. Wo wir im anderen uns selbst - mit all unseren Schatten - wiederentdecken, können wir es lernen, Differenz zu ertragen, einander leben zu lassen!
Es ist nicht einfach das Verdienst des Opfers, Opfer zu sein, doch Opfer verdienen all unsere Fürsorge und Vorsorge.
Unversehens verwandeln sich Opfer in Täter, werden vom Abel zum Kain. Auch Kain muß geschützt werden, damit er nicht - selber zum Opfer gemacht - nur noch Kinder zurückläßt, die Kainskinder sind: Gezeichnete. Doch Kain und seine Kinder bedürfen der Einsicht in das, was sie ausgelöst, angerichtet, hinterlassen haben.
So meinten Antifaschisten, der Ermordung Entronnene, auf Dauer einen Bonus zu besitzen, der sie berechtigte, Menschenrechte zu verletzen, weil sie selbst schrecklich Verletzte gewesen waren. Sie meinten Feinde »liquidieren« zu dürfen, weil sie selbst von Liquidation bedroht gewesen waren.
Schwerstes und riskantestes Unterfangen: Gnade für Kain, damit er nicht auf sein Kainsein reduziert wird. Und die Aufgabe der Nachkommen Abels ist, nicht die Rollen zu wechseln. Gleichzeitig ist dafür Sorge zu tragen, daß Kain nicht weitermacht.
Unbestechliche lebten und leben mitten unter uns, Menschen, die sich nicht zu Tätern machen lassen, durch nichts und niemand. Viele, die sich rächen könnten, vergessen nicht, was es hieß, ein Opfer zu sein. Sie sind die Hoffnung des Friedens. Wie schnell wird andererseits unter der Zunge, unter der Hand der Zorn dessen, der sich gerecht wähnt, zu Unrecht, zur Untat. Aus Vor-Wurf wird flugs der erste Stein. Wer von euch ohne Schuld ist, der werfe. Wie nah kommen sich alsbald individuelle Tragik, persönliche Rivalität und gesellschaftliches Verbrechen!
Wer Opfer wurde, ist deshalb nicht schon besser als der Täter - oft wurde er nur davor bewahrt, Täter zu werden, weil er nicht konnte.
Wir erleben es - und ich sage das sehr zögernd, ohne den Richtfinger - wie auch Moslems so werden können wie die Serben, die wie Kroaten von damals wurden. Wir lassen uns polarisieren. Wir sagen zu leicht: DIE Serben, DIE Kroaten, DIE Moslems. Wir teilen ein, verstärken die Fronten durch Einteilungen, die tödlich werden. Unsere Erschütterung und unsere Ohnmacht verleitet dazu, aus Mitgefühl Machtmittel einzusetzen, unsererseits dreinzuschlagen, damit endlich Friede wird. Die Vereinten Nationen finden nicht die Kraft, den Krieg auszutrocknen. Die friedlichen Mittel werden nicht ausgeschöpft. Die Waffenhändler sind unter uns. (Deutschland ist der drittgrößte Waffenexporteur.) Wenn uns die Mittel des Friedens zu teuer werden, werden wir an den Mitteln des Krieges zugrunde gehen. Was wir an zivilem Einsatz versäumt haben, werden wir nicht durch kriegerischen gutmachen können. Deshalb plädiere ich für ein Friedenskorps, einen internationalen Zivildienst. Gewalt muß wirklich ultima ultima ratio bleiben.
Was heute im Fernseh-Rückblick auf martialische Rituale der DDR nahezu operettenhaft-komisch erscheint, war angst-disziplinierende Realität, perfekt von verführten Überzeugungstätern inszeniert. Auch bei uns hätte im Herbst '89 ein Funke genügt, um destruktiven Selbstlauf von Haß und Gewalt auszulösen. Wir wurden verschont. Nach allem, was zu befürchten war, kam dies einem Wunder gleich. Was wir da erfahren durften, werteten wir auch als Ergebnis längerer »Graswurzelarbeit des Friedens«, in der bestimmte Haltungen Wurzeln geschlagen haben, die wir auf der vereinten deutschen Wiese nicht ausreißen (lassen) wollen. Erinnerung tut not und tut gut, wenn sie nicht verklärt, aber uns erklärt, was war, was mit uns war, was aus uns werden kann.
Wenn ich das auf eine Formel bringen wollte, könnte ich sagen, wir wollten lieber Jona als Kassandra sein, lieber belächelt werden, weil wir eine falsche böse Voraussage gemacht haben, eben weil die Leute gehört haben. Es ist furchtbar, als Kassandra Recht haben zu wollen.
Lieber Jona als Kassandra wollten wir sein und haben vieles gesagt und gewagt, getan und verweigert, erbeten und gefordert, erträumt und erprobt, was von den einfallslosen Realisten der Macht als utopisch belächelt, von blindwütigen Ideologen kriminalisiert, von den bestallten Verwaltern des Status quo als naiv abgetan wurde. Und wir waren naiv, utopisch, machten uns lächerlich, wurden lächerlich gemacht, wirkten subversiv, störend auch für die große Mehrheit eingeduckter Mitbürger. Wir hatten teil an Irrtümern, litten an Selbstüberschätzung und hausgemachtem Unfrieden. Wir aßen stets mit Judas. Wir verbissen uns in unsere Feinde. Wir lebten im täglichen, gegenseitig nadelstichigen Kleinkampf mit dem übermächtigen Apparat. Es waren kleine Minderheiten, die opponierten, mitten in einer stimmlos-stummen Mehrheit. Leicht zählbar waren die Gegner des Stendaler Atomkraftwerks oder die Umweltschützer gegen den Braunkohlenhöllenschlund von Espenhain, die Initiatoren der »persönlichen Friedensverträge« oder die Gruppen der europäischen Friedenswanderungen durch Mecklenburg. Wenige tausend Flanellaufnäher mit dem alten Prophetenwort und neuerem sowjetischen Denkmal auf Jacken genäht, gegenüber den hunderttausendfach gedruckten, geklebten, offiziellen Aufklebern »Frieden schaffen gegen Natowaffen«. Ein, zwei Dutzend beim Friedensfrühstück in Jena oder beim Friedensspaziergang in Wittenberg, doch schon tausend bei nächtlichen Hammerschlägen unter Luthers Wohnstube, vor einem Quellwasser, zehn Jahre zurück nun, bei friedlichem Gesang:
Ein jeder braucht sein Brot sein Wein
und Frieden ohne Furcht soll sein.
Pflugscharen schmelzt aus Gewehren und
Kanonen,
daß wir in Frieden beisammen wohnen.
