Karl Dedecius
Das Buch als Wille und Vorstellung
Dankesrede
Sehr verehrter Herr Bundespräsident, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Freunde und Förderer des Buches - ich danke Ihnen für die mir erwiesene außergewöhnliche Ehre Ihrer Wahl, Ihrer Auszeichnung, Ihrer Anwesenheit. –
Heinrich Olschowsky von der Humboldt-Universität zu Berlin bin ich dankbar verbunden, daß er meiner Liebhaberei so viel Zeit und Mühe geopfert hat, um sie hier ebenso kenntnisreich wie freundschaftlich zu besprechen.
Das, womit wir uns beide, voneinander unabhängig, er in Ost und ich in West, befassen, die Sprache und die Kultur der Slawen für unser Bewußtsein zu erschließen und nutzbar zu machen, ist zu keinem Zeitpunkt durch Mauern oder Vorhänge getrennt gewesen. Es wurde höchstens da und dort unsachgemäß behindert. - Nun dürfen wir uns an einem Sammelplatz gemeinsamer Geschichte frei begegnen und artikulieren. Das macht uns glücklich,
Heinrich Olschowsky kommt von einer Universität, die heute den Namen Wilhelm Humboldts trägt. Humboldt wollte, erinnern wir uns, geleitet von den Ideen des Liberalismus, die Universitäten und die Gvmnasien reformieren, und zwar im Geiste des Neuhumanismus. Dabei legte er besonderen Nachdruck auf das Studium der Sprachen. Der Mensch schaffe sich seine Realität hauptsächlich durch Sprache, durch ihre Kenntnis.
Es war Ironie des Schicksals, daß die neuen Machthaber in Ost-Berlin »ihrer« Universität ausgerechnet den Namen Humboldt gaben, wobei sie sich des eigentlichen Symbolgehalts dieses Namens wohl gar nicht recht bewußt waren. Humboldts Prinzipien und Stalins Ziele und Methoden können, beim besten Willen, nicht in Einklang gebracht werden. Humboldt hätte sich über solche sprachlichen Neubildungen wie »Volksdemokratie« sehr gewundert; als ob »Demokratie« nicht allein schon »Volks-Herrschaft« bedeutete und die Verstärkung »Volks-Volksherrschaft« den Begriff nicht ins Unklare, Unwahre und Lächerliche verzerrte.
So ist das, würde Humboldt bedauern, mit dem gedankenlosen Gebrauch der Sprache und mit dessen Folgen in unserer Kultur. Kultur? Diese genügt uns als Wort und Begriff an Rhein und Main schon lange nicht mehr. Wir machen aus ihr die Kultur-Szene (Musik-Szene, Literatur-Szene), werfen diesen ganzen Kultur-Brei noch mit der Pop- und Rock-Szene, mit der Terroristen- und Drogenszene in einen Topf, als ob alles, was Kultur (oder Unkultur) den arg strapazierten Sinnen heute zu bieten oder zuzumuten hätte, nur noch Szene, Spektakel, Schaustellerei, Mummenschanz und Kulissenzauber wäre. Und die Kultur selbst? Sie verkümmert dabei zum Streitobjekt und zum Hort permanenten Unfriedens.
Hier der Original-Ton neueren Datums aus der Tagespresse gehobenen Anspruchs: »Kultusminister X. kämpft einen verbissenen Mehrfrontenkampf.« Zitat Ende. Der Begriff »Schulkampf« begleitet unsere Kinder auf ihrem steinigen Schulweg tagtäglich. Von Bildungssystemen spricht man wie von Artilleriefeuer oder von Waldbränden - sie seien »flächendeckend«. Und die Lehrer-Gewerkschaft stellt aggressiv fest, ich zitiere: »Es gibt nur eines, was wir nicht brauchen können: Ruhe an der Schulfront.«
In welchen Zeiten und wo leben wir denn eigentlich? Wir bauen in Europa die Waffenarsenale ab, demontieren Mauern und Stacheldrahtverhaue, verringern die Truppenstärken, aber unser täglicher Wortschatz strotzt nach wie vor von Relikten des Frontkämpferjargons.