(Dieter Trautwein)
Tränen der Anrührung, Traum der Erfüllung, List und Lust des Widerstands. (Herr Bundespräsident, Sie haben das in einer wunderbaren Weise nachvollziehen können, was wir damals wollten!) Dann wieder am Tag das kleine einzelne, aus selbstverantworteter Einsicht kommende NEIN gegen die vielen JA's organisierter Verlogenheit und verlogener Organisationen.
Je weniger Überzeugungskraft das System hatte, desto mehr proklamierte es Schutzbedürftigkeit. Die forcierte Militarisierung war die Antwort auf fortschreitenden Plausibilitätsverlust.
Gegen die fettgedruckte Propaganda in der Einheitspresse des SED-Blocks stand die kleine spielerische Zeile im Schaukasten: »Wir lieben unser Land. Grenzenlos.« Einfache Verse erfüllten unser Inneres, gaben Grundorientierung in schwierigen Entscheidungsfragen. Sie halfen, vereinfachenden Parolen nicht zu folgen. Die Poesie des Friedens hat uns begleitet, beschwingt, orientiert. So auch der epigrammatische Text des Jugoslawen Zvonko Plepelic:
Zeug das Kind
Pflanz den Baum
Bau das Haus
Zerbrich das Gewehr
Und
Sag es weiter
Tu! Das Tun geht voraus, das Weitersagen ist der zweite Schritt, aber beides hängt zusammen.
Herausgestrichene Zeilen aus den Frankfurter Vorlesungen der Christa Wolf offenbarten, wo die Achillesferse war: im Offenlegen der Absurditäten. »Wem soll man sagen, daß es die moderne Industriegesellschaft, Götze und Fetisch aller Regierungen, in ihrer absurden Ausprägung selber ist, die sich gegen ihre Erbauer, Nutzer und Verteidiger richtet: wer könnte das ändern. Der Wahnsinn geht mir nachts an die Kehle.«
Wenn der Friede die »Lebensbedingung des technischen Zeitalters« war, mußten wir uns fragen, ob es überhaupt noch ein Ziel geben könne, das den Einsatz der Vernichtungswaffen rechtfertigen dürfte und ob es dann überhaupt noch einen »gerechten Krieg« gäbe. Kritische Reflexionen auf frühere kirchliche Kriegssanktionierung führte uns zusammen mit Friedensbewegten anderer Grundanschauungen und Länder. Vor allem Schriftsteller wurden Verbündete, durchbrachen die mit Macht gehüteten Tabus, leiteten den Dialog der Vernunft ein. So Stephan Hermlin mit seiner »Begegnung zur Friedensförderung« im Dezember 1981. Der Weg führte uns in einem breiten konfessionsübergreifenden Diskussionsprozeß bis zum Abschluß der »Ökumenischen Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung« in Dresden (April 1989). Dort gelang es uns, die Binnenperspektive mit der Weltperspektive ebenso zu verbinden wie die Anforderungen an Selbstveränderung mit Aufgaben der Weltveränderung. Was damals angestoßen wurde, steht weithin aus und weiter an. Was bleibt? Diese zwölf Texte, fortgeschrieben nach erfolgter politischer Demokratisierung!
»The Day After« wurde bei uns der 10. Oktober 1989. Da fiel in der Angst-Nacht keine Bombe, da fiel kein Schuß - da begann ein bankrottes Gewaltsystem sich gewaltlos zu verabschieden. Weil in jener Nacht Gewalt ausblieb, war der Weg zur Demokratie frei. Dieser 9.Oktober 1989 ist ein Tag, den Ostdeutsche in die friedliche deutsche Demokratisierungsgeschichte eingebracht haben. Doch wurde er der gesamtdeutschen Vergeßlichkeit überantwortet, um dann alles - ob Fahne, Hymne und Verfassung, ob Parteienstaat, Rechtssystem und Wirtschaftsordnung - auf unsere vierzigjährig umgestülpte Ordnung zu übertragen. »Was sich bewährt hat, hat sich bewährt.« Dem Tag eines Rechtsakts von Regierungen, über den ich nicht unglücklich bin, nicht aber dem Geschichtstag couragierten Bürgersinns ließ man die Ehre des Nationalfeiertages angedeihen. In einer wunderbar kontrastierenden Korrespondenz zum gestrichenen 17.Juni 1953 steht der 9.Oktober 1989. Daß nichts bleibt, was wir waren?
Die Mauer fiel. Durch die deutsche Hauptstadt bleibt länger noch ein Riß. Wir Ostdeutschen haben nicht nur von unserem »Ährenkranz« gelassen; wir wurden und werden völlig gerupft. Viel war nicht da, zugegeben.
Der Bonner Republik fällt es schwer, sich von Bonn zu lösen, real und symbolisch. Die ost-westliche Schieflage würde zementiert, wenn der Schwerpunkt am Rhein bliebe. In Berlin müßten wir allerdings zeigen, daß wir unserer Geschichte nicht ausweichen und alte Gespenster in ihren Gräbern ruhen lassen, daß deutsche Kultur und Multi-Kultur sich befruchten können, daß die große Bundeshauptstadt etwas anderes ist und bleibt als eine Reichs-Hauptstadt. Und schließlich wird Berlin »Werkstatt der Einheit«, wenn sich Regierung, Parlamentarier und Beamte dazu entschließen, ein wenig von der Mühseligkeit des Alltags der (Ost-)Berliner auf sich zu nehmen. Der Abstand zwischen »den« Politikern und »dem« Volk wird in dem Maße geringer, wie erstere Anteil haben am Geschick derer, die verräterisch »Normalbürger« genannt werden. Berlin auf dem Wege zur »Hauptstadt der deutschen Einheit« setzte ein Signal, wenn es von Anfang an eine bescheidene Hauptstadt würde.
Aus Berlin kam der Verfassungsentwurf des Runden Tisches, dessen Grund-Sätze mit Mehrheit weggewischt wurden. Mit Verweis auf das - sicher bewährte, aber doch nicht festgeschriebene, sondern fortzuschreibende - Grundgesetz wurde dieses »Wende-Produkt« zur Verfassungslyrik erklärt. Auch das gehört zu den lang- und tiefwirkenden Kränkungen derer, die unverdrossen am »Haus der Demokratie« gebaut hatten und sich gern in ein vereintes »neues Deutschland« einbrächten. Wiederum überstimmt, ziehen sich viele, deren Stimmen wir brauchten, wieder zurück.
Nicht wenigen von uns ist immer noch schwer begreiflich, warum nichts bleiben konnte, was uns Ostdeutsche doch auch ausmachte neben allem Verkehrten und Verqueren. Warum wir nicht ein gemeinsames Drittes suchten - nicht den dritten Weg! -, sondern ausschließlich auf altbekanntes, westwärts Etabliertes zurückgriffen, bleibt uns unverständlich. Verpaßte Chance.
Hätte es uns beispielsweise für unser Selbstverständnis und unsere Selbstverständigung nicht gut angestanden, wenn wir im Tenor der Bescheidenheit unsere Hymne gesungen hätten! Ich höre es immer noch von der ersten Strophe auf die dritte herüberdröhnen, zumal dann, wenn Deutsche zuviel getrunken haben. Wie anders ist der Gestus eines toleranten Selbstverständnisses, einer die anderen respektierenden Vater-Mutter-Landsliebe in einfachsten Zeilen:
Und nicht über und nicht unter
andern Völkern wolln wir sein -
also weder Herren noch Knechte, sondern Freie, die ihr Land lieben, so wie die anderen Völker ihrs.
Da verschwistert sich die Liebe fürs Eigene mit der Toleranz fürs Andere, Fremde. Da wird jede neue, erschreckende Größe abgewiesen und jeder Grenzrevisionismus ausgeschlossen... »von der Oder bis zum Rhein«. Stolz aufs Eigene und selbstverständliches Geltenlassen des Fremden sind hier vereint. Darin bestünde Vereinigung! Alles für immer entschieden?
Wo wir inzwischen unsere Probleme beim Zusammenleben mit Fremden wegreden, kann ein Tabu, trotz bester Absicht, gären: Freundbilderwirken wie Feindbilder: verzerrend, konfliktverschärfend. Es muß aussprechbar sein, was uns an Fremden fremd ist, was uns stört und auch Angst macht, ohne gleich als »fremdenfeindlich« etikettiert zu werden. Es muß klärbar sein, was wir uns gegenseitig zumuten können, damit nicht das aufkommt, was wir verhindern wollen.
Öffentliche Worte werden Signale für Gewalt oder für Verständigung, für Abschottung oder Öffnung, für Hilfe oder für Vertreibung. Achten wir sehr genau auf unsere Sprache, prüfen wir uns und andere, was bei uns mitschwingt, - damit nicht indirekte Brandsätze zu direkten Brandsätzen ermuntern.
Dabei ist die Würde des Menschen, jedes Menschen unantastbar. Wo ein Haus mit Menschen angezündet wird, brennt auch unser Grundgesetz, verbrennt die Würde. Merkt Herr Biedermann nicht, was die Brandstifter uns antun? - Wo doch auch die anderen Öfen noch zu besichtigen sind!
Wo Probleme aber zum verkaufsträchtigen sensationslüsternen Skandalanlaß mißbraucht werden, wirkt das so abschreckend wie ansteckend. Glücklicherweise gibt es viele Jahre, ganz unspektakulär gelingend, das Mit- und Nebeneinander von Deutschen und Nichtdeutschen in unserem Land, auch im Osten! Normalität scheint nicht nachrichtenwürdig. Insofern verzerrt die notwendige Nachricht über (Gewalt-)Konflikte die eigentlich genauso berichtenswerte Normalität.
Bei unserer deutsch-nationalen Vorgeschichte nimmt es nicht wunder, daß wir zwischen Verharmlosung und Dramatisierung schwer das richtige Maß finden können. Wir Deutschen müßten uns indes eher vor Verharmlosung hüten. Gleichzeitig gilt es, unsere Toleranzkräfte zu mobilisieren, statt vorzeitig vor der Wiederkehr alter Muster zu resignieren. Wer die Lage heute mit der vor sechzig Jahren vergleicht, mag mit guten Gründen zu dem Schluß kommen, daß wir gelernt haben und keinesfalls dazu verdammt sind, unsere Schrecken zu wiederholen. Wer aber vorgestrige Muster variiert, kann auf keiner Ebene unser Repräsentant sein wollen.
Wir setzten wieder alles aufs Spiel, wenn wir dem Geist, der Logik und der Praxis der Abschottung nicht widerstehen. Die Öffnung zueinander schließt Respektierung unterschiedlicher Identitäten nicht aus, sondern gerade ein. Integration kann ohne Verwischung der Unterschiede und Interessenlagen gelingen. Gerade der Schutz der Fremden und der Minderheiten gehört zu den immer wieder gefährdeten menschlichen Kulturleistungen.
Unsere Sprache mit ihren vorurteilsgesättigten Redewendungen verrät uns nicht nur; sie wird der Nährboden für Ausgrenzung und Gewalt.
Wir im Osten spüren Langzeitwirkungen der Sprache der Verfeindung, die Spätfolgen der jahrzehntelangen Entwürdigung, der Diffamierung des Dialogs unter der Überschrift »es gibt keine ideologische Koexistenz«. Das hieß praktisch, daß es nur die eine von den Siegern der Geschichte für allmächtig erklärte Wahrheit gibt. Wer eine Rede des Chefs des Orwellschen Wahrheitsministeriums Erich Mielke hört, spürt psychisch, wie Sprache geradezu zum Maschinengewehr wird, weil sie bloß noch dazu gebraucht wird, überall »die Feinde« zu liquidieren. Wer vierzig Jahre in einem solchen System gelebt hat, mittuend oder erduldend eingebunden war, in dem hat sich viel Haß angesammelt und dem steht noch ein längerer Weg innerer Entfeindung bevor.
Nun haben auch wir Demokratie als eine jedermann angebotene Möglichkeit, für widerstreitende politische Richtungen und ökonomische Interessen so zu wirken, daß wir dabei nicht nur einander leben lassen, sondern jedem sein Recht zukommen lassen, das nur von den Rechten des anderen begrenzt ist.
Wer mehr will, will keine Demokratie. Wer an den Mühen der Demokratie vorzeitig resigniert, gibt Demokratie vorzeitig auf.
Was uns allerdings bisweilen aus Parlamenten vor leerem Saal, aber laufenden Kameras rübergebracht wird, scheint die zu Protokoll gegebene, gegenseitig vorgewiesene Fähigkeit zu sein, die Abschlachtsprache zu beherrschen, wobei beidseitig-gleichzeitig wortreich »Sachlichkeit« angemahnt wird.
Wir wollten im Herbst '89 eine liberale und soziale Demokratie. Bürger aus allen Berufen hatten sich plötzlich ohne jede Erfahrung ins politische Geschäft drängen lassen oder gedrängt. Sie alle haben wohlgemut eine Karre angepackt, die tief im Dreck steckte.