Friede ist keine bloße Idee der Religionsstifter, der Philosophie oder der Staatskunst. Friede ist, wie das tägliche Waschen der Hände und des Gesichts, ein Akt der persönlichen, ein Gebot der allgemeinen und permanenten Hygiene in unserem Alltag.
Hier ist das Buch gefordert.
Ich erinnere mich an das nützliche »Wörterbuch des Unmenschen«, das nach dem Kriege beherzte und sprachempfindliche Kulturpolitiker - Sternberger, Süskind, Storz - veröffentlicht haben. Sie haben sprachliche Gewalttaten des »Tausendjährigen Reiches« an den Pranger gestellt und der Lächerlichkeit preisgegeben.
Wie nützlich wäre heute ein positives Gegenstück, ein »Wörterbuch des Friedens«, ein Wortschatz des unkriegerischen Umgangs miteinander - gegen die Vielzahl der verbalen Feindseligkeiten, die immer noch unsere Bücher und unsere Reden verderben. Nach Beispielen, die zu befrieden wären, müßten die Autoren eines solchen Lexikons nicht weit suchen.
Unlängst hörte ich in den »Tagesthemen« Spitzendiplomaten zweier für das Schicksal Europas höchst zuständiger Staaten über die Zukunft und den Frieden sprechen. Der eine sagte zu dem anderen, er habe selbstverständlich »die Abrüstung im Visier«. Nicht im Auge, nicht im Sinn - im Visier. Ist das nun tröstlich oder bedenklich?
Kürzlich las ich im Anhang zur Werkausgabe eines deutschen Klassikers, erschienen in einem erstklassigen Verlag (auf Seite 1009 des fünften Bandes der dritten Abteilung), das Dankeswort des Herausgebers an seine Mitarbeiter. Der Germanist bedankte sich bei seinen Assistenten für die - ich zitiere - »Schützenhilfe«. Als stünde einem Germanisten heute kein anderes Wort des Dankes zur Verfügung; und das in der Edition eines mustergültig friedfertigen Autors und Werks.
Ein Wörterbuch des Friedens wäre ein Nachschlagewerk, das ich mir sofort kaufen würde. Denn ich brauche es dringend. Ich bin nämlich davon überzeugt, daß Wörter Folgen haben. Im Anfang war das Wort. Aber am Ende waren die Konsequenzen. Weil der Bibelübersetzer, der Ur-Übersetzer Hieronymus das wußte, mahnte er sich selbst und die anderen beständig: Respice finem. Bedenke das Ende; die Folgen, die Konsequenzen, wenn du schreibst, oder übersetzt, oder verlegst, oder redest, oder anders handelst.
Ein Wörterbuch des Friedens wäre ein Buch nach meiner Vorstellung und nach meinem Willen.
In Frankfurt liegt es nahe, sich in diesem Zusammenhang eines Frankfurter Philosophen zu erinnern. Bevor Schopenhauer 1833 nach Frankfurt kam, um hier als Privatgelehrter zu leben, hatte er sein Hauptwerk »Die Welt als Wille und Vorstellung« bereits geschrieben und 1819 veröffentlicht. In Sachsen. 170 Jahre später, 1989, fand daselbst seine Idee von der »Welt als Wille und Vorstellung« vor unseren Augen eine folgenreiche Verkörperung. Das Volk - »Wir sind das Volk!« - hatte seinen Willen bekundet und seine Vorstellung von der Welt, in der es leben wollte, zum Ausdruck gebracht. Leipzig, Dresden - aber auch Warschau, Prag, Budapest und andere Städte und Länder haben uns gelehrt: Wo ein Wille und eine Vorstellung vorhanden sind, dort ist auch Undenkbares möglich.
Ohne den gewollten Entwurf, ohne die präzise Vision sind allerdings neue Realitäten nicht zu haben. Auch nicht ohne Opfer. Nicht ohne einen freien Willen dazu.