Aufs Äußerste haben sich viele gefordert und überforderten sich, waren bald dem Spott preisgegeben, auch von solchen, die klug beiseite blieben oder gar von denen, die die Karre dahin gefahren hatten. Wie viele haben sich inzwischen verschlissen oder sind verschlissen worden! Mancher merkte erst zu spät, daß er sich übernommen hatte. Doch wo bleiben die, die den Forderungen gewachsen wären? Ist nicht jeder zunächst unseres Respekts würdig, der zupackte, sich beherzt für das Gemeinwohl einsetzte, statt selbst-klug-gewandt und gewendet zuzusehen, wie unter DM-Bedingungen dem Eigen wohl am besten zu dienen wäre? Das inzwischen massenhaft-hämische Besserwissen der Nichtstuer, das kluge Kommentieren derer, die sich aus der praktischen Gestaltung unseres Gemeinwesens heraushalten, das mäklige Sichzurückziehen derer, die die richtige Lösung in der Tasche haben, doch in ihrer Tasche behalten, das wohlfeil gewordene - so berechtigte wie pauschale - Schimpfen auf »die Parteien«, ohne ihnen selber zu zeigen, wie man's anders und besser macht - das alles wird zur teilnahmslosen Totengräbergemeinde unserer Demokratie; sie lebt von denen, die sich in den Streit um die bessere Lösung begeben, sie stirbt an denen, die sie sich selbst und damit den Machtmenschen überlassen. Gewissermaßen als demokratieertüchtigenden Hausflurspruch wünschte ich uns allen das Jefferson-Wort: »Frage nicht nur, was dein Land für dich tut, sondern frage auch, was du für dein Land tun kannst.«
Obwohl wir in mancher Hinsicht inzwischen vereint sind, sind wir Ostdeutschen in einer etwas schwierigeren Demokratieübung, weil sich vertikales Denken - nach langer deutscher Tradition - nun noch in zwei Diktaturen nacheinander verfestigt hat. Da meint man, daß alles Gute wie alles Böse »von oben« kommen muß. Das führt stets zur Delegierung von Verantwortung nach oben und zeigt sich rückwärts in der Selbstrechtfertigung massenhaften Mitläufertums, das durchaus in mehr oder weniger beflissener Mittäterschaft bestand. Der Kampf um Demokratie muß der tägliche Kampf gegen den Spruch sein: »Man kann sowieso nichts machen«. Die Folge solcher Kleinmutsweisheit ist, daß man nichts macht. Mancher versucht einmal etwas, findet nicht genug Gehör, findet nicht genug Mitstreiter, findet im Streit nicht genügend Zustimmung und zieht sich alsbald wieder zurück und läßt »die da oben machen«, um weiter kritisieren zu können. So verwandelt sich dann politisches Denken in Stimmung. Manche Politiker meinen nun, daß es am besten sei, solchen Stimmungen oder anderem allgemeinen Volksempfinden nachzugehen und nachzugeben, statt sich nach den Ursachen zu fragen und jeder irrational-nationalen Entladung, noch dazu auf altbekannte Sündenböcke, zu widerstehen.
Die graue Trennungsmauer ist zerbröselt. Die Mauerbauer sind schmählich abgedankt und mählich abgestraft. Der antifaschistische Schutzwall ist mit der Einheit gefallen. Sollte nun die Neuordnung Europas mittels Einordnung unserer Geschichtsurteile allmählich wieder beginnen? Sollte ein in der ummauerten Provinz überwintertes nationales Volksempfinden gesamtdeutsch wieder salonfähig werden? Sollte aus den Tälern deutscher Ahnungslosigkeit eine abständige Vorgesternantwort die angemessene Reaktion auf drängende Übermorgenfragen sein? Wenn historischer Revisionismus einen politischen nach sich zöge, dann Gnade unserem Kontinent!
Mit Sorge und Respekt zugleich sehe ich die Abrieb- und Zerreibungsprozesse bei denen, die sich ins politische Geschäft begeben. Ich weiß um alte Probleme im neuen Gewand, auch um die Abgründe, die sich auftaten, nachdem der Aufbruch gelungen schien. Mich beunruhigt der Unfrieden in der Freiheit nach dem Zwangsfrieden in der Diktatur, auch die wütende Fremdentlastungs- wie die schale Selbstrechtfertigungspose.
Die alten Beschädigungen reichen tief, neue sind hinzugekommen. Den Demütigungen in der Diktatur folgten alsbald die Demütigungen in der Freiheit. Den Wettbewerbsbedingungen des Westens waren wir nicht gewachsen. Die rechtmäßigen Eigentumsregelungen brachten und bringen viel Bitternis. Der Aufbruch mündete für Hunderttausende in einen Abbruch. Es gab Auffang- und Aufbauprogramme. Aber der große Aufschwung blieb aus. Das Land wurde farbenfroher - und wurde so erst seines maroden Zustandes gewahr. Auch Erhaltbares wurde plattkonkurriert, ausgeschlachtet, scheinprivatisiert. Der Westen versuchte, dem Osten schnell zu zeigen, »wie man's macht« - da kam der »Wessi« auf, dem der »Ossi« sein Los vorjammerte, bis er ihn als »Besserwessi« erkannte und bald alle als solche brandmarkte. Da waren diese nun enttäuscht oder beleidigt, weil nicht mehr zwischen gerissenen Absahnern und unersetzlichen Fachleuten, einsatzbereiten Idealisten und mittelmäßigen Karrieristen unterschieden wurde. Da hatten wir unsere schöne Teilung wieder - mitten in der Einheit.
Wer wollte übersehen, wie sich das Gesicht der Menschen, ja unserer Städte und Dörfer erhellt hat, wie Ostdeutsche ihre Begabungen entdecken und entfalten können. Und wer wollte regierungsamtlich wieder gutreden, was schlechter läuft als es brauchte, weil viel Kompetenz und Potenz brachliegt. Wir haben da Erinnerungen, die überempfindlich machen bei jedwedem Partei-Bonzen-Macht-Gebaren und herzloser Ministerialbürokratie. Da kommt es zu schnellen, zu zu schnellen Gleichsetzungen.
Unser Denken und Empfinden, unsere Vorstellungen und unsere Sprache, - nicht nur das der einst »überzeugten DDR-Bürger«! - wurden anders geprägt, viel nachhaltiger, als wir das 1989 beim plötzlichen Befreiungsschlag und 1990 beim hastigen Vereinigungsakt dachten. Das offizielle gesellschaftliche Klima der DDR war verkrampfend, schuf die Friedhofsruhe struktureller Gewalt und verlogener massenhafter Zustimmungsrituale, versuchte Menschen ihrer Individualität zu berauben und ihr Denken in eine geschlossene Ideologie mit bipolarem Denken einzupferchen. Mundtot gemacht, ihrer Würde beraubt, zu Kriechern degradiert, zu Jasagern dressiert, zu einem »wissenschaftlichen« Glauben verführt, zu Schweigern erzogen, haben sich dieselben Menschen schließlich selbst aufgemacht, sind aufgestanden, haben Mut zu sich gefaßt und den Mut, etwas - sich! - zu riskieren. Solch endlich aufgeweckter Bürgersinn, der Gewalt widerstehend, bleibt nötig, darf nicht erlöschen, zumal zu häufig die tapferen Schweiger von gestern neue Schweigegebote vorauseilend einhalten, so behende buckeln wie treten, Mitläufer und Mittelmäßige sich geschickt in den Wind drehen, neue Parolen eifrig lernen, das institutionelle Ebenendenken peinlich einhalten, Privilegien mit bestem demokratischem Gewissen genießen und bürokratisches Machtgebaren in rechtsstaatlicher Diffizilität erst richtig ausleben und auf diese Weise die endlich errungene Demokratie beschädigen.
Paßt auf, liebe Mitbürger!
Der Selbstfindungs- und Neuorientierungsprozeß wird langwieriger sein und wird uns noch viele innere Differenzen offenbaren. Gegenseitiges Mißverstehen wird noch länger schmerzen. Da ist es schon wunderbar, daß schon so viel glückt, daß schon so viel Durchmischung gelingt, daß so viel innerstes Mitverstehen bei allem Abstand gewachsen ist, daß so viel echte Hilfe kommt, verfallene Städte wieder erblühen, und gleichzeitig muß ich fragen, wer das bezahlen kann, wer dort wird wohnen können. Die Schere darf nicht zu groß werden.
Was uns vielfach als Larmoyanz- und Nostalgievorwurf begegnet, ist mir nüchterne Einsicht geworden: Noch immer leben wir Ostdeutschen stark mit und in der Vergangenheit, zehren bisweilen von diesen gewiß schwierigen Jahrzehnten - mit ihren mühsam gewonnenen Erkenntnissen, ihren verlorenen Hoffnungen (genau in einem Moment, in dem soviel Anfang war!). Aus den schnell aufeinanderfolgenden emotionalen Wechselbädern resultieren manche unserer Empfindlichkeiten. »Wir sollten doch endlich umlernen«, sagen uns häufig Westdeutsche, die selber nichts dazulernen zu müssen meinen. Das ergibt Ver-Stimmung und unnötigen Trotz.
Der Selbstbetrug - ich werfe das niemand anderem vor, das muß jeder sich fragen - über Länge und Schwere des Weges zueinander mündet vielfach in das altbekannt-deutsche Gemisch aus Selbstmitleid und Selbstüberhebung.
Dabei lassen sich die Vereinigungshürden nehmen, wenn man die Latte ostwärts nicht gleich so hoch legt und wenn man sie westwärts etwas niedriger zu legen bereit ist - das ist für beide Teile schwer -, oder gar die gesamte Bemessung ändert, lebensverträglicher justiert, für uns und die nächsten Generationen: sozialverträglicher, naturverträglicher, friedensverträglicher.
Und verspielen wir das Geschenk der Vereinigung nicht im Gezänk nach rückwärts! Auch wenn wir Deutschen in den vierzig Teilungsjahren - mit Bedacht oder mit Berechnung - sehr unterschiedliche Wege für richtig hielten, ist es nach der äußeren Vereinigung entscheidend, unsere gegenseitigen Verflechtungen und Verfehlungen im damaligen Kontext wahrzunehmen, ohne Verantwortlichkeiten zu verwischen. Die nun gemeinsam zu bewältigenden Aufgaben sind beherzt anzupacken. Dabei ist keiner prinzipiell auszuschließen, der mit seiner Begabung die vereinigte demokratische deutsche Republik mitgestalten will.
Nachdem wir der befürchteten Härte von Gewalt und Gegengewalt im gnädig-milden Herbst und Winter der Jahre 89/90 entronnen sind, geht es nun darum, auch unsere Gefühle allmählich zu enthärten, besonders wenn wir zurücksehen auf vermauerte Jahre und auf die sehen, die mit gefühlloser Härte gegen uns vorgingen.
Wer sich jahrelang der Mühe der Entfeindung unterzogen hat, indem er dem Gegner nicht alles Böse unterstellte und sich selbst nicht alles Gute zurechnete, der steht vor der nicht leichten Aufgabe, diese Mühe zu vollenden durch den Verzicht, den Sieg über den damaligen Gegner auszukosten. Man sollte den, der am Boden liegt, nicht noch treten, sondern ihm aufhelfen, ihm seine Würde zurückgeben, ihn nicht auf sein Unterlegensein reduzieren. Das Risiko ist nicht gering, daß Skrupellose Großherzigkeit schamlos ausnutzen. Trotzdem! Um der vielen anderen willen ist dieses Risiko gerechtfertigt.
Nach einem friedlichen Umbruch wird man inneren Frieden am besten erreichen, wenn man sich auch in die Lage der Unterlegenen hineinversetzt:
Wer von den Fesseln ideologischer Verblendung befreit wurde und gleichzeitig von dem lassen mußte, was ihm geradezu als unumstößlich galt, von der Macht seiner Wahrheit und der Wahrheit seiner Macht nämlich, der vermag nicht sofort klar zu sehen, sich frei zu bewegen, seine Sprache mitsamt seinem Gebaren zu entrümpeln. Wir anderen aber sollten wissen: Auch Antiideologie ist Ideologie, die verblendet. Zudem frage ich uns: Muten wir uns denn zu, klar zu sehen? Immer noch wohlstandsbetört, verschließen wir die Augen vor Bevölkerungsexplosionen und heraufziehendem Weltelend, vor den Folgen des Welthandeldiktates der Reichen, vor politischen Einbrüchen, technischen und ökologischen Katastrophen. Die Folgen unserer Freiheit sind längst zu Ursachen unserer Un-Freiheit geworden. Unsere Macht wird zur Ursache selbstzerstörerischer Ohnmacht. Gewonnene Freiheit wird unversehens zur Fiktion, wo sie nicht mehr von einer Vision gefüllt wird, aus der selbstverantwortetes Handeln folgt und längeren Atem gewinnt. Wir kommen unter die Fuchtel von Gralshütern der Realität, die uns die Schwingen jeglicher Utopie zu kappen suchen.
Der Sozialismus hat der Menschheit unter vielen Opfern und jäh enttäuschten Hoffnungen doch einen nicht zu unterschätzenden Dienst erwiesen: Er hat gezeigt, was nicht geht. Nun ist es an uns, zu zeigen, was geht, nicht zu zeigen, daß nichts geht. Darum kann es jetzt nicht um die Diffamierung jeder Utopie gehen, sondern um eine verantwortungsgeläuterte Utopie, die uns einen Weg weist, ohne falsche Versprechungen zu machen, uns aber mit einer orientierenden Perspektive leben läßt.
Zwei Probleme werden unseren Frieden unmittelbar tangieren: die gerechte Verteilung der Arbeit und die Suche nach einem gerechten Frieden.