In Schopenhauers Preisschrift »Über die Freiheit des Willens« stoßen wir im Kapitel eins, Ziffer zwei, betitelt »Was heißt Selbstbewußtsein«, auf das wohlklingende Wort consciencia. So wie das Wort von den Lateinern und von Schopenhauer verwendet wurde, bedeutet conscientia nicht nur Mit-Wissen. Es beinhaltet auch das Bewußtsein, auch das Selbstbewußtsein. Dann aber auch und nicht zuletzt das Gewissen. Gewissen als Kontrollinstanz der Mitwisserschaft. Hier schließt sich der um den Begriff conscientia gezogene Kreis und verpflichtet den Mitwissenden zur Mitteilung, zur Mittlerschaft. Wissen und Mitwissen, vom Gewissen kontrolliert, sind unser Halt, bestimmen unsere Haltung; als Autor, als Übersetzer, als Verleger. Wohl dem, der dabei einen starken Willen und eine konkrete Vorstellung hat. Wie sie zum Beispiel Sankt Hieronymus hatte.
Mein Patron und Vorbild Hieronymus, unter Slawen geboren, Lateiner durch literarische Bildung, kannte purpurne Gewänder und Bettlerlumpen und trug sie mit gleicher Selbstverständlichkeit. Er war Prediger im Westen und Eremit im Osten, ebenso in Rom wie in der Wüste zu Haus.
Für den Portugiesen Teixeira de Pascoaes, aber auch für die meisten anderen Biographen, war er der Verkünder einer zum Kult erhobenen Freundschaft. Hieronymus war fasziniert von der Idee des Lebens, das in den Buchstaben steckt. Seine Empfindsamkeit für ihre Formen war ungewöhnlich, er suchte und achtete in ihnen die Ordnung. Er war ein Heiliger, der die Stufen der Laster und der Leidenschaften absolviert hatte. Eine Symbolfigur des Übergangs und der Verwandlung, die seine Zeit prägten, unterwegs vom Altertum zum Mittelalter; Cicero und Christus gleichermaßen verfallen. Ein Grenzgänger. Einer, der in der Zerrissenheit seiner Zeit eine Klammer sein wollte.
Es gibt einen Zusammenhang zwischen Poesie und Frieden, zwischen Frieden, Poesie und Übersetzung. Man kann das nachlesen in der Muttersprache Europas, in Quintus Horatius Flaccus‘ »Ars poetica«. Ich zitiere die Verse 391 und 392: »silvestris homines sacer interpresque deorum caedibus et victu foedo deterruit Orpheus« - was da bedeutet: Als die Menschen in Wäldern noch hausten, entwöhnte sie Orpheus, der heilige Dolmetsch der Götter, von Mordlust und ehrlosem Leben. Heute hausen die Menschen zwar nicht mehr in Wäldern, im großen und ganzen, aber Mordlust, vor allem Rufmord-Lust und üble Sitten gehören noch immer zu ihren Lebensgewohnheiten. Hier sagt uns Horazens Traktat über die Dichtkunst, was Literatur, was Bücher bewirken sollten, als was der Dichter - interpres deorum - sich zu verstehen habe: als Mittler, Unterhändler (pacis, iudicii), als Stifter, Urheber, Ausleger. Erklärer (poetarum), als Dolmetscher, Übersetzer. Sinnvermittler und Friedensbote. Horazens literarisches Grundgesetz beschränkt sich nicht auf den Wortzauber, auf die Sinnvermittlung allein, es weist der Sprache des Poeten einen erzieherisch-moralisch-politischen Rang zu: die Menschen von Mordlust und barbarischen Sitten zu entwöhnen. Und Horazens Held Orpheus hätte nicht nur Steine gerührt und Tiere verzaubert, er hätte selbst den Tod überwunden, hätten sein Wille und seine Vorstellung nach vorn blicken wollen, sich nicht nach dem Hades, dem Schattenreich, der Unterwelt umschauen müssen.
Orpheus scheiterte, weil er rückwärts und abwärts sah.