Arbeit als anerkanntes Teilhabenkönnen am gesellschaftlichen Lebensprozeß ist wesentlicher Teil inneren Friedens. Das ist, glaube ich, noch nicht genügend Allgemeingut. Es geht um mehr als um finanziellen Ausgleich im Sozialstaat. Arbeit ist auch eine Art, uns zu entfalten, aber auch uns selber »in Schach« zu halten, destruktive Antriebe in konstruktive Anstrengung zu lenken. Arbeit als eine gemeinsame sinnerfüllte, wenngleich anstrengende Tätigkeit hilft uns, menschlicher zu werden, wenn sie sich menschliche Ziele setzt.
Durch unsere Gesellschaft geht ein Riß, der trotz unseres noch so großen Wohlstands die gesellschaftlichen Beziehungen belastet. Hunderttausende fühlen sich nicht mehr gefragt, vereinsamen, bekommen Selbstwertprobleme, verkriechen sich, bauen sich Schuldige auf, werden schließlich für Feindbild- und Sündenbockparolen empfänglich. Arbeitslose werden allmählich zu Erwartungslosen. Doch untätiges Klagen hilft nichts. Innovation, Bereitschaft zum Umlernen braucht unsere hochmobile Gesellschaft.
Indes hatte der Planungs- und Versorgungsstaat viele Menschen zur Initiativlosigkeit erzogen und hinterläßt viele mit einer gewissen strukturellen Hilflosigkeit. Nun ist Initiative, Selbstbewußtsein und Durchsetzungsfähigkeit zusammen mit Kompetenz und Wendigkeit gefragt. Viele haben sich dem erfolgreich gestellt, aber zu viele sind durchs Netz gefallen.
Arbeit zu teilen wird zu einem humanen Gebot, es sei denn, wir ordnen den Menschen ganz und gar Effizienzkriterien unter. Solches Arbeit-Teilen wird nicht bei vollem Lohnausgleich möglich sein. Lassen sich die extremen Einkommensdifferenzen nicht vermindern? Eine Gesellschaft, die sich tendenziell in Arme und Reiche spaltet, wird für sich selbst gefährlich. Der notwendige Sparkurs darf nicht zuerst und zumeist die Ärmeren und Schwächeren treffen. Eine Konkurrenzgesellschaft ohne ein entwickeltes Solidaritätsgefühl, ein Sozialstaat, der Absahnern nicht beizukommen vermag, führt zur Verhärtung der menschlichen Beziehungen.
Die hunderttausendfach aus dem Arbeitsprozeß herauskatapultierten (Ost-)Deutschen fühlen sich unversehens aus dem Lebensprozeß herauskatapultiert, verbittern, verbiestern sich. Wer vorzeitig rausgesetzt ist, hat es nach aller Erfahrung schwer, sich noch irgendwo einzusetzen. Er wird anfällig für Parolen vereinfachender Schuldzuweisung und gehört zum Potential politisch Unberechenbarer, die inneren Frieden und die demokratische Freiheit latent gefährden.
Durch Arbeit am Lebensprozeß teilhaben zu können, gehört offenbar zur Würde des Menschen. Wo Menschen an wirtschaftlichen Entscheidungen, die sie selbst und eine ganze Region existentiell betreffen, nicht nur nicht beteiligt werden, sondern auch im verborgenen bleibt, warum hier über sie entschieden wurde, fühlen sie sich nurmehr als Manövriermasse von Kapitalinteressen und als Objekte von Sozialpolitik. Wir haben politische Demokratisierung erreicht; die ökonomische steht aus, wo Transparenz und Rechenschaft unterbleiben. Wer verhindern will, daß Hunderttausende Mitbürger entweder in Lethargie und DDR-Nostalgie zurückfallen oder enttäuscht in den Rechtsradikalismus abdriften, muß mehr Teilungs-Gerechtigkeit herstellen.
Perspektivlos gewordene Menschen verlieren ihre Selbstachtung. Aus Depression wird weckbare und lenkbare Aggression. Das »Lied vom Teilen« besteht für sie nur noch aus Dissonanzen.
Sollten wir es nicht schaffen, unsere Arbeit so zu teilen, daß die einen sich nicht weiter kaputtschuften, während die anderen daran zerbrechen, daß sie keine Arbeit mehr finden? Das geht freilich nicht ohne Opfer, die der »kleine Mann« sicher leichter zu bringen bereit wäre, wenn »die Großen« damit anfingen.
Alle politischen Streitbegriffe, in denen mit dem Wort »Solidarität« hantiert wird, wecken Mißtrauen und Widerstand, wenn sie zuvörderst Sozialabbau bedeuten. Andererseits fragen sich die vielen Arbeitslosen zunehmend, warum sich die Gewerkschaften vornehmlich der Arbeitenden annehmen und so wenig Mut bei der Suche nach mehr und anderem als Lohnzuwächsen haben.
Sozialer Friede ist ein Eckpfeiler des inneren Friedens, und innerer Friede sprach allemal und spricht auch künftig für den »Wirtschaftsstandort Deutschland«.
Innere Probleme aber - das zeigt unsere Geschichte - lassen sich nicht mit Aktionen nach außerhalb, gar mit militärischen, verdrängen. Predigten einst meine pastoralen Vorgänger Identität aus einem gemeinsamen Feldzug gegen den »Erz-Feind«, so schienen pickelhäubige Schnauzbart-Herrlichkeiten nach Verdun zu verstummen. Nach Bergen-Belsen und Auschwitz, Dresden und Hiroshima dachte man, das NIE WIEDER gelte generationenübergreifend.
Zieht nun in neue Kriege nicht, ihr Armen
Als ob die alten nicht gelanget hätten:
Ich bitt euch, habet mit euch selbst Erbarmen!
Diese Zeilen, Bert Brechts Zeilen, will ich »an meine Landsleute« in Belet-Huen und Bonn richten. Was als UNO-Hilfsaktion gemeint war, ist längst zu einer hilflosen Intervention geraten - und Blauhelmsoldaten werden im Gewaltkonflikt Soldaten, Unschuldige bei Präventiv- oder Vergeltungsschlägen ihre Opfer, Wohn- und Krankenhäuser wurden zerstört. So ziehen sie Feindschaft von denen auf sich, als deren Helfer sie kamen. Schreckliche Bilder von gelynchten UNO- oder US-Soldaten mußten wir fern-sehen.
Es geht nicht um feiges Heraushalten, sondern um einen anderen Weg des »Eingreifens«. Statt mobiler Eingreiftruppen, die unter Führung der nationenbestimmenden Großmacht in den diversen Krisenherden der Welt meinen, Frieden mit modernsten Waffen schaffen zu müssen, plädiere ich für INTERNATIONALE FRIEDENSKORPS, die menschliche und fachliche Kooperation in den Konfliktgebieten suchen und einen auf Gerechtigkeit beruhenden Frieden aufbauen helfen. Das kostet viel Einsatz, viel Geld, viel Phantasie, aber gewiß viel weniger Menschenleben.
Wer helfen will, braucht mehr als Geländekenntnisse: Menschenkenntnis, Kenntnis der Kultur und Tradition der Krisengebiete, braucht kooperative und gewaltvermeidende Strategien, konzeptionelle Arbeit an der Ursachenbeseitigung.
- Einen unmittelbaren humanitären Sinn mit politischem und wirtschaftlichem Gewinn in den (bürger-)kriegsgebeutelten Ländern würde z.B. die Aufstellung von Minenräumbrigaden machen. Sogar alte NVA-Minenräumfahrzeuge könnten sofort tätig werden. (Sie haben sich bereits an der verminten deutschen Grenze bewährt.) Wenn Deutsche in besonders minenbelasteten Ländern diesen millionenfachen Schrecken mindern helfen, können sie eine ganz eigene Tapferkeit zeigen, und brauchen sich nicht den Vorwurf eines »feigen Heraushaltens« machen lassen.
- Statt nun die Lehre vom »gerechten Krieg« fortzuschreiben (dieser diffizilen, stets mißbrauchbaren Legitimierung einer Gewalt, die sich Unrechtsgewalt rechtmäßig in den Weg stellen will, aber selber in die Gewalt- und Unrechtsspirale hineingerät), brauchen wir eine außerordentliche Anstrengung, um eine internationale Lehre und Praxis des »gerechten Friedens« zu entwickeln. Ist es inzwischen nicht für jedermann offensichtlich, daß es Frieden nicht ohne Gerechtigkeit gibt und daß Ungerechtigkeit eine der Hauptursachen von Krieg ist?
Im übrigen plädiere ich für die Einführung eines SOZIALEN JAHRES für alle, um zivile Tapferkeit an den Bruch- und Notstellen unserer Gesellschaft zu üben.
Ziviler Dienst muß schrittweise der Normalfall werden. So viele müssen umlernen - warum nicht das Militär, um sich für zivilen Einsatz in Friedenskorps vorzubereiten? Dafür hatten wir uns in der DDR schon ausgesprochen. Die Aufnäher waren nur das äußere Zeichen dafür.
Eine enge Kooperation der Staaten mit den zivilen Hilfsorganisationen an den Brennpunkten von Nöten und Konflikten muß in eine Friedenspolitik einmünden, die mehr ist als Interessenpolitik und die die militärische ultima ratio durch die zivile prima ratio ersetzt.
Auch ziviler Friedensdienst ist riskant und braucht gewiß keinen geringeren Mut als »friedenerzwingende Maßnahmen« durch Kampfeinsätze.
Wir geteilten Deutschen wurden nach 1945 durch unsere »Schutzmächte« davor bewahrt, einem neuen Stärkekult zu verfallen, wenngleich bestimmte deutsche Traditionen samt altem Personal reaktiviert wurden, waren wir musterschulartig den Schutzmächten des Kalten Krieges angepaßt. (Besonders makaber wirkten die Zeremonien der »roten Preußen«.) Das geeinte Deutschland täte gut daran, allen Anfängen neuen Stärkekults zu wehren und nicht wieder kriegerische Ritterlichkeit, sondern konsequente zivile Tapferkeit zu suchen.
Ich möchte für ein Deutschland einstehen, das sich mit ziviler Courage nach innen eine lebendige Demokratie erhält und für ein Land, das mit zivilem Engagement seine wirtschaftliche Kraft für einen gerechten Frieden einsetzt.
Wenn Schwerter Pflugscharen werden sollen, dann meint das, daß Frieden Brot bringt.
Die prophetische Konversionsvision (Jes.2,2-5), die den Gedanken wie den Werkzeugen des Friedens gleichermaßen gilt, bleibt aktuell, bis unsere umgeschmiedeten Schwerter in der (ver-)hungernden Welt für Brot sorgen, bis wir nicht mehr lernen, wie man Kriege führt, sondern wie man Frieden erhält und wir alle - statt unsere eigensinnigen Ziele zu verfolgen - auf ein gemeinsames Ziel zugehen: die Völkerversammlung im SCHALOM.
Diese große Perspektive hat - zumal in unserer Durchsetzungs-, Distanz- und Anspruchskultur - sehr persönliche Entsprechungen. Unsere Haltungen prägen unsere Handlungen. Eine Differenz bleibt, wo Haltungen ethischen Maximen folgen, die sich nicht in bloßen Interessen erschöpfen. Aber sollten wir wegen dieser Differenz darauf verzichten?
Wo aus Übermut Sanftmut und aus Wankel-Mut ein Wandel-Mut wird, wo aus Eigen-Sinn Gemein-Sinn, aus Leid Mit-Leid, aus Hartherzigkeit Barmherzigkeit, aus Vergeltung Vergebung, aus Sorge Fürsorge, aus Vorherrschaft Partnerschaft und aus dem Geschöpf das Mitgeschöpf wird - da erst wird aus dem Menschen ein Mitmensch, das »Tier, das Zivilcourage hat« (Hilde Domin). Da wird aus unproduktiver Zerstrittenheit eine produktive Einheit. Der umgekehrte Weg mag noch so wahrscheinlich sein; Wahrscheinlichkeit ist kein ethisches Argument, sondern statistische Resignation.
Hoffnung kann sich gegen Erfahrung stellen, wo sie Bedrängnis aushält, sich in Geduld bewährt. Schließlich ist alles »Vertrauen gegen den Augenschein«, abgrund-tief, himmelhoch. Wir sind »dem bösen Ende näher« (Hans Jonas) und immer wieder am Anfang.
Es kommt schon einem Wunder gleich, wenn jahrzehntelang auf den Tod Verfeindete einen Schritt aufeinander zugehen, den niemand mehr erwarten mochte. Der Mut des Friedens ist nach allen Blutbädern weit größer als der Mut, wieder einen Krieg zu führen.
Vor den Augen aller Welt haben zwei Männer etwas gewagt. Sie taten, was keiner mehr für möglich hielt. Beide tun etwas Kühnes, gegenüber dem einstigen Todfeind, aber auch gegenüber ihren eigenen Lands- und Gefolgsleuten. Sie wissen ganz genau um den Doppelsinn dieses »den-Frieden-riskieren«. Frieden zwischen Todfeinden zu machen, ist etwas Wag-halsiges; es wagt den eigenen Hals. Es ist möglich, daß sie bald der Häme derer ausgesetzt sind, die immer schon vorher wissen, daß das alles nicht gehen kann, daß der sich ein blaues Auge holen wird, der so blauäugig ist.