Es ist bemerkenswert, daß zwei unserer ältesten Kulturen, Literaturen, Glaubensvorstellungen - die jüdische und die griechische - uns ähnliche Mahnbilder und Lehren überliefern. Ähnlich wie Orpheus scheiterte Lots Frau, die nicht wie ihr Mann unverwandt vorwärts ging und in die Zukunft blickte, sondern die sich nach dem verruchten Sodom und Gomorrha umsah und deshalb zur leblosen Schmerzsäule aus Salz erstarrte.
Eine Warnung für alle, die Tote und Verluste zu beklagen haben.
Der Wille werde, sagt Schopenhauer, aus Schmerz geboren, wenn Bedürfnisse unbefriedigt blieben. Hieronymus fand seine Zuflucht, als er Rom und die ihm lieben Menschen verlor, in der Arbeit des Übersetzens: aestuantis anirni taedium interpretatione digere conamur... -ich versuche den Gram meiner aufgewühlten Seele mit Übersetzungen zu überwinden ..., schrieb er. Also Abkehr von der unfruchtbaren Selbstbetrachtung und von der zwecklosen Extravaganz. So kamen seine Übersetzungen zustande.
Der Egoismus befriedigt unsere Bedürfnisse nicht, weil er immer nur neuen Mangel, neue Unbefriedigung, neuen Unfrieden stiftet. Deshalb sucht sich der Wille der »aufgewühlten Seele« einen Ausweg in anderen Vorstellungen als der vom eigenen Ich. Er sucht sie im alter ego, im Altruismus, in der Solidarität mit den Benachteiligten, den Erniedrigten und den Beleidigten.
Horaz, Hieronymus, Humboldt sind als Merkwörter Glieder eines haltbaren Bandes, das geeignet ist, Zeiten und Räume, im Sinne unserer heutigen Versammlung, näherrücken zu lassen.
Bleiben wir noch eine Weile bei Humboldt. Humboldt war nicht nur Sprachforscher und Philosoph, er war auch preußischer Staatsmann, aktiver Politiker. Sehr früh, schon mit 24 Jahren, schrieb er in Jena eine Abhandlung über die Grenzen der Wirksamkeit eines Staates. Später, selbst Staatsbeamter, litt er am eigenen Leibe unter dem Despotismus und dessen ausufernder Bürokratie.
Als Diplomat in Rom, Paris und London, vor allem als Vertreter Preußens beim Wiener Kongreß hatte Humboldt Gelegenheit, seine Vorstellungen über Deutschland und Europa zu vertreten; freilich damals ohne Erfolg. Ihm schwebte ein Deutscher Bund als Staatenverein vor, der das Gleichgewicht in Europa nicht gefährden, sondern fördern würde. Ein Zusammenleben und Zusammenwirken der Völker ohne erlistete Vorteile des einen auf Kosten des anderen. Humboldts Entwurf einer einheitlichen deutschen Verfassung enthielt die freie Persönlichkeitsentfaltung als Grundsatz und die Erziehung der Deutschen zu einer Nation als Gebot des inneren Friedens. Diese Ideen fanden damals keinen Gefallen. Humboldt wurde vom Dienst suspendiert.
Nun ist Europa wieder in Bewegung. Diesmal entschieden zueinander, nicht gegeneinander. Staaten und Völker orientieren sich neu. Das noch im Rohbau befindliche Völker-Domizil, die Gemeinschatfsunterkunft, wird bereits im Geiste tapeziert und möbliert. Vor dem großen Umzug und Einzug müssen die Hausordnungen neu geregelt sein. Die alten haben keinen Frieden gebracht, die neuen sind keinesfalls problemlos.
Das Hauptproblem liegt in der Mitte Europas: die Beziehung der Deutschen aus Ost und West, aus Nord und Süd zueinander und die Beziehung aller Deutschen zu ihren Nachbarn. Glauben wir ja nicht, daß unsere Beziehungen zu Frankreich, zu Italien, zu Holland und zu England nichts mehr zu wünschen übrigließen, daß es da nichts zu verbessern gäbe.
Ein besonders sensibles, aber auf Rücksicht und Nachsicht angewiesenes Verhältnis ist das deutsch-polnische. Es ist labil, bedroht, anfällig, fast neurotisch, weil es historisch unerträglich vorbelastet ist. Es ist mit atavistischen Animositäten und beiderseits untauglichen Schutzbehauptungen befrachtet, die uns auf dem nun notwendigen Weg zueinander behindern, in Rückfälle stürzen, fast resignieren lassen.
Was ist dagegen zu tun? Nieht pathologisch reagieren. Hüben wie drüben. Näherrücken. Vorurteile durch Urteile ersetzen. Hüben wie drüben. Die Argumente beider Seiten anhören und ernst nehmen. Audiatur et altera pars war der bewährte Grundsatz des römischen Rechts. In deutsche Verse gebracht kann man ihn im Kaisersaal des Frankfurter Römer, unter dem Bildnis von Kaiser Lothar (gestorben 1137), lesen: »Mit Urteil sprechen gar nicht eile, bis du gehört hast beide Teile.«
Es geht um die Heilung einer argen Zerrissenheit. Zerrissenheit kann man flüchtig flicken, man kann sie kunststopfen. Der übergeordnete Zweck aber ist: die Narbe, die Wunde zu überwinden. Nicht mehr darunter zu leiden. Nichts zu verschlimmern. Rückfällen vorzubeugen. Das ist der Heilkunde Sinn und Zweck. Auch der der Politik.
Das Haus Europa darf kein Krankenhaus sein. Auch kein Lager aus Zelten, Ego-Zentren, Blöcken und Baracken. Diese waren wie Scheuklappen, die uns den Blick und das Ohr für das Naheliegende versperrten. Zum Beispiel für Polen. Zum Beispiel für seine spezifische, historisch anders gewachsene Kultur. Es ist nicht so, daß die sogenannten kleinen Literaturen den großen nichts zu sagen hätten, daß die ärmeren Völker die reicheren nicht mit etwas Eigenem bereichern könnten. Zum Beispiel mit Erkenntnissen, die die Entwicklung in Europa um dreißig Jahre vorwegnahmen.
So lesen wir in Jerzy Andrzejewskis Roman »Finsternis bedeckt die Erde« im Schlußmonolog des Großinquisitors, des Politruks und Richters, der in der Sterbestunde alles widerruft, woran er geglaubt hatte, und der das Wahngebilde von seinem Idealreich wie ein Kartenhaus zusammenfallen läßt, folgenden Moribundus-Befund: »Ich darf mich nicht länger betrügen. Unsere Macht ist illusorisch, unsere Kräfte sind Scheinkräfte. Die Fundamente beben, Risse zeichnen sich ab in den Mauern des Gebäudes, das wir errichtet haben. Ein furchterregendes Gebäude! Zum Gefängnis und zur Leidensstätte haben wir die Welt gemacht. Aber das kann so nicht dauern. Es muß zusammenbrechen, wenn nicht morgen, dann übermorgen. Die Katastrophe ist unausweichlich. Es gibt keinen Glauben mehr, es gibt keine Hoffnung. Wir haben die Menschen zerbrochen, ihren Geist und ihre Herzen vergiftet. Wir sind verhaßt und verachtet. Nichts von diesem trüben Wahnsinn läßt sich retten [...] Wir stehen vor der dringenden Notwendigkeit, selbst niederzureißen, was in Trümmer sinken muß...«
Geschrieben und veröffentlicht nicht 1989, nicht 1980, nicht 1968, sondern 1957. Und nicht im Untergrund, insgeheim, auch nicht in der Emigration, in der Sicherheit, sondern in Polen, in einer Staatlichen Verlagsgenossenschaft, in der Nachbarschaft des Zentralkomitees.
Aber zurück zu Humboldt und nach Berlin. Nach dem Verlust seiner Ämter und Würden setzte Humboldt das Studium der amerikanischen Sprachen, des Sanskrit, dann auch noch das der ägyptischen, koptischen, chinesischen und der japanischen Sprache fort. Er verfaßte sogar ein Werk »Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java«.