Ich meine, sie verdienen unseren tiefen Respekt, bedürfen unserer Hilfe und ermuntern zur Nachahmung in anderen todbringenden Konfliktzonen.
Für Amos Oz muß dieser endlich erreichte Kompromiß etwas Beglückendes haben. Vor einem Jahr sagte er an dieser Stelle: »Ich arbeite für einen kläglichen, nüchternen, unvollkommenen Kompromiß zwischen einzelnen Menschen und Gemeinschaften, die immer getrennt und unterschiedlich sein werden, die aber gleichwohl fähig sind, ein unvollkommenes Miteinander herbeizuführen... Frieden ist nicht mehr und nicht weniger als ein gerechter und vernünftiger Kompromiß unter Gegnern.«
Wo über uns nicht mehr der Himmel von Bethlehem aufginge, aus dem der Engelsgesang des Friedens für die Erde kommt, bliebe uns nur Sorge. (Und Beth-Lehem, Haus des Brotes, liegt im Westjordanland!)
Bitten wir, hoffen wir, helfen wir, daß gelingt, was so mutig begonnen wurde. Ein grünes Signal für eine todbedrohte Welt, beruhend auf der Erkenntnis, daß »die beste Verteidigung der Abschluß eines gerechten Friedens« ist (Shimon Peres).
Was wird aus unserer Erde?
Hungernde frieren. Bomben fallen. Die Natur seufzt.
Die Saat wächst. Das Wort schlichtet. Die Hand ist ausgestreckt.
Einen Augen-Blick scheint alles gut, und alles bittet um die Gnade des Friedens, allen zugute. Haben wir ein Ohr zu hören?
Könnten wir doch hören,
heißt es in Psalm 85,
daß Gott Frieden zusagt,
damit wir nicht in Torheit geraten,
daß Güte und Treue einander begegnen,
Gerechtigkeit und Friede sich küssen,
und unser Land seine Frucht gebe.
und unserer Erde Nahrung gebe, allen, allen. Könnten wir doch hören! Wir können.
* Rosa Parks, die 1955 als farbige Näherin im Bus nicht mehr für einen Weißen aufstand, aber auch die andere Rosa.
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Friedrich Schorlemmer
Dankesrede des Preisträgers
Chronik des Jahres 1993
+++ Drei Wochen vor der Vereidigung des neuen US-Präsidenten Bill Clinton unterzeichnen der russische Präsident Jelzin und US-Präsident Bush am 3. Januar 1993 das Start-II-Abkommen. +++ Im März gibt die russische Regierung bekannt, dass die frühere Sowjetunion zwischen 1964 und 1991 rund 4900 Atomcontainer und 16 Atom-U-Boote im Nordmeer versenkt hat. +++ Bei einem Bombenanschlag am 26. Februar auf das World Trade Center in New York finden sechs Menschen den Tod. Vermutliche Drahtzieher des Attentats sind islamische Fundamentalisten. +++
Ende März unterzeichnen der bosnische Präsident Izetbegoviæ und der Kroatenführer Boban den Friedensplan der UNO. Der bosnische Serbenführer Karadzic verweigert seine Zustimmung. +++ Im April beginnen die AWACS-Flugzeuge der NATO mit der Überwachung des bosnischen Luftraums. An den Aufklärungsflügen beteiligen sich auch 162 Angehörige der Bundeswehr. Es ist der erste Kampfeinsatz deutscher Soldaten seit Ende des Zweiten Weltkriegs. +++ Bei einer Verhaftungsaktion des Bundesgrenzschutzes werden am 27. Juni auf dem Bahnhof der mecklenburgischen Kleinstadt Bad Kleinen das mutmaßliche RAF-Mitglied Wolfgang Grams und ein Beamter der Bundesgrenzschutztruppe GSG 9 erschossen. Die ungeklärten Umstände des umstrittenen Einsatzes lösen eine politische Krise aus. +++ Am 18. November einigt sich eine Konferenz mit Vertretern von 21 Gruppierungen in Kapstadt auf eine neue Verfassung, die allen Bürgern Südafrikas, ungeachtet ihrer Hautfarbe, die gleichen Rechte einräumt. Vier Wochen später werden Nelson Mandela und Willem de Klerk mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. +++
Biographie Friedrich Schorlemmer
Friedrich Schorlemmer, geboren am 16. Mai 1944 in Wittenberge als Sohn eines Pfarrers, verweigert als bekennender Pazifist den Wehrdienst und studiert nach dem Abitur an einer Volkshochschule Theologie. 1968 wird er Vikar in Halle und 1970 als Pfarrer ordiniert. Nach seiner Tätigkeit als Studentenpfarrer in Merseburg wird er 1978 Dozent am Evangelischen Predigerseminar sowie Pfarrer in Wittenberg.
Seit den 80er Jahren wird Schorlemmer von der Staatssicherheit der DDR observiert. 1983 lässt er mit seiner Friedensgruppe ein Schwert zu einer Pflugschar umschmieden. 1988 legt er auf dem Evangelischen Kirchentag in Halle die regimekritischen »20 Wittenberger Thesen« vor. Im September 1989 tritt die von ihm mitbegründete Bürgerbewegung »Demokratischer Aufbruch« an die Öffentlichkeit, die zusammen mit dem »Neuen Forum« die Basis für die friedliche Revolution 1989 in der DDR legt.
Als Befürworter eines demokratischen, ökologisch verantwortlichen Sozialismus verlässt Schorlemmer 1990 die nach rechts driftende Bürgerbewegung und schließt sich der DDR-SPD an. Nach der Wiedervereinigung mischt er sich engagiert in die politische Diskussion ein und versucht mitzuhelfen, dass Ost- und Westdeutschland auch innerlich zusammenwachsen.
Bis zu seinem Tod am 9. September 2024 lebt Friedrich Schorlemmer in Wittenberg.
Auszeichnungen
2015 Ehrenbürger der Lutherstadt Wittenberg
2014 Verdienstorden des Landes Sachsen-Anhalt
2014 Goldene Medaille der Humboldt-Gesellschaft
2009 Bundesverdienstkreuz 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland
1993 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
1989 Carl-von-Ossietzky-Medaille der Internationalen Liga für Menschenrechte
Bibliographie
Luther. Leben und Wirkung
Aufbau Verlag, Berlin 2017, ISBN 978-3-7466-3281-0, Broschur, 380 Seiten Aufbau Taschenbuch, 12.99 EUR
Klar sehen und doch hoffen. Mein politisches Leben
Aufbau Verlag, Berlin 2012, ISBN 9783351027506, Gebunden, 523 Seiten, 22.99 EUR
In der Freiheit bestehen. Ansprachen
Aufbau Verlag, Berlin 2004, Broschur, 271 Seiten, ISBN 978-3-7466-7045-4, 7.50 EUR