Das fiel dem um die Jahrhundertwende in Berlin ansässigen polnischen Schriftsteller Stanislaw Przybyszewski auf, der mit Richard Dehmel befreundet war und der seine Werke sowohl in deutscher wie auch in polnischer Sprache schrieb. Er bedauerte, daß das Interesse der Polen an der deutschen Sprache und Literatur einseitig und ohne deutsche Gegenliebe blieb. In seiner 1915 bei Eugen Diederichs in Jena veröffentlichten Schrift »Von Polens Seele« (in der Reihe »Schriften zum Verständnis der Völker«) setzte er sich temperamentvoll für eine deutsch-polnische Verständigung »von Volk zu Volk«ein. Er schrieb: »Zu einer Verständigung von Volk zu Volk gelangt man nicht durch politische Auseinandersetzungen, die eher noch den Widerstreit und das gegenseitige Mißtrauen verschärfen können. [...] Das ganze Mißtrauen beruht hauptsächlich auf der Unkenntnis der Kultur und der Eigenart Polens. [...] Wenn die Deutschen, die selbst für die Zigeuner die Grammatik ihrer Sprache geschrieben und den erstaunten Basken das Geheimnis ihrer Herkunft gelüftet haben [...]. nur einen Bruchteil von dem Zeitaufwand, den sie dem Studium der exotischen Kulturen gewidmet haben, für das benachbarte Slawentum übriggehabt hätten, würden sie mit Staunen erfahren, wie eng im Grunde die deutsche und die polnische Kultur miteinander verknüpft sind.«
Um das zu erfahren, brauchen wir mehr als touristische Kenntnis, wir brauchen Polonisten an den Universitäten, Sprachlehrer an den Schulen und Lektoren und Übersetzer in den Verlagen. Wenn Europa es mit seiner Einigung als Ganzes ernst meint, sollte es kulturpolitisch mehr für seine östliche Region tun: zum Beispiel die Kommunikation der Wissenschaftler und Künstler von Ost und West fördern, zum Beispiel durch die Schaffung einer Europa-Akademie in Krakau, Prag oder Budapest, eines Zentrums der Begegnungen und der Kristallisation von Ideen, auf deren intensiven Austausch zwischen Helsinki, Paris, Rom, Straßburg, Brüssel, Berlin und den nun nach Europa heimkehrenden Metropolen im Osten wir angewiesen sind: um die Gewichte der kulturellen Verständigung etwas gerechter zu verteilen, von den Schwerpunkten im Westen einen Teil nach Osten zu verlagern. Auch nach Norden und Süden. Was Przybyszewski »von Volk zu Volk« nannte, das ist das Näherrücken von Schüler zu Schüler, von Lehrer zu Lehrer, von Leser zu Leser, von Buch zu Buch. Eine Umorientierung von unten, neben der von oben, muß stattfinden, wenn wir tatsächlich wünschen, was wir angeblich wollen: die Hausgemeinschaft Europa. Der polnische Philosoph Leszek Kolakowski hat 1977 von dieser Stelle aus gesagt: »Im Haß leben, heißt: im Tod leben.« Das heißt in schlichter Übersetzung: Wer den Frieden gewinnen will, muß Freunde gewinnen. Und dies wiederum heißt: Er muß den anderen verstehen lernen. Er muß den andern anders sein lassen.
Hätten wir die Parabel von Prokrustes und seinem fatalen Bett besser bedacht, wüßten wir, daß sich die Menschen, auch die Völker, nicht gleichmachen lassen, auch nicht dadurch, daß man ihnen ein Stück des Kopfes oder ein Stück ihrer Fortbewegungsinstrumente amputiert. Von Natur aus sind sie alle ähnlich, aber nicht gleich und nicht auf ein Maß zu bringen. Doch zusammen leben sollen, müssen und können sie. Das wäre meine Vorstellung von den Aufgaben, die unsere Bücher im letzten Jahrzehnt dieses Jahrtausends bevorzugt übernehmen könnten. Vielleicht versammelt in einer »Europäischen Bibliothek«, die uns die Einsicht in die Konditionen der Hausgemeinschaft erleichtert und die dem Hausfrieden dieser Gemeinschaft dient.
Lassen Sie mich mit einer Liebeserklärung an das Buch schließen.
Ich liebe das Buch - als solches - in seiner ganzen inneren und äußeren Beschaffenheit. Als Geist und Körper in Einheit. Aber ich liebe das Buch einzeln, einzeln erkennbar - das hat Liebe so an sich -, nicht in der Masse. Ich wünsche mir meine Buchmesse als eine des Maßes, der Mäßigung und des Maßstabs - nicht der Vermessenheit und der Vermassung.
Das Buch - der Gegenstand meiner Liebe - ist für mich Lebensmittel. Es sollte nahrhaft und bekömmlich sein.
Von der Ware zur Wegwerfware ist es bekanntlich nur ein kleiner Schritt. Ich habe Angst, unsere Buchläden und Büchereien könnten sich mit der Zeit in Papiermüllhalden verwandeln. Ich habe Angst, denn ich liebe das Buch.
Es gibt von Jahr zu Jahr immer mehr Bücher. Das Neue macht offener, weiter, reicher. Aber das Modische macht einfallsloser, enger und ärmer. Wohlhabender schon, aber ärmer. Ohne Kompaß finde ich mich in dieser Ebbe und Flut nicht mehr zurecht. Vielleicht tummeln sich deshalb so viele an den Rändern der Literatur, wo der Seegang leicht und seicht an die Ufer plätschert, statt in hohe See zu stechen? Die hohe See der Literatur erfordert eine Kunst der Navigation - und Furchtlosigkeit vor den Stürmen. Habeich sie? Ich - Leser, Schreiber, Verleger, Rezensent. Buchhändler? Wer kann sie mir geben? Es gibt Initiativen, die das Lesen fördern und die uns Hoffnung machen. Denn wir müssen in der Tat alle, ob groß, ob klein, das Lesen lernen.
Und lesen bedeutet übersetzen lernen. Wer liest, übersetzt die Gedanken eines anderen in sein eigenes Verständnis; er bezieht die fremde Erfahrung in die eigene ein. Er belebt und bereichert seinen geistigen Stoffwechsel. Lesen ist übersetzen, und übersetzen ist vor allem richtig lesen.
Trotz der Bibliotheken, die wir zum Thema Frieden in Jahrtausenden angesammelt haben, gab es dennoch keinen Frieden in uns und um uns herum. Es gab genauso viele Bücher und Bibliotheken zum Thema Unfrieden, und diese waren vermutlich erfolgreicher. Vielleicht attraktiver. Wahrscheinlich auch lukrativer. Es sollten ein Wille und eine Vorstellung möglich sein, die dem entgegenwirken. Dazu könnten sorgfältig ausgewählte und übersetzte Bücher beitragen.
Das Übersetzen ist ein bewegtes, ein unsicheres Dasein zwischen Alternativen. Aber das Übersetzen hat unverzichtbare pädagogische Qualitäten. Es bändigt Gegensätze. Es bringt Ungleiches auf einen gemeinsamen Nenner.
Es übt die Selbstlosigkeit, die Anpassungsfähigkeit und die Toleranz - alles Eigenschaften, die wfr dringend nötig haben. Es ist eine der seltenen Botschaften, die zwei sich fremd, oft verständnislos gegenüberstehenden Völkern und Kulturen zugleich einen guten Dienst erweist. Es baut Ressentiments, Dünkel, geistige Barrieren ab und wirkt somit an den Grundlagen der Friedenspolitik mit.
Es genügt, an Herders und Schleiermachers Ruf nach »Gedankenübertragung« zu erinnern, die uns, so Schopenhauer, von der »Nationalbeschränktheit«, die sonst jedem anhaftet, befreie.
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